»Du fängst erst mal ganz langsam an«, sagte der alte Zauberer von der anderen Seite des Tisches aus. »Schaffe Ordnung in der Bibliothek. Finde heraus, wie du sie organisieren willst.«
Khadgar nickte über Haferbrei und Wurst hinweg. Der größte Teil des Frühstücksgesprächs hatte sich um Dalaran im Allgemeinen gedreht. Worüber sprachen die Leute in Dalaran, und was waren die aktuellen Moden dort? Worum stritt man sich in den Hallen der Kirin Tor? Khadgar erzählte, dass bei seiner Abreise die aktuelle philosophische Streitfrage gewesen sei, ob man, wenn man durch Magie eine Flamme erzeugte, diese vollkommen neu ins Sein rief oder sie aus irgendeiner parallelen Dimension heraufbeschwor.
Medivh schnaufte über seinem Frühstück. »Narren. Die würden eine alternative Dimension nicht mal erkennen, wenn sie ankäme und ihnen in den Hintern träte … Also, was glaubst du?«
»Ich glaube …«, begann Khadgar, und ihm wurde klar, dass er wieder geprüft wurde. »Ich glaube, es ist vielleicht etwas vollkommen anderes.«
»Großartig«, sagte Medivh lächelnd. »Wenn man eine Wahl zwischen zwei Alternativen hat, wählt man die dritte. Natürlich wolltest du eigentlich sagen, dass du, wenn du Feuer erzeugst, nur das inhärente Wesen des Feuers, das in deiner Umgebung enthalten ist, auf einen bestimmten Punkt konzentrierst und es so ins Sein rufst?«
»O ja«, sagte Khadgar. »Darüber hatte ich nachgedacht. Eine Zeit lang. Etwa ein paar Jahre.«
»Gut«, sagte Medivh und tupfte sich den Bart mit einer Serviette ab. »Du besitzt einen wachen Geist und eine ehrliche Einschätzung deiner eigenen Fähigkeiten. Jetzt wollen wir sehen, was du aus der Bibliothek machst. Moroes zeigt dir den Weg.«
Die Bibliothek nahm zwei Ebenen ein und befand sich in der unteren Turmhälfte. In diesem Bereich zog sich die Treppe um die Außenwände des Gebäudes und ließ einen Raum frei, der sich über zwei Stockwerke erstreckte. Ein schmiedeeisernes Podium schuf eine Galerie auf der zweiten Ebene. Die schmalen Fenster des Raumes waren mit ineinander verwobenen Eisenstäben gesichert, sodass nur wenig mehr an natürlichem Licht eindrang als auch eine abgedeckte Fackel geliefert hätte. Auf den großen Eichentischen der ersten Ebene leuchteten grau-blaue Kristallkugeln, die mit einer dicken Staubschicht überzogen waren.
Der Raum selbst war ein Katastrophengebiet. Willkürlich aufgeschlagene Bücher lagen überall verstreut, Schriftrollen hingen aufgerollt über Sesseln, und eine dünne Schicht staubigen Papiers bedeckte alles wie Laub einen Waldboden. Die noch immer an die Regale geketteten, älteren Bände waren herausgeholt worden und hingen wie Gefangene in einem Kerker von ihren Fesseln.
Khadgar begutachtete den Schaden und seufzte tief. »Du fängst erst mal ganz behutsam an«, sagte er.
»Ich könnte deine Sachen in einer Stunde packen«, erklang Moroes’ Stimme aus dem Gang. Der Diener betrat die eigentliche Bibliothek nicht.
Khadgar hob ein Stück Pergament auf, das zu seinen Füßen lag. Darauf verlangten die Kirin Tor von dem Meistermagier, dass er auf ihren letzten Brief antwortete. Die andere Seite des Blattes zeigte einen dunkelroten Fleck, den Khadgar zuerst für Blut hielt, bis er erkannte, dass es die Reste eines geschmolzenen Wachssiegels waren.
»Nein«, sagte Khadgar und streichelte den kleinen Beutel, in dem er die Schreiber-Utensilien verwahrte. »Es ist nur eine größere Herausforderung, als ich zunächst erwartet hatte.«
»So was hab ich auch früher schon gehört«, sagte Moroes.
Khadgar wandte sich ihm zu, um mehr über die Nöte seiner Vorgänger zu erfahren, aber der Diener war bereits verschwunden.
Mit der Sorgfalt eines Einbrechers suchte sich Khadgar seinen Weg durch das Chaos. Es war, als habe in der Bibliothek eine Schlacht getobt. Buchrücken waren gebrochen, Einbände halb zerrissen, Seiten umgeknickt. Und das betraf nur die Bücher, die noch weitgehend heil waren. Ganze Mappeninhalte waren aus ihren Einbänden gezogen worden, und der Staub auf den Tischen bedeckte eine Schicht von Papieren und Korrespondenz. Manche der Briefe waren geöffnet, andere offensichtlich noch immer ungelesen, ihr Wissen unter dicken Wachssiegeln verborgen.
»Der Magus braucht keinen Assistenten«, murmelte Khadgar, während er einen Platz am Ende eines Tisches frei räumte und einen Stuhl darunter hervorzog. »Er braucht eine Haushälterin.« Dann warf er einen schnellen Blick zur Tür, um sicherzustellen, dass der Kastellan auch tatsächlich verschwunden war.
Khadgar setzte sich nieder. Der Stuhl wackelte verdächtig, sodass der Junge wieder aufstand und nach der Ursache forschte. Eines der Stuhlbeine hatte einen fetten Wälzer mit einem metallischen Einband verschoben, halb daraufgestanden. Der Deckel des Folianten war reich verziert, und der Seitenrand mit Silber überzogen.
Khadgar hob den Band auf und öffnete ihn. Da spürte er, wie sich etwas in dem Buch leicht bewegte. Ein hohles Kratzen erklang. Metall schabte an Metall, und die Augen des Jungen weiteten sich. Innerhalb des Buchrückens spulte sich etwas ab.
Dann begann der Foliant zu ticken.
Schnell schloss Khadgar den Einband wieder, und das Buch wurde nach einem scharfen Surren und einem lauten Schnappgeräusch wieder vollkommen still, während sich seine Mechanik neu justierte. Der junge Mann legte es vorsichtig auf den Tisch.
Dann bemerkte er die Brandflecken auf seinem Stuhl und auf dem Boden darunter.
»Ich ahne, warum Ihr so viele Assistenten verbraucht«, seufzte Khadgar und durchquerte langsam den Raum.
Die Lage verbesserte sich nicht. Bücher hingen über Sessellehnen und Metallgeländer. Die Korrespondenz wurde umfangreicher, je tiefer er sich in den Raum bewegte, und bald versank er bis fast zu den Knien darin. In der Ecke eines Bücherregals hatte etwas ein Nest gebaut, und als Khadgar das kleine Knäuel vom Brett nahm, kullerte der winzige Schädel einer Spitzmaus heraus und zerfiel, als er auf dem Boden aufschlug, zu Staub. Die obere Ebene war wenig mehr als ein Lagerbereich. Die Bücher hatten noch nicht einmal die Regale erreicht, sondern türmten sich nur zu immer höheren Stapeln auf. Erst zu Hügeln, dann zu Bergen und schließlich zu unbezwingbaren Gipfeln.
Und es gab eine leere Stelle, doch diese sah aus, als habe jemand bei dem verzweifelten Versuch, die Menge des vorhandenen Papiers zu reduzieren, ein Feuer angezündet. Khadgar untersuchte den Bereich und schüttelte den Kopf. Hier war auch noch etwas anderes verbrannt; es bestand aus Stofffetzen, die wahrscheinlich einmal die Robe eines Gelehrten gewesen waren.
Khadgar schüttelte ein weiteres Mal den Kopf und ging zurück zu dem Tisch, auf dem er seinen Beutel mit den Schreiber-Utensilien zurückgelassen hatte. Er schüttete einen dünnen, hölzernen Federhalter und eine Handvoll Metallfedern aus, außerdem einen Stein zum Spitzen und Formen der Federn, ein Messer mit einer flexiblen Klinge, um Pergament zu schaben, einen Block Octopus-Tinte, einen kleinen Teller, in dem er die Tinte schmelzen konnte, eine Sammlung dünner, flacher Schlüssel, ein Vergrößerungsglas und etwas, das auf den ersten Blick aussah wie eine Metall-Grille.
Er nahm die Grille, legte sie auf den Rücken und steckte eine seltsam geformte Metallfeder in ihren Bauch. Damit zog er sie auf. Dieses Geschenk, das Guzbah ihm zum Bestehen seiner ersten Prüfung als Schreiber gemacht hatte, hatte sich während der Erkundungen des Jungen in den Hallen der Kirin Tor schon des öfteren als unentbehrlich erwiesen. Im Innern des Metall-Insekts steckte ein einfacher, aber effektiver Zauber, der vor Fallen warnte.
Sobald er die Grille um eine volle Drehung aufgezogen hatte, stieß sie einen hohes Kreischen aus. Erschreckt ließ Khadgar das magische Spürgerät fast fallen, aber dann begriff er, dass ihn das Insekt nur über die Intensität der möglichen Gefahr informierte.
Khadgar betrachtete die Bücher-Haufen, die um ihn herum lagen, und murmelte einen leisen Fluch. Er wich zur Tür zurück und zog die Grille dort vollends auf. Dann holte er das erste Buch, das ihm in die Hände gefallen war – das tickende Buch – und brachte es zur Tür.
Die Grille trällerte leicht. Khadgar deponierte das Fallen-Buch nahe der Tür auf dem Boden. Er holte ein anderes Buch und brachte es zur Grille. Das Metall-Insekt schwieg.
Khadgar hielt den Atem an, hoffte, dass die Grille tatsächlich in der Lage war, alle Arten von Fallen magischer oder anderer Natur zu erkennen, und öffnete das Buch. Es war eine von sanfter, weiblicher Hand verfasste Abhandlung über die Politik der Elfen, die etwa dreihundert Jahre alt sein mochte.
Khadgar trennte das handgeschriebene Werk von dem als Falle identifizierten und ging, um das nächste zu holen.
»Ich kenne dich«, sagte Medivh am nächsten Morgen bei Wurst und Haferbrei.
»Khadgar, Herr«, sagte der Junge.
»Der neue Assistent«, sagte der ältere Magier. »Natürlich. Vergib mir, aber meine Erinnerung ist nicht mehr das, was sie einmal war. Ich habe zu viel um die Ohren, fürchte ich.«
»Etwas, wobei Ihr Hilfe brauchen könntet, Herr?«, fragte Khadgar eifrig.
Der ältere Mann schien einen Augenblick darüber nachzudenken, dann sagte er: »Die Bibliothek, mein Vertrauen. Wie stehen die Dinge in der Bibliothek?«
»Gut«, sagte Khadgar. »Sehr gut. Ich bin damit beschäftigt, die Bücher und Papiere zu sortieren.«
»Ah. Nach Themen? Autoren?«, fragte der Meistermagier.
Nach tödlich und nicht tödlich, dachte Khadgar. »Ich denke nach Themen. Viele der Werke sind anonym.«
»Hmpf«, machte Medivh. »Traue nie einer Sache, für die ein Mann nicht mit seinem Namen und seinem Ruf bürgt. Mach also weiter. Sag mir, was halten die Kirin Tor von König Llane? Sprechen sie je über ihn?«
Khadgars Arbeit ging mit quälender, schneckenhafter Langsamkeit voran, aber Medivh schien keine Ahnung von der Zeit zu haben, die der Junge dafür benötigte. Tatsächlich wirkte er jeden Morgen angenehm überrascht, dass Khadgar überhaupt noch bei ihnen war, und nach einem kurzen Bericht über den Fortschritt wandte sich das Gespräch stets schnell einem anderen Thema zu.
»Da wir gerade von Bibliotheken sprechen«, mochte Medivh beispielsweise sagen. »Was treibt Korrigan, der Bibliothekar der Kirin Tor, denn so?«
Oder: »Wie stehen die Menschen in Lordaeron zu den Elfen? Hat man dort in den letzten Jahrzehnten welche gesehen?«
Oder: »Gibt es Legenden über Männer mit Stierköpfen in den Hallen der Violetten Zitadelle?«
Und eines Morgens, etwa eine Woche nach Khadgars Ankunft, war Medivh überhaupt nicht da.
»Weg«, antwortete Moroes knapp, als Khadgar ihn fragte.
»Weg wohin?«, fragte Khadgar.
Der greise Kastellan zuckte mit den Schultern, und Khadgar konnte fast hören, wie die Knochen in seinem uralten Leib klapperten. »Da drüber spricht er nicht.«
»Was macht er?«, drängte Khadgar.
»Da drüber spricht er nicht.«
»Wann kommt er zurück?«
»Da drüber spricht er nicht.«
»Er lässt mich allein in seinem Turm?«, fragte Khadgar. »Ohne Aufsicht? Mit all seinen mystischen Texten?«
»Könnte ja kommen und dich bewachen«, schlug Moroes vor. »Wenn’s das ist, was du willst.«
Khadgar schüttelte den Kopf, dann sagte er: »Moroes?«
»Jau?«
»Diese Visionen …«, begann der junge Mann.
»Scheuklappen?«, fragte der Diener.
Wieder schüttelte Khadgar den Kopf. »Zeigen sie die Zukunft oder die Vergangenheit?«
»Beides, wenn ich sie gesehn hab«, sagte Moroes. »Aber normalerweise seh ich sie nicht.«
»Und diejenigen aus der Zukunft, treffen die auch ein?«, fragte der junge Mann.
Moroes stieß etwas aus, das Khadgar nur als einen tiefen Seufzer interpretieren konnte, einen leisen Wind, der all seine Knochen durchschüttelte. »Ich glaube … ja. In einer Vision sah Köchin, wie ich einen Kristall zerbrach, also versteckte sie ihn. Monate vergingen, und schließlich trug mir der Meister auf, ihm genau diesen Kristall zu bringen. Sie holte ihn aus dem Versteck, und innerhalb von zwei Minuten hatte ich ihn zerbrochen. Hatte ich gar nicht gewollt.« Er seufzte wieder. »Am nächsten Tag bekam sie ihre Rosenquarz-Linsen. Sonst noch etwas?«
Khadgar verneinte, aber er war von Sorge erfüllt, als er die Treppe zur Bibliothek hinaufstieg. Er war in seiner Neuorganisation bisher so weit gegangen, wie er es wagte, und Medivhs plötzliches Verschwinden brachte ihn ins Schwimmen, so ganz ohne weitere Anweisung.
Der junge Möchtegern-Schüler betrat die Bibliothek. Auf der einen Seite des Raumes lagen jene Bücher (und Überreste von Büchern), die die Grille als »sicher« beurteilt hatte, während die andere Hälfte des Raumes mit den (sich im Allgemeinen in einem besseren Zustand befindenden) Bänden gefüllt war, die offenkundig Fallen enthielten.
Die großen Tische waren mit losen Blätter und ungeöffneten Briefen bedeckt, geordnet in zwei halbwegs übersichtlichen Stapeln. Die Regale waren vollkommen leer – die Ketten hatten sich von ihren Gefangenen trennen müssen.
Khadgar hätte die Papiere sichten können, aber es war wohl besser, die Regale erst einmal wieder mit Büchern zu füllen. Die meisten der Bände trugen keinen Titel, und wenn sie einen hatten, waren ihre Einbände so ramponiert, zerkratzt und zerrissen, dass dieser nicht mehr lesbar war. Die einzige Möglichkeit, den Inhalt eines Buches zu bestimmen, bestand darin, es zu öffnen …
… was wiederum die Fallen-Bücher auslösen würde. Khadgar blickte skeptisch auf den Brandfleck am Boden und schüttelte den Kopf.
Dann begann er zu suchen, erst unter den Fallen-Büchern, dann unter den Nicht-Fallen-Büchern, bis er gefunden hatte, was er suchte. Ein Buch, auf dem das Symbol eines Schlüssels prangte.
Ein dickes Metallband, mit einem Schloss gesichert, hielt es unzugänglich. Bei all seinen Suchaktionen war Khadgar auf keinen echten Schlüssel gestoßen, aber das überraschte ihn angesichts der Organisation des Raumes wenig. Die Bindung des Buches war bemerkenswert fest, der vordere Deckel eine in rotes Leder gebundene Metallplatte.
Khadgar holte die flachen Schlüssel-Elemente aus seinem Beutel, aber keines war für das große Schloss geeignet. Schließlich benutzte Khadgar die Spitze seines Schabmessers. Es gelang ihm, die dünne Klinge durch das Schloss zu fädeln, und als er damit zudrückte, ertönte ein zufriedenstellendes »Klick«.
Khadgar blickte auf die Grille, die neben ihm auf dem Tisch stand. Sie war noch immer stumm.
Mit angehaltenem Atem öffnete der junge Magier den schweren Band. Der säuerliche Geruch schimmeligen Papiers drang in seine Nase. »Von Fallen und Schlössern«, las er die alte Schrift laut vor. »Eine Abhandlung über das Wesen von Verriegelungsmechanismen.«
Khadgar zog sich seinen Stuhl heran (der etwas niedrig geraten war, da er die drei langen Beine abgesägt hatte, um ihn besser auszubalancieren) und begann zu lesen.
Medivh blieb volle zwei Wochen fort, und in dieser Zeit eroberte sich Khadgar die Bibliothek als sein Territorium. Jeden Morgen stand er zum Frühstück auf, gab Moroes einen oberflächlichen Bericht über seine Fortschritte (wobei weder der Kastellan noch Köchin jemals das geringste Anzeichen von Neugierde zeigten), und danach vergrub er sich in den Büchern. Mittagessen und Abendessen wurden ihm gebracht, und oft arbeitete er bis spät in die Nacht hinein im weichen, bläulichen Licht der leuchtenden Kugeln.
Er gewöhnte sich auch langsam an das Wesen des Turms. Oft sah er Bilder aus den Augenwinkeln. Das Aufblitzen einer Gestalt in einem zerschlissenen Mantel, die sich auflöste, wenn er sich nach ihr umsah. Ein halb beendetes Wort, das durch die Luft schwebte. Eine plötzliche Kälte, als sei eine Tür oder ein Fenster offen gelassen worden. Oder eine jähe Veränderung des Luftdrucks, als habe sich irgendwo eine Geheimtür geöffnet. Manchmal ächzte der Turm im Wind, und die alten Steine rieben aneinander.
Langsam erschloss sich ihm die Natur – wenn auch nicht der genaue Inhalt – der Bücher, die in der Bibliothek zu finden waren, und er knackte die Fallen, die die wertvollsten Bände schützten. Seine Forschungen waren ihm im letzteren Fall seine große Hilfe. Er wurde bald zum Experten im Überlisten von Zaubermechanismen und gewichtkontrollierten Fallen, so wie er in Dalaran ein Fachmann im Umgang mit verschlossenen Türen und versteckten Geheimnissen gewesen war. Der Trick bei den meisten Schlössern bestand darin, die Riegel-Mechanismen (mochten sie nun magischer oder mechanischer Natur sein) davon zu überzeugen, dass man das Schloss gar nicht geknackt hatte, während es tatsächlich doch so war. Hatte man herausgefunden, was eine bestimmte Falle auslöste – ein Gewicht oder ein sich verlagerndes Stück Metall oder gar die Berührung mit Sonnenlicht oder frischer Luft –, dann war die Schlacht bereits halb gewonnen.
Es gab Bücher, die über seine Fähigkeiten hinausgingen, deren Schlösser sogar seine falschen Schlüssel und sein geschicktes Messer nicht zu knacken vermochten. Diese kamen auf die oberste Ebene, ziemlich weit nach hinten, und Khadgar entschloss sich, irgendwann herauszufinden, was sich in ihnen befand, entweder aus eigener Kraft oder indem er das Wissen darüber Medivh entlockte.
Er bezweifelte allerdings, dass ihm Letzteres gelingen würde, und fragte sich, ob der Meister die Bibliothek je anders genutzt hatte denn als Müllkippe für geerbte Texte und alte Briefe. Die meisten Magier der Kirin Tor hielten zumindest einen Anschein von Ordnung in ihren Archiven aufrecht, und die wertvollsten Bände waren versteckt. Aber bei Medivh stapelte sich alles in einem chaotischen Durcheinander, als brauche er nichts davon wirklich.
Es sei denn als Aufgabe, dachte Khadgar. Als Aufgabe, um unliebsame Möchtegern-Schüler in die Schranken zu weisen.
Jetzt standen die Bücher wieder in den Regalen, die wertvollsten (und unlesbarsten) mit Ketten auf der obersten Ebene gesichert, während sich die konventionelleren Abhandlungen über Militärgeschichte, die Almanache und die Tagebücher auf den unteren Ebenen befanden. Hier fanden sich auch die Schriftrollen, die von banalen Listen in Stormwind gekaufter und verkaufter Artikel bis zu Aufzeichnungen epischer Gedichte reichten. Die Letzteren waren besonders interessant, da einige von ihnen von Aegwynn handelten, die angeblich Medivhs Mutter war.
Wenn sie achthundert Jahre alt wurde, dann muss sie wirklich eine mächtige Zauberin gewesen sein, dachte Khadgar. Mehr Informationen über sie enthielten wahrscheinlich die geschützten Bücher ganz oben, ganz hinten. Bisher hatten diese Wälzer jeder höflichen und flehentlichen Bitte und jedem gewaltsamem Versuch, sie zu öffnen, widerstanden, und die Grille kreischte hysterisch vor Entsetzen, wann immer er versuchte, die Bände für sich zu erschließen.
Trotzdem hatte er mehr als genug mit dem Sortieren loser Seiten zu tun, der Wiederinstandsetzung jener Bücher, die das Alter beinahe vollständig verzehrt hatte, und dem Ordnen (oder zumindest Lesen) des größten Teils der Korrespondenz. Einige der späteren Briefe waren in Elfenschrift verfasst, und viele von ihnen, die aus den verschiedensten Quellen stammten, waren in einer Art von Kode geschrieben. Der letztere Typus besaß sehr viele unterschiedliche Siegel, die aus Azeroth, Khaz Modan und Lordaeron stammten, sowie von Orten, die Khadgar nicht einmal im Atlas fand. Eine große Gruppe kommunizierte in Geheimschrift untereinander und mit Medivh.
Es gab mehrere alte Grimoires über Kodes, von denen sich die meisten um Brief-Verschlüsselungen und Zunftsprachen drehten. Nichts ließ sich mit dem Kode vergleichen, der in diesen Schriften benutzt wurde. Vielleicht kombinierten sie eine Reihe von Methoden, um eine vollkommen neue zu erschaffen.
So hatte Khadgar die Grimoires über Kodes zusammen mit den Fibeln zu den Elfen- und Zwergen-Sprachen vor sich auf dem Tisch liegen, als Medivh eines Abends plötzlich in den Turm zurückkehrte.
Khadgar hörte ihn nicht so sehr, als dass er seine plötzliche Präsenz spürte – so wie sich die Luft verändert, wenn eine Sturmfront über Äcker hinwegfegt. Der junge Magier drehte sich auf seinem Stuhl um, und da stand Medivh. Seine breiten Schultern füllten den Türrahmen, seine Robe bauschte sich hinter ihm, als besäße sie einen eigenen Willen.
»Herr, ich …«, begann Khadgar lächelnd und erhob sich halb aus dem Stuhl. Dann sah er, dass die Haare des Magiers in Unordnung waren. In seinen grün schimmernden Augen spiegelte sich Wut.
»Dieb!«, schrie Medivh und zeigte auf Khadgar. »Eindringling!« Der ältere Magier hielte seine Hand auf den Jungen gerichtet und begann eine Reihe fremder Silben zu intonieren, Worte, die nicht für die menschliche Kehle gedacht waren.
Instinktiv hob Khadgar eine Hand und wob ein Schutz-Symbol in der Luft vor sich, doch es hätte genauso gut eine obszöne Geste sein können, was ihren Einfluss auf Medivhs Zauber anging. Eine Wand aus harter Luft krachte in den jungen Mann und rollte über ihn und seinen Stuhl hinweg. Die Grimoires und Fibeln schlitterten über den Tisch wie Boote, die von einer plötzlichen Böe erfasst wurden, und die Notizen tanzten wirbelnd davon.
Überrascht wurde Khadgar zurückgeworfen und fiel in eines der hinter ihm stehenden Bücherregale. Das Regal schwankte unter der Wucht des magischen Windes, und der Junge hatte Angst, dass es herabstürzen und seine ganze Arbeit zunichte machen würde. Doch das Regal hielt seine Position, während Medivh seinen mächtigen Angriff fortsetzte und sich der Druck auf Khadgar Brust verstärkte.
»Wer bist du?«, donnerte Medivh. »Was tust du hier?«
Der junge Magier kämpfte gegen das Gewicht auf seiner Brust, und es gelang ihm zu sprechen. »Khadgar«, keuchte er. »Assistent. Ordne die Bibliothek. Eure Befehle.« Ein Teil seines Geistes fragte sich, ob das der Grund war, weshalb auch Moroes stets in solch abgehackter Weise sprach.
Medivh blinzelte bei Khadgars Worten wie ein Mann, der gerade eben aus tiefem Schlaf erwacht. Er drehte seine Hand leicht, und sofort löste sich die Welle aus harter Luft auf. Khadgar fiel auf die Knie und rang keuchend um Atem.
Medivh trat zu ihm heran und half ihm auf die Beine. »Es tut mir Leid, Junge«, begann er. »Ich hatte vergessen, dass du noch immer hier bist. Ich nahm an, du seist ein Dieb.«
»Ein Dieb, der versucht, einen Raum ordentlicher zu verlassen, als er ihn angetroffen hat«, sagte Khadgar. Etwas schmerzte in seiner Brust, als er atmete.
»Ja«, sagte Medivh und sah sich im Raum um. Trotz des Chaos, das sein eigener Angriff verursacht hatte, nickte er. »Ja. Ich glaube, noch nie zuvor ist jemand so weit gekommen.«
»Ich habe die Bücher nach Themen geordnet«, sagte Khadgar, der noch immer vornüber gebeugt stand und sich die Knie hielt. »Geschichtswerke, darunter Epen, zu Eurer Rechten. Naturwissenschaften zu Eurer Linken. Legenden-Material im Zentrum, zusammen mit Sprachen und Nachschlagewerken. Die mächtigsten Texte – alchemistische Notizen, Zauberformeln und Theorie – sind auf dem Balkon zu finden, zusammen mit einigen Büchern, die ich nicht identifizieren konnte und die sehr mächtig zu sein scheinen. Um diese werdet Ihr Euch selbst kümmern müssen.«
»Ja«, sagte Medivh, der jetzt den Jungen ignorierte und den Raum musterte. »Exzellent. Eine hervorragende Arbeit. Sehr gut.« Er blickte sich um und wirkte wie ein Mann, dessen Orientierung gerade eben wieder zurückkehrte. »Wirklich sehr gut. Das hast du gut gemacht. Jetzt komm mit.«
Der Meistermagier stürzte zur Tür, dann brachte er sich abrupt zum Stehen und wandte sich um. »Kommst du?«
Khadgar fühlte sich, als sei er von einem weiteren mystischen Blitz getroffen worden. »Kommen? Wohin gehen wir?«
»Zur Turmspitze«, erklärte Medivh knapp. »Los jetzt, oder wir kommen zu spät. Wir haben nicht viel Zeit!«
Für einen Mann seines Alters bewegte sich Medivh erstaunlich behände die Treppe hinauf und nahm mit schnellem Schritt zwei Stufen auf einmal.
»Was ist da oben?«, keuchte Khadgar, als er den Magus schließlich auf einem Treppenabsatz in der Nähe der Turmspitze einholte.
»Transport«, schnappte Medivh, dann zögerte er für einen Moment. Er wandte sich um, und seine Schultern sanken herab. Kurz schien es, als sei alles Feuer aus seinen Augen verschwunden. »Ich muss mich entschuldigen. Für eben.«
»Herr?«, fragte Khadgar, dem über diese neue Wendung schwindelig wurde.
»Mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war, mein Vertrauen«, sagte der Magus. »Ich hätte mich daran erinnern müssen, dass du im Turm bist. Aber nach dem, was ich erfahren habe, dachte ich, du wärst …«
»Herr?«, unterbrach Khadgar. »Wir haben nicht viel Zeit?«
»Zeit«, sagte Medivh, dann nickte er, und die Kraft kehrte in sein Antlitz zurück. »Nein, wir haben nicht viel Zeit. Komm. Trödle nicht.« Und mit diesen Worten war der ältere Mann bereits wieder auf dem Weg und nahm zwei Stufen auf einmal.
Khadgar wurde klar, dass der von Phantomen heimgesuchte Turm und die chaotische Bibliothek nicht die einzigen Gründe waren, dass Leute Medivh den Dienst quittierten, und er hastete ihm hinterher.
Der alte Kastellan wartete im Observatorium auf sie.
»Moroes«, donnerte Medivh, als er in die Kammer stürmte. »Die goldene Pfeife, bitte.«
»Jau«, sagte der Diener und reichte ihm einen dünnen Zylinder. Zwergen-Runen waren in die Seiten der Röhre geritzt und reflektierten das kalte Fackellicht des Raumes. »Nahm mir bereits die Freiheit, Herr. Sie sind hier.«
»Sie?«, fragte Khadgar. Da hörte er ein Rauschen riesiger Flügel über sich. Medivh trat auf den Wehrgang, und Khadgar blickte hinauf.
Große Vögel stiegen vom Himmel herab, und ihre Flügel leuchteten im Mondlicht. Nein, keine Vögel, erkannte Khadgar – Greife. Sie hatten die Körper großer Raubkatzen, aber ihre Köpfe und Vorderklauen glichen denen von Seeadlern, und ihre Schwingen waren golden.
Medivh hielt dem Jungen Zaumzeug hin. »Schirr deinen an, und wir können losfliegen.«
Khadgar betrachtet die großen Bestien. Der ihm am nächsten stehende Greif stieß ein lautes Kreischen aus und scharrte mit seinen klauenbewehrten Vorderbeinen über die Steinplatten.
»Ich habe noch nie …«, begann der junge Mann. »Ich weiß nicht …«
Medivh runzelte verärgert die Stirn. »Bringen die euch bei den Kirin Tor denn gar nichts bei? Ich hab keine Zeit für so was.« Er hob einen Finger, berührte Khadgars Stirn und murmelte ein paar Worte.
Khadgar stolperte zurück und schrie vor Überraschung auf. Die Berührung des Magus fühlte sich an, als triebe ihm jemand ein heißglühendes Schwert ins Gehirn.
Medivh sagte: »Jetzt weißt du es. Leg deinem Greif das Zaumzeug an. Los!«
Khadgar berührte seine Stirn und stieß ein überraschtes Keuchen aus. Ja. Er wusste jetzt, wie man einen Greifen richtig anschirrte, und auch wie man einen ritt, sowohl mit Sattel als auch ohne, im Stil der Zwerge. Er wusste, wie man wendete, wie man ein Schweben erzwang, und vor allem, wie man sich auf eine plötzliche Landung vorbereitete.
Khadgar legte seinem Greifen das Geschirr an, während sein Schädel leicht pochte, als müsse das neue Wissen das Wissen, das sich bereits in seinem engen Kopf befand, zur Seite drängen, um sich Platz zu schaffen.
»Bereit? Folge mir!«, rief Medivh und wartete nicht auf eine Antwort.
Das Paar stieg in die Luft. Die großen Tiere strengten sich an und schlugen heftig mit den Flügeln, um mit ihrer schweren Last aufsteigen zu können. Die Ungetüme konnten Zwerge in Rüstungen tragen, aber Menschen überstiegen fast ihre Kräfte.
Khadgar warf sich mit seinem Greifen gekonnt in eine Kurve und folgte Medivh, als der Magus sich zu den dunklen Baumkronen hinabschwang. Der Schmerz in seinem Kopf breitete sich von dem Punkt ans, an dem Medivh ihn berührt hatte, und nun fühlte sich seine Stirn schwer an, und seine Gedanken kämpften sich durch einen Nebel. Trotzdem konzentrierte er sich und folgte den Bewegungen des Meistermagiers, als benutze er schon sein ganzes Leben einen Greifen.
Der jüngere Magier versuchte, zu Medivh aufzuschließen.
Er wollte ihn fragen, wohin sie flogen, was ihr Ziel sei, aber er konnte ihn nicht einholen. Und selbst wenn es ihm gelungen wäre, hätte der rauschende Wind auch die lautesten Schreie erstickt. Vor ihnen erhoben sich die Berge. Sie flogen nach Osten.
Khadgar konnte nicht sagen, wie lange sie in der Luft waren. Er döste mehrmals unruhig auf dem Greifenrücken ein, doch seine Hände hielten die Zügel fest gepackt, und der Greif folgte unbeirrbar seiner Bruder-Kreatur. Erst als Medivh sein Tier plötzlich nach rechts lenkte, schüttelte sich Khadgar aus seinem Schlaf (falls es Schlaf war) und folgte dem Meistermagier, der jetzt Kurs nach Süden nahm. Khadgars Kopfschmerzen, höchstwahrscheinlich das Ergebnis des Zaubers, hatten sich fast vollständig aufgelöst, und nur ein vages, dumpfes Pochen war geblieben.
Sie hatten die Berge hinter sich gelassen, und Khadgar erkannte, dass sie jetzt über offenes Land flogen. Unter ihnen lag das Mondlicht und spiegelte sich in Myriaden von Wasserlöchern. Ein großes Moor oder ein Sumpf, dachte Khadgar. Es musste jetzt früher Morgen sein. Der Horizont zu ihrer Rechten begann im Versprechen eines neuen Tages zu glühen.
Medivh ging tief und hob beide Hände über den Kopf. Er wob einen Zauber auf dem Greifenrücken, erkannte Khadgar, und obwohl dessen Geist ihm versicherte, dass auch er wusste, wie man dies tat, während man das große Tier mit den Knien lenkte, wurde ihm doch bang ums Herz bei dem Gedanken, selbst ein solches Manöver auszuführen.
Die Kreaturen ließen sich weiter fallen, und Medivh wurde plötzlich in eine Kugel aus Licht gebadet, die die Konturen seines Greifen als riesigen Schatten auf das Land unter ihnen warf. Dort machte der junge Magier ein Lager aus, das auf einer niedrigen Anhöhe lag, die aus dem Sumpf herausragte.
Sie flogen über das Lager hinweg, und Khadgar hörte unter sich Schreie und das Klappern von Rüstungen und Waffen, die hastig ergriffen wurden. Was tat Medivh?
Sie entfernten sich zunächst vom Lager. Dann aber flog Medivh eine weite Kurve, der Khadgar Bewegung um Bewegung folgte. Sie glitten wieder über das Lager, und es war jetzt heller – die Feuer, die zuvor fast erloschen gewesen waren, hatten jetzt frisches Holz als Nahrung erhalten und loderten hell in der Dämmerung. Khadgar sah, dass es eine große Patrouille war, vielleicht sogar eine Kompanie. Das Zelt des Kommandanten war reich verziert, und Khadgar erkannte das Banner von Azeroth, das darüber flatterte.
Verbündete also, denn es hieß, Medivh pflege eine sehr enge Beziehung zu König Llane von Azeroth und Lothar, dem Champion des Königreiches. Khadgar erwartete, dass Medivh landen würde, doch stattdessen grub der Magus seine Fersen in die Flanken seines Reittiers und zog den Kopf des Greifen in die Höhe. Die riesigen Schwingen des Tieres schlugen die dunkle Luft, und sie stiegen wieder auf. Nun rauschten sie nach Norden. Khadgar hatte keine andere Wahl als zu folgen, während Medivhs Lichtkugel schwächer wurde und der Meistermagier wieder die Zügel aufnahm.
Sie flogen wieder über das Marschland, und Khadgar sah ein dünnes Band unter sich, zu gerade für einen Fluss, zu breit für einen Bewässerungsgraben. Eine Straße also, die sich durch den Sumpf zog und die Inseln trockenen Landes verband, die sich aus dem Moor erhoben.
Dann näherten sie sich einer solchen Insel, auf der Khadgar ein weiteres Lager ausmachte, das auf einer von Gehölz umschlossenen Lichtung lag. Auch hier gab es Flammen, doch es waren nicht die hellen, kontrollierten Feuer der Soldaten. Diese Feuer hier waren über die gesamte Lichtung verteilt, und als sie näher herankamen, erkannte Khadgar, dass es sich um brennende Wagen handelte. Ihr Inhalt lag zusammen mit dunklen, bewegungslosen menschlichen Gestalten über den sandigen Boden verstreut.
Wie zuvor flog nun Medivh über das Lager hinweg, dann schwang er sich hoch in die Lüfte, machte eine Wende und überflog den Ort noch einmal. Khadgar folgte ihm und lehnte sich über die Seite seines Reittiers, um einen besseren Blick zu erhaschen. Es schien eine Karawane zu sein, die man geplündert und in Brand gesteckt hatte. Aber auch die Waren lagen über den Boden verstreut. Würden Banditen nicht die Beute und die Wagen an sich bringen? Gab es Überlebende?
Die Antwort auf die letzte Frage ließ nicht lange auf sich warten. Ein lauter Schrei ertönte, und eine Wolke von Pfeilen schoss aus dem Gebüsch hervor, das die Lichtung umgab.
Der Leitgreif stieß ein Kreischen aus, als Medivh die Zügel zurückriss und die Kreatur aus der Bahn der Pfeile dirigierte. Khadgar versuchte das gleiche Manöver, und das warme, falsche, tröstliche Wissen in seinem Hirn sagte ihm, dass dies die richtige Art war zu wenden. Doch im Unterschied zu Medivh ritt Khadgar zu weit vorne auf seinem Reittier, und er konnte nicht genug Zug in seinen Griff legen.
Der Greif flog eine Kurve, aber es gelang ihm nicht, allen Pfeilen zu entgehen. Spitzen mit Widerhaken durchbohrten die Federn des rechten Flügels, und das große Tier stieß einen blökenden Schrei aus, zuckte mitten im Flug und versuchte verzweifelt, mit den Schwingen zu schlagen, um außer Reichweite der Pfeile zu entkommen.
Khadgar hatte das Gleichgewicht verloren, und es war ihm unmöglich, sich wieder aufzurichten. In einem einzigen Moment schlüpften seine Hände aus den Zügeln, und seine Knie verloren den Halt um den Körper des Greifen. Sobald die feste Kontrolle des Menschen verschwunden war, bockte das Tier und warf Khadgar ab.
Er ruderte verzweifelt mit den Armen und versuchte, die Zügel wieder zu ergreifen. Die Lederriemen peitschten nach seinen Fingerspitzen und verschwanden dann in der Nacht. Zusammen mit dem Reittier.
Und Khadgar stürzte in die waffenstarrende Finsternis, die unter ihm lag.