5 Sand im Stundenglas

»Ich habe sie schon vorher gesehen«, sagte Khadgar.

Es war sieben Tage nach dem Kampf im Sumpf. Mit ihrer Rückkehr in den Turm (und nach einem Tag der Erholung für Khadgar) hatte die Lehrzeit des jungen Magiers ernsthaft begonnen. In der ersten Stunde des Tages, vor dem Frühstück, übte Khadgar unter Medivhs Anleitung seine Zauber. Vom Frühstück bis zum Mittagessen und vom Mittagessen bis zum Abendessen half Khadgar dem Magus bei verschiedenen Arbeiten. Seine Aufgaben bestanden vor allem darin, Notizen zu machen, während Medivh Zahlen ablas, in die Bibliothek zu gehen, um dieses oder jenes Buch zu holen, oder einfach die Werkzeuge zu halten, während der Magier arbeitete.

Und genau das tat Khadgar gerade, als er sich in der Nähe des älteren Magiers endlich wohl genug fühlte, um ihm zu erzählen, was er über den Hinterhalt wusste.

»Wen hast du schon vorher gesehen?«, fragte sein Mentor geistesabwesend, während er weiter durch eine große Linse auf sein aktuelles Experiment blickte. Der Meistermagier trug kleine, spitze Fingerhüte, die in unglaublich dünnen Nadeln endeten. Damit justierte er einen Apparat, der wie eine mechanische Hummel aussah, die ihre schweren Flügel bewegte, während Medivhs Nadeln in ihr herumstocherten.

»Die Orks«, sagte Khadgar. »Ich habe die Orks schon vorher gesehen.«

»Das hast du nicht erwähnt, als du hier angekommen bist«, sagte Medivh, immer noch wie abwesend. Seine Finger tanzten in erstaunlicher Präzision über das Gerät hinweg, die Nadeln fuhren hinein und heraus. »Ich weiß noch, dass ich dich nach anderen Völkern gefragt habe. Du hast sie nicht erwähnt. Wo hast du sie gesehen?«

»In einer Vision. Kurz nach meiner Ankunft«, sagte Khadgar.

»Ah, du hattest eine Vision. Nun, da bist du nicht der Einzige. Moroes hat dir wahrscheinlich davon erzählt. Er ist ein ziemliches Plappermaul …«

»Ich hatte eine Vision, vielleicht sogar zwei. Diejenige, bei der ich mir vollkommen sicher bin, handelte von einem Schlachtfeld, und diese Kreaturen, diese Orks, waren dort. Sie griffen uns an. Ich meine, sie griffen die Menschen an, bei denen ich war.«

»Hm«, machte Medivh, und unter seinem Schnurrbart erschien die Spitze seiner Zunge, während er die Nadeln vorsichtig über den Kupferleib der Hummel bewegte.

»Und ich war nicht hier«, fuhr Khadgar fort. »Nicht in Azeroth oder Lordaeron. Wo auch immer ich war, der Himmel war rot wie Blut.«

Es war als hätte Medivh ein mystischer Blitz getroffen. Er zuckte heftig zusammen, und das komplizierte Gerät unter seinen Händen strahlte hell auf, als er die falschen Teile berührte. Dann kreischte es auf – und starb.

»Roter Himmel?«, rief der Magier, wandte sich von der Werkbank ab und fasste Khadgar scharf ins Auge. Eine machtvolle Energie schien über die dunklen Brauen des älteren Mannes zu huschen, und seine Augen waren so grün wie ein vom Sturm heimgesuchtes Meer.

»Rot. Wie Blut«, sagte Khadgar. Der junge Mann hatte gedacht, er habe sich inzwischen an Medivhs wechselhafte Launen gewöhnt, aber dieser jähe Stimmungsumschwung traf ihn mit der Wucht eines Schlags.

Der ältere Magier stieß ein Zischen aus. »Erzähl mir davon. Von der Welt, den Orks, dem Himmel«, befahl Medivh, und seine Stimme klang hart wie Stein. »Erzähl mir alles

Khadgar gab die Vision seiner ersten Nacht wieder und erwähnte alles, woran er sich erinnern konnte. Medivh unterbrach ihn ständig. Wie waren die Orks gekleidet? Wie war diese Welt beschaffen? Was war am Himmel zu sehen, am Horizont? Trugen die Orks irgendwelche Banner? Khadgar hatte das Gefühl, seine Gedanken würden seziert. Medivh kitzelte die Informationen mühelos aus dem Jungen heraus. Khadgar erzählte ihm alles.

Nur von den seltsam vertrauten Augen des Krieger-Zauberers, der die Menschen angeführt hatte, erwähnte er nichts. Er fühlte sich nicht wohl dabei, und Medivhs Fragen schienen sich mehr auf die Welt mit dem roten Himmel und die Orks als auf die menschlichen Verteidiger zu konzentrieren. Während Khadgar die Vision beschrieb, schien sich der ältere Magier zu beruhigen, aber die bewegte See brodelte immer noch unter seinen buschigen Augenbrauen. Khadgar sah keinen Grund, den Magus weiter zu verärgern.

»Kurios«, sagte Medivh schließlich langsam und nachdenklich, nachdem Khadgar seinen Bericht beendet hatte. Der Meistermagier lehnte sich in seinem Stuhl zurück und tippte mit einem nadelbewehrten Finger an seine Lippen. Schweigen breitete sich wie ein Leichentuch über den Raum. Schließlich sagte er: »Das ist neu. Das ist wirklich neu.«

»Herr?«, begann Khadgar.

»Medivh«, erinnerte ihn der Meistermagier.

»Medivh, Herr«, begann Khadgar von Neuem. »Woher kommen diese Visionen? Sind sie ein Spuk aus der Vergangenheit – oder Vorzeichen der Zukunft?«

»Beides«, sagte Medivh. »Und keines von beidem. Geh und hol einen Krug Wein aus der Küche. Meine Arbeit ist für heute erledigt, fürchte ich. Es ist bald Zeit zum Abendessen, und diese Sache hier verlangt ein paar Erklärungen.«

Als Khadgar zurückkehrte, hatte Medivh ein Feuer im Kamin entfacht und es sich bereits in einem der größeren Sessel bequem gemacht. Er hielt seinem Schüler zwei Becher hin, und Khadgar goss ihnen ein. Der süße Duft des roten Weins mischte sich mit dem Rauch des Zedernholzes.

»Trinkst du?«, fragte Medivh, als habe er erst nachträglich daran gedacht.

»Manchmal«, sagte Khadgar. »In der Violetten Zitadelle ist es Sitte, zum Essen Wein zu servieren.«

»Ja«, sagte Medivh. »Das wäre unnötig, wenn ihr einfach nur die Blei-Auskleidung eures Aquädukts beseitigen würdet … Aber du hast mich nach den Visionen gefragt.«

»Ja, ich sah, was ich Euch beschrieben habe, und Moroes …« Khadgar zögerte einen Augenblick. Er wollte den Ruf des Kastellans als Tratschtante nicht noch mehr vertiefen, aber dann entschied er sich weiterzusprechen. »Moroes sagte, damit stehe ich nicht allein. Die Menschen würden hier ständig solche Dinge sehen.«

»Moroes hat Recht«, sagte Medivh, nahm einen Schluck Wein und leckte sich die Lippen. »Eine Spätlese, wirklich nicht übel. Dass dieser Turm ein Ort der Macht ist, sollte dich wenig überraschen. Zauberer fühlen sich von solchen Orten angezogen, wo das Universum oft weniger gefestigt ist und sich um sich selbst windet. Und manchmal findet man dort sogar Durchgänge zum Twisting Nether oder zu noch ganz anderen Welten.«

»Also war das, was ich gesehen habe, eine andere Welt?«, unterbrach ihn Khadgar.

Medivh hob eine Hand und gebot dem jüngeren Mann mit dieser Geste zu schweigen. »Ich sage nur, dass es Orte gibt, die aus dem einen oder anderen Grund zu Stätten großer Macht werden. Und ein solcher Ort befindet sich hier, in den Redridge-Bergen. Einst, vor langer Zeit, ist hier etwas Mächtiges explodiert, hat das Tal geformt und die Realität um diesen Ort herum geschwächt.«

»Und aus diesem Grund habt Ihr Euch hier niedergelassen«, folgerte Khadgar.

Medivh schüttelte den Kopf. »Das ist eine Theorie.«

»Ihr sagtet, hier habe vor langer Zeit eine Explosion stattgefunden, die diesen Ort schuf und ihn zu einem Sitz magischer Macht machte. Dann kamt ihr …«

»Ja«, sagte Medivh. »Das stimmt alles, wenn man es auf eine lineare Art betrachtet. Aber was ist, wenn es zu der Explosion kam, weil ich schließlich hierher kommen würde und der Ort für mich bereit sein musste?«

Khadgar runzelte nachdenklich die Stirn. »Aber Dinge geschehen nicht auf solche Art.«

»In der normalen Welt nicht. Ja, da hast du Recht«, sagte Medivh. »Aber Magie ist die Kunst, das Normale zu umgehen. Und aus diesem Grund sind die philosophischen Debatten in den Hallen der Kirin Tor solch barer Unsinn. Sie versuchen, der Welt eine Vernunft aufzuzwingen und ihre Bewegungen zu regulieren. Die Sterne marschieren in geordneten Bahnen über den Himmel, die Jahreszeiten folgen im Gleichschritt aufeinander, und Männer und Frauen leben und sterben. Wenn dies nicht geschieht, ist es Magie, eine Verzerrung des Universums, ein paar Dielenbretter, die aus der Form geraten sind und auf fleißige Hände warten, um sie zu erneuern.«

»Aber wenn das dieser Gegend passiert sein soll, um sich auf Euch vorzubereiten …«, begann Khadgar.

»… dann wäre die Welt ein ganz anderer Ort als sie zu sein scheint«, antwortete Medivh. »Was sie auch tatsächlich ist. Wie funktioniert die Zeit?«

Khadgar kannte den Magier inzwischen zu gut, um von Medivhs sprunghaftem Themenwechsel überrascht zu werden. »Zeit?«

»Wir benutzen sie, wir trauen ihr, wir messen mit ihr – aber was ist sie?« Medivh lächelte über den Rand seiner Tasse hinweg.

»Zeit ist die regelmäßige Abfolge von Momenten. Wie Sand, der ein Stundenglas durchläuft«, sagte Khadgar.

»Eine hervorragende Analogie«, sagte Medivh. »Eine, die ich selbst benutzen wollte, und dann wollte ich das Stundenglas mit der mechanischen Uhr vergleichen. Erkennst du den Unterschied zwischen beiden?«

Khadgar schüttelte langsam den Kopf, während Medivh an seinem Wein nippte.

Schließlich sprach der Magier: »Nein, du bist nicht dumm, Junge. Es ist ein schwieriges Konzept für das menschliche Gehirn. Die Uhr ist eine mechanische Simulation der Zeit, jeder Schlag wird durch ein Drehen der Räder kontrolliert. Du betrachtest eine Uhr und weißt, dass alles mit einem Ticken des Rades weitergeht, mit einem Klicken des Getriebes. Du weißt, was als nächstes kommt, weil der Uhrmacher es so gewollt hat.«

»Genau«, sagte Khadgar. »Die Zeit ist eine Uhr.«

»Ah, aber die Zeit ist auch ein Stundenglas«, sagte der ältere Magier. Er griff nach einer Sanduhr, die auf dem Kaminsims stand, und drehte sie um. Khadgar betrachtete das Gerät verwundert und versuchte, sich zu erinnern, ob es schon dort schon stand, bevor er den Wein gebracht hatte. Oder überhaupt, bevor Medivh danach gegriffen hatte.

»Auch das Stundenglas misst die Zeit, nicht wahr?«, fragte Medivh. »Doch hier weißt du nie, welches Sandkorn sich zu welcher Sekunde von der oberen Hälfte in die untere Hälfte bewegen wird. Wolltest du die Sandkörner zählen, wäre ihre Anordnung jedes Mal ein wenig anders. Und doch ist das Endresultat stets das gleiche – der ganze Sand ist von oben nach unten geflossen. In welcher Reihenfolge dies geschieht ist gleichgültig.« Die Augen des alten Mannes leuchteten für einen Moment auf. »Also?«, fragte er.

»Also«, begann Khadgar, »sagt Ihr, dass es egal sein könnte, ob Ihr Euren Turm hier erbaut habt, weil eine Explosion dieses Tal geschaffen und das Wesen der Realität an diesem Ort verzerrt hat – oder ob es zu der Explosion kam, weil Ihr schließlich hierher kommen würdet und das Universum Euch die Mittel an die Hand geben musste, die Ihr benötigtet, um hier zu bleiben.«

»Ziemlich nah dran«, sagte Medivh.

»Also sind diese Visionen Sandkörner?«, fragte Khadgar. Medivh fürchte leicht die Stirn, aber der Junge blieb bei seinem Gedanken. »Wenn der Turm ein Stundenglas ist und keine Uhr, dann gibt es Sandkörner, die aus der Zeit selbst stammen und ständig durch ihn hindurch fallen. Sie sind von ihrem Ursprung losgelöst oder überlagern einander, sodass wir sie sehen können, aber nicht klar. Manche von ihnen sind Teil der Vergangenheit. Manche von ihnen sind Teil der Zukunft. Könnten manche von ihnen auch von anderen Welten stammen?«

Jetzt grübelte auch Medivh selbst tief nach. »Das ist möglich. Volle Punktzahl. Gut durchdacht. Aber du darfst nicht vergessen, dass Visionen nur das sind: Visionen. Sie wehen herein und hinaus. Wäre der Turm eine Uhr, würden sie sich regelmäßig bewegen, und man könnte sie leicht erklären.

Doch da der Turm ein Stundenglas ist, bewegen sie sich nicht regelmäßig. Sie schaffen ihre eigenen Gesetze und fordern uns trotzig heraus, ihre chaotische Natur zu erklären.« Medivh lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Ein Umstand, mit dem ich sehr gut leben kann. Ich hatte noch nie viel für ein geordnetes, sorgfältig durchplantes Universum übrig.«

Khadgar fügte hinzu: »Aber habt Ihr jemals eine bestimmte Vision gesucht? Gäbe es nicht einen Weg, eine bestimmte Zukunft aufzuspüren und dann dafür zu sorgen, dass sie auch geschieht?«

Medivhs Laune verfinsterte sich merklich. »Oder dafür zu sorgen, dass sie nicht geschieht …«, sagte er. »Nein. Es gibt Dinge, die selbst ein Meister respektiert und von denen er sich fernhält. Dies ist eines davon.«

»Aber …«

»Kein Aber«, sagte Medivh, erhob sich aus seinem Sessel und stellte seine leere Tasse auf das Kaminsims. »Jetzt, da du ein wenig Wein gekostet hast, wollen wir doch mal sehen, ob deine magische Kontrolle davon beeinflusst wird. Lass meinen Becher schweben.«

Khadgar zog seine Brauen zusammen und erkannte, dass seine Zunge bereits etwas schwer war. »Aber wir haben getrunken.«

»Genau«, sagte der Meistermagier. »Du weißt niemals, welchen Sand dir das Universum ins Gesicht werfen wird. Du kannst entweder versuchen, ständig wachsam und bereit zu sein, und so das Leben, wie wir es kennen, meiden. Oder du bist bereit, das Leben zu genießen und den Preis dafür zu zahlen. Und nun lass den Becher schweben.«

Khadgar erkannte erst jetzt, wie viel er getrunken hatte. Er versuchte, das breiige Gefühl aus seinem Gehirn zu vertreiben und den schweren Porzellanbecher vom Kaminsims zu heben.

Wenige Sekunden später war er auf dem Weg zur Küche, um einen Besen und eine Kehrschaufel zu holen.


Abends gehörte Khadgars Zeit ihm selbst, und er konnte üben und forschen, während Medivh sich anderen Dingen widmete. Khadgar fragte sich, was diese anderen Dinge wohl sein mochten, aber er nahm an, dass Korrespondenz dazu gehörte, denn zweimal pro Woche erschien oben auf dem Turm ein Zwerg auf einem Greif. Er trug einen kleinen Sack bei sich, der sich erheblich vergrößert hatte, wenn er ging.

Medivh gab dem Jungen alle Freiheit in der Bibliothek, um seine Studien so zu betreiben, wie er selbst es für richtig befand, und dazu gehörte es auch, die Unmengen von Wünschen zu berücksichtigen, die ihm seine früheren Meister aus der Violetten Zitadelle mitgegeben hatten.

»Ich verlange nur«, sagte Medivh lächelnd, »dass du mir zeigst, was du schreibst, bevor du es ihnen schickst.« Khadgar musste zu erkennen gegeben haben, wie peinlich ihm dies war, denn Medivh fügte hinzu: »Nicht, weil ich Angst hätte, dass du etwas vor mir verbirgst, mein Vertrauen, sondern weil ich es hassen würde, wenn sie etwas erfahren, das ich selbst inzwischen vergessen habe.«

Also stürzte sich Khadgar auf die Bücher. Für Guzbah fand er eine alte, häufig gelesene Schriftrolle mit einem epischen Gedicht, dessen nummerierte Strophen sehr detailliert einen Kampf zwischen Medivhs Mutter Aegwynn und einem nicht namentlich benannten Dämon wiedergaben. Für Lady Delth fertigte er eine Liste der verrottenden Elfen-Bücher in der Bibliothek an. Und für Alonda tauchte er in jene Bestiarien hinab, die er lesen konnte. Aber es half nichts. Er konnte die Anzahl der Troll-Rassen nicht über die Vier hinausführen.

Khadgar verbrachte seine Freizeit auch mit seinen falschen Schlüsseln und seinen persönlichen Öffnungszaubern. Er versuchte weiterhin, jene Bücher zu meistern, die seinen früheren Versuchen, ihre Siegel zu knacken, widerstanden hatten. Diese Bände besaßen eine starke Magie, und er verbrachte manchmal ganze Abende mit Wahrsage-Riten, bevor er auch nur den geringsten Hinweis darauf erhielt, welche Art von Zauber ihren Inhalt schützte.

Zuletzt war da noch die Sache mit dem Wächter. Medivh hatte dieses Thema angeschnitten. Lord Lothar hatte angenommen, der Magus habe den jungen Mann darüber aufgeklärt, und der Champion des Königs hatte sich schnell zurückgezogen, als er erkannte, dass dem nicht so war.

Der Wächter, so schien es, war ein Phantom, nicht realer als die in der Zeit verlorenen Visionen, die durch den Turm strichen. In einem Elfen-Buch wurde gelegentlich beiläufig ein Wächter erwähnt, wenn es um die Geschichte der Königsfamilien von Azeroth ging. Bei dieser Hochzeit oder bei jener Beerdigung war ein Wächter zugegen gewesen, und manchmal führte er die Vorhut in irgendeiner Schlacht an. Stets gegenwärtig, doch niemals genau identifiziert. War dieser Wächter ein Titel oder, wie Medivhs angeblich fast unsterbliche Mutter, ein bestimmtes Wesen?

Es gab noch andere Phantome, die ebenfalls im Orbit um diesen Wächter kreisten. Eine Art Orden, eine Organisation. War der Wächter ein heiliger Ritter? Und das Wort »Tirisfal« war an den Rand eines Grimoires geschrieben und dann ausradiert worden. Doch Khadgars besondere Geschicklichkeit im Aufspüren von Geheimnissen erlaubte es ihm herauszufinden, was einst dort geschrieben stand, indem er der Spur der Feder folgte, die sich in das Pergament eingedrückt hatte. Der Name eines bestimmten Wächters? Oder einer Organisation? Oder etwas vollkommen anderes?

Es war an dem Abend, als Khadgar dieses Wort fand, vier Tage nach dem Vorfall mit dem Becher, dass der junge Mann in eine weitere Vision stürzte. Beziehungsweise die Bilder schlichen sich an ihn heran, umzingelten und verschlangen ihn mit Haut und Haaren!

Zuerst kam der Geruch, eine weiche, pflanzliche Wärme gesellte sich zu den verfallenden Texten der Bibliothek, ein tiefgrüner Duft, der sich langsam in dem Raum erhob. Die Hitze darin nahm zu, nicht unangenehm, jedoch wie eine warme, feuchte Zudecke. Die Wände wurden dunkler und verwandelten sich in Grün. Ranken krochen an den Seiten der Regale empor, schlängelten sich durch die dort befindlichen Bücher und ersetzten sie, während sie breite, dicke Blätter ausbildeten. Große, bleiche Mondblumen und rote Orchideen begannen zwischen aufgestapelten Schriftrollen zu sprießen.

Khadgar sog tief den Atem ein, doch eher vor erregter Erwartung denn vor Furcht. Dies war nicht die Welt des blutroten Himmels und der Ork-Armeen, die er zuvor gesehen hatte. Dies war etwas anderes. Er befand sich in einem Dschungel, aber es war ein Dschungel auf dieser Welt. Der Gedanke beruhigte ihn.

Und dann verschwand auch der Tisch, an dem Khadgar gesessen, das Buch, in dem er gelesen hatte, und Khadgar hockte an einem Lagerfeuer. Drei weitere junge Männer saßen hier. Sie schienen in etwa in seinem Alter zu sein und sich auf einer Art Expedition zu befinden. Schlafdecken waren ausgelegt worden, und ein Kochtopf, leer und bereits gewaschen, trocknete am Feuer. Alle drei trugen die Kleidung von Reitern; sie war gut geschnitten und offensichtlich von erlesener Qualität.

Die drei jungen Männer lachten und scherzten, doch wie zuvor konnte Khadgar die genauen Worte nicht verstehen. Der Blonde in der Mitte war gerade dabei, eine Geschichte zu erzählen, und nach den Bewegungen seiner Hände zu urteilen, ging es darin um eine wohl proportionierte Frau.

Der Mann zu seiner Rechten lachte und schlug sich auf die Knie, während der Blonde mit seiner Geschichte fortfuhr. Der andere strich sich mit den Fingern durchs Haar, und Khadgar bemerkte, dass es bereits aus der Stirn zurückwich. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er auf Lord Lothar blickte. Augen und Nase waren seine, das Lächeln war seines – nur das Gesicht war noch nicht wettergegerbt und der Bart noch nicht grau. Aber er war es.

Khadgar betrachtete den dritten Mann und erkannte sofort den jungen Medivh. Dieser trug dunkelgrüne Jäger-Tracht und einen Umhang, dessen Kapuze zurückgezogen war und ein junges, fröhliches Gesicht enthüllte. Seine Augen leuchteten im Licht des Lagerfeuers wie polierter Jadestein, und er bedachte die Geschichte des Blonden mit einem schüchternen Lächeln.

Der Blonde in der Mitte erreichte offenbar einen bestimmten, wichtigen Punkt in seiner Geschichte und gestikulierte in Richtung des jungen Medivh, der mit den Schultern zuckte und dem die Situation offensichtlich peinlich war. Es schien, als spiele auch der zukünftige Magier eine Rolle in der Erzählung.

Der Blonde musste Llane sein, jetzt König Llane von Azeroth. Ja, die Geschichten über die frühen Abenteuer der drei Männer hatten ihren Weg sogar in die Archive der Violetten Zitadelle gefunden. Die drei wanderten oft an den Grenzen des Königreichs, erforschten die wenig bekannten Länder und bekämpften alle Arten von Räubern und Monstern.

Llane beendete seine Geschichte, und Lothar fiel beinahe von dem Baumstamm, auf dem er saß, so sehr wurde er von Gelächter geschüttelt. Auch Medivh unterdrückte ein Lachen, indem er sich die Hand vor den Mund legte, damit es aussah, als würde er sich nur räuspern.

Lothars Gelächter klang langsam ab, und Medivh sagte etwas. Dabei öffnete er die Handflächen nach außen, um seine Aussage zu unterstreichen. Und jetzt stürzte Lothar tatsächlich nach hinten, worauf selbst Llane sein Gesicht in die Hand nehmen musste, während sein Körper vor Lachen nur hilflos zuckte. Was immer Medivh auch gesagt hatte, offenbar hatte es Llanes Geschichte erst gekrönt.

Dann bewegte sich etwas im Dschungel, der sie umgab. Die drei Männer hielten sofort mit ihrer fröhlichen Feier ein. Sie mussten es gehört haben. Khadgar, der Geist in dieser Versammlung, fühlte es eher. Etwas Böses kroch durch das Gebüsch am Rande des Feuerscheins.

Lothar erhob sich langsam und langte nach einem großen, breitklingigen Schwert, das in einer Scheide zu seinen Füßen lag. Llane griff hinter seinen Baumstamm und zog eine doppelklingige Axt hervor. Durch Gesten gab er Lothar zu verstehen, in eine Richtung zu gehen, während Medivh die andere nehmen sollte. Medivh war inzwischen ebenfalls aufgestanden, und obwohl seine Hände leer waren, war er, selbst in diesen jungen Jahren, der Imposanteste von den dreien.

Llane trat mit der Breitaxt an einer Seite des Lagers nach vorne. Khadgar sah, wie er mit sicherer Bedächtigkeit einen Fuß vor den anderen setzte. Was immer sich dort am Rand des Lagers befand, Llane wollte, dass es sich zu erkennen gab.

Das Ding kam diesem Wunsch nach und brach aus seinem Versteck. Es war um mindestens die Hälfte größer als die jungen Burschen, und einen Augenblick lang glaubte Khadgar, er stehe einem riesigen Ork gegenüber.

Dann erkannte er das Wesen aus den Bestiarien, die Alonda ihn hatte durchstöbern lassen. Er war ein Troll, ein Mitglied der Dschungel-Rasse, dessen blaue Haut bleich im Mondlicht schimmerte. Sein langes graues Haar zog sich in einem Kamm von der Stirn bis in den Nacken. Wie die Orks besaß auch dieses Monster Fänge, die aus seinem Unterkiefer hervorragten, aber bei ihm waren sie gerundete, pflockartige Hauer, dicker als die scharfen Zähne der Orks. Seine Ohren und seine Nase waren langgezogene Karikaturen menschlicher Vorbilder. Es war in Felle gekleidet, und eine Kette aus menschlichen Fingerknochen tanzte auf seiner nackten Brust. In der Rechten führte es einen großen Speer.

Der Troll stieß einen Schlachtruf aus, fletschte die Zähne und wölbte seine breite Brust noch weiter hervor. Er stieß mit dem Speer in einem Scheinangriff zu, und Llane schwang seine Axt nach der vorgestreckten Waffe, doch der Schlag ging daneben. Lothar griff von der einen Seite aus an, und Medivh näherte sich von der anderen. Arkane Energie tanzte auf seinen Fingerspitzen.

Der Troll wich Lothars großem Schwert aus und tänzelte einen weiteren Schritt zurück, als Llane die Luft mit seiner großen Axt teilte. Jeder Schritt der Kreatur war gewaltig, überbrückte mehr als einen Meter, und die beiden Krieger drangen auf den Troll ein, wann immer er sich zurückzog. Er benutzte seinen Speer mehr als Schild, denn als Waffe, hielt den Schaft mit beiden Händen und wehrte die Schläge ab.

Khadgar erkannte, dass die Kreatur nicht kämpfte, um die Menschen zu töten. Noch nicht. Sie versuchte, sie in Position zu bringen.

In der Vision musste der junge Medivh das Gleiche erkannt haben, denn er schrie den anderen etwas zu. Aber da war es bereits zu spät, denn zwei weitere Trolle wählten genau diesen Augenblick, um aus ihren Verstecken zu springen, zur Rechten und Linken des anderen Trolls.

Trotz seiner taktischen Raffinesse war Llane derjenige, den diese Wendung am meisten überraschte, und der Speer des ersten Trolls fuhr ihm in den rechten Arm. Die Schneide der Breitaxt biss in die Erde, während der künftige König einen Fluch ausspie.

Die beiden anderen Trolle konzentrierten sich auf Lothar. Der Krieger wurde zurück gedrängt, während er seine breite Klinge mit vollendeter Geschicklichkeit schwang, erst einen Schlag blockierte, dann den nächsten. Doch die Strategie der Dschungel-Trolle war klar zu erkennen. Sie trieben die beiden Krieger auseinander, trennten Llane von Lothar und zwangen Medivh, sich für einen der beiden zu entscheiden.

Medivh konzentrierte sich auf Llane. Aus seiner Phantom-Perspektive heraus nahm Khadgar an, dass er dies tat, weil Llane bereits verwundet war. Medivh stürmte vor, seine Hände flammten …

… und das hintere Ende des Troll-Speers traf ihn voll ins Gesicht, als der Unhold den schweren Schaft in Medivhs Kiefer rammte. Dann wandte die riesige Bestie sich um und schlug mit einer erstaunlich flüssigen und eleganten Bewegung nach dem verwundeten Llane. Medivh ging zu Boden, ebenso Llane, und die Axt entfiel der Hand des künftigen Herrschers.

Der Troll zögerte einen Augenblick und war offenbar unschlüssig, wen er zuerst töten sollte. Er entschied sich für Medivh, der ausgestreckt am Boden zu seinen Füßen lag, da dieser ihm am nächsten war. Der Troll hob den Speer, und die Obsidian-Spitze glitzerte tückisch im Mondlicht.

Der junge Medivh würgte eine Reihe von Silben hervor. Ein winziger Staub-Tornado erhob sich vom Boden und sprang in das Gesicht des Trolls, der sofort geblendet war. Die Bestie hielt einen Moment inne und griff mit einer Hand nach den staubverklebten Augen, um sie wieder frei zu reiben.

Diese Galgenfrist war alles, was Medivh benötigte. Er warf sich noch vorne, aber nicht mit einem Zauber, sondern mit einem einfachen Messer, das er von hinten in den Oberschenkel des Trolls rammte. Der Troll schrie schmerzerfüllt in die Nacht und stach blind um sich. Der Speer fuhr dort in den Boden, wo Medivh gerade noch gelegen hatte, doch der junge Magier hatte sich fort gerollt und stand jetzt auf. Seine Fingerspitzen knisterten.

Er murmelte ein Wort. Blitze sammelten sich zwischen seinen Fingern zu einem Ball und schossen vor. Der Troll zuckte heftig unter dem Schock und hing einen Augenblick lang bewegungslos gefangen in einer blau leuchtenden Sphäre. Die Kreatur fiel auf die Knie, aber selbst jetzt war sie noch nicht besiegt. Sie versuchte, sich zu erheben, und in ihren wässrigen roten Augen brannte Hass auf den Zauberer.

Der Troll erhielt niemals eine Chance zur Vergeltung, denn ein Schatten erhob sich hinter ihm, und Llanes wieder aufgehobene Axt glitzerte kurz im Schein des Mondes, bevor sie auf den Schädel des Trolls hinab fuhr und ihn bis zum Hals spaltete. Die Kreatur stürzte mit weit ausgebreiteten Armen nach vorne, und die beiden jungen Männer wandten sich sofort jenen Trollen zu, die gegen Lothar kämpften. Khadgars Blick folgte ihnen.

Der zukünftige Champion hielt seinen beiden Gegnern stand, wenn auch nur mit großer Mühe, und sie hatten ihn inzwischen über das gesamte Lager getrieben. Die Trolle hatten den Todesschrei ihres Bruder gehört, und einer setzte den Angriff fort, während der andere zurück stürmte, um sich Llane und Medivh zu widmen. Er stieß ein unartikuliertes Brüllen aus, als er auf sie zu rannte, und hielt den Speer vorgestreckt wie ein Ritter bei einem Turnier.

Auch Llane stürzte nach vorne, doch im letzten Moment wich er seitlich aus, und die Speerspitze raste an ihm vorbei. Der Troll machte zwei weitere Schritte, die ihn ans Feuer herantrugen, wo Medivh wartete.

Jetzt schien der Magier vollkommen von Energie erfüllt zu sein. Vom brennenden Holz beleuchtet, sah er aus wie eine Dämon. Er hatte die Arme weit ausgestreckt und sang etwas Hartes, Rhythmisches.

Und das Feuer selbst sprang auf. Es nahm die Gestalt eines riesigen Löwen an, der sich auf den angreifenden Troll stürzte. Die Dschungel-Kreatur schrie, als sich die Flammen wie ein Mantel um sie schlossen und sie dieses Feuer nicht wieder abschütteln konnte. Der Troll warf sich zu Boden und rollte sich erst auf die eine Seite, dann auf die andere. Er versuchte, die Flammen zu ersticken, aber es gelang ihm nicht. Bald schlug er nur noch wild und hilflos mit den Armen um sich, und schließlich hörte er ganz auf, sich zu bewegen. Das hungrige Feuer verschlang ihn.

Llane war weiter vorgestürmt. Bei dem überlebenden Troll angekommen, schlug er seine Axt in dessen Seite. Die Bestie stieß ein Heulen aus, und Lothar ergriff seine Chance. Der Champion schmetterte den vorgestreckten Speer mit einem Rückhandschlag zur Seite, dann trennte er mit einem waagerechten, präzisen Hieb den Kopf des Trolls sauber von dessen Schultern. Wie ein Komet, eine Blutfontäne nach sich ziehend, flog der Schädel in weitem Bogen durch die Luft und landete im Gebüsch, wo er verschwand.

Obwohl Llane selbst aus einer Wunde blutete, schlug er Lothar auf die Schulter und schien ihn freundschaftlich zu verspotten, weil dieser für seinen Troll so lange gebraucht hatte. Dann legte Lothar eine Hand auf Llanes Brust, um ihn zum Schweigen zu bringen, und zeigte auf Medivh.

Der junge Magier stand noch immer beim Feuer. Er hielt seine Hände offen, doch seine Finger sahen aus wie Klauen. Seine Augen wirkten im Licht des Feuers glasig, und sein Mund war krampfhaft geschlossen. Als die beiden Männer (und der Geist Khadgar) auf ihn zu rannten, kippte der junge Zauberer nach hinten.

Das Paar erreichte Medivh, doch dieser atmete schwer, und seine Pupillen waren im hellen Mondlicht extrem geweitet. Die Krieger und der Besucher aus der Zukunft beugten sich über ihn, als der junge Magier versuchte, Worte aus seinem Mund zu pressen.

»Pass auf mich … auf«, sagte er und blickte weder Llane noch Lothar, sondern Khadgar an. Dann rollten die Augen des jungen Medivh nach oben, und er lag sehr still.

Lothar und Llane versuchten, ihren Freund wiederzubeleben, während Khadgar wie betäubt zurücktaumelte. Hatte Medivh ihn wirklich gesehen, wie jener andere Magier unter dem blutigen Himmel, der Medivhs Augen besessen hatte? Jedenfalls hatte Khadgar ihn zu sich sprechen hören, klare Worte, die in die Tiefe seiner Seele gedrungen waren.

Khadgar wandte sich um, und die Vision fiel in sich zusammen wie die letzten, ersterbenden Flammen eines Feuers. Er war wieder zurück in der Bibliothek und prallte fast mit Medivh zusammen.

»Mein Vertrauen«, sprach eine viel ältere Ausgabe des Magus als jene, die Khadgar gerade in seiner Vision auf dem Boden liegend zurückgelassen hatte. »Geht es dir gut? Ich rief nach dir, aber du hast nicht geantwortet.«

»Entschuldigt, Med … Herr«, sagte Khadgar und holte tief Luft. »Ich hatte eine Vision. Ich habe mich in ihr verloren, fürchte ich.«

Medivh zog die dunklen Brauen zusammen. »Noch mehr Orks und rote Himmel?«, fragt er ernsthaft, und Khadgar erkannte das Heraufziehen eines neuen Sturms in diesen grünen Augen.

Khadgar schüttelte den Kopf, wählte seine Worte sorgfältig. »Trolle. Blaue Trolle. Und es war ein Dschungel. Ich glaube, es war diese Welt. Der Himmel war gleich.«

Medivhs Sorge verschwand aus seinem Blick, und er sagte nur: »Dschungel-Trolle. Ich habe mal welche getroffen, tief im Süden, im Stranglethorn-Tal …« Die Gesichtszüge des Magiers wurden weich, als er sich nun selbst in einer ganz privaten Vision zu verlieren schien. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber dieses Mal kein Orks, richtig? Du bist dir sicher.«

»Ja, Herr«, sagte Khadgar. »Keine Orks.« Er wollte nicht erwähnen, dass er Zeuge eines Kampfes geworden war. War es eine böse Erinnerung für Medivh? War er bei dieser Konfrontation im Koma versunken?

Khadgar betrachtete den älteren Magier und erkannte in ihm viel von dem jungen Mann aus der Vision wieder. Er war größer, aber leicht gebeugt von den Jahren und seinen Forschungen. Trotzdem war da noch immer der junge Mann, eingewoben in die ältere Gestalt.

Medivh seinerseits fragte: »Hast du das ›Lied der Aegwynn‹?«

Khadgar löste sich aus seinen Gedanken. »Das Lied?«

»Über meine Mutter«, sagte Medivh. »Es sollte eine alte Schriftrolle sein. Ich schwöre dir, ich finde hier nichts mehr, seit du aufgeräumt hast!«

»Sie liegt bei den anderen Epen, Herr«, sagte Khadgar. Ich sollte ihm von der Vision erzählen, dachte er. War dies eine willkürliche Heimsuchung gewesen, oder war sie durch seine Begegnung mit Lothar ausgelöst worden? Wurden Visionen dadurch wachgerufen, dass man etwas über bestimmte Dinge herausfand?

Medivh trat an das Regal und ließ einen Finger an den Schriftrollen entlang laufen. Dann zog er die gesuchte Rolle heraus. Sie war alt und sehr zerlesen. Der Magus rollte sie teilweise auf, verglich sie mit einem Fetzen Papier, den er aus einer Tasche zog, rollte sie wieder zusammen und legte sie zurück.

»Ich muss fort«, sagte er plötzlich. »Schon heute Abend, fürchte ich.«

»Wohin geht Ihr?«, fragte Khadgar.

»Dieses Mal gehe ich allein«, sagte der Magier, der bereits auf die Tür zuschritt. »Ich werde Moroes Anweisungen, deine Studien betreffend, hinterlassen.«

»Wann kommt Ihr zurück?«, rief Khadgar der sich entfernenden Gestalt hinterher.

»Wenn ich zurückkomme!«, entgegnete Medivh, während er zwei Stufen gleichzeitig nehmend die Treppe hinauf stürmte. Khadgar nahm an, dass der Kastellan schon in der Spitze des Turms wartete und die Runenpfeife und einen zahmen Greifen bereithielt.

»Gut«, sagte Khadgar und blickte auf die Bücher. »Ich bleib dann also hier und versuche herauszufinden, wie man ein Stundenglas zu beherrschen lernt.«

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