10 Der Abgesandte

Während Medivh sich erholte, beruhigten sich die Ereignisse in seiner Umgebung – so sehr sie sich in der Gegenwart des Magus überhaupt beruhigen konnten. Wenn er abwesend war, hinterließ er Khadgar Anweisungen zur Verbesserung seiner magischen Talente, und wenn er sich Medivh im Turm aufhielt, musste der junge Magier diese neugewonnenen Fähigkeiten auf ein Fingerschnipsen hin vorführen können.

Khadgar passte sich schnell an, fühlte sich jedoch, als seien seine Fähigkeiten wie Kleidung, die ihm um zwei Nummern zu groß war und in die er erst noch hineinwachsen musste. Er konnte jetzt Feuer mit seinem Willen kontrollieren, Blitze ohne eine einzige Wolke am Himmel herbeirufen und kleine Gegenstände durch die Kraft seines Geistes dazu bringen, auf der Tischplatte zu tanzen. Er lernte auch andere Zaubersprüche – wie zum Beispiel einen Spruch, mit dem er aus nur einem Knochen eines Leichnams dessen Todesursache lesen oder einen anderen, mit dem man Bodennebel aufsteigen lassen konnte; sogar noch einen dritten, mit dessen Hilfe man magische Botschaften für andere hinterließ. Er lernte, wie man einem leblosen Gegenstand das wahre Alter nimmt und kräftigte so einen morsch gewordenen Stuhl. Auch das Gegenteil erlernte er und entzog einer neu geschnitzten Keule deren Frische. Sie wurde daraufhin brüchig und zerfiel zu Staub. Er lernte, wie die Schutzkammern funktionierten und erhielt die Aufgabe, auf sie zu achten. Er erfuhr von der Bibliothek der Dämonen, auch wenn Medivh es nicht erlaubte, derlei in seinem Turm zu beschwören. Diesem Befehl wollte Khadgar auch nicht zuwider handeln.

Medivh verschwand manchmal nur für ein paar Stunden, dann wieder für ein paar Tage. Er hinterließ stets Instruktionen, gab jedoch nie Erklärungen ab. Bei seiner Rückkehr wirkte der Wächter stets hagerer und müder als zuvor, und er prüfte streng die Fortschritte des Jugendlichen und fragte nach den Neuigkeiten, die es während seiner Abwesenheit gegeben hatte. Doch er fiel kein weiteres Mal in seinen komagleichen Schlaf, und so nahm Khadgar an, dass bei den mysteriösen Taten seines Herrn Dämonen keine Rolle spielten.

Eines Abends, als sich Khadgar in der Bibliothek aufhielt, hörte er Lärm aus dem unteren Gemeinschaftsbereich und aus den Ställen. Es waren Rufe, Herausforderungen und leisere, unverständliche Antworten. Als er das Fenster erreichte, von dem aus er auf diesen Teil des Gemäuers hinabblicken konnte, sah er noch, wie eine Gruppe von Reitern die Mauern des Turms verließ.

Khadgar runzelte die Stirn. Waren dies Zulieferer, die Moroes abgewiesen hatte, oder handelte es sich um Überbringer weiterer schlechter Nachrichten für seinen Herrn? Khadgar stieg den Turm hinab, um mehr herauszufinden.

Er sah den Neuankömmling nur kurz – flüchtig bemerkte er einen schwarzen Umhang, der in einem Gästezimmer auf einem der unteren Stockwerke verschwand. Moroes war ebenfalls dort. Er hielt eine Kerze in der Hand, und als Khadgar die letzten Stufen überwand, hörte er den Schlossverwalter sagen: »Andere Besucher waren weniger vorsichtig. Sie sind jetzt weg.«

Die Antwort des Neuankömmlings war nicht zu verstehen, denn Moroes schloss die Tür, als Khadgar näher kam.

»Ein Gast?«, fragte der junge Mann in der Hoffnung, einen Hinweis auf den Neuankömmling zu erhalten. Er sah jedoch nichts außer einer geschlossenen Tür.

»Jau«, antwortete der Verwalter.

»Magier oder Händler?«

»Weiß ich nicht«, sagte der Verwalter, der bereits den Gang hinunterging. »Hab nicht gefragt, und der Abgesandte hat nichts dazu gesagt.«

»Der Abgesandte«, wiederholte Khadgar und dachte an einen der geheimnisvollen Briefe aus Medivhs großem Schlaf. »Dann ist es ein politischer Besuch für den Magus.«

»Nehme ich an«, sagte Moroes. »Hab nicht gefragt. Steht mir nicht zu.«

»Also ist es Besuch für den Magus«, sagte Khadgar.

»Nehme ich an«, sagte Moroes in dem gleichen schläfrigen Tonfall. »Man wird uns sagen, was wir wissen müssen.« Und damit verschwand er und ließ Khadgar, der immer noch auf die geschlossene Tür starrte, stehen.

Am nächsten Tag war da dieses seltsame Gefühl einer fremden Präsenz im Turm. Es war, als gäbe es einen neuen Himmelskörper, dessen Schwerkraft die Umlaufbahnen aller anderen beeinflusste. Dieser neue Planet brachte Köchin dazu, größere Pfannen zu verwenden und Moroes dazu, in unregelmäßigeren Abständen als sonst üblich durch die Gänge zu wandern. Selbst Medivh schickte Khadgar gelegentlich auf Botengänge innerhalb des Turms, und wenn der junge Magier ihn verließ, hörte er das Flüstern eines schweren Umhangs auf den Steinen hinter sich.

Medivh verriet nichts, so lange Khadgar auch auf eine Erklärung wartete. Es gab Anspielungen, mehr nicht. Dann wurde er in die Bibliothek geschickt, wo er seine Studien fortsetzen und seine Zaubersprüche einstudieren sollte. Khadgar stieg die Wendeltreppe einen Halbkreis lang hinab, hielt inne und stieg dann langsam wieder hinauf. Er sah den Rücken eines dunklen Umhangs im Labor des Wächters verschwinden.

Khadgar ging die Treppe wieder hinunter und fragte sich, wer der Abgesandte wohl sein mochte. Ein Spion für Lothar? Ein Mitglied des Ordens, das sich geheimnisvoll geben wollte? Vielleicht ein Angehöriger der Kirin Tor, jener mit der spinnenartigen Handschrift und den giftigen Theorien? Oder vielleicht eine ganz andere Person? Es war frustrierend, nichts zu wissen und – noch schlimmer –, nicht das Vertrauen des Magus zu genießen.

»Man wird uns sagen, was wir wissen müssen«, murmelte Khadgar und betrat die Bibliothek. Seine Notizen und Bücher lagen so über die Tische verteilt, wie er sie zurückgelassen hatte. Er warf einen Blick darauf und auf das Schema eines Bildbeschwörungsspruchs. Seit seinem letzten Versuch hatte er einiges hinzugefügt und hoffte, sein Resultat jetzt verbessern zu können.

Khadgar betrachtete die Notizen und lächelte. Dann nahm er die Phiolen mit pulverisierten Diamanten und ging nach unten. Er brachte einige Stockwerke mehr zwischen sich und Medivhs Audienzkammer, bis er zu einem der verlassenen Bankettsäle gelangte.

Zwei Stockwerke tiefer, perfekt. Der Raum war elliptisch geformt und verfügte über je einen Kamin an beiden Enden. Der große Tisch war längst in ein anderes Zimmer gebracht worden, die alten Stühle standen aufgereiht an einer Wand. Es gab nur einen Eingang. Der Boden bestand aus weißem Marmor, war alt und aufgesprungen, jedoch sauber. Moroes’ endlose Hingabe und Aufopferung sorgten dafür.

Khadgar schuf einen magischen Kreis aus Amethyst und Rosenquarz. Er grinste, während er die Linien anfertigte. Er war sicherer bei seinen Zaubersprüchen geworden und benötigte sein zeremonielles Zaubergewand nicht mehr als Glücksbringer. Er zeichnete das Schutzmuster und lächelte immer noch. Er konzentrierte die Energie bereits in seinem Kopf, rief die notwendigen Formen und Arten der Magie auf, zwang sie in eine Form und hielt ihre Energie zurück, bis sie benötigt wurde.

Er trat in den Kreis, sprach die Worte, die gesprochen werden mussten, malte die Zeichen in perfekter Harmonie mit seinen Händen in die Luft und ließ die Energie frei. Er spürte, wie sich etwas in seinem Geist und in seiner Seele berührte und rief die Magie herbei.

»Zeige mir, was in Medivhs Quartieren geschieht«, forderte er. In ihm zuckte es nervös. Er hoffte, dass die Schutzzauber des Wächters sich nicht auch gegen seinen Schüler richteten.

Er erkannte sofort, dass der Zauber misslungen war. Es war keine Katastrophe, die magischen Energien waren nicht kollabiert … es war mehr wie eine Fehlzündung. Vielleicht richteten sich die Schutzzauber auch gegen ihn und hatten seine Visionen an einen anderen Ort abgelenkt.

Mehrere Umstände verrieten ihm, dass der Zauber fehlgeschlagen war. Zum einen herrschte hier Tageslicht. Zum anderen war es warm. Und zuletzt kannte er diesen Ort auch noch.

Er war noch nie hier gewesen, zumindest nicht in dieser Turmspitze, aber es war klar, dass er sich in der Burg von Stormwind befand und über die Stadt hinwegblickte. Es handelte sich um einen der höheren Türme, und der Raum ähnelte dem, in dem die beiden Angehörigen des Ordens Monate zuvor ihr Ende gefunden hatten. Die Fenster waren jedoch größer, und es gab leuchtend weiße Balkone. Eine warme Brise bewegte die Vorhänge. Farbenfrohe Vögel saßen auf goldenen Stangen entlang der Wände des Zimmers.

Vor Khadgar befand sich ein kleiner gedeckter Tisch. Er sah weiße, mit goldenen Rändern versehene Porzellanteller, goldene Messer und Gabeln. In Kristallschalen lagen Früchte, die so frisch waren, dass der Morgentau noch an ihren Schalen hing. Khadgar spürte, wie sein Magen bei diesem Anblick zu knurren begann.

Neben dem Tisch stand ein dünner Mann, den Khadgar nicht kannte. Er hatte ein schmales Gesicht und eine breite Stirn. Oberlippen- und Kinnbart waren schmal und sorgfältig gestutzt. Er trug eine reich verzierte rote Decke, die Khadgar nach einem Moment als Robe erkannte und die mit einem goldenen Gürtel über seiner Hüfte gehalten wurde. Er berührte eine der Gabeln und bewegte sie ein kleines bisschen zur Seite. Dann nickte er zufrieden. Er sah Khadgar an und lächelte.

»Ah, du bist wach«, sagte er mit einer Stimme, die Khadgar vage bekannt vorkam.

Für einen Augenblick dachte Khadgar, die Vision könne ihn wahrnehmen, doch der Mann sprach zu jemandem hinter ihm. Er drehte sich um und entdeckte Aegwynn, die so jung und schön war wie auf dem Schneefeld. (Hatten sich diese Ereignisse vorher oder nachher abgespielt? Ihr Aussehen verriet es ihm nicht.) Sie trug ein weißes Cape mit grünem Rand, das aus Seide, nicht aus Fell bestand, und ihre Füße steckten nicht in Stiefeln, sondern einfachen weißen Sandalen. Ihr blondes Haar wurde von einem silbernen Diadem gehalten.

»Du scheinst dir sehr viel Mühe gemacht zu haben«, sagte sie. Khadgar konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.

»Mit genügend Magie und Sehnsucht ist nichts unmöglich«, sagte der Mann und drehte seine Hand, sodass die Innenfläche nach oben zeigte. Darüber schwebte eine blühende Orchidee.

Aegwynn nahm die Blume, roch kurz daran und legte sie dann auf den Tisch. »Nielas …«, begann sie.

»Lass uns zuerst frühstücken«, erwiderte der Magier Nielas. »Sieh dir an, was ein Hofzauberer bereits am frühen Morgen besorgen kann. Diese Beeren wurden vor weniger als einer Stunde in den königlichen Gärten gepflückt …«

»Nielas …«, begann Aegwynn erneut.

»Gefolgt von in Butter geschwenktem Schinken mit Sirup«, fuhr der Magier fort.

»Nielas …«, wiederholte Aegwynn.

»Dann vielleicht einige Vrocka-Eier, die wir mit einem einfachen Zauber, den ich auf den Inseln erlernte, am Tisch in ihren Schalen braten können?«, fragte der Magier.

»Ich werde gehen«, sagte Aegwynn ruhig.

Ein Schatten glitt über das Gesicht des Magiers. »Gehen? So bald? Noch vor dem Frühstück? Ich dachte, wir könnten uns noch ein wenig unterhalten.«

»Ich werde gehen«, sagte Aegwynn. »Ich habe meine eigenen Aufgaben und keine Zeit für die Annehmlichkeiten des Morgens danach

Der Hofzauberer wirkte verwirrt. »Ich dachte, dass du nach der letzten Nacht vielleicht eine Weile in Stormwind bleiben würdest.« Er blinzelte. »Möchtest du das nicht?«

»Nein«, sagte Aegwynn. »Nach der letzten Nacht gibt es für mich keinen Grund mehr zu bleiben. Ich habe erreicht, was ich wollte. Ich muss hier nicht länger sein.«

In der Gegenwart verzog Khadgar das Gesicht, als die Puzzlestücke anfingen, Sinn zu ergeben. Deshalb klang die Stimme des Magiers so vertraut.

»Aber ich dachte …«, stammelte Nielas, doch die Wächterin schüttelte den Kopf.

»Du, Nielas Aran, bist ein Narr«, sagte Aegwynn ruhig.

»Du bist einer der mächtigsten Zauberer im Orden von Tirisfal und doch bist und bleibst du ein Narr. Das sagt einiges über den Rest des Ordens aus.«

Nielas Aran holte tief Luft. Er wollte vermutlich wütend erscheinen, doch er wirkte nur eingeschnappt. »Einen Moment mal …«

»Hast du etwa wirklich geglaubt, dass dein bloßer Charme mich in dein Schlafzimmer gelockt hat – oder dein Witz und deine Gesprächskunst mich von unseren Diskussionen über Beschwörungsriten abgelenkt haben? Sicherlich verstehst du, dass ich mich von deiner Position als Hofzauberer nicht so einschüchtern lasse, wie das vielleicht eine Dorfkuhhirtin täte. Und natürlich verstehst du auch, dass zu einer Verführung zwei gehören. Ein so großer Narr kannst selbst du nicht sein, Niels Aran.«

»Natürlich nicht«, sagte der Hofzauberer, den die Worte schmerzen mussten, was er jedoch verbarg. »Ich dachte nur, dass wir wie zivilisierte Menschen gemeinsam frühstücken könnten.«

Aegwynn lächelte, und Khadgar erkannte, dass es ein grausames Lächeln war. »Ich bin so alt wie ganze Dynastien – und meine mädchenhaften Wünsche habe ich bereits im ersten Jahrhundert meines Lebens hinter mir gelassen. Ich habe genau gewusst, was ich tat, als ich gestern Nacht dein Schlafgemach betrat.«

»Ich dachte …«, begann Nielas. »Ich dachte nur …« Er suchte nach den richtigen Worten.

»Dass du als einziger des Ordens den Charme hättest, um die große wilde Wächterin zu zähmen?«, fragte Aegwynn mit breiter werdendem Lächeln. »Dass sie sich deinem Willen durch ein wenig Hofieren, Witz und ein paar Taschenspielertricks unterordnen würde, obwohl alle anderen versagt haben? Dass du die Macht der Tirisfalen vor deinen eigenen Karren spannen könntest? Das ist doch nicht dein Ernst, Nielas Aran. Du hast schon so viel von deinem Potenzial verschwendet, sag mir jetzt nicht, dass das Leben am königlichen Hof dich völlig korrumpiert hat. Lass mir ein wenig Respekt vor dir.«

»Aber wenn du nicht beeindruckt warst«, sagte Nielas, während er versuchte den Worten Sinn zu entlocken, »wenn du mich nicht wolltest, warum hast du dann …?«

Aegwynn gab ihm die Antwort. »Ich kam nach Stormwind, um das Einzige zu finden, für das ich nicht selbst sorgen kann: einen geeigneten Vater für meinen Erben. Ja, Nielas Aran, du kannst den anderen Magiern des Ordens mitteilen, dass du mit der großen und mächtigen Wächterin geschlafen hast. Aber du wirst ihnen leider auch sagen müssen, dass du mir die Möglichkeit verschafft hast, meine Macht weiterzugeben, ohne dass der Orden Kontrolle darüber haben wird.«

»Das habe ich getan?« Das Ergebnis seines Tuns wurde ihm nun langsam klar. »Ja, das habe ich dann wohl. Doch es würde dem Orden nicht gefallen …«

»… manipuliert zu werden? Zum Narren gehalten zu werden?«, fragte Aegwynn. »Nein, das wird ihnen nicht gefallen. Aber sie werden nichts gegen dich unternehmen, weil sie fürchten müssen, dass ich vielleicht doch ein romantisches Interesse an dir habe. Und das zum Trost: Von all den Magiern, Zauberern, Schamanen warst du der mit dem größten Potenzial. Dein Samen wird mein Kind schützen und stärken und es zum Gefäß für meine Macht machen. Und nach seiner Geburt wirst du es hier sogar erziehen, weil ich weiß, dass es meinem Pfad folgen wird. Der Orden wird sich die Gelegenheit, es vielleicht doch beeinflussen zu können, nicht entgehen lassen.«

Nielas Aran schüttelte den Kopf. »Aber ich …« Er brach ab. »Aber du hast …« Er zögerte erneut. Als er schließlich sprach, leuchtete ein Feuer in seinen Augen, und da war Stahl in seiner Stimme. »Leb wohl, Magna Aegwynn.«

»Auf Wiedersehen, Nielas Aran«, sagte Aegwynn. »Es war … angenehm.«

Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ das Zimmer.

Nielas Aran, Hauptbeschwörer des Throns von Azeroth, Konspirator im Orden von Tirisfal und Vater des zukünftigen Wächters Medivh, setzte sich an den perfekt gedeckten Tisch. Er nahm eine goldene Gabel und drehte sie langsam zwischen den Fingern. Dann seufzte er und ließ sie zu Boden fallen.

Die Vision verging, bevor die Gabel auf dem Marmorboden ankam, aber Khadgar hörte ein anderes Geräusch, das eines Stiefels, der über kalten Stein glitt. Das Knistern einer Robe. Er war nicht allein.

Khadgar fuhr herum, erhaschte aber nur noch den Schimmer eines schwarzen Umhangs.

Der Abgesandte spionierte ihn aus?

Es war schon schlimm genug, dass Medivh ihn jedes Mal wegschickte, wenn er mit dem Fremden sprach – jetzt schien dieser bereits die Herrschaft über die Burg übernommen zu haben …

Khadgar sprang auf und lief auf den Eingang zu. Als er die Tür erreichte, war der Abgesandte bereits verschwunden, aber er hörte, wie Stoff über Steintreppen glitt. Er bewegte sich nach unten zu den Gastquartieren.

Khadgar stieg ebenfalls die Stufen hinab. Sie waren so gefährlich, dass der Fremde sich am äußeren Rand bewegen würde, dort wo die Auftrittfläche am breitesten war. Der junge Magier war die Stufen jedoch schon so oft auf und ab gelaufen, dass er sich innen halten konnte und so mehrere Stufen zugleich nahm.

Auf halbem Weg zu den Gastquartieren entdeckte Khadgar den Schatten des Fremden an der Außenwand. Als er das Stockwerk der Gästeunterkünfte erreichte, sah er den Umhang der Gestalt, die durch einen Torbogen auf die Tür zu den Quartieren zulief. Wenn der Abgesandte die Quartiere erreichte, hatte Khadgar seine Chance vertan. Er überwand die letzten vier Stufen mit einem einzigen Sprung, hastete weiter und packte die verhüllte Gestalt am Arm.

Seine Hand schloss sich um Stoff und harte Muskeln. Er drehte die Gestalt zur Wand. »Den Magus dürfte Eure Spionage interessieren …«, begann er, aber die Worte erstarben in seiner Kehle, als die Gestalt ihre Deckung aufgab.

Die Abgesandte trug eine Reisejacke aus Leder mit hohen Stiefeln, eine schwarze Hose und eine ebenso schwarze Seidenbluse. Ihre Muskeln waren fest, und Khadgar zweifelte nicht daran, dass sie den ganzen Weg geritten war. Doch ihre Haut war grün, und als die Kapuze nach hinten fiel, erschien darunter ein Ork-Gesicht mit gewaltigen Kiefern und langen Fängen. Grüne Ohren ragten aus schwarzem Haar hervor.

»Ork!«, schrie Khadgar und reagierte instinktiv. Er hob die Hand, sprach ein Wort der Macht und sammelte die Kraft, um einen Blitz aus reiner Energie durch sein Gegenüber hindurch zu treiben.

Er hatte keine Chance. Kaum hatte er den Mund geöffnet, als die Ork-Frau auch schon mit einem Tritt reagierte, ihr Bein auf Brusthöhe brachte. Ihr Knie schlug Khadgars ausgestreckte Hand zur Seite. Ihr Stiefel traf seine Wange. Er taumelte.

Khadgar stolperte rückwärts und schmeckte Blut – anscheinend hatte er sich selbst in die Wange gebissen. Er hob erneut die Hand, um einen Blitz zu schleudern, aber die Ork war immer noch zu schnell, schneller als die Krieger in Rüstungen, gegen die er in der Vergangenheit gekämpft hatte. Sie überwand die Entfernung zu ihm mit einem einzigen Schritt. Ihr Faustschlag trieb ihm die Luft aus den Lungen und machte jede Konzentration zunichte.

Der junge Magier zischte, ließ es mit Magie bewenden und wählte einen direkteren Weg. Noch benommen vom Schlag drehte er sich zur Seite, griff nach dem Arm der Gegnerin und zerrte daran. Einen Moment zeichnete sich Überraschung auf dem Ork-Gesicht ab, doch dann setzte sie ihre Füße fest auf den Boden und zog Khadgar auf sich zu.

Khadgar roch Gewürze, als er auf sie zugerissen wurde, dann warf sie ihn auch schon in den Gang. Er rutschte über den Steinboden, schlug gegen die Wand und kam schließlich vor den Füßen einer zweiten Person zur Ruhe.

Als er aufsah, erkannte er den Verwalter, der den Blick leicht besorgt erwiderte.

»Moroes!«, schrie Khadgar. »Verschwindet! Holt den Magus! Wir haben einen Ork im Turm!«

Moroes bewegte sich nicht, sondern sah die Ork-Frau aus seinen trüben hellen Augen an. »Seid Ihr in Ordnung, Abgesandte?«

Die Frau verzog ihre grünen Lippen zu einem Lächeln und hüllte sich wieder vollständig in den Umhang. »Es ging mir nie besser. Ich brauchte ein wenig Abwechslung. Der Kleine war so freundlich, dafür zu sorgen.«

»Moroes!«, stieß der junge Magier hervor. »Diese Frau ist …«

»Die Abgesandte. Ein Gast des Magus«, antwortete Moroes. Trocken fügte er hinzu: »Ich sollte dich holen. Der Magus möchte dich sehen.«

Khadgar stemmte sich auf die Beine und sah die Abgesandte scharf an. »Wenn du den Magus siehst, wirst du ihm dann von deiner Spionage berichten?«

»Er will nicht sie sehen«, korrigierte ihn Moroes. »Er will dich sehen, Lehrling.«


»Sie ist eine Ork!«, rief Khadgar lauter und schärfer, als er es eigentlich wollte.

»Eine Halb-Ork«, erwiderte Medivh. Er beugte sich über seine Werkbank und fuchtelte mit einem goldenen Gerät, einem Astrolabium, herum. »Ich gehe davon aus, dass es in ihrer Heimat Menschen oder Fast-Menschen gibt – oder gegeben hat. Reich mir mal die Zange, Lehrling.«

»Sie haben versucht Euch umzubringen!«, empörte sich Khadgar.

»Du meinst die Orks? Es stimmt, das haben einige versucht«, sagte Medivh ruhig. »Einige Orks haben versucht mich zu töten. Und versucht dich zu töten. Garona gehörte nicht zu dieser Gruppe. Das glaube ich zumindest. Sie ist hier als Repräsentantin ihres Volkes. Zumindest eines Teils ihres Volkes.«

Garona. Also hat die Hexe einen Namen, dachte Khadgar. Laut sagte er: »Wir wurden von Orks angegriffen. Ich hatte Visionen von Ork-Angriffen. Ich habe die Nachrichten aus ganz Azeroth gelesen, die von Überfallen und Angriffen der Orks sprechen. Immer wieder hört man von der Brutalität und Grausamkeit der Orks. Es scheint jeden Tag mehr von ihnen zu geben. Das ist ein gefährliches und bestialisches Volk!«

»Sie hat dich mit Leichtigkeit besiegt, richtig?«, fragte Medivh und blickte von seiner Arbeit auf.

Obwohl er es nicht wollte, berührte Khadgar seinen Mundwinkel, an dem das Blut bereits getrocknet war. »Damit hat es nichts zu tun.«

»Natürlich nicht«, antwortete Medivh. »Und womit hat es etwas zu tun?«

»Sie ist eine Ork. Sie ist gefährlich. Und Ihr habt ihr freien Zugang zum Turm gestattet.«

Medivh knurrte. In seiner Stimme war plötzlich eisige Schärfe. »Sie ist eine Halb-Ork. Sie ist ungefähr so gefährlich wie du, wenn man die Situation und ihre Absichten bedenkt. Und sie ist mein Gast und sollte mit dem ihr zustehenden Respekt behandelt werden. Das erwarte ich von dir.«

Khadgar schwieg einen Moment, bevor er einen neuen Ansatz versuchte. »Sie ist die Abgesandte?«

»Ja.«

»Von wem wurde sie entsandt?«

»Von einem oder mehreren der Clans, die momentan den Schwarzen Morast bewohnen«, sagte Medivh. »Ich weiß noch nicht, welche. So weit sind wir noch nicht gekommen.«

Khadgar blinzelte überrascht. »Ihr habt sie in unseren Turm gelassen, obwohl sie keine offizielle Funktion bekleidet?«

Medivh legte die Zange zur Seite und seufzte müde. »Sie hat sich mir als Repräsentantin einiger Clans vorgestellt, die momentan Azeroth unsicher machen. Wenn wir diese Angelegenheit ohne Feuer und Schwert klären wollen, dann muss jemand anfangen zu reden. Warum also nicht hier? Und nebenbei bemerkt ist dies mein Turm, nicht unserer. Du bist mein Schüler, mein Lehrling und bist hier, weil es mir so gefällt. Und als mein Schüler und Lehrling erwarte ich von dir ein vorurteilsfreies Verhalten.«

Es herrschte Stille, als Khadgar über diese Worte nachdachte. »Also – wen repräsentiert sie? Einige, alle oder keinen Ork?«

»Momentan repräsentiert sie nur sich selbst«, sagte Medivh und seufzte irritiert. »Nicht alle Menschen glauben an die gleichen Dinge. Es gibt keinen Grund, warum das bei den Orks anders sein sollte. Meine Frage an dich lautet: Wenn man deine natürliche Neugier bedenkt, warum versuchst du nicht bereits so viele Informationen wie möglich aus ihr herauszuholen, anstatt mir zu sagen, was ich zu tun habe? Oder bezweifelst du, dass ich mit einem einzigen Halb-Ork fertig werde?«

Khadgar schwieg. Sein Verhalten und seine Unfähigkeit, die Dinge aus mehr als nur einer Perspektive zu betrachten, waren ihm peinlich. Zweifelte er an Medivh? War es möglich, dass der Magus sich in einer Weise verhielt, die gegen seinen Orden gerichtet war? Die Frage brannte in ihm, wurde noch angefacht durch Lothars Worte, durch die Vision des Dämons und die Intrigen des Ordens. Er wollte den älteren Mann warnen, aber jedes Wort schien auf ihn selbst zurückzufallen.

»Ich mache mir manchmal Sorgen um Euch«, sagte er schließlich.

»Und ich mache mir manchmal Sorgen um dich«, erwiderte der ältere Magier wie geistesabwesend. »Ich mache mir in letzter Zeit um vieles Sorgen.«

Khadgar wagte einen letzten Versuch. »Herr, ich glaube, dass Garona eine Spionin ist. Ich glaube, dass sie nur hier ist, um möglichst viele Informationen zu sammeln, die sie später gegen Euch verwenden wird.«

Medivh lehnte sich zurück und lächelte den jungen Mann verschmitzt an. »Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, junger Freund. Oder hast du die Liste vergessen, die deine eigenen Herren von den Kirin Tor dir mitgegeben haben? Wie viele Informationen solltest du aus mir herausholen, als du damals nach Karazhan kamst?«

Khadgars Ohren waren knallrot, als er überhastet das Zimmer verließ.

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