Sie hieß Yana Michimoko, aber jeder nannte sie nur >Mandelblüte<. Wenn sie in ihren viel zu engen, hochhackigen weißen Schuhen und einem seidenen, mit großen Blumen bedruckten Kimono durch die Straßen trippelte, die lackschwarzen Haare kurz geschnitten, das runde Puppengesicht nur leicht geschminkt, in den schrägen Augen immer das unergründliche Lächeln Asiens, dann blieben nicht nur die weißen Männer stehen und blickten ihr nach, auch ihre japanischen Landsleute vergaßen, daß ein Mann nie vor einer Frau seine Bewunderung zeigen soll.
Yana Michimoko begegnete Pedro Romanowski im >Garten der sieben Glückseligkeiten<, als sie für die Ahnen eine Räucherkerze auf dem Gedenkaltar anzündete. Sie kniete vor dem großen, aus Gold und Lack gearbeiteten Schrein und dachte an die Toten der Familie, als Romanowski stehenblieb, die Mütze in den Nacken schob und laut sagte:
«Det is 'n Marjellchen. Donnerwetter!«
Romanowski hatte einen freien Tag ausgenützt, um sich die berühmten japanischen Gärten anzusehen. Seit vier Tagen waren sie in Tokio, um an dem großen Turnier um den >Preis der aufgehenden Sonne< teilzunehmen. Pferde und Reiter waren vorzüglich untergebracht, die japanische Organisation klappte hervorragend, wie es die Japaner schon bei den Olympischen Spielen und der Weltausstellung bewiesen hatten. Die Ställe blitzten vor Sauberkeit und waren nach den modernsten Erkenntnissen angelegt. Die Wohnungen der Reiter lagen in einem neuen Wohnblock neben dem Stadion. Für die Pferdeknechte gab es neben den Stallungen kleine Holzhäuser mit verschiebbaren Innenwänden, die Romanowski anregten, jeden Tag den Grundriß zu verändern, indem er immer neue Zimmergrößen zusammenstellte. Um den ganzen Komplex war eine hohe Mauer gezogen, und nachts patrouillierten Polizeidoppelstreifen durch das Gelände.
«Das ist die beste Organisation, die ich je gesehen habe«, sagte Hartung anerkennend zu Nomo Fukujachi, dem Turnierleiter.»Hier kann man ruhig schlafen.«
So gelang es auch Romanowski, einen freien Tag zu erhalten. Bisher war das undenkbar gewesen. Ein Tag ohne Laska — das war unvorstellbar. Auch jetzt kostete es Romanowski eine gewaltige Überwindung, seinen Liebling für einige Stunden seinem Kameraden vom Nebenstall zu überlassen.
«Wann komm ick wieder nach Tokio«, sagte er zu Laska und striegelte ihr Fell. Es war noch ziemlich räudig und hatte große haarlose Flecken, aber die Haut war reizfrei, und es bildeten sich schon wieder kleine Härchen. Er kämmte ihr die Mähne und die Stirnhaare, putzte ihr die Augen aus und streichelte über ihre weichen Nüstern.»Haste wat dajejen, det ick mir Japan ansehe? Nur 'n Nachmittag, Olle, dann bin ick wieda bei dich.«
Romanowski nahm sich vor, in diesen Stunden viel zu sehen. Er mietete ein Taxi und ließ sich durch die Riesenstadt rollen, über die glänzende Ginza, wo sich Tanzpalast an Tanzpalast reihte, Variete neben Variete, Bar neben Bar. Hier gab es keine Pause, hier wurde das Vergnügen rund um die Uhr geboten.
Er ließ sich kreuz und quer durch Tokio fahren, hielt ein paarmal an, stieg aus und besah sich die Bilder in den Schaukästen der Striptease-Lokale.»Doll!«sagte er und kratzte sich den Kopf.»Einfach doll! Fijürchen sind det! Da muß ick ja Angst hab'n det ick se in de Finger zerquetsche!«
Zwei Stunden besichtigte er Tokio, das Herz Japans, trank mit dem höflichen, immer lächelnden und sich vor ihm verbeugenden Chauffeur in einem kleinen Restaurant Sake, den lauwarmen japanischen Reiswein, aß ein Fleischragout mit Safranreis und wurde beim Verlassen des Lokals von einem sich tief verneigenden Japaner auf der Straße angesprochen.
«Do you speak English?«
«Nee. Ick rede deutsch.«
«Ah! Deutsch!«Der kleine, etwas zerknitterte Japaner klatschte in
die Hände, als habe man ihn reich beschenkt.»Ich kenne auch deutsch. Kommen Sie mit.«
«Wohin?«
«Zu Honigmund.«
«Wat soll ick da? Ick hab jejessen.«
«Zwanzig Dollar für Stunde der Glückseligkeit.«
Romanowski verstand. Er dachte an die Bilder in den Schaukästen und rieb sich die Nase. Man ist nur einmal in Japan, dachte er. Und wenn ick zu Hause erzähle, ick hätte mit eener kleenen, zerbrechlichen Japanerin — aber zwanzig Dollar, det is Wucher. Und weiß einer im voraus, wie Honigmund aussieht?
«Morjen, meen Kleener«, sagte er und klopfte dem Japaner auf die Schulter.»Heute mach ick in Kultur.«
Er ließ sich mit dem Taxi bis zu den Gärten außerhalb Tokios fahren. Dort stieg er um in eine Rikscha, gab dem Rikschamann einen Dollar extra und sagte:»Nu zeig mir mal den Zauber Asiens, meen Junge. Ick jloobe, ick kann mir für die Sache erwärmen.«
Wer einmal japanische Parks und Gärten durchstreift hat, der vergißt sie nie wieder. Ein Duft umweht ihn, der ihn ganz durchdringt, paradiesische Stille umgibt ihn, er wandert über zierliche Brücken und sieht in Miniaturteiche, auf denen Seerosen in allen Farben schillern und Schwärme von Goldfischen unter der Wasseroberfläche schwimmen. Geschnitzte und bemalte Holztore, die wie Tempeldächer aussehen und an denen der Wind silberne Glöckchen zum Klingen bringt, erschließen immer neue Gartenteile, bis man sich in diesem Zauberpark verirrt, irgendwo stehenbleibt und sich wünscht, nie mehr in die laute Welt zurückzukehren.
So kam Romanowski auch an den Ahnenschrein und sah Yana Michimoko vor ihren Räucherstäbchen knien. Sie bemerkte ihn aus den Augenwinkeln, aber sie blieb knien, senkte den schönen Kopf und betete.
Romanowski wartete, bis sich Yana aufrichtete. Er verbeugte sich, wie er es von seinem Chauffeur und dem Japaner, der ihm Honigmund angeboten hatte, gesehen hatte und wartete, was nun ge-
schehen würde.
Es geschah nichts. Yana Michimoko lächelte zurück, trippelte an Romanowski vorbei und ging zu dem kleinen See, auf dem goldfarbene Enten zwischen den Seerosen schwammen. Dort war eine zierliche Bank, Yana setzte sich und legte die schmalen Hände in den Schoß. Ihr Kimono leuchtete in der Sonne, als sei er ein Teil des Blütenmeers im Garten.
«Wie Porzellan«, murmelte Romanowski und ging Yana nach. Hinter der Bank blieb er stehen und musterte kritisch die weißlackierten Holzstäbchen. Wenn ick mir setze, bricht se zusammen, dachte er. Aba versuchen will ick et doch. Janz vorsichtig, so mit eener Arschbacke…
Er lächelte breit, hockte sich in Zeitlupe neben Yana, wunderte sich, daß die Bank nicht ächzte und zusammenkrachte, und setzte sich dann richtig hin. Er schlug die Beine elegant übereinander — im Kino und im Fernsehen machen sie das auch so —, musterte die goldenen Enten und sagte plötzlich:
«Jetzt hat se 'n Fisch jeschnappt!«
Yana Michimoko, die schöne >Mandelblüte<, wandte ihm den Kopf zu. Sie sagte etwas, das wie das Zwitschern eines Vogels klang. Romanowski gab es tief in der Brust einen Stich.
«Wenn ick dir vastehen könnte, Puppe«, sagte er und strahlte Mandelblüte an.»Det is det Blöde bei die Menschen — alle sind Menschen, aba vastehen können se sich nich. «Er zeigte auf sich, machte eine Verbeugung im Sitzen und holte tief Luft, weil Yanas zerbrechliche Schönheit ihm den Atem nahm.»Ick — Pedro Romanowski.«
«Yana Michimoko.«
«Det soll eener aussprechen! Lama Mischimuschi.«
Die kleine Japanerin lächelte höflich. Sie hob die zierliche Hand und sagte langsam:
«Yana.«
Aha, dachte Romanowski. Jetzt lern ick japanisch. Jebrauchen kann man det immer, und er sprach gehorsam nach:
«Yana.«
«Michimoko.«
«Michimoko.«
«Well! Yana!«
Das war Englisch. Romanowski verstand plötzlich.»You Yana!«sagte er und rieb sich die Hände.
«I understand. Verdammt nochmal, ick sollte mir mehr um Sprachen kümmern.«
Es war merkwürdig — keiner verstand den anderen, und doch unterhielten sie sich über eine Stunde lang. Romanowski erzählte von Laska und Horst Hartung, von Ostpreußen und Barsfeld, von den Turnieren und Siegen. Und Mandelblüte zwitscherte von ihrer Familie, den sieben kleineren Geschwistern, dem reichen Onkel Boso, von ihrem Beruf — sie malte Miniaturen, die sehr begehrt waren — und von einem Oki Amakusa, der ihr Freund sei, ein starker Mann, Karatemeister. Er wollte sie hier im >Garten der sieben Glückselig-keiten< abholen.
«Ick nehme dir mit nach Barsfeld«, sagte Romanowski nach dieser Stunde und ergriff Yanas Hand. Sie wollte sie ihm entziehen, aber was Romanowski einmal festhielt, das hing wie in einem Schraubstock.»Wirklich. Det is Liebe uffn ersten Blick. Det is so'n Jucken ums Herz, vastehste? Du, Deutschland is ooch schön. Anders schön wie Japan, weeßte? Mein Jott, wie soll ick dir det erklären? Wie soll ick übahaupt wissen, ob de mir ooch liebst? Yanamäuschen, komm mit zum Stall. Dort such ick mir 'n Dolmetscher.«
Er stand auf, zog Yana Michimoko von der Bank hoch und legte den Arm um ihre schmale Schulter. Das Mädchen bekam ängstliche Augen. Sie schob sich von Romanowskis breiter Brust weg und zwitscherte wieder etwas.
«Hast recht, Püppchen«, sagte er.»Aba det jibt sich. Irgendwie vastehen wir uns noch.«
Er legte den Arm um sie und genoß das Glücksgefühl, das ihn durchströmte. So war's noch nie, dachte er. Nicht bei der Erna und auch nicht bei der Marion. Jetzt ist es ernst, verflucht noch mal.
Ich möchte in Japan bleiben.
Es war das erstemal, daß er Laska vergaß. Und er sollte es bereuen.
Yana Michimoko versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. In ihren schwarzen schrägen Augen flackerte die Angst.»Oki«, sagte sie, als Romanowski sich in Bewegung setzte und sie einfach mitzog.»Oki…«
«Weiß der Teufel, was Oki heißt!«brummte er. Er streichelte Yana mit der Zärtlichkeit eines Bären über das Haar und das zuckende Gesicht.»Keene Angst, meen Liebling, ick will ja nur 'n Dolmetscher suchen.«
Sie waren hundert Meter durch den Garten gegangen, als Yana plötzlich stehenblieb. Ihre Augen weiteten sich.
«Oki«, sagte sie wieder. In ihrer Stimme schwang Furcht.
«Verdammt, was is Oki?«knurrte Romanowski.
Über eine der zierlichen gebogenen Brücken kam ein Mann, etwas größer als Yana, aber gegen Romanowski wie ein Zwerg. Er hatte breite Schultern, ein flaches, glattes Gesicht und kurze Beine. Mit einem freundlichen Lächeln stellte er sich Romanowski in den Weg, verbeugte sich und streckte ihm die Hand hin.
Ahnungslos griff Romanowski zu. Das sind höfliche Menschen, dachte er. Keiner kennt den anderen, aber jeder macht einen Diener vor dem anderen. In Europa würde man einen so freundlichen Mann wie einen Idioten ansehen. Es gibt eben zu wenig Höflichkeit auf der Welt.
Der kleine, stämmige Japaner sah Romanowski kurz an. Dann machte er eine kleine Seitenbewegung, hob das kurze Bein und zog. Ehe Romanowski begriff, was mit ihm geschah, wirbelte er durch die Luft, sah den schönen >Garten der sieben Glückseligkeiten aus einer verzerrten, im Flug wechselnden Perspektive und knallte unsanft mit dem Gesicht nach unten auf die Erde. Hinter sich hörte er Yana Michimoko leise aufschreien und aufgeregt zwitschern.
Romanowski sprang auf die Beine. Er warf sich herum, zog den Kopf zwischen die Schultern und schnaufte tief durch die Nase.»Tu det nich noch eenmal!«sagte er.»Un damit det nich noch eenmal
vorkommt, rasier ick dir jetzt!«
Er machte zwei Schritte vorwärts, hob seine schweren Fäuste, ein Goliath vor einem David, blickte schnell zu Mandelblüte, die beide Hände erschrocken vor den Mund gepreßt hatte — aber wie bei Goliath wiederholte sich auch hier, daß Kraft allein nicht genügt. Kaum waren Romanowskis Fäuste vorgestreckt, tauchte der kleine Japaner darunter weg, seine Hand schnellte blitzartig vor, die Handkante traf Romanowski in die Magengrube, und das war, als habe ihn jemand mittendurch geschnitten. Er krümmte sich, brach in die Knie und blieb so hocken. Tränen schossen ihm in die Augen, der Garten drehte sich um ihn wie ein Karussell, und langsam verbreitete sich der Schmerz über seinen ganzen Körper.
Damit nicht genug der kleine Japaner trat an ihn heran, verneigte sich wieder mit großer Höflichkeit vor ihm und warf ihn dann mit einem kaum sichtbaren Schwung flach auf den Boden.
«Oki!«hörte Romanowski die schöne Yana schreien.»Oki.«
Das ist es, dachte er und streckte sich. Oki heißt der Knabe. Wer soll das wissen? Es kann doch nicht jeder Japanisch. Dann umfing ihn eine dunkle Wolke, der >Garten der sieben Glückseligkeiten verschwand in wogenden Nebeln. Romanowski versuchte gar nicht, dagegen anzukämpfen, und versank in tiefe Bewußtlosigkeit.
Oki Amakusa verbeugte sich dreimal vor dem Ohnmächtigen, dann organisierte er den Abtransport Romanowskis. Er holte ein Taxi, man schleppte den schweren Riesen ins Auto, Mandelblüte schimpfte mit ihrem Verlobten, legte Romanowski eine Seerose auf die Brust, dann fuhr man ihn zum nächsten Krankenhaus, in die Unfall-Station, und lieferte ihn dort ab.
Früher als beabsichtigt kehrte Romanowski in die Stallungen zurück. An seinem Hinterkopf prangte eine dicke Beule, die Magenpartie war blau unterlaufen, an der linken Schulter hatte er Prellungen, das rechte Auge wuchs durch eine Schwellung zu. Die japanischen Ärzte, die ihn untersucht hatten, gaben ihm ein Mittel zum Einreiben mit, eine übelriechende Flüssigkeit, die Romanowski sofort in den Rinnstein goß. Das war ein Fehler, denn seine Selbstbe-handlung mit Eisbeutel und Alkoholumschlägen dauerte länger.
«Japan is nischt für uns, Olle«, sagte er am Abend zu Laska.»Jetzt muß ick nur die richtije Ausrede hab'n, die Herrchen ooch jloobt.«
Das war nicht nötig. Horst Hartung kam nicht mehr in die Stallungen. Er besichtigte in Tokio die berühmte Judo-Schule des Meisters aller Klassen, Eno Takajaka.
Zu Tokio gehörten die Ginza, der Fudschijama — der heilige Berg —, das Geisha-Theater mit der stundenlangen Tee-Zeremonie, die Samurai-Oper, eine Besichtigung der neuen Industrie-Giganten, die Gärten und Parks, der Smog, jener Nebel aus Abgasen und Regenwolken, bei dem die Japaner sich weiße Atemmasken vor den Mund binden, der Kaiserpalast mit seinen jahrhundertelang unzugänglichen Gärten und die Judo-Schule von Takajaka.
Dr. Rölle, Hartung, Angela und der Turnierleiter Fukujachi hatten Tokio in stundenlangen Ausflügen kennengelernt. Fukujachi erwies sich dabei als hervorragender Führer, der auch hinter Türen blicken durfte, die sonst Europäern verschlossen bleiben.
Hartung imponierte das Leben in dieser Stadt und die unglaubliche Energie dieser Menschen, die Japan zur drittgrößten Handelsnation der Welt gemacht hatten. Angela war von den Modegeschäften verzaubert. New York, Paris, Rom konnten nicht mehr bieten — im Gegenteil, hier kam noch der Charme des Ostens hinzu.
Auf der Ginza kaufte sich Angela drei Kleider, eng, an den Seiten hoch geschlitzt.»Ich verliebe mich zum zweitenmal in sie«, sagte Hartung lachend zu Dr. Rölle.»Ich werde Angela mit ihr selbst betrügen.«
Für Dr. Rölle hatte Fukujachi eine Besichtigung der Veterinärklinik arrangiert. Dr. Rölle sah einer Pferdeoperation zu, ließ sich neue Narkosemittel für Großvieh erklären und durfte bei einer Gesäugekarzinom-Operation an einer Hündin assistieren. Nach dem Eingriff verbeugten sich die japanischen Kollegen höflich und nann-ten Dr. Rölle — Fukujachi übersetzte es — einen großen Meister.
«Da hören Sie's«, sagte Dr. Rölle stolz.»Von euch kriegt man ja nie ein Lob.«
«Gästen gegenüber sind Japaner immer von ausgesuchter Höflichkeit. «Hartung wandte sich an Fukujachi. Dr. Rölle hakte sich bei Angela ein.
«Beschimpfen Sie mich nicht, Angi«, sagte er,»wenn ich Ihrem Verlobten eines Tages die Knochen breche. Nur um ihm zu zeigen, daß ein Viehdoktor ihn behandeln kann!«
In bester Stimmung fuhren sie zur Judo-Schule.
Eno Takajaka empfing sie in der großen Vorhalle. Er trug die Judoka-Kleidung, die weiße Hose und den weiten weißen Kittel, den sein Meistergürtel über der Hüfte zusammenhielt. Die breite Brust glänzte, als sei sie mit Öl eingerieben.
«Ich freue mich, daß Sie mein unwürdiges Institut beehren«, sagte er in fließendem Deutsch.»Ich war drei Jahre in Deutschland, auf der Sporthochschule in Köln. Ein schönes Land. Ich habe viele Freunde in Deutschland.«
Dann wurden Hartung und Angela getrennt. Takajaka führte ihn in eine Kabine, dort zog Hartung die weite Judokleidung an und tappte dann auf bloßen Sohlen hinter dem Meister her in den Übungssaal. Dort standen vierzig Japaner und verneigten sich tief, als Takajaka mit seinem Gast erschien. Dr. Rölle und Nomo Fu-kujachi saßen an der Schmalwand des Saales auf niedrigen Hockern.
«Wollen Sie etwa mitmachen?«rief Dr. Rölle, als er Hartung in Judokleidung sah.
«Der Meister will mir einige Kniffe vorführen.«
«Denken Sie daran, übermorgen ist das Turnier.«
«Wer vom Pferd fallen kann, wird auch auf die Matte fallen können.«
«Verstehen Sie denn was von Judo?«
«Nicht das geringste.«
Eno Takajaka gab ein kurzes Kommando. Die vierzig Japaner bil-deten zwanzig Paare, stellten sich einander gegenüber, griffen sich an und legten — exakt wie bei einem Ballett — den Gegner auf den Rücken. Es waren die Männer links.
Aufspringen, neues Kommando. Neuer Angriff, ein Wirbeln von Leibern, die Männer rechts lagen auf dem Boden. Ein imponierendes Bild.
«Phantastisch«, sagte Hartung.»Und wie leicht das aussieht.«
«Es ist auch leicht, wenn man die Griffe kennt. «Takajaka verbeugte sich zur Seite. Dort kam Angela aus einer Tür, in einem weißen engen Leinenanzug, über dem sie die traditionelle Judojacke trug.
«Du siehst so aus, daß man sich kampflos besiegen läßt«, sagte Hartung.»Mr. Takajaka, probieren Sie es. Ihre vierzig Athleten werden sich hinlegen.«
«Das werden Sie bestimmt, Mr. Hartung. «Takajaka verneigte sich wieder vor Angela.»Ich erkläre Ihnen einen Griff, der ganz einfach, aber immer erfolgreich ist. Der Hebelschwung. Passen Sie auf.«
Er winkte einem Judokämpfer, der Mann stürzte auf ihn, Taka-jaka ergriff seinen Arm, drehte sich kurz und schleuderte den viel größeren Gegner über seinen geduckten Rücken auf die Matte. Es krachte, aber wie ein Gummiball sprang der Mann sofort wieder auf.
«Versuchen wir es?«Takajaka machte den Griff noch einmal langsam vor.»Sie brauchen gar keine Kraft. Hebel und Schwung schaffen es fast von allein.«
Angela zögerte einen Augenblick, dann griff sie zu, drehte sich geschickt und warf Takajaka auf die Matte.
«Bravo!«rief Dr. Rölle und klatschte in die Hände.»Noch mehr solche Tricks, Angi, und Horst soll Ihnen mal dumm kommen!«
Viermal legte Angela den großen Meister auf die Matte. Es war, als habe sie schon jahrelang Judo geübt.»Sieh dich vor, mein Lieber«, rief sie Hartung zu, der staunend daneben stand.
«Der Meister ist höflich und läßt sich fallen. «Hartung trat an die beiden heran.»Mich legst du nicht hin.«
Takajaka hob lächelnd beide Arme.»Versuchen wir es. Sie beherrschen den Griff wie eine Meisterin, Miss Angela. Keine Anstrengung, nur schnell und sicher greifen.«
«Zeigen Sie's ihm!«rief Dr. Rölle von der Wand.»Für mich einmal mit!«
«Na, dann los!«Hartung stellte sich in Positur.»Wer greift an?«
«Sie, Mr. Hartung. «Takajaka trat zurück.»Versuchen Sie, das schöne Mädchen zu überrumpeln.«
«Nichts leichter als das! Schätzchen, ich werde so zart wie möglich sein.«
Hartung duckte sich. Dann sprang er unvermittelt vorwärts, warf beide Hände vor und wollte Angela um die Schulter packen. Es war ein schneller Überfall, den selbst Takajaka nicht erwartet hatte.
Aber Angela reagierte ebenso schnell. Hartung wußte später keine Erklärung dafür — plötzlich schwebte er durch die Luft, krachte auf die Matte, ein stechender Schmerz durchzuckte seine linke Schulter, bohrte sich wie ein Pfeil in sein Gehirn, breitete sich über seine Brust aus und ließ den linken Arm wie im Krampf zittern.
Er versuchte aufzustehen, schob sich auf die Knie und stemmte sich mühsam hoch. Sein linker Arm hing an ihm, als gehöre er nicht mehr zu ihm.
Angela lachte noch, als Hartung sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die linke Schulter faßte. Von der Wand herüber klatschte Dr. Rölle Beifall.
«Fabelhaft!«riefer.»Das machen Sie jetzt immer, wenn er die große Lippe riskiert!«
«Ist er nicht ein guter Schauspieler?«Angela verneigte sich vor Hartung.»Noch einmal?«
Hartung war unfähig zu antworten. Plötzlich stand kalter Schweiß auf seiner Stirn und rann ihm in die Augen.
Übermorgen ist das Turnier, dachte er und biß die Zähne zusammen. Bloß das nicht, bloß keinen Knochenbruch. Ich muß reiten, und wenn sie mich aufLaska festbinden. Mein Gott, laß es nur eine Prellung sein, keinen Bruch!
Eno Takajaka begriff als erster, daß Hartungs Judo-Versuch verunglückt war. Er lief zu ihm, riß die weiße weite Jacke von Hartungs
Oberkörper und tastete Schulter, Schlüsselbein und Arm ab. Dr. Rölle rannte herbei. Fukujachi folgte ihm, Entsetzen in den Augen.
«Horst, machen Sie kein Theater!«rief Dr. Rölle.»Sie haben doch nichts abbekommen?«
«Schlüsselbeinbruch!«
Takajaka sagte es laut und klar. Das Wort ließ Dr. Rölle im vollen Lauf abbremsen. Angela schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht. Fukujachi starrte um sich wie ein gejagter Verbrecher.
«Wie konnte das passieren, wie konnte das passieren, Takajaka?«rief er.»Sie haben garantiert, daß nichts passiert! Übermorgen ist das Turnier!«
«Ein Unglück. «Der Judo-Meister wickelte die Jacke um Hartungs Schulter. Einer der Judo-Kämpfer kam mit einem großen Verbandkasten angerannt. Dr. Rölle entriß ihn ihm und suchte nach elastischen Binden.»Auch bei dem einfachsten Griff kann man unglücklich fallen. Mr. Hartung, ich bin untröstlich.«
Takajaka verbeugte sich tief. Hartung versuchte zu lächeln, aber sein Gesicht verzerrte sich nur noch mehr.»Wer konnte das ahnen«, sagte er stockend. Er knirschte mit den Zähnen vor Schmerzen.»Es war doch nur Spaß.«
Mit dem Auto Takajakas wurde Hartung in die nächste Klinik gebracht. Dr. Rölle hatte ihn bandagiert, so gut es ging.
«Also doch«, sagte er dabei.»Ein Viehdoktor muß sie behandeln. Das ist das einzig Gute an der Sache, Sie unter meinen Händen.«
Hartung wurde geröntgt, der Bruch unter dem Bildwandler eingerichtet, aber dann begann die Schwierigkeit. Als man Hartung in den Gipsraum fahren wollte, weigerte er sich.
«Keinen Gips«, sagte er. Der japanische Chefarzt, ein freundlicher Mann mit weißen Haaren und einer dicken Brille, der vor vierzig Jahren in Heidelberg studiert hatte, hielt das Rollbett an.
«Es ist ein komplizierter Bruch. Wir müssen den Arm völlig ruhig stellen und die Schulter dazu. Sie bekommen einen kleinen Brustpanzer.«
«Das befürchte ich. Herr Professor, es muß auch anders gehen.«»Nein.«
«Es muß!«
«Wollen Sie ein schiefes Schlüsselbein behalten?«
«Eine stramme Binde — genügt das nicht?«
«Nein! Jede Bewegung.«
«Ich weiß es! Das rechte Schlüsselbein war auch schon gebrochen.«
«Das hier ist ein komplizierter.«
«Herr Professor, ich muß übermorgen über den Parcours.«
«Unmöglich.«
«Es gibt kein Unmöglich. Ein großer Mann hat einmal gesagt: Es gibt nur eine Entschuldigung — den Tod!«
«Aber Sie sind kein großer Mann, sondern ein ganz kleiner, der sich das Schlüsselbein gebrochen hat. Ich kann Sie bandagieren, und Sie können auf ein Pferd klettern, aber was Sie dort oben erleiden werden, sind Höllenqualen.«
«Dann bandagieren Sie mich.«
«Nein. Ich bin Arzt und habe eine Verantwortung zu tragen. Das kann ich nicht verantworten.«
Hartung tastete nach seiner linken Schulter. Nach dem Einrichten hatte man sie zwischen zwei Schienen gepreßt und umwickelt.
«Lassen Sie mich nach Hause bringen, Herr Professor, bitte«, sagte er leise.
«Was heißt — nach Hause?«
«Zu den Ställen am Stadion.«
«Das ist Wahnsinn, Mr. Hartung! Ich müßte Sie einfach zwingen.«
«Sie können mich nicht zwingen. «Hartung lächelte verzerrt.»Ich bin kein Dickkopf, Herr Professor, auch kein Märtyrer, schon gar nicht ein Held. Aber ein gebrochenes Schlüsselbein ist kein Grund, nicht zu reiten. Ich kann meine Equipe nicht im Stich lassen, es sind junge Reiter, ich bin ihr Rückhalt, verstehen Sie das?«
«Ich verstehe nur, daß Sie verrückt sind. «Der japanische Professor winkte. Ein Pfleger rollte das Bett zurück zum Fahrstuhl.»Wie Sie wollen, Mr. Hartung. Ich lasse Sie zu den Pferden bringen. Aber Sie unterschreiben mir, daß das auf Ihre eigene Verantwortung ge-schieht.«
Eine Stunde später luden zwei Sanitäter Horst Hartung vor den Wohnungen der Reiter aus und trugen ihn auf sein Zimmer. Angela und Dr. Rölle folgten der Trage und schimpften auf Hartung ein. Nomo Fukujachi hing unten beim Hausmeister am Telefon und sprach mit einem der besten Chirurgen Tokios, Professor Hahito Kawaguchi.
Aber auch der berühmte Kawaguchi winkte ab, als Fukujachi ihm die Lage schilderte.
«Soll ich mich mit Mr. Hartung herumschlagen?«fragte er.»Ich bin Chirurg, aber kein Bändiger von Unbelehrbaren, um es höflich auszudrücken. Ich komme nur, wenn Mr. Hartung sich meinen Anordnungen fügt.«
Resigniert legte Fukujachi auf. Es hat keinen Zweck, dachte er und rauchte hastig eine Zigarette. Man kann Horst Hartung doch nicht so lange betäuben, bis das Turnier vorbei ist. Wenn seine Begleitung es nicht schafft, ihn zur Vernunft zu bringen, wie sollen wir das können, ohne ihn zu beleidigen?
Langsam stieg er die Treppen hinauf zu Hartungs Zimmer. Wenn er wirklich übermorgen reitet, dachte er, wird er vom Pferd fallen, beim ersten Hindernis schon, und sich den Hals brechen. Oder die Schulter, den Arm, die Beine, das Rückgrat — auf jeden Fall wird man ihn als Krüppel vom Parcours tragen.
Das darf nicht sein. Man wird mich für alles verantwortlich machen. Ich bin Chef des Turniers.
Wir müssen verhindern, daß Horst Hartung gegen alle Vernunft in den Sattel steigt.
«Nun zeigen Sie, was Sie können«, sagte Hartung. Er lag auf einem Tisch, schwitzte vor Schmerzen, hatte die Fäuste geballt und starrte Dr. Rölle aus tränenden Augen an.»Wenn Sie Pferde bandagieren, werden Sie das doch auch bei mir können.«
«Pferde sind keine Hornochsen! Aber Sie sind einer!«»Schimpfen Sie, so lange Sie Lust haben, nur tun Sie endlich etwas!«Er drehte den Kopf zur Seite und sah hinüber zu Angela. Sie saß in einem Sessel und hatte kapituliert. Alles Zureden hatte nichts geholfen, alles Bitten und Flehen, keine Küsse und kein Streicheln.
«Ich reite!«hatte Hartung erklärt.»Es muß nur jemand da sein, der mir die richtigen Bandagen anlegt. Mit den Zähnen knirschen kann ich dann allein.«
«Hilf du mir wenigstens«, sagte er jetzt. Es klang kläglich.»Sag, daß du mich verstehst.«
«Ich sage kein Wort mehr. Du bist wie ein kleiner ungezogener Junge, der sein Spielzeug nicht bekommt.«
«Wenn ich nicht reite, ist unsere Equipe um eine Chance ärmer.«
«Das weiß jeder! Aber es gibt noch mehr als Reitersiege! Deine Gesundheit ist wichtiger. Ein verkrüppelter Hartung nutzt keinem mehr etwas.«
«Bravo!«Dr. Rölle beugte sich über Hartung.»Man sollte Sie ohrfeigen!«
«Angi, helfen Sie mit!«Dr. Rölle hatte einen Berg Bandagen vor sich liegen. Er drückte Hartung vorsichtig in eine sitzende Stellung und begann dann, wieder die linke Schulter und die Brust mit den festen Leinenbändern zu umwickeln.
Nomo Fukujachi, der keuchend das Zimmer erreicht hatte, stand wortlos neben dem Tisch und sah zu, wie Dr. Rölle aus dem Oberkörper Hartungs eine weiße Rolle machte. Erst als die Bandagen saßen und Hartung vorsichtig vom Tisch glitt, die ersten Schritte machte, den Arm in ein Dreieckstuch schob, sagte er mit einem deutlichen Unterton von Unnachgiebigkeit:
«Als Turnierleiter werde ich Sie nicht reiten lassen. Ich sperre Sie, Mr. Hartung!«
Hartung blieb stehen. Sein Gesicht wurde sehr ernst.
«Das steht in Ihrer Macht, Mr. Fukujachi. Aber dann garantiere ich Ihnen, daß die gesamte deutsche Mannschaft nicht antritt. Hier bin ich der Equipenchef!«
«Wollen Sie einen Skandal?«fragte Fukujachi.
«Ich nicht.«
«Ihr Ritt ist halber Selbstmord.«
«Aber nur ein halber! Solange die Chancen 50:50 stehen, gibt es gar keine Fragen mehr.«
«Es ist sinnlos, Mr. Fukujachi. «Angela schüttelte, den Kopf. Sie kannte Hartung lange genug, um zu wissen, daß jetzt keine Worte mehr halfen.»Entweder er fällt vom Pferd, oder er schafft es — eine andere Alternative gibt es jetzt nicht mehr.«
«Ich werde nach Deutschland telegrafieren.«
«Auch das haben wir schon getan. «Dr. Rölle packte die restlichen Binden in seinen großen Tierarztkoffer.»Baron Fallersfeld ist weit weg, Hartung weigert sich, telefonisch mit ihm zu sprechen — was soll man da noch machen?«
«Dem verdammten Kerl eine Spritze geben!«rief Fukujachi, gar nicht mehr voll asiatischer Höflichkeit.»Damit er achtundvierzig Stunden schläft!«
«Ihr könnt reden, soviel ihr wollt«, sagte Hartung. Er marschierte im Zimmer hin und her und zwang sich, nicht an seinen Arm und die Schmerzen zu denken.»Ich reite doch!«
Zwei Nächte Schmerzen. Zwei Nächte keinen Schlaf. Die geringste Bewegung brannte wie Feuer in der Schulter. Selbst das Gehen, die leichte Erschütterung jedes Schrittes, spürte er als Stiche im Schlüsselbein.
Stundenlang saß er im Bett, gegen die Rückwand gelehnt. Das war die beste Haltung, in der er schmerzfrei war, wenn er ganz ruhig saß und sich kaum bewegte.
Morgen reite ich, sagte er sich immer wieder vor. Ich weiß, daß es Wahnsinn ist, aber die jungen Reiter sind so unsicher, wenn ich ausfalle. Ihnen fehlt die internationale Erfahrung, sie haben noch nicht die Kaltschnäuzigkeit, mit der man über einen Parcours reitet, nicht die Nerven, wenn sie plötzlich allein dastehen und die ganze Last des Wettstreits auf ihren Schultern ruht. Ich muß rei-ten!
Am Morgen des Turniertages stand er früh auf und wartete nicht, bis Angela kam und ihm beim Waschen half. Mühsam, von Schmerzen geplagt, rasierte er sich, steckte den Kopfunter den kalten Wasserstrahl, um die Müdigkeit aus seinem Hirn zu treiben, und zog sich dann mit einer Hand an. Bis zu den Stiefeln gelang es, dann saß er auf dem Stuhl und wartete.
Wer zuerst kam, war Romanowski. Er sah Hartung im Reitzeug und hieb mit der Faust gegen die Wand, daß es wie ein Paukenschlag dröhnte.
«Det mach ick nich mit!«erklärte er.»Ooch die anderen Kameraden sajen, det Se im Bett bleiben sollen.«
«Zieh mir die Stiefel an, Pedro.«
«Nee, Herrchen, det tu ick nich.«
«Du hältst sie mir hin, und ich trete rein.«
«Nee!«
«Pedro!«
«Und wenn Se mit de Oogen rollen wie 'n Kannibale, ick tu et nich.«
«Quatsch nicht soviel, Pedro, halt mir die Stiefel hin.«
«Nee, und dreimal nee!«
«Ich entlasse dich, und diesmal wirklich.«
«Und wenn Se mir den Hintern aufreißen, ick helf Se nicht!«
Es war schließlich Angela, die Hartung in die Reitstiefel half. Resigniert stützte sie ihn, als er in die engen Schäfte fuhr, und zog dann die Reithosen glatt.»Nach dem Turnier fliege ich nach Deutschland zurück«, sagte sie mit einer fremden, tonlosen Stimme.»Ich will nicht Zeuge sein, wie du dich systematisch kaputtmachst.«
«Nur dieses Springen, Angi, dann habe ich Ruhe, mich auszukurieren. Bis zum nächsten Turnier in Mexiko sind es noch vier Wochen. So lange braucht kein Schlüsselbein, um wieder leidlich stabil zu sein. Warum seid ihr alle so kurzsichtig?«
«Weil wir weiter sehen! Du bist auch nur ein Mensch.«
Sie wandte sich ab und rannte hinaus.»Jetzt heult se«, sagte Ro-manowski bitter.»Herrchen, ooch ick vasteh Se nich mehr.«
Hartung ging etwas steifbeinig durch das Zimmer. Die Müdigkeit von zwei durchwachten Nächten voller Schmerzen steckte noch in ihm und war mit kaltem Wasser allein nicht zu verjagen. Das Schlüsselbein spürte er im Augenblick nicht mehr. Dr. Rölles Bandagen saßen gut und panzerten seine linke Schulter ein. Wie sein Körper allerdings auf die Erschütterungen beim Springen reagieren würde, daran wagte Hartung nicht zu denken. Schon in gesundem Zustand war das Aufkommen nach einem Hindernis ein Schlag, der von den Zehen bis zur Schädeldecke zuckte, aber man konnte ihn elastisch abfangen und sich aus diesem Stauch hinausheben. Das alles war jetzt nicht mehr möglich, sein Körper würde die ganze Wucht des Aufpralls auffangen.
Romanowski hielt ihm die breite Hand hin.
«Ich stütz Se, Herrchen.«
Hartung winkte ab. Er bemerkte plötzlich das bläuliche Auge und die Beule an Romanowskis Hinterkopf.
«Was hast du denn da?«fragte er.»Krach mit Laska?«
«Nee, Herrchen. «Romanowski hatte sich auf diese Frage vorbereitet.»Hinjefallen über eenen Stein.«
«Wieder besoffen?«
«Ick hab bis vorjestern diesen japanischen Reiswein nich jekannt.«
O Gott, meine schöne Mandelblüte, dachte er dabei. Hätte ich nur verstanden, daß Oki der Name von einem verdammt eifersüchtigen Kerl ist!
Ganz langsam gingen sie zusammen über den großen Platz, der zwischen den Wohnhäusern und den Stallungen lag. Auf den Abreiteplätzen hatte die Arbeit begonnen. Die russische Equipe trainierte mit militärischer Exaktheit, die Amerikaner trieben ihre Pferde über die Cavalettis, die Italiener diskutierten über ein Pferd, das einmal lahmte, einmal herrlich sprang. Der Equipenarzt, ein temperamentvoller Sizilianer, schrie herum und beschimpfte alle, die anderer Meinung waren als er. Die deutschen Reiter führten ihre Pferde noch an der Longe herum. Laska stand noch im Stall — der Star
wartete auf seinen Herrn.
Hartung trat in die Box und klopfte Laska auf die Kruppe.»Guten Morgen, mein Mädchen«, sagte er fröhlich.»Wir haben uns lange nicht gesehen.«
Laskas Kopf fuhr herum. Ihre großen braunen Augen musterten Hartung. Wie auf dem Schiff, das sie nach Australien gebracht hatte, lagen Angst und Schrecken in diesem Blick. Vorsichtig strich sie mit den weichen Nüstern über Hartungs Schulter, und es war, als ertaste sie die dicken Bandagen und begreife, daß ihr Herr krank war. Sie wieherte leise, scharrte mit dem linken Bein und schüttelte plötzlich den Kopf.
«Se kann sprechen!«sagte Romanowski atemlos.»Herrchen, se kann sprechen.«
«Also auch du. «Hartung streichelte Laska über die Nüstern und zwischen den Augen.»Es hilft alles nichts, wir springen, mein Mädchen. Und damit du siehst, daß es gut geht, üben wir jetzt. Pedro, satteln!«
Es war eine einzige Qual. Schon das Aufsteigen und Einsitzen in den Sattel ging durch Hartungs Schulter wie Feuer. Er preßte den Arm eng an den Körper, nutzte die Stütze des Dreieckstuches aus und atmete ein paarmal tief durch. Dann gab er Laska frei für einen fast bummelnden Schritt.
Es ist unmöglich, sagte er sich. Ich werde schon bei den ersten Galoppmetern vom Pferd fallen. An ein Springen ist überhaupt nicht zu denken. Jede Erschütterung ist wie ein Hammerschlag. Es ist unmöglich.
Laska ging vorsichtig, als taste sie sich über Eis. Ihr Instinkt sagte ihr, daß ihr Herr krank war. Sie reagierte zum erstenmal in ihrem Leben nicht auf die Aufforderung, in einen Trab zu fallen. Mit gesenktem Kopf ging sie weiter im Schritt.
«Mein Mädchen«, sagte Hartung und beugte sich mühsam zu ihren Ohren vor, eine Anstrengung, die ihm den Schweiß ins Gesicht trieb,»sei nicht trotzig wie alle Frauen. Soll ich mir die Sporen umschnallen?«
Über den Platz rannten Dr. Rölle und Angela. Dr. Rölle fuchtelte mit den Armen hoch in der Luft.
«Holt ihn 'runter!«schrie er.»So ein Irrsinn! Ihr steht herum und seht euch das ruhig an? Holt den Idioten vom Pferd!«
«Jetzt los, mein Mädchen«, sagte Hartung ruhig.»Zeig allen, daß wir fit sind. Und wenn ich stöhne, hör einfach nicht hin.«
Und dann trabten sie, galoppierten, vollführten scharfe Wendungen, jagten auf das Übungshindernis, einen Doppeloxer, zu und übersprangen es so elegant wie immer. Mit einer Hand, der gesunden rechten, hielt Hartung die Zügel. Der Absprung war schmerzhaft, aber zu ertragen, doch als er wieder aufsetzte, war es wie eine Explosion.
Im Sattel bleiben, befahl sich Hartung. Nichts anmerken lassen. Lächeln, und weiter, weiter.
Wie er es schaffte, wußte er selbst nicht. Nach einer halben Stunde hob ihn Romanowski vom Sattel und stützte ihn bis zu einem Hocker neben dem Abreiteplatz. Dort warteten Angela und Dr. Röl-le mit verschlossenen Gesichtern.
«Na, Sie Hirnamputierter?«fragte Dr. Rölle.»Das war schön, was?«
«Es ist durchzuhalten. «Hartungs Stimme klang wie Zähneknirschen.»Und wenn Sie mir vor dem Parcours eine Injektion geben gegen Schmerzen, schaffe ich es. Doktor, es hängt zuviel daran.«
«Mein Flugzeug geht morgen früh um 8 Uhr 17. «Angela blickte über Hartung hinweg. Ihr schöner Mund zuckte.
«Du fliegst nicht.«
«Doch. Die Tickets sind bestellt.«
«Ich brauche dich, Angi!«
«Das ist eine Lüge. Du brauchst nur Siege und deine Laska. Daraus allein besteht deine Welt.«
«Und aus dir. Du weißt es genau. Heute abend werde ich brav wie ein Kind sein.«
«Falls es für dich noch einen Abend gibt.«
«Ihr seht alle zu schwarz. Mit einer Spritze im Leib muß ich diesen Nachmittag durchhalten.«»Wie Sie wollen!«Dr. Rölle schlug die Fäuste gegeneinander.»Ich pumpe Sie voll, als seien Sie ein Nilpferd! Vielleicht ist es wirklich am besten, daß Sie sich selbst Ihren Dickkopf spalten! Kommen Sie, Angi, hier haben wir nichts mehr zu suchen.«
Drei Uhr nachmittags.
Im Stadion starrten sechzigtausend Menschen auf den grünen Rasen und die dort aufgebauten Hindernisse. Nomo Fukujachi hatte noch einmal versucht, Hartung zu überreden. Es war sinnlos. Dr. Rölle gab Hartung eine Schmerzinjektion, sie wirkte kaum, wie Hartung feststellte, als er in den Sattel kletterte. Zwar ließen die Schmerzen etwas nach, aber die Nerven und der Bruch waren bereits so gereizt, daß eine normale Spritze nicht mehr reichte.
«In Ordnung?«fragte Dr. Rölle.
«Ja. «Hartung lächelte schwach.»Wenn man bei einem Viehdoktor in Behandlung ist…«
Der Parcours war schwer. Die Japaner hatten Schwierigkeiten eingebaut, an denen die meisten Reiter hängenblieben. Selbst die hier so hervorragenden Russen rissen zweimal und gingen mit acht Fehlern vom Platz. Die deutschen Reiter — Hartung ritt als letzter — kamen mit vier Fehlern aus dem Stadion. Um zu gewinnen — es gab hier nur eine Nationenwertung und keinen Einzelsieg —, durfte Hartung nur mit null Fehlern den Parcours verlassen.
«Unmöglich«, sagte Dr. Rölle.»Dieser Ritt ist völlig umsonst.«
«Wo ist Angela?«fragte Hartung, als Romanowski ihn in den Sattel hob.
«Nicht im Stadion. Sie packt ihre Koffer.«
«Das glaube ich nicht. Such sie.«
«Herrchen!«Romanowski klammerte sich an Hartungs Stiefel fest.»Bitte reiten Sie nicht!«
«Nummer 54, Horst Hartung auf Laska«, ertönte es aus den Lautsprechern in vier Sprachen. Die weiße Barriere hob sich. Einreiten! Es gab kein Zurück mehr. Romanowski preßte die Hände vors Gesicht und wandte sich ab.
Langsam, vorsichtig ritt Hartung auf den Parcours. Laska spürte, wie er mehr im Sattel hing als saß. Sein Schenkeldruck war kraftlos, kaum spürbar, die Zügelführung fast eine Farce.
Hartung zog die Kappe und grüßte. Sechzigtausend Menschen klatschten begeistert. Sie sahen, daß er den Arm in der Binde trug, daß er einarmig über diese schwierigsten Hindernisse, die man je in Japan aufgebaut hatte, springen wollte. Der >Preis der aufgehenden Sonne< war die höchste Reitertrophäe Asiens.
Dann wurde es still in dem riesigen Stadion. Hartung ritt an. Nur vier Fehler durfte er machen, um das Stechen zu erreichen. Vier Fehler, einmal abwerfen bei siebenundzwanzig Hindernissen. Ein mörderischer Parcours.
Trab. Angalopp. Das erste Hindernis, ein Birkenoxer, 1 Meter 50 hoch, für Laska eine Kleinigkeit.
Sie sprang ab, ohne auf Hartungs Hilfe zu warten, flog langgestreckt durch die Luft und setzte so weich wie möglich auf.
In Hartungs Gehirn explodierte etwas. Er sah das Stadion in roten und grünen Farben, die auf und ab wogten und schrille Töne von sich gaben. Dann einen Augenblick Klarheit — so klar, als sei alles aus Chrom und auf Hochglanz poliert.
Das zweite Hindernis. Ein weißes Tor. 1 Meter 70 hoch.
Hinüber.
Hartung stöhnte. Er beugte sich nach vorn, biß sich auf die Lippen und spürte, wie sein ganzer Körper wie im Schüttelfrost zitterte.
Noch fünfundzwanzig Hindernisse.
Die Mauer. Der Wassergraben. Der Doppeloxer. Der Wall. Die Dreierkombination, an der die meisten Reiter hängenblieben.
Hinüber. Hinüber. O Laska, Laska, du bist ein himmlisches Pferd.
Der Plankenoxer. Das Amsterdamer Tor. Das große Gatter. Der Bretterplankenzaun, 1 Meter 60 hoch. Die Feldsteinmauer, 1 Meter 60 hoch. Die Palisade. Die Triplebar.
Gerissen. Vier Fehler. Jetzt geht es ins Stechen mit Rußland und Italien. Wenn kein neuer Fehler passiert, wenn Laska die letzten Hindernisse nimmt.
Hartung sah kaum noch etwas. Seine Augen tränten, in seiner Schulter tobte der Schmerz. Er hing im Sattel, hielt sich nur mühsam fest, lenkte Laska zu den einzelnen Hindernissen und ließ sie springen, wie sie wollte.
«Es geht nicht mehr, mein Mädchen«, keuchte er, als noch drei Sprünge übrigblieben.»Mach es allein, ich kann nicht mehr.«
Ein Doppelbirken-Rick. Noch einmal ein Gatter. Dann der Steilsprung, 1 Meter 70 hoch.
Hartung umklammerte mit dem rechten Arm Laskas Hals, als sie in die Höhe schoß und die 1 Meter 70 übersprang, als sei sie aus Gummi. Er schrie laut auf, als sie auf den Boden krachten und blieb über dem Hals Laskas hängen, während sie aus dem Stadion galoppierte.
Sechzigtausend Menschen schrien auf und trampelten, klatschten und schwenkten die Fahnen mit der aufgehenden Sonne. An der Barriere stand Nomo Fukujachi und hob zusammen mit Romanowski Hartung vom Pferd.
«Jetzt weiß ich, wie ein Halbtoter aussieht«, sagte er.»Nach dem Stechen sind Sie ganz tot.«
Die Hindernisse wurden umgebaut. Eine Atempause für Reiter und Pferde. Hartung saß allein unter einem Sonnensegel auf einem Schemel, Laska stand neben ihm und sah ihn an. Niemand wagte, ihn zu stören, anzusprechen oder sich ihm zu nähern. Sein schmerzverzerrtes Gesicht war zur fratzenhaften Maske geworden.
Das Stechen.
Acht Hindernisse. Die Mauer mit 1 Meter 90. Die Dreierkombination mit 1 Meter 80. Achtmal noch die Höllenqual. Achtmal.
Wer hält das aus?
Dr. Rölle kam mit seiner Injektion. Hartung winkte ab.
«Nachher, Doktor. Nachher können Sie mich vollpumpen wie einen Ballon. Ihre Spritzen machen müde.«
«Glauben Sie bloß nicht, daß ich Sie bewundere!«
«Wo ist Angela?«»Keine Ahnung. Nicht bei der Turnierleitung, nicht auf der Tribüne — verschwunden. Wundert Sie das?«
«Ja. Angi gehört zu mir. Sie weiß es. Und irgendwo wartet sie, sieht zu.«
«Wie kann man nur ein Ungeheuer wie Sie lieben?«Dr. Rölle zuckte zusammen. Vom Turnierleiterturm erklang ein Glockenschlag.»Das Stechen beginnt. Horst.«
«Ruhe, Doktor, Ruhe. «Hartung stand ächzend auf. Er ging zu den Warteplätzen, und Laska folgte ihm mit hängenden Zügeln.»Schlucken Sie ein Beruhigungsmittel.«
Das Stechen begann. Fukujachi hatte es so eingeteilt, daß Hartung als letzter sprang. So war zu übersehen, welche Chancen die Deutschen hatten, welche Last auf Hartung liegen würde.
Rußland — sechzehn Fehler.
Italien — acht Fehler.
Deutschland bis auf Hartung vier Fehler.
«Das heißt«, sagte Fukujachi,»daß er null Fehler reiten muß, denn ein zweites Stechen ist menschenunmöglich für ihn.«
Als Hartung einritt, schwiegen die Sechzigtausend. Als er grüßend seine Kappe senkte, klatschte niemand. Es war wie bei einem Trapezartisten, der mit verbundenen Augen an der Zirkuskuppel seinen dreifachen Salto mortale drehen will. Aber einen dreifachen Salto ohne Netz.
«Los, mein Mädchen«, stöhnte Hartung.»Acht Sprünge — was sind für uns acht Sprünge und eine Mauer von 1 Meter 90?«
Acht Sprünge. Achtmal hörte man im Stadion Hartungs Aufschrei, wenn Laska wieder auf den Boden aufsetzte. Die beiden letzten Hindernisse gab es für ihn nicht mehr, er hing kraftlos an Laskas Hals, er spürte keine Schmerzen mehr, er war in einem Dämmerzustand zwischen Leben und Sterben.
Die Mauer, der letzte Sprung, die Entscheidung, der Sieg.
Mit einem Gewicht im Sattel, mehr war Hartung nicht mehr, visierte Laska das hochragende Hindernis an. Dann streckte sie sich, kurz vor der Mauer, in einem Augenblick, in dem alle sich einig waren, daß sie mitten durch das Hindernis fegen würde, streckte sich hoch in den Himmel, stieß sich mit den sprunggewaltigen Hinterläufen ab, schnellte mit einem herrlichen Bogen über die Mauerkrone.
Noch bevor sie aufkam, tobten die Sechzigtausend. Es war ein Schrei wie aus einer Kehle.
Null Fehler.
Der Sieg der deutschen Equipe.
Laska galoppierte aus dem Stadion. An der Barriere standen Dr. Rölle, Angela und Fukujachi. Romanowski warf sich Hartung entgegen, als Laska stehenblieb.
Langsam, ganz langsam rutschte Hartung seitlich aus dem Sattel und fiel in die Arme von Romanowski. Seine Augen waren geschlossen, sein Atem kaum hörbar. Im Augenblick, als sie aus dem Stadion ritten, hatte er das Bewußtsein verloren.
Dr. Rölle, Angela, Romanowski und Fukujachi trugen ihn zur Sanitätsstation, während am Siegermast die deutsche Fahne hochgezogen wurde. Und neben ihnen ging Laska, ihre weichen Nüstern strichen zärtlich über Hartungs bleiches, entspanntes Gesicht.
«Welch ein Pferd«, stammelte Fukujachi ergriffen.»Welch ein Pferd. Wer sagt da noch, ein Tier habe keine Seele?«