Der blinde Kurier

Das Ausladen hatte begonnen.

Mitten in einem Güterzug standen die vier hohen Transportwagen auf flachen Waggons, durch Seile zusätzlich gesichert, hölzerne Ställe, auf deren lackierten Seiten in großen Buchstaben gemalt stand:»Achtung! Turnierpferde. «Jetzt wurden Laufstege an die Waggons gelegt. Zuerst sollten die Pferde auf festen Boden geführt werden, dann würde man die Spezialwagen von den Ladeflächen rollen und an die großen Zugtraktoren ankoppeln, die ausgerichtet wie zu einer Militärparade auf der breiten Betonrampe warteten.

Pedro Romanowski stand draußen auf der eisenbeschlagenen Ladefläche und wartete, daß es weiterging. Laska war schon losgebunden und äugte nervös durch die heruntergelassene Luftklappe in den Himmel und über den großen Güterbahnhof.

Nun standen die Pferde der deutschen Springreiter-Equipe zum erstenmal auf russischem Boden. Moskau. Sawjolowski-Bahnhof Ein paar hundert Meter vom Dynamo-Stadion entfernt, dieser riesigen modernen Arena, in der es zum Wettstreit zwischen sowjetischen und deutschen Reitern kommen sollte.

Seit Wochen waren die Karten ausverkauft, seit vier Tagen berichteten alle Moskauer Zeitungen über dieses Ereignis. Ein Name wurde immer wieder genannt, um einen Namen rankten sich Spe-kulationen, ein Name war bald allen Moskauern ebenso bekannt wie die der Astronauten: Laska, das Pferd, das >Liebe< hieß. Noch bevor sie in Moskau eingetroffen war und Zeitungen und Fernsehen die ersten Bilder von ihr gebracht hatten, war Laska zum Liebling der Russen geworden.

Aber das alles spielte sich außerhalb des Sawjolowski-Bahnhofs ab. Worüber Millionen Russen sprachen, ließ einen Mann kalt, der wartend vor den schnellen Zugtraktoren stand und kein Kommando gab, die Pferdetransporter zu öffnen und die Pferde über die Laufstege aus den Waggons zu holen: Leutnant der Miliz Igor Michai-lowitsch Stupkin. Vor den flachen Güterwagen waren seine Leute postiert. Keiner der Pferdepfleger durfte die Rampe betreten. In den Wagen wieherten die Pferde, schlugen gegen die gepolsterten Holzwände. Sie wußten: Wir sind da, wir können raus, wir bekommen Hafer und Heu, Wasser und werden gestriegelt. Warum fällt die große Türklappe nicht?

Romanowski überwand seine erste Scheu.»Ick mache den Anfang!«rief er den anderen Pferdepflegern zu.»Vielleicht warten die bloß, det eener kommt! Mehr als mir zurückschicken können se nich.«

«Mensch, Pedro, sei vorsichtig!«rief der Pferdehalter von Wilhelm Pegge. Wilhelm Pegge war neu in der deutschen Equipe, ein junger Reiter aus Münster, der langsam aufgebaut wurde und zwei hervorragende Pferde besaß.»Wir müssen hier ganz kleine Brötchen backen.«

«Aba ick back welche!«sagte Romanowski. Er klappte die Tür seines Wagens herunter, faßte Laska am Halfter und führte sie auf die Plattform des Waggons. Ihre Hufe klapperten auf dem Eisenboden.

Die Russen waren zunächst starr vor Staunen. Dann rannte Leutnant Stupkin herbei und wedelte mit den Armen.

«Stoj!«brüllte er.»Stoj! Nix ausladen!«

Romanowski zog Laskas Kopf herunter und erkundigte sich:»Warum stoj?«

«Befehl von Kommandant!«rief Stupkin auf deutsch.

«Warum Befehl?«

«Nix wissen.«

«Warum nix wissen?«

Stupkin starrte Romanowski an, wurde rot und wandte sich ab.

«Mensch, geh zurück mit deinem Gaul!«rief der Pfleger von Peg-ge.»Die werden ihren Grund haben! Mach doch kein Theater!«

Romanowski ließ Laska draußen auf der Ladefläche stehen, holte aus dem Futtersack zwei Handvoll Hafer und hielt ihn Laska hin. Leutnant Stupkin beobachtete es mit finsterer Miene.

Nach einer halben Stunde hielt abseits vom Sawjolowski-Bahnhof eine kleine Autokolonne. Horst Hartung, Fallersfeld, Dr. Rölle, Peg-ge und drei andere deutsche Reiter stiegen aus. Sie wirkten sehr erregt, und Fallersfeld liefzu einem großen, dunklen Moskwitsch, aus dem gemächlich ein Mann in einer blauen Uniform kletterte. Zwei andere Uniformierte folgten ihm. Sie trugen Mappen unter dem Arm, und ihre Gesichter waren maskenhaft starr.

«Was soll das, Herr Major?«rief Fallersfeld.»Man holt uns aus dem Hotel und fährt uns hierher, und unterwegs erfahren wir, daß die Pferde noch immer auf den Waggons stehen und wie Gefangene behandelt werden! Darf ich um Auskunft bitten?«

«Sie dürfen, Towaritsch Fallersfeld. «Major Jakow Nikitajewitsch Borolenko lächelte freundlich.»Wir haben einen Wink bekommen. «Er sprach vorzüglich Deutsch.»Verstehen Sie mich bitte. Wenn mir jemand etwas zuflüstert, werde ich neugierig. Die menschliche Natur, Towaritsch. Sehen wir nach, ob es stimmt.«

Fallersfeld lief zu Hartung zurück.»Verstehst du das? Er hat einen Wink bekommen! Was für einen Wink? Sollen unsere Pferde etwa krank sein? Doktor, was sagen Sie dazu?«

«Die Pferde sind gesund, topfit und extra für diese Rußlandreise geimpft worden. «Dr. Rölle schüttelte den Kopf.»An den Pferden können die Russen nichts aussetzen.«

«Da hört man es! Und trotzdem stehen die auf den Waggons wie bestellt und nicht abgeholt! Romanowski. Er hat Laska draußen. Als einziger. Horst!«Fallersfeld wirbelte herum.»Wenn dein schrecklicher Gorilla wieder auf eigene Faust — wenn er Schwierigkeiten ge-

macht hat! Ich, ich.«

«Gehen wir. «Hartung kam dem kleinen, dicken sowjetischen Major entgegen, der, die Freundlichkeit selbst, einladend zu den Güterwagen hinüberwinkte.»Genosse Major, das Pferd auf dem Waggon gehört mir. Laska.«

«Oh, Laska!«Borolenkos Augen glänzten.»Ich bin ein großer Liebhaber des Reitsports. Wer in Moskau kennt Laska nicht? Towaritsch Hartung, nennen Sie mich Jakow Nikitajewitsch!«

Sie gingen über die Schienen bis zu der breiten Rampe, liefen die Treppe hinauf und prallten auf Leutnant Stupkin, der stramm und mit der Hand an der Mütze seine Meldung machte.

«Transport gestoppt. Keine Vorkommnisse. Ein Mann hat ein Pferd mit zwei Handvoll Hafer gefüttert.«

Major Borolenko nickte. Er betrachtete die deutschen Pferdewagen, fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Nase, trat näher heran, strich Laska über die Vorderbeine, was sie mit einem Anlegen der Ohren und funkelnden Augen beantwortete, wandte sich dann um und hob mit ehrlichem Bedauern die Schultern.

«Es tut mir leid«, sagte er,»aber ich muß die Wagen beschlagnahmen.«

«Mit Pferden?«fragte Fallersfeld aufgeregt.

«Ohne Pferde.«

«Und warum, Herr Major?«

«Ein Wink. «Borolenko wurde ernst.»Ich erkläre es Ihnen später, wenn wir Beweise haben. Wollen Sie zusehen?«

«Sehr gern, Jakow Nikitajewitsch«, sagte Hartung.»Sie geben uns hier Rätsel auf.«

«Nicht ich. Sie, Towaritschi. «Borolenko rief ein paar Befehle auf russisch. Die Milizsoldaten enterten die Waggons, dirigierten die Pferdepfleger in eine Ecke, lösten die Riegel der großen Klapptüren und ließen sie herunterfallen. Dann griffen sie nach den Pferden.

Fallersfeld rang nach Luft.»Major!«rief er. Er erkannte seine eigene Stimme nicht wieder.»Ich protestiere! Wenn den Pferden etwas geschieht! Ich werde nachher sofort die Botschaft verständigen.«

Borolenko schüttelte den Kopf.»Wir werden sie behandeln wie rohe Eier. Die Männer, die sie aus den Wagen holen, sind alle selbst Reiter. Trauen Sie uns keine gute Organisation zu, Towaritsch? Wir wollen verhindern, daß Ihre Leute die Wagen betreten. Sehen Sie, wie brav die Gäule herauskommen?«

Borolenko hatte recht — fachmännisch führten die Russen die wertvollen Tiere heraus, gingen mit ihnen über die Laufstege und stellten sie auf der Rampe ab. Die Pferde waren nicht unruhiger als sonst beim Ausladen. Im Gegenteil, sie benahmen sich weniger nervös als gewöhnlich, denn die Russen sprachen in singendem Tonfall auf sie ein, tätschelten die Hälse und streichelten die Nüstern.

Die einzigen Schwierigkeiten machte Laska. Romanowski klammerte sich an ihrem Halfter fest und brüllte, als die Soldaten auf seinen Wagen kletterten.

«Herrchen, sagen Sie Ihnen, det Laska se vom Waggon feuert! Wenn ick se loslasse, jibt det eine Katastrophe! Sagen Sie det dem Klee-nen in der Uniform!«

Major Borolenko lächelte breit.»Ein Berliner«, sagte er liebenswürdig zu Hartung.»Ich war sechs Jahre in der Kommandantur in Berlin. Ihr Pferdepfleger?«

«Ja. Es ist unmöglich, daß Laska von einem Ihrer Leute weggeführt wird. Ich garantiere Ihnen Knochenbrüche und noch mehr. Wenn Sie etwas von Pferden verstehen, sehen Sie sich nur Laskas Augen und Ohren an, Jakow Nikitajewitsch. Das ist höchste Gefahr.«

Borolenko schrie wieder einige Befehle. Die Soldaten wichen von Laska zurück, dafür tasteten zwei Milizionäre den vor Staunen sprachlosen Romanowski von oben bis unten ab. Hartung versuchte zu lächeln.

«Aha, Sie suchen etwas, Genosse Major.«

«Ja«, antwortete Borolenko kurz.

«Ich kann sie beruhigen, wir reiten, aber wir führen keine Waffen bei uns.«

Borolenkos Miene war tiefernst.»Warten Sie ab. Unser Informant hat noch nie gelogen.«

Aus einem Lastwagen wurden jetzt zwei Kisten herangeschleppt. Äxte, Beile, Brechstangen, Schraubenzieher, Zangen aller Größen, Flachmeißel und sechs Bohrmaschinen wurden aus den Kisten geholt. Noch ehe Fallersfeld eine Frage stellen konnte, krachten in den Pferdetransporten die Holzleisten.

Die Russen begannen, die gesamte Innenverkleidung aller Wagen abzureißen. Sie gingen dabei nicht zimperlich vor, die Polsterungen wurden zerfetzt, Watte, Roßhaar und Kapok flogen durch die Luft, dann folgten die Bretter der Innenwand, Haken, Ösen, Stangen und elastische Verstrebungen.

Major Borolenko kümmerte sich nicht mehr um die deutschen Reiter, er rannte an den Waggons entlang und schrie seine Soldaten an. Hartung, der etwas russisch verstand, übersetzte Fallersfeld, was er gerade aufschnappte.

«Er läßt nach Lederbeuteln suchen. Flachen Päckchen. Etuis aus Plastik.«

«Ein Verrückter. «Fallersfeld steckte die Hände in die Taschen.»Zum erstenmal in Rußland, ausgerechnet fällt man einem Verrückten in die Hände.«

Borolenko kletterte auf Hartungs Waggon. Romanowski stand mit Laska auf der Ladefläche ganz hinten in der Ecke. Er sprach auf Laska ein, drückte ihren Kopf zur Seite und sagte laut:»Guck weg, Olle. Kümmere dir nich drum!«

«Und wer bezahlt die Reparaturen an den Transportern?«schrie Fallersfeld, als Borolenko wieder aus Hartungs Wagen auftauchte.

«Sie, Towaritschi!«Borolenko streckte den Arm vor. In der Hand hielt er ein kleines Ledersäckchen. Jetzt war auch sein Gesicht maskenhaft.»In der Zwischenwand links, unter der Verkleidung. Meine Information stimmte.«

Er sprang auf die Rampe und kam langsam auf die Reitergruppe zu. An seinem ausgestreckten Arm baumelte das Säckchen. Fallersfeld atmete stoßweise.

«Das ist doch Irrsinn! Das hat man uns untergeschoben! Horst, sag doch etwas. Es ist dein Wagen! Man will uns auf diese Art.«

«Man will gar nichts. «Major Borolenko blieb stehen. Seine Stimme klang kalt und duldete keinen Widerspruch.»Und ich verwahre mich gegen jeden derartigen Verdacht. «Er zog den Verschluß des Beutels auf und hielt ihn Fallersfeld und Hartung unter die Nase. Weißliches Pulver glänzte in der Sonne.»Rauschgift. Kokain.«

«Unmöglich«, stammelte Fallersfeld.»Völlig unmöglich. Horst, äußere dich doch dazu!«

Hartung hob die Schultern. Er war sehr ernst geworden. Seine Bak-kenmuskeln zuckten. Er wußte, was dieser Fund bedeutete. Ganz gleich, ob er seine Unschuld beweisen konnte oder nicht — das Turnier in Moskau fand nicht mehr statt.

«Es ist Kokain, wenn Jakow Nikitajewitsch es sagt. Ich kenne mich da nicht aus. Aber ich glaube es ihm.«

«In Ihrem Wagen, Towaritsch Hartung. Zwanzig Säckchen!«Borolenko zeigte hinüber zu dem Waggon. In einer verzinkten Schüssel trugen zwei Milizsoldaten einen ganzen Haufen dieser Säckchen weg.»Wir werden noch mehr finden.«

«Ich habe keine Erklärung dafür.«

«Am allerwenigsten ich. «Fallersfeld zitterte vor Erregung.»Ich bitte darum, mit meinem Botschafter sprechen zu können. Was hier geschieht, ist ungeheuerlich. Wir sind mißbraucht worden.«

«Es wird sich alles klären. «Major Borolenko steckte das Säckchen mit Kokain in seine Uniformtasche.»Sie werden verstehen«, sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit,»daß ich zu weitgehenden Maßnahmen gezwungen bin. Ich beschlagnahme hiermit Ihre gesamte Ausrüstung. Fahrzeuge, Sattelzeug, Decken, Sprungglocken, Bandagen, Putzzeug, Frisierzeug — alles! Ihre Begleitmannschaft wird sich einer Leibesvisitation unterziehen müssen. Sie, Towaritschi, folgen mir wieder ins Hotel.«

«Und — die Pferde?«fragte Dr. Rölle heiser vor Erregung.

«Wir bringen sie in die vorbereiteten Ställe ins Stadion.«

«Ohne Aufsicht? Ich protestiere!«

Borolenko lächelte beschwichtigend.»Ich versichere Ihnen, daß Ihre Pferde die beste Pflege und Betreuung erhalten.«

«Sie bekommen ein Spezialfutter. «Fallersfelds Gesicht zuckte.»Lassen Sie wenigstens den Futtermeister zu den Pferden.«

«Wir wollen sehen. «Borolenko winkte. Die Soldaten marschierten mit den Pferden ab. Romanowski führte Laska vom Waggon und schloß sich der Kolonne an.

«Det is 'ne Mystifikation!«rief er Hartung zu.»Ick kläre det!«

«Es ist Kokain. «Borolenko wies auf die wartenden Autos.»Und klären müssen wir das. Sie sehen es doch ein, meine Herren?«

Hartung nickte. Neben Borolenko ging er zurück über die Gleise.»Bis dahin sind wir also verhaftet?«

«Aber nein. «Borolenko lächelte freundlich.»Sie bleiben unsere Gäste, Towaritsch. Sie werden sich nur an eine ständige Begleitung gewöhnen müssen, zu Ihrem eigenen Schutz!«

Hartung blickte Laska nach. An der Hand Romanowskis ging sie friedlich und mit hocherhobenem Kopf hinter den anderen Pferden her. Auf den Waggons krachten und splitterten Bretter, es gab keinen Zentimeter, der nicht untersucht wurde.

«Für morgen haben Ihre Zeitungen eine unbezahlte Schlagzeile, Jakow Nikitajewitsch«, sagte Hartung zu Borolenko.

Borolenko blieb stehen. Sein gutmütiges Gesicht war bekümmert.»Nein, die Zeitungen werden keine Zeile bringen. Ich werde sofort eine Nachrichtensperre über diesen Vorfall verhängen. «Er ging weiter.

«Und das Turnier?«

«Warten wir es ab, Towaritsch Hartung. «Borolenko hatte die Autos erreicht und hielt Hartung und Fallersfeld die Tür auf.

«Aber das Turnier ist in vier Tagen, Herr Major.«

«Vier Tage. Das können vier Sekunden oder vier Ewigkeiten sein. Wir werden es sehen.«

Zunächst geschah gar nichts.

Hartung saß in seinem prunkvollen Zimmer im Hotel >Ukraina<, trank kannenweise Tee, knabberte Sandgebäck, las sowjetische Illustrierte und spielte mit dem wortkargen Offizier, der mit ihm im Zimmer saß, einige Partien Schach, die er erwartungsgemäß verlor.

Am Abend kam Romanowski zurück. Man steckte ihn in Hartwigs Zimmer, um sie leichter unter Kontrolle zu haben.

«Laska jeht et jut«, sagte Romanowski.»Die Ställe sind hervorragend. Besser haben's die Lippizaner in Wien ooch nich. Der Futtermeister ist da, und wer schläft bei meener Ollen? Na? Det kann man kaum jlauben — Dr. Rölle. Der Kleene in der Uniform hat's jeneh-migt. Wer is det überhaupt?«

«Ein Major vom MWD.«

«Und det war Kokain bei uns im Wajen? Wirklich Kokain?«

«Ja.«

«Bejreifen Sie det, Herrchen?«

«Nein. Aber was nutzt uns das? Sie haben es gefunden.«

«Und wat nu?«

«Sie werden uns verhören. Verhören, bis uns die Schwarte platzt.«

«Abba wir wissen doch von nischt.«

«Genau das ist es, was wir ihnen klarmachen müssen. Weißt du, wie schwer das ist?«

Der wortkarge Leutnant am Schachbrett winkte. Hartung nickte und machte sich auf die nächste verlorene Partie gefaßt.

Fallersfeld hatte in den vergangenen Stunden mehrere Unterredungen mit Major Borolenko gehabt und mit der deutschen Botschaft telefoniert. Dort war man schon informiert und bedauerte, im Augenblick nichts tun zu können.

«Das ist eine rein innersowjetische Angelegenheit«, sagte jemand im Auftrag des Botschafters.»Eine strafbare Handlung. Wir werden Ihnen natürlich Rechtsschutz geben, und das AA wird sich auch einschalten, aber wir haben keinerlei Möglichkeiten, die sowjetischen Ermittlungen zu beeinflussen. Tatsache ist, daß man in einem Ihrer Transporter Kokain in rauhen Mengen gefunden hat. Das muß erst geklärt werden. Der Herr Botschafter läßt sich auf dem laufenden halten.«

«Scheiße!«schrie Fallersfeld und knallte den Hörer auf die Gabel.»Beamtengeseire! Jeder weiß doch, daß unsere Springreiter keine Schmuggler sind!«

«Das weiß jeder. «Borolenko bot Fallersfeld eine grusinische Zigarette an. Kaukasischer Wein stand auf dem Tisch.»Und wir wollen es beweisen. Deshalb sind wir so gründlich.«

«Um 17 Uhr 25 landet Fräulein Diepholt in Scheremetjewo«, sagte Fallersfeld hilflos. Nach dem Gespräch mit der deutschen Botschaft und dem Abklingen der ersten Erregung erkannte er die Schwierigkeit seiner Lage.

«Wer ist Fräulein Diepholt?«fragte Borolenko.

«Die Verlobte Hartungs. Sie kommt mit Intourist nach Moskau zum Turnier.«

«Wir werden sie abholen und uns um sie kümmern. Zufrieden?«

«Ja. Ich danke Ihnen, Herr Major. Ich weiß, Sie tun nur Ihre Pflicht. Aber glauben Sie mir.«

«Glauben, Towaritsch Baron, das ist so eine Sache. «Borolenko erhob sich und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.»Wir sehen nur die Tatsachen, und die sind nun mal Kokainschmuggel.«

Der Abend senkte sich über Moskau. Ein wundervoller Abend mit einem roten Himmel, der die goldenen Kuppeln des Kreml aufflammen ließ wie Fackeln. Hartung stand am Fenster, hinter ihm spielte Romanowski Schach mit dem stummen Offizier und brachte das Wunder fertig, ihn zu schlagen.

Mein erster Besuch in Moskau, dachte Hartung. Was hatte ich mir alles vorgenommen, was wollte ich mir alles ansehen — den Kreml, das Kloster Sagorsk, die berühmte Untergrundbahn, die LomonossowUniversität, den Sokolniki-Park, das Bolschoi-Theater, das Kaufhaus GUM, das größte der Welt: Und was ist daraus geworden?

Er drehte sich um. Das Abendrot verglühte in violetten Wolken. Romanowski sagte gerade» Schach!«und lehnte sich zufrieden zurück.

«Kann ich mit Major Borolenko sprechen?«fragte Hartung.

«Njet«, antwortete der Offizier.

Das Telefon klingelte. Der Offizier nahm ab, lauschte und hielt Hartung den Hörer hin.

«Ja? Hartung? Sie, Baron? Was? Angela in Moskau? Mein Gott, wo denn? Hier im Hotel? Ich darf nicht mit ihr sprechen? Baron, ich schlage gleich einen Krach, daß die Wände wackeln! Man soll Angela aus dieser Geschichte heraushalten! Danke, ich warte.«

Er legte auf. Romanowski stellte die Figuren zu einer neuen Schachpartie auf.

«Angela ist im Hotel«, sagte Hartung schwer atmend.»Borolen-ko kümmert sich um sie. Jetzt ist meine Geduld zu Ende!«

«Wat woll'n Se machen, Herrchen?«

Hartung blickte wieder aus dem Fenster. Über Moskau lag ein hellvioletter Dunst. Ein Bild wie aus einem Märchenbuch.»Laß uns ganz scharf überlegen! Wer konnte an unseren Transporter heran?«

«Keener. Det is et ja.«

«In West-Berlin sind wir verladen worden. Überlege mal, Pedro — hat da der Wagen allein gestanden?«

«Nee. Ick war imma bei Laska.«

«Auch als der Wagen schon auf der Waggonplattform festgemacht war?«

«Ooch. Dat heeßt…«

«Pedro, Mensch, überleg mal!«

«Ick hab in der Kantine vom Zoll jejessen.«

«Wie lange?«

«Na, 'ne Stunde vielleicht.«

«Und in der Zeit war Laska allein?«

«Det war am hellichten Mittag! Da klaut keener 'n Pferd!«

«Aber hinter der Polsterwand kann man Kokain verstecken!«

«Unmöglich! Jeden Fremden hätt meene Olle vor de Knochen jetreten.«

«Laska hat es nicht getan! Warum, das kann man jetzt nicht mehr feststellen. Vielleicht hatten sie ein Säckchen mit Hafer mit. Sie ist ein verfressenes Luder, das weißt du. Mein Gott, ja, so, nur so kann es gewesen sein. «Hartung wandte sich an den stummen sowjetischen Offizier.»Ich muß Major Borolenko sprechen. Major Borolenko. Verstehen Sie mich? Ich muß ihn sprechen.«

Der Offizier erhob sich wortlos und verließ das Zimmer.

Angela Diepholt hatte gerade die riesige Abfertigungshalle des Moskauer Flughafens Scheremetjewo betreten und wartete an dem Transportband auf ihren Koffer, als aus den großen Lautsprechern ihr Name ertönte.

«Angela Diepholt bitte zum Büro von Intourist. Angela Diepholt bitte zum Büro von Intourist.«

Sechsmal hintereinander. Eine höfliche, aber energische Stimme.

Angela gehorchte sofort.

Vor dem Schalter des sowjetischen Reisebüros >Intourist< warteten ein kleiner Mann im grauen Anzug und zwei junge Frauen in blauen Kleidern auf Angela. Der kleine Mann verbeugte sich höflich.

«Borolenko. Jakow Nikitajewitsch. Wir freuen uns, Sie so schnell begrüßen zu können. Bitte, kommen Sie mit, gospoda Diepholt.«

Angela nickte verlegen und sah sich dann um. Die beiden Frauen hatten sie in ihre Mitte genommen.»Woher kennen Sie mich? Was wollen Sie von mir?«

«Baron Fallersfeld sagte uns, daß Sie mit dieser Maschine in Moskau landen.«

Der Name Fallersfeld beruhigte sie.»Er wollte mich abholen.«

«Leider ist er verhindert. Darum stehe ich Ihnen zur Verfügung. Bitte, gospoda, zunächst in diesen Raum. Gleich kommt Ihr Gepäck, dann sehen wir weiter.«

Ein sowjetischer Polizist kam nach fünf langen, schweigenden Minuten, in denen Angela spürte, daß irgend etwas nicht stimmte, mit den beiden Koffern. Borolenko betrachtete sie und tippte dann mit dem Zeigefinger darauf.

«Sie haben die Schlüssel. Bitte, öffnen Sie.«»Sind Sie vom Zoll?«

«Nein. Vom MWD, falls Sie wissen, was das ist, gospoda.«

Gehorsam schloß Angela beide Koffer auf und klappte die Deckel hoch.

«Bitte!«

«Wenn ich Sie bitten darf, sie auszupacken. Alles bitte hierher auf den Tisch!«

Angela packte die Koffer aus. Jedes Stück, das sie herausholte, wurde von den beiden Frauen genau untersucht, abgetastet, gegen das Licht der starken Deckenlampe gehalten. Als die Koffer leer waren, klopfte Borolenko sie ab, riß das Futter ab, schnitt mit einem Taschenmesser die Böden auf. Fassungslos sah Angela ihm zu. Bo-rolenko klappte sein Messer zusammen und hob zufrieden lächelnd die Schulter.

«Und was nun?«fragte Angela mit belegter Stimme.»Soll ich meine Wäsche unter dem Arm durch Moskau tragen?«

«Wir besorgen Ihnen selbstverständlich die besten Koffer, die wir auftreiben können. «Borolenko ging zu einem Telefon und sprach ein paar Worte.»Es freut mich, Sie persönlich zum >Ukraina< bringen zu können. Die Koffer sind sofort da.«

«Was suchen Sie eigentlich?«

«Darüber unterhalten wir uns auf der Fahrt in die Stadt. Nur noch eine Formsache, gospoda. Ich werde den Raum verlassen, und die beiden Mädchen werden Ihre Kleider untersuchen. Bitte, ziehen Sie sich aus.«

Angela wich zur Wand zurück.»Ich denke nicht daran, mich auszuziehen!«

Borolenko schüttelte den Kopf wie ein Vater, der sich über sein Kind ärgert.»Bitte, machen Sie keine Schwierigkeiten. Es handelt sich ja bloß um eine Routinesache — ich erkläre Ihnen nachher die Gründe dafür.«

Angela Diepholt gehorchte. Sie zog sich aus, die beiden Beamtinnen untersuchten die Kleidungsstücke, tasteten die Nähte ab und legten dann alles auf den Tisch zurück.

«Gut! Ziehen Sie sich wieder an!«sagte die eine. Dann verließen sie den Raum.

Nach fünf Minuten klopfte es. Angela knöpfte gerade ihre Bluse zu.

«Sind Sie fertig?«rief Borolenko vor der Tür.

«Ja.«

«Ihre neuen Koffer.«

«Kommen Sie herein.«

Borolenko wuchtete zwei schöne schweinslederne Koffer auf den Tisch und half Angela beim Packen.»Es freut mich, daß das Ergebnis negativ ist«, sagte er dabei.»Aber wenn Sie erst wissen, worum es geht, geben Sie mir recht. Man kann nicht vorsichtig genug sein und soll sich auch von der schönsten Frau nicht beeinflussen lassen. Fertig. «Er schloß den Koffer und hob ihn vom Tisch.»Wir haben für Sie im >Ukraina< ein schönes Zimmer reserviert. Neben Herrn Hartung.«

«Er weiß, daß ich in Moskau bin?«

«Sollte er das nicht? Eine Überraschung? Wer konnte das ahnen?«Borolenko zog jetzt auch den zweiten Koffer vom Tisch.

«Ich verstehe das alles nicht. «Angela folgte ihm hinaus in die Halle. Dort nahmen zwei Uniformierte die Koffer, die beiden Beamtinnen waren verschwunden.»Was hat das alles zu bedeuten?«

Borolenko führte Angela aus der Halle. Ein großer schwarzer Wagen wartete vor dem Eingang.»Sie sind Gast in unserem Land, und wir bemühen uns, unsere Gäste zu beschützen.«

«Vor was zu beschützen?«

«Das wissen wir selbst noch nicht. «Borolenko verbeugte sich leicht, die Autotür in der Hand.»Steigen Sie bitte ein, gospoda. Moskau wird Ihnen gefallen.«

Das war vor vier Stunden gewesen.

Jetzt saß Angela in ihrem Zimmer, ein weiblicher Leutnant hockte auf einer Couch und hörte Tanzmusik, die aus dem Radio ertönte, rauchte eine Zigarette und trank himbeerrote Limonade. Sie sprach kein Wort und tat, als sei sie allein im Zimmer.

Borolenko erschien gegen neun Uhr abends, gleich hinter dem Etagenkellner, der ein vorzügliches Abendessen brachte. Geräucherter Stör mit Sahnemeerrettich, Piroggen mit Hühnerleber und Rahmsoße, Walderdbeereis mit Vanillecreme. Dazu eine Flasche goldgelben grusinischen Weins von den Hängen bei Telawi.

«Towaritsch Hartung läßt Sie grüßen«, sagte Borolenko.»Er ist ungeduldig. Kann man ihn nicht verstehen, wenn man von einer so hübschen Braut nur durch eine Wand getrennt ist und kann sie doch nicht erreichen?«

Mehr war aus Borolenko nicht herauszuholen — keine Erklärungen, keine Begründungen.

Bei den Pferdeställen am Dynamo-Stadion waren mittlerweile die deutschen Transporter eingetroffen. Von außen sahen sie völlig unversehrt aus, und auch innen waren sie wieder so hergerichtet, daß nur ein geübtes Auge die Zerstörungen entdecken konnte. Dr. Rolle glaubte richtig zu handeln, indem er sofort Einspruch erhob.

Major Borolenko, der überall zu sein schien und ein ungeheures Fahrpensum bewältigte, denn er tauchte am Flughafen auf, im Hotel, im Dynamo-Stadion bei den Pferden, dann wieder im Hotel, in seiner Dienststelle, im Laboratorium und erneut bei den Ställen, hob beschwichtigend beide Hände, als Dr. Rölle auf ihn zustürzte.

«Wir verlangen keine billigen Reparaturen, wir verlangen die Rückgabe unserer Wagen in einwandfreiem Zustand, so wie sie angekommen sind. Ich lehne die Übernahme ab!«

«Sie werden alles bekommen, Doktor. «Borolenko strich sich über seinen runden Kopf. Er schien jetzt nervös zu sein, auch wenn er sich ungemein beherrschte.»Wir haben die Wagen noch gar nicht übergeben, wir haben sie nur hierhergefahren und abgestellt. Kümmern Sie sich nicht um sie, kümmern Sie sich um die Pferde. Ist alles gesund?«

«Alles!«Dr. Rölle schluckte vor Aufregung.»Und was machen die

Reiter?«

«Sie essen geräucherten Stör. Gute Nacht, Doktor.«

«Gute Nacht, Herr Major.«

Dr. Rölle starrte ihm nach. Wie alle anderen verstand auch er überhaupt nichts mehr.

Borolenko tat das Ganze keineswegs aus Geheimniskrämerei. Seine Sorgen waren größer und vor allem für ihn gefährlicher als die der deutschen Equipe. Da war von einem V-Mann über Funk eine Meldung gekommen:»In den Wagen der deutschen Pferde befindet sich Rauschgift. Ende. «Die Wagen trafen in Moskau ein, und was findet man? Kokain.

Kokain für fünfzehntausend Rubel.

Was soll Borolenko tun? Die deutschen Reiter verhören? Die in der ganzen Welt berühmten deutschen Reiterstars? Ein absurder Gedanke. Den Baron Fallersfeld? Noch absurder! Den Tierarzt? Den Futtermeister? Ausgeschlossen. Die Pferdepfleger — die schon eher. Und sie wurden verhört, stundenlang, nach der bewährten Methode, daß der Fragende jede Stunde wechselt. Die eine Seite ermüdet nie, die andere muß einmal zusammenbrechen.

Aber man kannte Romanowski nicht. Er antwortete einmal auf alle Fragen, und als sie immer wiederkehrten, sagte er nur:»Ick bin doch keen kaputtes Grammophon! Ick wiedahole nischt zehnmal. Leckt mich am Arsch!«

Borolenko brach die Verhöre ab.

Er befahl, die Transporter zum Stadion zu bringen und so abzustellen, daß sie mühelos und unbemerkt zu erreichen waren.

«Wer eine Ware bringt, muß sie auch loswerden«, sagte Borolen-ko zu Leutnant Stupkin.»Durch die Nachrichtensperre weiß niemand, was geschehen ist. Für den, der die Ware abholen will, ist also nichts passiert. Setzen wir ihm die Ware vor die Nase, wie er es erwartet. Es gibt nun zwei Möglichkeiten — entweder ist dieser Romanowski ein ganz raffinierter Knabe, der selbst das Kokain aus dem Wagen holt und irgendwohin bringt. Dann wird niemand kommen. Oder das Geschäft findet bei den Wagen statt, dann muß der hiesige Abholer irgendwann erscheinen. Wann wird das sein?«

«In der Nacht, Genosse Major«, sagte Leutnant Stupkin.

«Sie sind ein kluger Kopf, Igor Michailowitsch. Riegeln Sie die ganze Gegend ab. In der Nähe der Wagen postieren Sie Scharfschützen. Ich werde mich selbst davon überzeugen. Wenn ich einen von Ihren Leuten sehe, bekommen Sie ein Kommando in der Taiga. Und Sie greifen erst ein, wenn der Kerl die Ware wegträgt. Sind die Säckchen versteckt?«

«Wo sie waren, Genosse Major.«

«Weisen Sie Ihre Leute ein. Ich werde auch in der Nähe sein, Igor Michailowitsch.«

Und so kam die Nacht.

Dr. Rölle schliefbei Laska, der Futtermeister bei den anderen Pferden. Abseits von den Ställen, in völliger Dunkelheit, bildeten die Soldaten einen Kordon um den Platz. Leutnant Stupkin machte noch einmal mit einer Taschenlampe winkend, bei seinen Scharfschützen die Runde. Er zuckte zusammen, als er auf dem ausladenden Ast eines breitkronigen Baumes eine dunkle Gestalt hocken sah.

«Gehen Sie weiter, Sie Idiot!«zischte Borolenko. Er saß vier Meter von Hartungs Transporter entfernt zwischen Himmel und Erde.»Ich gebe das Signal. Dann alle Scheinwerfer hier aufdie Wagen und ohne Anruf schießen.«

Leutnant Stupkin rannte weiter.

Der Kordon war lückenlos und unsichtbar.

Aber der Mann oder die Männer, auf die sie warteten, kamen nicht.

Bis zur Morgendämmerung hockte Borolenko auf seinem Ast, dann gab er auf. Steif, ächzend kletterte er auf die Erde. Leutnant Stup-kin tauchte auf, mit roten, übermüdeten Augen.

«Morgen wieder«, sagte Borolenko matt.»Jede Nacht, und wenn wir wie die Kakerlaken herumkriechen, ich brauche Beweise.«

Sie kennen mich nicht, dachte Borolenko. Ich bin klein und dick, aber ich bin kein Idiot! Und ich habe Zeit, viel Zeit.

Im Hotel >Ukraina< hatte man es sich abgewöhnt, weiter zu protestieren. Fallersfeld schwieg, Hartung schwieg, die anderen Reiter vertrieben sich die Zeit mit Lesen. Radiohören, Schlafen und Essen, Angela zeichnete aus Langeweile den Kopf ihrer Bewacherin mit Bleistift auf ein Blatt Papier, und als das Porträt fertig war, nahm es der weibliche Leutnant weg und sagte hart:»Beschlagnahmt!«Nur Romanowski rebellierte, warf am zweiten Tag das Schachbrett an die Wand und brüllte den Leutnant an.

Major Borolenko machte mehrmals am Tag seine Runden durch die Zimmer wie ein Chefarzt seine Visiten. Er wirkte müde und schlapp, seine Augen waren geschwollen und gerötet, aber seine Stimme klang immer noch freundlich und tröstend.

Am Abend brachten vier Uniformierte die Sättel und Stiefel Har-tungs in sein Zimmer. Sie waren zerschnitten, aufgerissen, zerfetzt. Selbst die Trensen hatte man in Stücke zerlegt.

«Freuen Sie sich«, sagte Borolenko, der kurz darauf hereinschaute.»Nichts gefunden!«

«Und damit soll ich reiten?«Hartung gab einem der Springsättel einen Tritt.»Völlig unbrauchbar! Und meine Stiefel sind auch aufgeschlitzt!«

«Es wird sich alles regeln lassen.«

«Das nicht mehr!«

«Es war unerläßlich für unsere Ermittlungen. Gute Nacht.«

Borolenko schloß die Tür.

Gute Nacht, dachte er. Sie werden schlafen. Ich aber werde wieder auf meinem Ast hocken wie ein Affe.

Nur noch zwei Tage bis zum Turnier. Das Stadion ist ausverkauft. Noch gilt die Nachrichtensperre, aber morgen müssen wir bekanntgeben, daß die deutsche Equipe verhaftet ist. Das offizielle Kommunique. Was dann folgt, ist bekannt: diplomatische Verhandlungen, Vorlage der Ermittlungsergebnisse, Rechtsbeistand für die Beklagten. Und was kann man gegen sie anführen? Nur, daß in einem Wagen Kokain gewesen ist. Eine magere Anklage, und sie wissen es.

Borolenko fuhr hinaus zum Dynamo-Stadion. Der Kordon der

Scharfschützen hatte sich bereits postiert. Leutnant Stupkin meldete:

«Genosse Dobchinskij ist auch gekommen. Er liegt in einem Loch dort unter dem großen Holunderstrauch.«

Auch das noch, dachte Borolenko. Semjon Iwanowitsch Dob-chinskij, der Erste Kommissar des MWD. Das wird eine Nacht! Ich werde aufpassen müssen, daß er nicht schnarcht wie ein Wasserbüffel.

Gebrochen schlich Borolenko zu dem Holunderstrauch.

Niemand erschien, die Päckchen abzuholen.

Dobchinskij schlief in seinem Loch, Borolenko nickte gegen Morgen ein. Leutnant Stupkin schwankte vor Müdigkeit.

Im Laufe dieses Tages taten Dr. Rölle und der Futtermeister etwas, was eigentlich nicht ihre Aufgabe war — sie longierten alle Pferde ab, damit sie nicht steif wurden. Major Borolenko, der nach vier Stunden Schlaf wieder bei den Ställen erschien, erlaubte, daß die Pferde trainiert wurden. Im Stadion hatte der Aufbau der Hindernisse begonnen. Oberst Tamaschek von der Offiziersreitschule Moskau hatte den Parcours entworfen — eine höllische Strecke, die eigentlich nur einer gewinnen konnte: Hauptmann Djomka Ulano-witsch Pollowjeff, der beste Reiter der Sowjetunion. Er überwachte mit Oberst Tamaschek das Aufsetzen der Hindernisse. Auf der Aschenbahn exerzierte das Ehrenbataillon. Das Musikkorps marschierte mit unwahrscheinlicher Präzision auf. Auf dem Abreiteplatz übten die sowjetischen Reiter. Die Fahnen stiegen an den riesigen Masten hoch.

Borolenko wurde es übel, wenn er das alles sah.

Noch wissen sie es nicht, aber morgen bricht das hier alles zusammen. Es wird der größte Skandal, den Moskau bisher erlebt hat!

«Üben Sie, Doktor«, sagte er zu Dr. Rölle.»Ich sehe ein, daß die Pferde steif werden vom langen Stehen.«

Und Dr. Rölle arbeitete die Pferde durch. Er war kein glänzender Reiter, aber er konnte die Pferde lockern, kleinere Sprünge mit ih-nen machen und die Lektionen der Dressur, die Grundlage aller Erfolge, durchnehmen. Auch der Futtermeister ritt mit ihnen seine Runden, machte Cavaletti-Arbeit und Gehorsamsübungen. Nur an Las-ka traute sich keiner heran. An der Longe gehorchte sie Dr. Rolle wie ein braves Zirkuspferd, aber kam er mit dem Sattel, stieg sie vorne hoch.

Am dritten Tag ging mit Laska eine Wandlung vor sich. Sie ließ sich von Dr. Rölle den Sattel auflegen, sie ließ Dr. Rölle aufsitzen, sie ging mit Dr. Rölle in die Bahn. Der Tierarzt begriff es selbst nicht, ritt ein paar Runden auf Laska. probierte alle Gänge durch und wurde dann mutig, ritt ein Hindernis von nur einem Meter an — eine Einzelstange — und flog dann mit Laska hoch durch die Luft. Sie kamen getrennt auf dem Boden an.

«Was für ein Pferd«, sagte Dr. Rölle, als er vom Rasen aufstand.»Man hat das Gefühl, es gäbe keine Schwere mehr. Laska, du Luder, wir probieren es noch mal!«

Und es gelang. Dr. Rölle blieb im Sattel.

Nach zwei Stunden kamen russische Stallknechte und holten Sättel, Zaumzeug, Halfter, Longen und Stiefel wieder ab. Borolenko hatte es durchgesetzt, daß man der deutschen Mannschaft das Notwendigste auslieh.

«Ihr eigenes Material existiert nicht mehr«, sagte er schon am ersten Tag zu Dr. Rölle.»Wir müssen gründlich sein.«

Vor der dritten Nacht, der letzten, erschien Borolenko noch einmal in Hartungs Zimmer. Er setzte sich auf die Couch, bedrückt, um Jahre älter.

«Fassen wir zusammen, was wir wissen«, begann er müde.»Die Wagen wurden in West-Berlin verladen. Seitdem haben sie den Waggon nicht verlassen, und keiner konnte in die Wagen hinein. Das Kokain muß also in West-Berlin, auf dem Güterbahnhof, in der Verkleidung versteckt worden sein. In Berlin — oder bei Ihnen, Hartung! Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten. War's auf dem Güterbahnhof, hat man Sie als >stummen Kurier< benutzt, wie wir es nennen, war's bei Ihnen, sind Sie allein verantwortlich! Um eines von beiden zu beweisen, halte ich noch diese Nacht durch. Ist sie wieder erfolglos, erhebe ich Anklage gegen Sie!«

«Aber das ist doch Irrsinn! Warum sollte ich Kokain schmuggeln?«

«Das fragt man sich oft bei Straftaten. Warum? Wieso gerade er? Was hat das für einen Sinn? Wenn man lange genug dabei ist, fragt man nicht mehr, der Mensch ist ein rätselhaftes Wesen.«

«Also diese Nacht noch?«Hartung trank ein Glas Wein.»Jakow Nikitajewitsch, Sie wissen, daß ich unschuldig bin.«

«Was heißt wissen? Man muß es beweisen. «Borolenko hob die Schultern.»Wer zwischen Mühlsteine gerät, wird zermahlen.«

Die dritte Nacht.

Stupkins Männer waren postiert. Der Genosse Dobchinskij häng-te sich wieder an Borolenko und kletterte sogar auf den Baum über Hartungs Transporter.

«Hier können Sie nicht schlafen, Semjon Iwanowitsch«, flüsterte Borolenko ihm zu.»Wir sind fünf Meter über der Erde, das hält ihr Genick nicht aus, wenn Sie hinunterfallen.«

Es war totenstill. Die Dunkelheit wurde fahler, ein halber Mond schob sich aus den Wolken. Und da sah Borolenko zuerst den Schatten, der vom Stadioneingang heranschlich. Er hielt den Atem an, legte Dobchinskij die Hand auf den Mund und zeigte nach unten. Dobchinskij nickte.

Der Schatten kam näher, nahm Gestalt an — ein langer, dürrer Kerl, der heranschlich, sich nach allen Seiten umsah, die Wagen erreichte, zielsicher auf Hartungs Transporter zuglitt und in der offenen Tür verschwand.

Borolenko hielt den Atem an, der plötzlich zu pfeifen begann. Er sah, wie Leutnant Stupkin im Schatten eines Strauches winkte, wie zehn, fünfzehn Scharfschützen aus dem Boden auftauchten.

Unter ihm, im Wagen, rumorte es. Jetzt reißt er die Füllungen auf, dachte Borolenko fröhlich. Jetzt sammelt er die Säckchen ein, die nur Salz enthalten, gleich wird er herauskommen, und dann pfeife ich. Wir wollen ihn lebend haben und dann ausquetschen wie eine Zitrone.

Woher kommst du, Lump? Wer sind die Hintermänner? Wo ist der Leiter der Organisation?

Der Mann im Transporter hatte die Säckchen eingesammelt. Er kam wieder heraus, so schnell und plötzlich, daß Borolenko fast zu pfeifen vergaß. Dann aber gellte es durch die Nacht, Scheinwerfer leuchteten auf und tauchten die rennende Gestalt in gleißendes Licht.

«Stoj!«brüllte Leutnant Stupkin.»Du bist umzingelt. Nimm die Hände hoch, du Hundesohn! Stoj! Willst du erschossen werden?«

Der lange Mensch schien taub zu sein. Er schnellte davon, nach vorn gebückt, Haken schlagend wie ein Hase. Borolenko fixierte Dob-chinskij.

«Sie sehen, er will erschossen werden«, sagte er matt.»Es bleibt uns keine andere Wahl. «Dann brüllte er zu den Soldaten hinüber:»Auf die Beine zielen! Er muß vernehmungsfähig bleiben! Feuer!«

Die Scharfschützen schossen. Der Mann machte einen hohen Sprung, warf die Arme in die Luft und fiel zu Boden. Dann — noch ehe die ersten Schützen ihn erreicht hatten — ertönte ein leiser Knall. Borolenko ballte die Fäuste.

«Er hat sich selbst erschossen!«stammelte er.»Wir werden nie erfahren, wer der Leiter ist: Sie werden sehen, Genosse Dobchinskij, wir haben nur auf seine Beine gezielt, aber er hat sich selbst umgebracht.«

Genauso war es. Mit blutüberströmten Beinen lag der Unbekannte im Gras, in der Hand hielt er eine kleine Pistole, mit der er sich in die rechte Schläfe geschossen hatte.

In seiner Tasche fand man seinen Ausweis. Mukar Antonowitsch Zaroskin hieß er. Geboren in Taganrog. Er sah verhungert aus, aber Borolenko wußte, daß das Rauschgift seinen Körper ausgemergelt hatte.

Um siebzehn Uhr fand der große Zweikampf zwischen Hauptmann

Pollowjeff und Horst Hartung statt. Das Dynamo-Stadion tobte. Achtzigtausend Russen klatschten rhythmisch in die Hände, als Djom-ka Ulanowitsch auf den Parcours ritt.

Das dritte Stechen. Null Fehler bisher. Nur noch zwei Hindernisse.

Ein Hoch-Weit-Sprung und die verdammte Mauer von jetzt 2 Meter 10 Höhe.

Borolenko war nicht im Stadion, er stand am Zaun des Abreiteplatzes und sprach mit Hartung. Die letzten Stunden waren seine glücklichsten gewesen. Er war mit Sattel, Trense, Stiefeln und allem Zubehör in Hartungs Hotelzimmer erschienen und hatte alles auf den Boden geworfen.

«Hauptmann Pollowjeff leiht Ihnen seine zweite Ausrüstung«, sagte er.»Er hofft, daß der Sattel für Laska paßt, die Stiefel passen bestimmt, er hat die gleiche Schuhgröße wie Sie! Los, ab zum Turnierplatz. Ich wünsche, daß Sie gewinnen, Towaritsch Hartung, in Pollowjeffs Sachen — als Wiedergutmachung sozusagen!«

Über Hartungs Gesicht flog ein ungläubiges Lächeln.

«Ist das Ihr Ernst?«fragte er.»Heißt das, wir können starten?«Er griff zum Telefon und ließ sich mit Fallersfeld verbinden.

Aber der winkte ab.»Völlig unmöglich, Horst. Sie können mit einer fremden Ausrüstung bei Laska keinen Blumentopfgewinnen. Die beißt sogar Romanowski, wenn der ihr einen Sattel, der nicht nach Hartung riecht, auflegen will. Ich bin dabei, das Turnier abzublasen.«

Eine volle Stunde hatte Hartung gebraucht, um den Baron umzustimmen. Mit Engelszungen hatte er geredet. Er durfte starten.

Nun war Hauptmann Pollowjeff auf dem Parcours. Sein Pferd >Si-birska<, eine hochgebaute, schwarze Stute, tänzelte unruhig vor der Starterfahne. Das rhythmische Klatschen erstarb. Atemlose Stille.

Pollowjeff galoppierte an, die Fahne senkte sich.

Die Uhr lief an, die wenigen Sekunden bis zum Sieg.

Der erste Sprung. >Sibirska< schaffte ihn mit Bravour.

Die Wendung. Anritt zur Mauer.

Zwei Meter zehn!

>Sibirska< zögerte den Bruchteil einer Sekunde im Lauf, und dieses unmerkliche Zögern wurde ihr zum Schicksal. Sie sprang, sie hob sich in den Himmel, aber der Sprung war zu früh angesetzt. Mit den eingezogenen Hinterbeinen riß sie die obere Schicht ab, die Mauerkrone polterte auf den Rasen.

Pollowjeff raste durchs Ziel. Ein schwarzer Pfeil.

Vier Fehler. 10,4 Sekunden.

Über den achtzigtausend Menschen im Dynamo-Stadion von Moskau lag es wie eine Lähmung, als Hartung mit Laska einritt. Borolenko stand an der Schranke und preßte beide Hände auf sein Herz.

Laska sah sich nach allen Seiten um.»O Gott«, sagte Romanowski und biß sich in den Handballen.»Jetzt macht se wieder 'ne Schau!«

Fallersfeld stand neben Angela Diepholt und hatte den Arm um ihre Schulter gelegt. Er wollte sie festhalten, ihr Mut zusprechen, aber jetzt stützte er sich selbst auf sie, als habe ihn der Schlag getroffen.

Horst Hartung galoppierte an. Schwerelos stob Laska über den Rasen.

Die Starterfahne.

Uhr läuft.

Hartung starrte auf die beiden Hindernisse. Er fror innerlich. Der fremde Sattel gab weniger Halt als sein eigener, die Stiefel drückten.

Der Hoch-Weit-Sprung. Laska setzte darüber hinweg wie eine Rakete.

Die Wende, ganz knapp, auf der Hinterhand herumgerissen, gefährlich, aber Sekunden sparend.

Und nun die Mauer. Zwei Meter zehn. Ein Ungetüm aus Ziegeln.

Laska streckte sich. Sie wurde plötzlich so dünn, daß Hartung Angst hatte, der Sattel rutsche mit ihm weg. Er gab die Zügel frei, er sah den Himmel näher kommen, auf dem Scheitelpunkt fühlte er sich wie ein Pfeil, der die Schwerkraft überwunden hat. Dann sah er den Rasen wieder, spürte den Aufprall, warf sich nach vorn und schloß die Augen.

Als er durchs Ziel galoppierte, schrien achtzigtausend Menschen auf.

Null Fehler. 9,6 Sekunden.

An der Schranke weinte Borolenko. Tatsächlich, die Tränen rannen ihm über die dicken Wangen. Weinend kam er zu Fallersfeld, drückte ihm die Hand, umarmte ihn dann und küßte ihn auf beide Wangen.

Dann lief er weg, griff in beide Taschen, holte einen Haufen Zuk-kerstücke hervor und rannte Laska nach.

«Behalt Sattel und Stiefel, Brüderchen«, sagte später bei dem Festessen im Hotel >Ukraina< Hauptmann Pollowjeff zu Hartung.»Trage sie und siege weiter. Du hast bestes Pferd von Welt. Eigentlich habe ich gesiegt, waren mein Sattel und meine Stiefel!«

Er lachte, umarmte Hartung, und am Morgen waren sie Freunde bis ans Lebensende.

Heute hängen der Sattel und die Stiefel Hauptmann Pollowjeffs in Hartungs Wohnhalle an der Wand. Für ihn sind sie wertvoller als mancher silberne Pokal.

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