Sie hieß Luisa Gironi, und ihr langes, lockiges schwarzes Haar fiel offen bis auf die Schultern. Sie trug enge, kurze Röcke und riesige Sonnenbrillen, beide farblich aufeinander abgestimmt. Wenn sie ging, wiegte sich der ganze Körper wie nach einer unhörbaren Melodie. Sie war auf allen Turnierplätzen bekannt, stand vor den Springprüfungen am Rande der Abreiteplätze und beobachtete die Reiter mehr als die Pferde. Später tauchte sie dann auf den Haupttribünen auf, immer auf den teuersten Plätzen, von den Männern bewundert, von den Frauen mit hochgezogenen Augenbrauen mißbilligend gemustert.
Man wußte von ihr eigentlich nur, daß sie Italienerin war, genauer Sizilianerin, aus Palermo, der Stadt der heißesten Liebe und der blutigsten Blutrache. Sie mußte reich sein, aber woher ihr Geld kam, war ebenso unbekannt wie ihr sonstiges Leben. Zu keiner Zeit sah man sie in männlicher Begleitung auf den Turnieren, sie kam allein und ging allein. Was man munkelte, von ihren Nächten nämlich, war und blieb Gerücht. Immer lächelte sie, still in sich versunken, geheimnisvoll.
Auch an diesem Tag, einem sonnigen Vormittag, stand Luisa Gi-roni schon lange vor Öffnung des Turnierplatzes von Aachen an der Holzeinzäunung des Abreitefeldes und sah den Vorbereitungen der Reiter zu. Die deutsche Equipe hatte gerade ihre Arbeit aufgenommen. Die Pferde wurden im leichten Arbeitstrab locker gemacht, galoppierten an, wurden durch Tempowechsel in Trab und Galopp, Paraden, Rückwärtsrichten und Hinterhandwendungen gehorsam, gelöst und geschmeidig für den schwierigen Parcours.
Fallersfeld hatte beide Hände in den Taschen seiner braunweiß karierten Reithose versenkt und die Sportmütze tief ins Gesicht gezogen. In ihrem Schatten sah er hinüber zu der jungen Frau mit den langen, im Morgenwind wehenden schwarzen Haaren und der großen, runden Sonnenbrille. Sie war orangefarben wie ihr enger, kurzer Rock. Lange, schlanke Beine, ein Körper wie ein Modell, unter dem spitzenähnlichen Stoff der Bluse die Wölbungen der Brüste. Fallersfeld zog deutlich hörbar die Luft ein.
«Was will die denn hier?«fragte er den Platzwart Fritz Schmitz.
Schmitz sah hinüber zu Luisa Gironi. Sie hatte die Arme auf die obere Latte des Zaunes gelegt, warf jetzt den Kopf zurück und lachte, als einer der Reiter bei einem Probesprung schief im Sattel landete.
«Dat is en Pferdche, wat?«sagte Schmitz anerkennend.»Die is mir lieber als die Halla.«
«Was will sie hier?«fragte Fallersfeld kurz.
«Die steht schon seit 'ner halben Stunde rum. «Fritz Schmitz blickte auf seine Uhr.»Dat hätten Sie mal sehen soll'n, die Italiener! Dat war dat reinste Schaureiten. Aber die, keine Miene verzojen, wie 'ne Puppe im Schaufenster. Und der Brasilianer hat sojar en Jespräch mit ihr bejonnen. Und wat macht die? Läßt den steh'n. Jeht einfach weiter, een paar Meter, und stellt sich wieder hin.«
Luisa Gironi hob den Kopf. Sie nahm die Arme vom Zaun, ihr Körper spannte sich.
Auf den Platz kam, zu Fuß, Horst Hartung. Hinter ihm führte Pedro Romanowski am kurzen Zügel ein goldbraun glänzendes, tänzelndes, unruhiges Pferd — Laska.
«Aha!«sagte Fallersfeld.»Nun wissen wir es! Horst Hartung soll abgeschossen werden. Auch das noch! Schmitz, wenn ich vorzeitig weiße Haare bekommen habe, dann nur, weil ich so wahnsinnig war, mich zum Vater dieser Reiter zu machen. Und sehen Sie sich Laska an, verdammt, mit dem Gaul will H.H. über den Parcours! Das ist kein Pferd mehr, das ist bloß noch ein hinterhältiges Nervenbündel.«
Er wandte sich ab, vergrub die Hände noch tiefer in den Hosentaschen und ging Horst Hartung entgegen. Romanowski hatte Laska abseits geführt, sie beobachtete mit ihren schönen, großen Augen die anderen Pferde, blähte die Nüstern und schnaubte verhalten, aber voll Kampfeslust. Mit dem rechten Vorderhuf kratzte sie das Gras auf.
«Nu dreh nich wieder durch, olles Luder«, sagte Romanowski leise und zog Laskas Kopf herunter.»Auswechseln tut er dir, det sach ich! Warum haste ihn och jebissen, du Rindviech? Beißt man 'nen Equipenchef?«
Fallersfeld und Horst Hartung trafen sich mitten auf dem Abreiteplatz. Der Baron hatte kurz vorher sein Monokel ins linke Auge geklemmt, ein Zeichen, daß er amtlich und unter Vermeidung des vertrauten Du mit Hartung sprechen wollte. Man kannte das in der deutschen Equipe: Wenn Fallersfeld sein Monokel zog, hieß es: Jetzt holt Papa die Rute 'raus!
«Wer ist diese Frau?«fragte Fallersfeld ohne Einleitung. Seine Stimme hatte den zackigen Klang angenommen, von dem alte Kavallerieoffiziere nie loskommen. Hartung atmete auf. Diesmal also nicht Laska, dachte er. Eine Frau. Welche Frau?
«Ist Angela doch gekommen?«fragte er zurück.
«Hartung, spielen Sie nicht den Tugendbold. Mein Gott, ich wünschte, Angela wäre hier. Die Frau dort am Zaun. Sagen Sie bloß nicht, Sie kennen sie nicht. Wer Pferde studiert hat, begreift auch die Frauen. Sie hat den Kopf in den Nacken geworfen, als Sie auf den Platz kamen. Nur gewiehert hat sie noch nicht. Wer ist sie?«»Sie heißt Luisa Gironi. «Hartung schielte hinüber zur Umzäunung. Luisa lehnte daran in der stolzen Haltung einer sizilianischen Rächerin.
«Und weiter?«
«Weiter nichts, Baron.«
«Das soll Ihnen einer glauben? Bin ich ein Trottel?«
«Warum wollen Sie mich zur Beantwortung dieser Frage zwingen, Baron?«
«Sie kennen diese Gironi?«
«Flüchtig.«
«Was heißt bei Ihnen flüchtig?«
«Sie hat mich vorgestern und gestern eingeladen, sie auf ihrem Zimmer im Hotel >Kurpark< zu besuchen.«
«Oha!«Fallersfeld schnaubte wieder durch die Nase.»Und das nennen Sie flüchtig? Wo fängt bei Ihnen massiv an?«
«Ich bin nicht hingegangen, Baron.«
«Warum nicht?«
«Laska war zu nervös.«
«Mein Gott, ja, Laska. Dieses Aas!«Fallersfeld klemmte das Monokel fester ins Auge.»Ich habe beschlossen, Laska heute als Reservepferd…«
«Bevor Sie weitersprechen, Baron, eine Feststellung. «Hartung sagte es leichthin, ohne Nachdruck, aber Fallersfeld kannte ihn zu gut, um die folgenden Worte leichtzunehmen.»Ich reite heute Laska über den Parcours oder überhaupt nicht.«
«Hartung, das ist Auflehnung. Die Anordnungen des Equipenchefs sind…«
«Ich weiß, ich weiß. Baron, Laska hat Sie einmal gebissen. Das war vor einem Jahr.«
«Sie beißt alles und jeden! Sie ist das unverträglichste Luder, das ich kenne. Sie hat keine Disziplin, einen ungeheuren Dickschädel, macht, was sie will, und Sie, Hartung, Sie sind nicht ihr Herr, sondern ihr Sklave geworden. Ihre Liebe zu dem Gaul ist fast schon pathologisch!«
«Ich habe zwei Jahre mit ihr gearbeitet. Zwei Jahre, die ein ständiger Zweikampf waren. Und Sie wissen, was Laska kann. Sie selbst waren es, der sagte: Ich habe solch ein Pferd noch nicht gesehen!«
«Das kann man nach allen Seiten interpretieren!«Fallersfeld drückte das Kinn an den Hemdkragen.»Sehen Sie sich ihren Liebling an. Wenn Romanowski sie jetzt losließe, würde sie über den Platz fegen und alle anderen Pferde vom Rasen verjagen. Wollen Sie heute die große Blamage Ihres Lebens erreiten? Ein Reiterclown beim >Großen Preis< von Aachen? Ihre Laska wird Sie lächerlich machen. Zugegeben, sie springt wie eine Heuschrecke, aber sie benimmt sich wie ein Bock!«
«Lassen wir es darauf ankommen. Versuchen wir es, Baron.«
«Versuchen! Ein Großer Preis ist kein Experiment! Hartung, ich prophezeie Ihnen: Wenn Sie heute Laska gegen meinen — sagen wir es milde — Vorschlag doch reiten und die deutsche Equipe kommt um den Sieg durch Ihre Laska, wird das eine Suspendierung nach sich ziehen.«
«Einverstanden. «Horst Hartung drehte sich etwas zur Seite und verbeugte sich leicht zu Luisa Gironi hin. Sie antwortete ihm mit einer flüchtigen Handbewegung.»Ich nehme an. Versagt Laska, werde ich aus der Equipe ausscheiden…«
«Hartung!«Fallersfeld ließ das Monokel in die hohle linke Hand fallen. Es sah sehr imposant aus.»Ich wollte, es wäre Nacht oder Angela käme!«
Hartung ging hinüber zu Laska und Romanowski. Sie streckte den Kopf vor, als sie Hartung sah, und ihre schönen Augen glänzten. Aber in ihrem herrlichen goldglänzenden Körper zitterten Unruhe und Spannung. Die Flanken bebten.
«Wir sollten uns 'ne einsame Ecke aussuchen«, sagte Romanowski vorsichtig.»Ick trau ihr nich.«
«Fängst du jetzt auch noch an? Der Baron singt schon Schauerarien.«
«Denken Sie an die neunzehn Vorturniere. «Romanowski warf die Zügel über Laskas Kopf und hielt Hartung den Steigbügel hin. Hartung schwang sich in den Sattel. Laska rührte sich nicht. Sie stand wie ein Denkmal, nur die Ohren zuckten vor und zurück.»Sie hat fünfzehn davon gewonnen«, sagte Hartung.
«Und sieben Pferde gebissen, vier getreten und zweimal 'ne Keilerei im Stallgang anjefangen. Ick hab zwei Rippen anjebrochen, eene Platzwunde an der rechten Hüfte.«
«.und schläfst doch jede Nacht neben ihr in der leeren Box.«
«Sonst wird se noch duller!«schrie Romanowski, als Hartung anritt, zunächst im Schritt, dann im leichten Trab. Romanowski lief noch ein Stück nebenher.»Dat Luder spürt, was heute für'n Tag is.«
Hartung ritt zwei Runden um den Abreiteplatz, leicht, elegant, auf einer Laska, die schwerelos wirkte, völlig entkrampft und ruhig. Nach der zweiten Umrundung hielt er vor Luisa Gironi an. Sie hatte das Kinn auf beide Hände gestützt und sah Hartung von unten herauf an. Hinter den dunklen Gläsern der großen Sonnenbrille konnte man ihre feurigen Augen nur ahnen.
«Sie sind nicht gekommen«, sagte sie in jenem singenden Deutsch, das den Reiz südländischer Frauen noch vermehrt.»Nun komme ich zu Ihnen.«
«Ich habe Ihnen einen Brief geschickt, Signorina.«
«Und ich habe ihn zerrissen, ohne ihn gelesen zu haben.«
«Das war ein Fehler. Er hätte Ihnen Auskunft gegeben.«
«Ich will keine Auskunft«, sagte Luisa ungehemmt,»sondern Sie.«
«Signorina Gironi!«
«Soviel von Pferden verstehen Sie, und so wenig von Frauen?«Sie warf den Kopf hoch, und ihre Hände klammerten sich plötzlich um den Zaun. Ihr schönes Gesicht, geteilt von der Sonnenbrille, war voller Leidenschaft.»Ich habe zweimal auf Sie gewartet, habe auf meinem Bett gelegen, bis es Morgen wurde, habe das Bett und die Kissen und mich selbst geschlagen, bis ich keine Luft mehr bekam. Glauben Sie, daß eine Frau wie ich das erträgt?«
Horst Hartung zog Laskas Kopf zurück. Fast unmerklich hatte sie ihn nach vorn gestreckt und schob jetzt die Nüstern hoch. Bevor sie zubeißen konnte, riß Hartung an der Olivenkopftrense. Lui-sa Gironi bemerkte es nicht, sie achtete nur auf Hartung.
«Wären Sie jetzt auf Sizilien, wären Sie schon tot!«sagte sie gepreßt.»Und ich werde Sie noch töten. Um 14 Uhr beginnt das Turnier, ich warte auf Sie bis 12 Uhr auf meinem Zimmer. Kommen Sie nicht, leben Sie von da an mit dem Tod zusammen.«
Sie drehte sich brüsk um und ging davon. Langsam, wiegend, eine der schönsten Frauen, die Hartung je gesehen hatte. Verblüfft starrte er ihr nach. Dann lachte er vor sich hin und ritt weiter. Mit der Pistole ins Bett, dachte er und schüttelte den Kopf. Verrückt. Schade um so viel Schönheit, wenn dahinter nichts als Exaltiertheit und Launen stecken. Wie ein Kind, das nur diese Puppe haben will. Nur diese eine Puppe!
Hartung trieb Laska in einen vollen Galopp. Mit gestrecktem Körper schoß sie über den Platz. Fallersfeld, der neben Romanowski stand, räusperte sich.
«Beim Zeitspringen gewinnt sie immer«, sagte er unwillig.»Vorausgesetzt, sie kommt über die Hindernisse. Ein schneller Gaul. Sssst!«Er schob die Sportmütze in den Nacken. Laska war über ein Übungs-Doppelriek geflogen, weit über den Stangen, elegant und langgestreckt.»Aber zu unruhig, viel zu unruhig. «Fallersfeld nahm die Mütze ab, er schwitzte plötzlich, wenn er an das Turnier dachte. Ein Windstoß zerzauste seine schneeweißen Haare.»Romanowski, kennen Sie das verdammte Weib da drüben, das eben weggeht?«
«Nee, Herr Baron. Aber wo Herr Hartung is, sind ooch die Weiber.«
«Leider, Pedro, leider. Kommt eigentlich Angela?«
«Ick weeß nich, Herr Baron. Da hat's Krach jejeben. Zwee Jahre nur Arbeit mit der Laska und kaum Zeit für die Liebe, det macht ooch een Engel wie Angela nich mehr mit.«
Hartung probierte Laska durch. Verschiedene Gänge, Gehorsamsübungen, kurze, schnelle Wendungen. Sie gehorchte wie eine gut geölte Maschine. Und Hartung vergaß alle Warnungen und vor allem den sizilianischen Racheschwur: Ab 12 Uhr leben Sie mit dem Tod zusammen!
Auf den Turnierplatz von Aachen schien die strahlendste Sonne dieses Vorsommers. Die Tausende von Menschen, das Farbenspiel der flatternden Fahnen, das weite Rund des Parcours mit den Hindernissen, an denen noch letzte Korrekturen vorgenommen wurden, die kleine Gruppe von Schiedsrichtern, an der Spitze Turnierleiter Graf Hellberg, die jedes Hindernis abschritten und kontrollierten, dieses ganze Fluidum von spannungsgeladener Erwartung auf einen Kampf von Pferd und Reiter um einen der begehrtesten Preise des Turniersports, diese geballte Erregung verlor sich völlig hinter dem Stadion, wo die Reiter zusammenstanden und die Pferdehalter die gesattelten Stars herumführten, bewegten und wie kostbare Juwelen bewachten.
Auch Romanowski war dabei, aber er führte Laska immer abseits hin und her.
«Hau ab mit deinem Saubiest«, hatten die anderen Pferdehalter ihm zugebrüllt, als er mit Laska herankam. Sie tänzelte, hatte die Nüstern hochgeschoben und wieherte mit blanken Zähnen. Ein Kampfschrei: Aus dem Weg — jetzt komme ich!
Romanowski griff fester in die Trense und ging mit Laska abseits.»Wat biste bloß für'n Bock?«sagte er heiser.»Nu benimm dich schon, du olle Zippe!«
Fallersfeld war zufrieden. Seine Equipe hatte alle Chancen, den Großen Preis zu gewinnen. Die Pferde waren topfit, die Reiter gesund, und außerdem war Angela Diepholt angekommen. Hartung wußte es noch nicht, sie saß im weißen Gebäude der Turnierleitung neben Graf Hellberg und ließ sich erzählen, daß man mit einer Sensation, allerdings im negativen Sinne, rechnete.
«Ich verstehe Fallersfeld nicht«, sagte Graf Hellberg.»Ein Pferd wie Laska gehört noch nicht auf eine solche internationale Entscheidung. Sieben Jahre — zu jung. Dann die Eigenwilligkeit, die Streitsucht, der ständige Kampf um die Disziplin, das ist kein Turnierpferd. Aber Hartung schwor darauf, und Fallersfeld läßt sich überrollen! Hartung ist genauso dickköpfig wie sein Pferd.«
«Wem sagen Sie das?«Angela blickte über den sonnenüberflute-ten Platz. Ein Farbenspiel, das fast die Augen blendete. Eine Musikkapelle der Bundeswehr war auf dem Parcours eingezogen und spielte Märsche und Schlager. Die Erwartung stieg, auf der Tribüne nahmen die Ehrengäste Platz. Minister, der Oberbürgermeister von Aachen, der Regierungspräsident und — inkognito — eine königliche Hoheit eines westeuropäischen Landes. Die Turnierleitung gab die ersten Durchsagen, die Stimme aus dem Lautsprecher übertönte die Musikkapelle. Graf Hellberg blickte erwartungsvoll auf die automatische Uhr im Kontrollzentrum des weißen Turmes.
Noch zwanzig Minuten bis zur Eröffnung.
Das A-Springen. Der Nachwuchs. Dann folgte der Große Preis von Aachen mit den internationalen Stars im Sattel.
Und Horst Hartung auf Laska.
Graf Hellberg zwang sich, nicht daran zu denken. Vom Abreite-und Warteplatz kamen die Meldungen: Alles in Ordnung. Keine besonderen Vorkommnisse. Romanowski hat Laska isoliert. Sie benimmt sich wie eine Verrückte, seitdem die Musik begonnen hat.
«Was soll das?«schrie Hellberg nervös ins Telefon.»Sollen wir wegen diesem Gaul auf dem Kamm blasen lassen?«
Zehn Minuten vor der Eröffnung stand plötzlich Luisa Gironi vor Horst Hartung. Niemand hatte sie kommen sehen, nicht einmal der wachsame Romanowski. Sie war plötzlich da, wie aus dem Boden gewachsen. Ihrer Stimmung entsprechend trug sie ein enges schwarzes Kostüm und einen großen, breitrandigen roten Hut. Ihre Sonnenbrille war ebenfalls schwarz. In der rechten Hand hielt sie eine kleine Pistole, ein Spielzeug fast. Horst Hartung, der gerade noch einmal die Länge der Steigbügelriemen maß, fuhr herum, als er die ernste Stimme hinter sich hörte.
«Ich habe gewartet«, sagte Luisa Gironi mit einem traurigen Unterton.»Ich habe sogar gebetet, daß du kommst. Du hast mich tödlich beleidigt. «Sie hob die Waffe und winkte mit der linken Hand Romanowski, neben Hartung zu treten.
«Die is verrückt!«sagte Romanowski und ließ Laskas Zügel los. Gehorsam stellte er sich neben Hartung und hob die Arme.
«Luisa, was Sie tun, ist wirklich Wahnsinn«, sagte Hartung laut.
«Du bist der erste Mann, der mich so beleidigt hat.«
«Man wird den Schuß hören und Sie verhaften. Wollen Sie als Mörderin im Zuchthaus enden?«
«Ich werde zweimal schießen. Wir sterben zusammen.«
Vom Turnierplatz ertönte die Stimme des Oberbürgermeisters. Er begrüßte die Ehrengäste und eröffnete das Springturnier. Tausendfaches Händeklatschen. Musik. Laska hob den Kopf, spitzte die Ohren und blähte die Nüstern.
Horst Hartung blickte in die kleine, dunkle Mündung. Er sah, wie Luisa den Zeigefinger krümmte. Ihre Hand war ganz ruhig. Der Schuß mußte ihn zwischen die Augen treffen, wenn sie die Pistole in dieser Richtung ließ.
Hartung riß den Mund auf. Er wollte schreien, um das langsame Krümmen des Fingers aufzuhalten. Aber er brachte keinen Ton heraus. Dafür hörte er überlaut die Stimme Romanowskis.
«Die macht ja ernst, det dämliche Frauenzimmer!«schrie er.»Herrchen, jetzt passiert's!«
Er warf sich mit einem heftigen Schwung vor Hartung und verdeckte ihn mit seinem breiten Körper. Es war genau die Sekunde, in der Luisa Gironi abdrücken wollte. Der Sprung Romanowskis verwirrte sie, sie ließ die Pistole sinken, machte ihrerseits einen Sprung zur Seite, um aus einem anderen Winkel Hartung doch noch treffen zu können, und prallte dabei gegen Laska, die zwei Schritte zu-rückgetänzelt war. Mit dem Ellenbogen stieß sie das Pferd in die Flanke und hob wieder die Waffe.
Romanowski hatte die Arme nach hinten geworfen und hielt Hartung an seinen Rücken gepreßt fest.»Hilfe!«schrie er.»Hilfe!«Es war das einzige, was er tun konnte, aber niemand hörte ihn. Die Musikkapelle spielte wieder, alles stand mit dem Rücken zu ihnen und sah der Eröffnungsfeier zu.
Doch es kam Hilfe. Wo kein Mensch eingreifen konnte, handelte der Instinkt des Tieres.
Laska hatte sich herumgedreht. Ihre großen braunen Augen sa-hen ihren Herrn, sahen eine fremde Frau und den aufgeregten Romanowski. Und sie spürte den Stoß in die Flanke, ein unbekanntes Gefühl, das sie reizte.
Ohne einen Laut warf sie den Kopf hoch, stieg dann auf die Hinterbeine und streckte die Vorderbeine zum tödlichen Schlag. Entsetzt starrte Romanowski auf den goldglänzenden, gespannten, zur Vernichtung ausholenden Pferdeleib.
«Laska!«schrie er.»Laska!«
Luisa Gironi reagierte wie eine Katze. Als Laska mit vollem Gewicht nach unten kam, warf sie sich zur Seite und entging nur um Zentimeter dem tödlichen Hufhieb. Sie rollte ins Gras, und schon war Romanowski über ihr, hieb ihr auf den Knöchel. Sie ließ mit einem spitzen Schrei die Waffe fallen und lag dann ausgestreckt und mit geschlossenen Augen auf dem Boden.
Hartung wischte sich den Schweiß ab, küßte Laska auf die Nüstern, klopfte ihr den Hals und kniete sich neben Luisa.
«Haben Sie sich verletzt, Signorina?«fragte er.
Luisa antwortete nicht. Die Sonnenbrille war heruntergerutscht. Hartung sah, daß die Partie um beide Augen und der obere Teil der Nase mit dicken Narben bedeckt waren. Die Lider fehlten, über den Augen hingen schrecklich aussehende, rötliche Hautreste.
Ohne ein Wort nahm Luisa die große Sonnenbrille und schob sie wieder über ihre verbrannte Augenpartie. Dann weinte sie plötzlich, lehnte den Kopf an Hartungs Brust und umklammerte ihn wie eine Ertrinkende.
Vom Parcours klang donnernder Applaus herüber. Das A-Sprin-gen hatte bereits begonnen, der erste Reiter hatte die Hindernisse hinter sich.
«Wer liebt mich mit diesen Augen?«schluchzte Luisa Gironi.»Immer ist es dasselbe, bei allen Männern. Irgendwann gelingt es ihnen, mir die Brille vom Gesicht zu reißen, und dann erstarren sie, ich sehe, wie entsetzt sie sind, und ich schreie, schreie. Und dann laufen sie weg, als sei ich ein Scheusal. Aber vorher sind sie alle angeschlichen gekommen wie die Kater, sind über meinen Körper her-gefallen und haben Liebesworte gestammelt, bis sie meine Augen sahen, meine fürchterlichen Augen.«
Sie weinte lauter, und Hartung hatte alle Mühe, sie festzuhalten. Sie wollte aufspringen und weglaufen. Wenn ich sie jetzt loslasse, dachte Hartung, geschieht etwas Schreckliches. Sie ist jetzt zu allem fähig.
Romanowski hatte Laska fest in der Hand und führte das zitternde Tier hin und her. Immer wieder drehte es den Kopf und starrte zu Hartung hinüber.
«Wie — wie ist das passiert?«fragte Hartung leise und drückte Luisas Kopf an sich.
«Ich war siebzehn Jahre alt, mein Vater ist Chemiker, ein berühmter Chemiker in Italien. Die Gironi-Werke. Ich spielte in seinem Privatlabor — er hatte immer neue Ideen, die er auch ausführte —, und plötzlich explodierte etwas. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber ein Flammenstrahl traf meine Augen, nur diese eine Partie in meinem Gesicht und fraß mir die Lider weg. Zehn Jahre renne ich seitdem von Arzt zu Arzt, immer neue Adressen, zehn Jahre lang immer wieder Hoffnung. Aber es gibt keinen Arzt, der neue Lider einsetzen kann. Und zehn Jahre kämpfe ich gegen den Wahnsinn, gegen die Angst, nicht mehr geliebt zu werden. Ich nehme mir jeden Mann, der mir gefällt, auch wenn er hinterher wegrennt, wie vom Teufel gejagt. Nur du bist nicht gekommen. «Sie umarmte ihn und sah ihn an. Ihr ebenmäßiges Gesicht war tränenüberströmt. Die dunkle Sonnenbrille verdeckte wieder die Tragödie ihres Lebens.»Hast du — hast du vorher gesehen, wie häßlich ich bin?«
«Sie sind die schönste Frau, Signorina, die ich je gesehen habe.«
«Mit dieser Brille, diesem Ungetüm vor meinen Augen!«
«Ein Mensch besteht nicht nur aus Augen!«
«Aber ich war nicht schön genug, um dich zu mir zu locken.«
«Darüber könnte man viel sagen, Luisa. «Hartung wischte ihr die Tränen vom Gesicht.»Vielleicht hatte ich nur Angst vor deiner Schönheit.«
«Du lügst geschickt.«»Und dann war Laska da. Sie spürt, was der heutige Tag für sie bedeutet. Seit Tagen ist sie unruhig, ich mußte immer um sie sein.«
«Sie haben mir das Leben gerettet. Vergiß das nicht.«
«Du hättest wirklich geschossen?«Unwillkürlich war auch Hartung in das vertraute Du gefallen. Luisa nickte. Dann blickte sie suchend nach ihrer Waffe.»Die Pistole hat Pedro eingesteckt. Es ist besser so.«
«Ich habe noch eine andere im Hotel. «Sie lächelte schwach.»Es ist so einfach, eine Pistole zu bekommen. Ja, ich hätte dich erschossen.«
«Und dann auf dich selbst?«
«Nein!«Sie wollte aufstehen, und Hartung half ihr auf die Beine. Dabei legte sie die Hände um seinen Nacken. Von weitem sah es aus, als küsse sie ihn leidenschaftlich.»Ich wäre fortgelaufen, und keiner hätte gewußt, wer den großen Reiter Hartung erschossen hat.«
«Pedro.«
«Ihn hätte der zweite Schuß getroffen. Warum sollte ich mich töten? Es genügt, wenn die Männer sterben, die mich verachten. Mit siebzehn, als der Unfall geschah, war ich verlobt. Luigi hieß er, Luigi Baldini. Wir wollten bald heiraten. Als er meine zerstörten Augen sah, lief er weg, lief einfach weg, ohne ein Wort, und kam nie wieder. Für ihn müssen alle Männer büßen!«Sie klopfte ihr schwarzes Kostüm ab, ordnete die Haare und schob die Sonnenbrille näher vor die Augen.
«Wohin gehst du jetzt?«fragte Hartung.
«Ins Hotel und dann nach Rom.«
«Zur Coppa d'Italia?«
«Ja.«
«Ich werde dort auch springen.«
«Ich weiß, aber wir werden uns nicht wiedersehen.«
Sie drehte sich um, starrte Laska an, die nervös an der Hand Romanowskis tänzelte, und ging dann mit schnellen Schritten in Richtung auf die Tribüne davon.
«Det jibt noch 'n Nachspiel, Herrchen«, sagte Romanowski und
wischte sich den Schweiß von der Stirn.»Det jnädige Frollein hat hinten an der Ecke jestanden und alles jesehen. Nu is se weg.«
«Angela?«Hartung fuhr herum.»Pedro, du Idiot, warum hast du nichts gesagt?«
«Man soll die Dinge nicht noch mehr komplizieren, Herrchen. Weeß ick, wie die italienische Verrückte reagiert hätte?«
Auf dem Parcours sprangen die letzten Reiter der A-Prüfung. Ein Pferdehalter der deutschen Equipe rannte über den Rasen und winkte mit beiden Armen.
«Herr Hartung, wo bleiben Sie? Der Herr Baron läßt Sie überall suchen. Letzte Besprechung vor dem Start.«
Hartung sah Romanowski mit einem verkniffenen Lächeln an.»Er versucht noch mal, Laska in die Reserve zu schieben. Pedro, 'rüber zum Sattelplatz! Jetzt siegt der dickste Kopf.«
«Und den haben wir drei, Herrchen.«
Hartung hatte sich durchgesetzt, er durfte mit Laska springen. Seine Startnummer war 13, und Fallersfeld sah das als eine wirkliche Katastrophe an.
«Laska und dann die 13, das geht ins Auge!«jammerte er.»Ein Glück, daß ein Pferd nicht abergläubisch ist. Aber ich bin's, Horst. Und da hilft auch kein dreimal über die Schulter spucken mehr. Ich flehe dich an, nimm >Parade<. Er ist eingesprungen und in bester Form. Und ruhig wie ein Lamm. Sieh ihn dir an, wie er dasteht, und dagegen diese verdammte Laska!«
Es war alles richtig, was Fallersfeld sagte. >Parade< stand abseits und kaute verträumt an seinem Olivengebiß. Laska mußte abseits stehen, weil sie um sich trat und jedes Pferd, das in ihre Nähe kam, sofort angriff. Romanowski hing mehr in den Zügeln, als er stand, fluchte und warf mit Ausdrücken um sich, bei denen selbst alte Pferdeknechte noch rot wurden.
Zwei Reiter der deutschen Equipe waren schon im ersten Umlauf mit vier Fehlern abgeritten. Fallersfeld hatte seine Mütze zerknautscht
und sich nur damit trösten können, daß kein anderer Reiter weniger als vier Fehler auf dem schweren Parcours gelassen hatte.
«Noch haben wir eine Chance«, sagte er, heiser vor Erregung.»Horst, wenn du auch nur vier Fehler machst und d'Inzeo und Pes-soa, die nach dir kommen, ebenfalls, dann kannst du im Stechen mit >Parade< noch den Sieg holen.«
«Ich reite mit Laska«, sagte Hartung laut und endgültig.»Und, wenn es sein muß, auch ins Stechen.«
«Dann sitz auf!«Fallersfeld faltete die Hände.»Wenn du das drittemal reißt, bete ich, daß es Scheiße regnet.«
Sechs Minuten später war es soweit, aus den Lautsprechern tönte die Stimme Graf Hellbergs:
«Als nächster mit Nummer 13 am Start: Horst Hartung auf >Las-ka<. Deutschland.«
Es war, als senke sich über das herrliche, große Rund des Turnierplatzes plötzliches Schweigen. Die Menschenmenge schien den Atem anzuhalten. Wer hier bei glühender Sonne aushielt, wußte: Laska, das bisher unbekannte Pferd von H.H., sprang zum erstenmal eine internationale Konkurrenz. Eine Premiere in einem hoffnungsvollen Pferdeleben.
Hartung ritt ein. Er kannte den Parcours genau, er hatte ihn vorher abgeschritten, von Hindernis zu Hindernis, hatte dabei jeden Sprung berechnet, sich jeden Anreitewinkel gemerkt, Bruchteile von Sekunden entdeckt, wenn es wirklich in ein Stechen ging. Er wußte genau, wo Laska mit ihrer ungeheuren Sprungkraft abstoßen mußte, wo sie flach zu springen hatte oder steil über das Hindernis gezogen werden mußte. Vor allem die Dreierkombination war schwierig. Hier mußte Hartung Laskas Temperament zügeln, mußte sie hart in die Hand nehmen, sonst hing sie mit ihrer Sprungweite todsicher mitten im dritten Oxer.
Graf Hellberg auf seinem Sitz in der Turnierleitung wurde unruhig. Er sah unten am Gitter der Einreiteschneise Fallersfeld stehen, barhäuptig, mit wehenden weißen Haaren, wie ein Fakir, der zur Selbstverbrennung geht. Dann wanderte sein Blick zu Hartung und
Laska, und bleicher Schrecken ergriff Hellberg. Schon beim Vorreiten und Vorstellen hatte Hartung Mühe, das Pferd in den Griff zu bekommen. Mit hochgerecktem Hals und geblähten Nüstern tänzelte Laska unter ihm, ein einziges Nervenbündel.
Hartung zog seine Kappe und verneigte sich kurz. Applaus klang auf, aber gedämpfter als sonst. Die Spannung hielt auch die Zuschauer wie in einem Schraubstock fest.
Elegant wendete Hartung auf der Hinterhand und trabte leicht zum Start. Dann fiel Laska in einen leichten Aufgalopp und passierte die Startfahne.
Es gab kein Zurück mehr. Der alte Reiterspruch wurde wieder Wahrheit: Wirf erst das Herz hinüber — der Reiter folgt dann nach!
Fallersfeld lehnte sich an das weißlackierte Gitter und strich die weißen Haare von den Augen. Neben ihm standen Romanowski und Platzwart Fritz Schmitz.
«Der Galopp ist gut«, sagte Schmitz.
Und Romanowski knurrte:»Ach Gott, halt doch die Klappe, Mensch.«
Laska galoppierte weich und elegant. Hartung spürte sie kaum, und das war ihm selbst neu. Ganz schnell klopfte er ihren Hals und beugte sich etwas vor.
«Brav, mein Mädchen«, sagte er.»Zeig es ihnen allen! Nach diesem Turnier sollen sie an uns glauben wie die Astrologen an die Sterne.«
Das erste Hindernis — ein Gatter. 1 Meter 50 hoch.
Es war, als gäbe es dieses Hindernis gar nicht. Laska flog darüber, ein langgestreckter golden leuchtender Pfeil.
«Bravo!«sagte Fallersfeld und begann heftig zu schwitzen.»Aber dieses Gatter springen noch blinde Urgroßmütter.«
Es war eine Wonne, dieses Pferd über den Parcours fliegen zu sehen. Mit einer Weichheit, als sei sie aus Gummi, sprang Laska ab, kam sie wieder auf und setzte ihren Galopp fort.
Der Wassergraben.
Kein Problem. Hartung hatte mit Laska schon breitere Bäche über-sprungen, bei der Ausbildung im Geländeritt, Bäche, deren Ufer mit Holzstangen erhöht worden waren.
Aber genau hier passierte es.
Als Hartung das Hindernis anritt, kam er nahe an den Zuschauern vorbei. Irgendjemand — es war eine Männerstimme — brüllte plötzlich vor Begeisterung» Hurra! Hurra!«und klatschte in die Hände.
Laskas Ohren fuhren zurück. Hartung spürte, wie ihr Rücken sofort bretthart wurde, wie sie aus dem Takt kam, ausbrechen wollte, sich verkrampfte unter seinem zwingenden Zügelzug und seinem Schenkeldruck.
Der Absprung.
Zu früh, dachte Hartung sofort, als Laska gegen seinen Willen hochflog. Mein Mädchen, viel zu früh, das schaffst du nicht. Und ausgerechnet der Wassergraben!
Es war, als strecke sich Laska noch einmal in der Luft, als spüre sie jetzt selbst, daß sie sich verschätzt hatte. Aber es nützte nichts, sie trat mit den Hinterhänden ins Wasser und kassierte dafür vier Punkte.
«Aus!«sagte Fallersfeld und setzte seine Mütze auf.»Ich hab's gewußt! Die Dreierkombination schafft sie nie! Leute, der Sieg ist im Eimer! Den Großen Preis kassiert Italien.«
«Schnauze halten!«sagte Romanowski dunkel.»Noch hat sie vier Sprünge vor sich.«
Hartung wendete auf die letzte Bahn ein.»Ruhig, mein Mädchen«, sagte er dabei.»Ganz ruhig. Ja, es hat gebumst, aber kümmere dich nicht darum.«
Verstand Laska ihn? Sie kam wieder in den richtigen Rhythmus, weich und schwerelos. Tausende von Menschen hielten den Atem an, als sie auf die Mauer zugaloppierte. Graf Hellberg preßte sein durchnäßtes Taschentuch gegen die Stirn.
«Die geht mitten durch«, stöhnte er.»Leute, ich mach die Augen zu, wenn's kracht.«
Aber es krachte nicht. Kurz vor der Mauer zog Hartung das Pferd hoch. Wie abgeschossen schnellte Laska über die Mauer, zog die
Hinterbeine an und schleifte nur ganz leicht mit den Sprungglocken über die Mauerkrone. Nichts fiel herunter, es verschob sich sogar nichts. Ein glatter Sprung.
Ein vieltausendfaches Seufzen klang auf. Fallersfeld griff sich ans Herz.
«Die nächste Kur bezahlt Hartung«, sagte er mit zitternder Stimme.»Das hält kein Herz aus.«
Ein hoher Buschoxer — hinüber.
Die Dreierkombination.
«Betet, Leute«, sagte Fallersfeld aufgeregt.»Mein Gott, betet doch!«
Hartung hatte Laska fest in der Hand. Er hielt sie zurück, er wußte, wie eng die Sprünge waren. Und er spürte auch, wie Laska ausbrechen wollte, daß sie dieses Hindernis als ein Ganzes ansah und damit unweigerlich wie eine Granate mitten drin landen würde.
Der erste Oxer — hinüber.
Nummer zwei hinüber.
Der letzte Dreiersprung.
Hartung riß an den Zügeln. Zu weit aufgekommen, Laska, viel zu weit. Wir haben keinen Platz mehr für den dritten Absprung. Mädchen, acht Fehler, jetzt werden sie uns auseinandernehmen.
Obwohl er nicht mehr daran glaubte, dieses Hindernis zu überwinden, drückte Hartung zum dritten Sprung ab. Und Laska folgte seinem Befehl. Fast senkrecht stieg sie empor, stieß sich mit ihren kräftigen Hinterhänden ab, zog sie dann eng unter den Bauch und wälzte sich über die lose liegenden Stangen. Es war die Sekunde, in der Tausenden das Herz stillstand. Dann aber brach ein Jubel los, in der der letzte Sprung und das Ausreiten völlig untergingen.
Graf Hellberg sank auf seinen Korbsessel zurück. Man mußte ihn daraufhinweisen, daß er vor dem Mikrophon saß und die Ansage machen mußte.
«Nummer 13, Horst Hartung auf Laska, vier Fehler«, sagte er erschöpft.»Der nächste Reiter mit der Nummer 14: Nelson Pessoa auf >White Star<, Brasilien.«
Dann stand er auf, winkte einem anderen Herrn der Turnierlei-tung und verließ den Glaskasten der Schiedsrichter.
Fallersfeld hatte die Mütze schief auf dem Kopf, als Hartung absprang und die Zügel Romanowski zuwarf.
«Nun sind Sie aber stolz, was?«brüllte er.»Aber nun kommt das Stechen! Da reiten Sie >Parade<.«
«Das geht nach den Regeln ja gar nicht.«
«Wollen Sie mich ins Grab reiten? Ihre Mauer und der Dreier, ich habe keine Luft mehr gekriegt.«
Hartung reagierte nicht und ließ Fallersfeld stehen. Er rannte Romanowski nach, der Laska zum Warteplatz führte.»Wo ist Angela?«rief er.»Hast du sie gesehen?«
«Ja, sie sitzt in der Turnierleitung und will nischt von Herrchen wissen.«
«Und Luisa?«
«Die Verrückte sitzt auf der Tribüne und zerknüllt Taschentücher.«
«Ich muß Angela sprechen.«
«Geht nich, Herrchen. Da kommt der Graf.«
Hellberg stürzte auf Hartung zu und umarmte ihn.»Eine Meisterleistung«, rief er verzückt.»Ein Wunderpferd. Springt aus dem Stand!«
«Ich habe es selbst nicht geglaubt, es war also nicht mein Verdienst. «Hartung griff in die Tasche und zog ein Stück Papier heraus.»Haben Sie etwas zu schreiben?«
«Bitte. «Hellberg gab Hartung seinen Kugelschreiber, und Hartung warf schnell ein paar Zeilen auf das Papier. Er faltete es zusammen und reichte es Hellberg hin.»Graf, tun Sie mir den Gefallen und geben diesen Brief Angela. Ich weiß, daß sie bei Ihnen im Turm hockt.«
«Dicke Luft, Hartung?«
«Dick wie Erbsensuppe. Aber alles nur Irrtümer.«
«Das sagte die Maus auch und liebte den Elefanten. Geben Sie her, und viel Glück beim Stechen.«
Graf Hellberg lief zum Turnierturm zurück.
Bis zum Beginn des Stechens wartete Hartung auf eine Antwort
Angelas. Vergebens. Romanowski, den er losschickte, kam zurück wie ein geprügelter Hund.
«Sauer wie Jurken aus Jroßmuttas Topf«, sagte er und putzte Laska die schaumigen Nüstern aus.»Ick jloobe sojar, die hat jeheult.«
Das erste Stechen begann.
Es war, als habe Laska den Verstand eines Menschen, so wenigstens kam Hartung die Reaktion des Pferdes vor, als sie beim zweiten Umlauf wieder ein Hindernis riß, und zwar einen leichten Plankenoxer. Fallersfeld stöhnte auf und ließ sich einen Kognak reichen. Er sparte sich dabei das Glas und trank direkt aus der Taschenflasche.
«Noch'n Stechen«, sagte er.»Wenn Pessoa auch vier Fehler macht.«
Und Pessoa riß den letzten Oxer der Dreierkombination.
Dritter Umlauf. Umbau der Hindernisse, Erhöhung aller Stangen und der Mauer.
Wieder schrieb Hartung ein paar Zeilen an Angela. Er sah ihren Kopf hinter dem Glas der Werterkabine neben dem dicken Schädel Graf Hellbergs. Er winkte zu ihr hinauf, aber sie blickte konstant in eine andere Richtung.
«Ich liebe Dich«, schrieb er, das Papier auf Laskas Sattel gelegt.»Laß uns miteinander sprechen. Alles ist ein Irrtum. Warum glaubst Du mir nicht?«
Und diesmal brachte Romanowski eine kurze Antwort.
«Wann heiraten wir?«
Die Schicksalsfrage, vor der Hartung blind und taub wurde. Er faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Rocktasche.»Was soll ich tun, Laska?«fragte er.»Wenn wir hier gewinnen, frißt uns der Betrieb auf. Wie können wir da heiraten?«
Der dritte Umlauf begann mit einem Sturz von d'Inzeo. Piero La-borta aus Argentinien riß zweimal. Die Engländerin Miss Haughs mußte vom Parcours, weil ihr Pferd >Blue Bell< dreimal verweigerte. Der Deutsche Bornemann riß einmal, dann lahmte sein Pferd, und er mußte ebenfalls aus der Bahn.
Nummer 13. Horst Hartung auf >Laska<.
Nur drei Hindernisse. Die Mauer mit 1 Meter 90, ein Steilsprung mit 1 Meter 80, ein Oxer mit 1 Meter 80.
Und wieder riß Laska, den letzten Sprung, nur ein Antippen der Stange. Sie war so lose gelegt, daß sie sofort fiel.
Aber auch Pessoa riß, und so blieben sie allein übrig für das dritte Stechen, den vierten Umlauf.
Nur ein einziges Hindernis, das Ende dieses nervenzermürbenden und kräftefressenden Kampfes.
Die Mauer.
2 Meter 10 hoch.
Wer sie überwand, war Sieger. Wenn beide sie rissen, gab es zwei Sieger. Wenn beide sie überwanden, gab es zwei Sieger. Es war unmenschlich, was man den Pferden jetzt zumutete. Ein neues Stechen war unmöglich.
Zur Verblüffung der Zuschauer ritt Pessoa zuerst ein. Sofort schwirrten wilde Gerüchte durch die aufgeregte Menschenmenge.
Laska hat sich verletzt. Hartung tritt nicht mehr an. Aber warum dann noch dieser Ritt? Wenn keiner mehr reitet, ist Pessoa doch Sieger.
>White Star< unter Pessoa umkreiste die riesige Mauer. Man sah dem Reiter an, daß er vor Nervosität bebte. Darum hatte er auch um den ersten Sprung gebeten. Seine Nerven zersprangen fast. Graf Hellberg hatte Hartung um Erlaubnis gebeten, und Hartung hatte gesagt:»Gut, soll er vorher springen. Ich habe die Nerven dazu.«
Dann stand er am Fuß des Turnierleiterturms und sah Pessoa zu. Neben ihm stand Romanowski mit Laska. Sie trug plötzlich eine rote Rose hinter dem linken Ohr. Hartung entdeckte sie, als er Las-ka den Hals klopfen wollte.
«Was soll das?«fragte er.
«Kam plötzlich jeflogen wie 'n Vogel«, sagte Romanowski und lächelte breit.»Oder wie 'n Engel.«
«Angela?«Hartung zog die Rose aus dem Riemen und einen kleinen Zettel dazu.
«Ich zittere mit Dir. Ich verzeihe Dir alles, wenn Du gewinnst.«
«Hörst du das, Laska?«sagte Hartung leise und las dem Pferd die Worte vor.»Jetzt mußt du in den Himmel springen.«
Pessoa ritt an. >White Star< streckte sich, hob ab, flog in herrlicher Haltung durch die Luft, aber er schaffte die 2 Meter 10 nicht. Polternd fiel die obere Mauerreihe ab.
Pessoa legte sich tief über den Hals seines Pferdes und ritt hinaus. Er war erlöst.
Horst Hartung saß auf. Fallersfeld gab ihm die Hand.»Junge, ich möchte dir ins Gesicht spucken, wenn es Glück bringt«, sagte er. Seine Stimme klang plötzlich greisenhaft.
Nummer 13. Horst Hartung auf >Laska<.
In dem weiten Rund des Aachener Springplatzes herrschte Stille wie vor einem Taifun. Langsam ritt Hartung an der Haupttribüne vorbei. Er sah Luisa Gironi ganz vorn sitzen. Ihr breitkrempiger roter Hut leuchtete hell zwischen dem Weiß der Hemden und den hellen Damenkleidern. Ihre Blicke trafen sich, und langsam, ganz langsam nahm sie die Sonnenbrille ab und zeigte ihr zerstörtes Gesicht.
Hartung nickte, wendete und ritt auf die drohende, unüberwindliche Mauer zu.
2 Meter 10.
So hoch war Laska noch nie gesprungen. Auf diese Höhen hatte er sie nicht trainiert. Sie waren Mord an einem so jungen Pferd. Jetzt aber, ein einziges Mal, galt es, die Gesetze der Vernunft zu durchbrechen.
«Mein Mädchen«, sagte Hartung leise und beugte sich zu Laskas Ohren vor. Sie wedelte mit ihnen, als verstehe sie jedes Wort.»Wenn du da 'rüberkommst, gehören wir zusammen, bis einer von uns umfällt. Und nun los, du liebes Luder.«
Der Angalopp, zuerst langsam, dann schneller, immer schneller. Ein goldener fliegender Pfeil. Die Mauer, mein Gott, die Mauer. Nie kommen wir da rüber, nie. Laska, brich aus, brich zur Seite aus. Tu mir den Gefallen, spring nicht. Renn an dieser verfluchten Mauer
vorbei. Wir brechen uns den Hals. Laska, mein Schätzchen, mein Liebling, spring nicht.
Hartung gab die Zügel frei. Jetzt bricht sie aus, dachte er. Jetzt ist sie sich selbst überlassen. Und jedes Pferd hat Angst vor einem solchen Sprung. Laska, nicht springen!
Es war, als schwebte Hartung plötzlich. Er hielt sich im Sattel, warf sich instinktiv nach vorn und umklammerte die Zügel. Das ist nicht möglich, dachte er dabei. Das träume ich jetzt. Sie hat Flügel bekommen. Laska. Laska.
Der Boden hatte sie wieder. Der Aufprall warf Hartung zurück, wie betäubt ritt er weiter, umbraust von einem Jubelschrei, der über ihm zusammenschlug wie eine riesige Woge.
2 Meter 10. Wer kann das begreifen?
Er ritt vom Platz, rutschte aus dem Sattel in die Arme von Fallersfeld und vergrub sein Gesicht an dem schweißnassen Hals von Laska. Er hörte Romanowski brüllen wie einen Stier, und er hörte Angelas Stimme, die immer wieder rief:»Laßt ihn doch in Ruhe! Laßt ihn doch! Er kann nicht mehr, seht ihr das denn nicht?«
Hartung legte beide Arme um Laskas Hals, und wie immer in den vergangenen zwei Jahren streichelte sie mit ihren weichen Nüstern seinen Nacken.
Das Wunderpferd Laska war geboren. Die Welt lag offen vor ihnen — eine Welt, die sie feierte, als hätten sie einen neuen Planeten erobert.
Eine gnadenlose Welt, die jetzt nur noch Siege sehen wollte.