Moro Memanuk galt überall als ein Idiot.
Wenn er durch die Straßen Manilas schlurfte, auf dem großen Markt bettelnd seine Hände ausstreckte oder im Hafen die Frem-den mit einem hüpfenden Tanz begrüßte, lachten die Filipinos und riefen:»Seht da! Moro ist von den bösen Geistern befallen!«Dann neckten sie ihn, zogen an seinen zotteligen Haaren, äfften seine Bewegungen nach und drückten ihm statt Münzen Knöpfe oder sogar Hundedreck in die Hand.
«Gott wird euch strafen!«heulte Moro dann und hob die Arme anklagend zum Himmel.»Gott vergißt das nicht! Denkt an mich! Denkt an mich!«
Niemand nahm ihm die Drohungen übel. Ein armer Idiot, dieser Memanuk. Taucht überall auf, wo etwas los ist, und davon lebt er ja auch — bei Volksfesten, bei der Staatsgründungsfeier, beim Präsidentengeburtstag, bei allen Fußballspielen, in den kleinen Arenen der Hahnenkämpfe, an Markttagen, beim Karneval, bei der Wahl der >Miss Philippinern, kein Fest ohne Moro Memanuk.
«Eigentlich müßte er schon Millionär sein«, lachte selbst der Polizeipräsident von Manila. Auch im Präsidium war Moro bekannt wie ein gestreift lackierter Hund.»Bei diesen Trinkgeldern! Gestern hat er vor einer amerikanischen Reisegruppe getanzt und so viel geschenkt bekommen, wie ein Polizeiinspektor im halben Jahr verdient. Aber dann versäuft er alles wieder und liegt acht Tage betäubt am Straßenrand.«
In diesen Tagen hatte Moro Memanuk Hochsaison. Zum erstenmal fand in Manila ein internationales Reit- und Springturnier statt. In Grace Park, nördlich der Stadt, wo die weißen Villen der Reichen standen, Häuser im säulenverzierten spanischen Kolonialstil, von paradiesischen Gärten umgeben, hatte man mit viel Geld, Mühe und Phantasie einen Reitplatz gebaut und erwartete nun die Elite der Reiter aus aller Welt. Da der Staatspräsident selbst eingeladen hatte und das Turnier somit eine fast diplomatische Angelegenheit wurde, sagten auch die Nationen zu, die sonst nie nach Manila gekommen wären, um einen Pokal zu gewinnen, wie man ihn zu Dutzenden bequemer vor der Haustür ausreiten konnte.
Als die deutschen Pferde nach einem anstrengenden Flug und vier Zwischenlandungen in Manila ankamen, waren die Sowjets, die Amerikaner, eine australische Equipe und die Franzosen schon da. Moro Memanuk hatte soviel zu tun wie noch nie in seinem Leben, kassierte massenhaft Dollars und philippinische Pesos und entdeckte eine neue Begabung in sich — das Weissagen.
Damit allerdings machte er sich zunehmend Feinde, denn was er in der Zukunft zu sehen glaubte, war dunkel, ja schwarz.
«Das Strafgericht wird über uns hereinbrechen!«schrie er, wenn er genügend Menschen um sich versammelt hatte.»Betet, Brüder und Schwestern. Die Erde wird aufbrechen und die Sünder verschlingen, die Berge werden Feuer speien, und glühende Asche wird auf unsere Häupter regnen. Wo Häuser standen, werden Höhlen gähnen, und die Gärten werden sich verwandeln in eine öde Wüste.«
Man lachte über ihn, wie immer.»Sorry«, sagte ein Engländer gemütlich.»Er hat die Offenbarung des Johannes auswendig gelernt. Und Vulkane gibt's hier auch genug. Aber er bringt es gut.«
Moro Memanuk kassierte. Er hatte sich jetzt einen Hut aus Maisstroh zugelegt, da seine Hände für die Spenden zu klein wurden. Am Abend lag er im Hafen zwischen Kisten und Ballen, roch entsetzlich nach Schnaps und schnarchte den Mond an.
Merkwürdig verhielten sich nur die Russen.
Von jeher galten in Rußland die Idioten als etwas Besonderes. Bei den Zaren und Fürsten wurden sie als Hofnarren gehalten, als Wundermänner, die ihren Verstand nur deshalb verloren hatten, weil Gott durch ihre Einfalt zu den Menschen sprach. Erkrankte am Zarenhof jemand, holte man die Stammler und Epileptiker, die Blöden und Schwachsinnigen an die Krankenbetten und ließ sie ihre makabren Späße treiben. Ihre Weissagungen wurden ernst genommen, man nannte sie die >heiligen Idioten<.
Etwas von diesem Mysterienglauben mußte auch bei den sowjetischen Reitern zurückgeblieben sein, sie hörten dem keifenden Moro zu, ließen sich seine Worte übersetzen, lachten und klatschten nicht Beifall, gaben aber auch kein Geld, sondern gingen nachdenklich zu den neuerbauten Ställen zurück.
Zwei Stunden später raufte sich Tapa Tambog, der philippinische
Turnierleiter, die Haare: Die Russen verlangten andere Ställe, an dem entgegengesetzten Teil der Stadt, an der Laguna de Bay. Keine festen Bauten, nur Zelte.
«Jetzt wird es Zeit, Moro einzusperren!«schrie Tapa Tambog ins Telefon und brachte damit den Polizeichef von Manila in eine unangenehme Lage. Memanuk war ein harmloser Mensch, die Touristen betrachteten ihn als eine Attraktion wie die Kathedrale von Manila oder die herrliche Manila Bay, die durch eine Landzunge mit den Kegelbergen Mont Natib und Mont Mariveles gebildet wurde. Moro gehörte zu den Sehenswürdigkeiten wie die Händlerboote im Hafen und die Dirnenhäuser im chinesischen Viertel.»Wenn er weiter so dummes Zeug redet und die Polizei zu schwach ist, einen Idioten einzusperren, verstecke ich ihn selbst so lange, bis das Turnier vorbei ist.«
Der Wunsch der Russen war natürlich nicht erfüllbar. Die Ställe waren gut und massiv, blitzten vor Sauberkeit und rochen nach frischer Farbe. Die Philippinen taten alles, um dieses erste internationale Reitturnier zu einem Erfolg zu machen.
Die deutsche Equipe hatte sich in der Nähe der Ställe, in einer Privatvilla, einquartiert, die einem reichen Malaien gehörte. Ein Haus wie aus einem Märchenbuch. Große Terrassen, plätschernde Springbrunnen, verschlungene Wege durch einen von Blüten-sträuchern und Blumenbeeten fast labyrinthartigen Park. Hier gab es einen Swimming-pool, einen kleinen Käfig mit den schönsten, buntesten und seltensten Vögeln. Der Hausherr, Sana Kawio, klein, dick, überströmende Freundlichkeit und Gastfreundschaft, war mit dem deutschen Botschafter gut bekannt. Er hatte sein Vermögen mit Reis- und Kakaohandel verdient. Einmal im Jahr verbrachte er sechs Wochen in Bad Kissingen, ließ sein Herz untersuchen, hungerte sich zwanzig Pfund ab und behauptete, daß er noch lebe, dieses Wunder sei den deutschen Ärzten zu verdanken.
Romanowski schliefselbstverständlich neben Laska im Stall. Hier lernte er auch Moro Memanuk kennen, der um ihn herumtanzte, schrille Schreie ausstieß und seine Weissagungen wiederholte. Ro-manowski verstand ihn nicht, aber die hingehaltene Hand war eine internationale Geste.
«Ick hab schon 'nen schöneren Affen tanzen sehn«, sagte er und gab Memanuk eine deutsche Mark. Moro starrte auf die Münze, überlegte, ob man so etwas Unbekanntes annehmen konnte, spuckte darauf und steckte sie ein.
«Feuer und Asche wird regnen!«brüllte er Romanowski an.»Bete, Bruder!«
Romanowski zuckte bei dem Ton zusammen, packte Moro an den Schultern, drehte ihn um und gab ihm einen Tritt. Memanuk sauste ein paar Meter vorwärts, fing sich an einer Palme auf und wirbelte herum.
«Gott wird dich zerschmettern!«schrie er hell.»Ich sehe, wie sich die Erde öffnet und die Toten Spazierengehen auf den Wegen der Lebenden.«
«Halt de Fresse!«sagte Romanowski. Er führte Laska auf die Wiese, um sie abzulongieren. Überall trabten die Pferde, wurden gelockert und trainiert.
Gegen elf erschienen Hartung, Angela und Fallersfeld bei den Ställen. Dr. Rölle, der schon eine Stunde früher draußen war, weil das Pferd von Hubert Kaske plötzlich eine Kolik bekommen hatte, zeigte auf einen dürren Mann, bunt, fast clownhaft gekleidet, der mit dem Kopf wackelte, als sei sein Hals eine Spirale.
«Den sollten Sie sich mal anhören«, sagte Dr. Rölle.»Memanuk heißt der alte Knabe, säuft wie ein Loch und prophezeit den Weltuntergang. Die Amerikaner haben ihn zu ihrem Maskottchen ernannt, sie stopfen die Dollars in ihn hinein wie in einen Spielautomaten. Und ebenso fleißig wie ein Automat droht Memanuk mit Feuer und Verderben. Die Polizei war schon da, aber da hätten Sie mal die Amis sehen sollen! Es wäre fast zu diplomatischen Verwicklungen gekommen. Er spricht auch Englisch, erstaunlich, was? Die Filipinos sagen, er sei ein Negrito, ein Ureinwohner.«
«Dr. Rölle, der Asienexperte. «Hartung winkte Moro Memanuk zu. Der harmlose Idiot machte eine tiefe Verbeugung, hüpfte, als habe er Feuer unter den Fußsohlen, und tanzte dann aufdie Deutschen zu.
«Ein tolles Land. «Dr. Rölle wusch sich die Hände in einer Schüssel mit Desinfektionslösung. Er war gerade mit der Untersuchung des erkrankten Pferdes fertig geworden. Hubert Kaske führte es zurück in den Stall. Ruhe, Diätnahrung. >Enno< hatte sich überfressen.»7.085 Inseln, davon nur 2.440 bewohnt. 56 Stämme mit 8 verschiedenen Sprachen und 56 Dialekten, rund um uns herum noch eine Ansammlung von speienden Vulkanen, jedes Jahr soll hier mindestens einmal die Erde wackeln. Ein Paradies auf Feuer. Und nun hören Sie sich das an!«
Moro Memanuk war herangekommen. Kreischend umtanzte er Hartung, Fallersfeld, Dr. Rölle und Angela, brach dann plötzlich ab und hielt seinen Hut hin.
«So blöd ist er wieder nicht«, lachte Fallersfeld und warfzwei Dollars hinein. Und dann aufenglisch:»Wann geht die Welt unter, großer Zauberer?«
Memanuk zog den Kopf ein wie eine Schildkröte. Seine schwarzen, gar nicht irren Augen blickten Fallersfeld erstaunt an. Plötzlich war er ganz still, schüchtern fast und nichts als ein elender, alter, vom Schnaps zerstörter Mann.
«Toll!«sagte Hartung fröhlich.»Baron, Ihr Monokel fasziniert ihn. Sie hypnotisieren ihn glatt mit Ihrem verglasten Auge.«
«Glauben Sie daran, Sir?«fragte Memanuk. Auch seine Stimme klang völlig normal, etwas heiser, alkoholgebeizt, aufgerauht, aber durchaus nicht idiotisch.»Das große Sterben.«
«Das ist nichts Neues. «Fallersfeld spürte auf einmal einen kalten Hauch über seiner Haut. Er wehrte sich gegen das Gefühl und nannte sich innerlich saublöd. Aber das Gefühl blieb und verstärkte sich sogar noch, je länger er Moro Memanuk ansah.
«Es gibt immer das große Sterben«, warf Hartung ein.»Taifun in Pakistan, Überschwemmung in China, Hungersnot in Indien, Cholera und Typhus, die Pocken. Das ist keine Weissagung.«
«Hier, Sir, hier wird das große Sterben kommen. «Memanuk brei-tete die dürren Arme aus, Knochen mit einer faltigen Haut überzogen. Braungelbe, gegerbte Lederhaut.»Keiner will es glauben. Sie lachen mich aus, treten mich, verjagen mich, wollen mich einsperren, spucken mich an, nennen mich einen Idioten, rennen mit Knüppeln hinter mir her. Aber der Tag wird kommen, an dem sie an Me-manuk denken! Dann aber hat Gott sie vergessen!«
«Wann?«fragte Fallersfeld kurz. Er war sehr ernst geworden.
«In zwei Tagen.«
«Wo?«
«Hier, wo wir stehen! Die Erde wird sich öffnen.«
Fallersfeld langte in seinen Rock, zog seine Brieftasche heraus und gab Memanuk einen Fünfzigdollarschein. Dr. Rölle und Hartung starrten den Baron entgeistert an.
«Beten Sie«, stammelte Memanuk. Er küßte die Banknote, ergriff Fallersfelds Hand und schlug ein Kreuz darüber.»Gehen Sie, wenn der Mond über den Bergen von Bataan Pen steht, nicht in ein Haus.«
Er wirbelte auf dem Absatz herum, machte einen hohen Luftsprung und rannte davon.
«Der hat seine fünfzig Dollar — ein Vermögen für ihn — schnell verdient. «Hartung tippte Fallersfeld an, der wie erstarrt stand.»Baron, ich weissage Ihnen auch — in hundert Jahren haben die Pferde sechs Beine. Leider können Sie die Weissagung nicht kontrollieren.«
Dr. Rölle begriff als erster, was hier geschehen war.»Er glaubt daran«, sagte er leise.»Kinder, der Baron glaubt daran.«
«Das ist doch Blödsinn!«
«Nein. «Fallersfeld schüttelte den Kopf. Er ging langsam zu den Ställen, als mache ihm jeder Schritt Beschwerden.»Es ist die gleiche Weissagung, die einmal in Ostpreußen eine alte Bäuerin aus meiner Hand gelesen hat. Das große Sterben.«
«Und wann war das?«
«Vor vierzig Jahren.«
«Dann haben Sie's hinter sich, Baron. Sie haben den Krieg überlebt.«»Er war damit nicht gemeint. Dieser Memanuk sagte übermorgen. Das war eine präzise Zeitangabe.«
«Einen Kognak für den Herrn Baron!«rief Hartung.»Doktor, haben Sie einen in Ihrer Giftapotheke?«
«Im Arztkoffer, natürlich. «Dr. Rölle faßte Fallersfeld unter.»Ich wußte gar nicht, Baron, was für eine empfindliche Seele Sie in der Brust haben.«
Bis zum Mittagessen hatten sie den Zwischenfall vergessen. Presse, Rundfunk, Fernsehen verlangten Interviews von Hartung, Las-ka mußte ein paar Probesprünge machen, die Fotografen knipsten aus allen Lagen, die Publicity-Welle rollte. Nur Fallersfeld trug die Weissagung mit sich herum wie einen schweren Rucksack.
Übermorgen. Wenn der Mond über den Bergen von Bataan Pen steht. Nicht in einem Haus sein. Er beschloß, in der übernächsten Nacht draußen im Park der Villa zu schlafen. Bänke gab es genug.
Zwei Tage vergingen mit dem Kleinkram der Routinearbeit.
Hartung absolvierte einen Geländeritt mit Laska. Sie zeigte sich in bester Form, nur etwas nervös war sie, hob ständig den Kopf, blähte die Nüstern und benahm sich wie ein Tier, das wittert.
«Nun fang du auch noch an, mein Mädchen«, sagte Hartung und klopfte ihr den Hals.»Wenn der Baron in Weissagungen plätschert, brauchst du nicht mitzuschwimmen. Sonst hast du ihn nie leiden können, und auf einmal machst du seinen Blödsinn mit.«
Auch Romanowski spürte, daß Laska innerlich unruhig war.»Ick stauch den Idioten in de Erde, wenn er noch mal kommt«, schrie er.»Det janze Camp macht er varrückt!«
«Tiere haben ein feines Ahnungsvermögen. «Fallersfeld sprach nur noch ungern über seine Ahnungen, es war schon zuviel darüber gelacht und gefrotzelt worden.»Es liegt wirklich etwas in der Luft. Habt ihr Laska ohne Grund schon so verdreht gesehen?«
«Bei den Iwans is 'n Hengst«, sagte Romanowski.»Det allein is et.«
Der Abend nahte, der Abend, an dem Moro Memanuks Warnung sich erfüllen sollte. Noch einmal hatte es der von allen verlachte und beschimpfte Idiot versucht. Er war bei den Pferden erschienen, hatte sie minutenlang stumm angestarrt und dann gebrüllt:
«Rettet sie! Rettet sie! Ich sehe den Untergang!«
Als Romanowski und ein paar Amerikaner auf ihn losmarschierten, Knüppel in den Fäusten, rannte er weg, die Hände hoch in der Luft, klagend, wimmernd wie ein getretener Hund.
Allein die Russen zogen ihre Pferde aus den Ställen und zogen mit ihnen aufeine Wiese, aus der einmal ein Golfplatz werden sollte. Hier blieben sie unter freiem Himmel stehen, und als die Nacht hereinbrach, pflockten sie nach Kosakenart die Pferde an, rollten sich in Decken und schliefen auf dem Boden.
Die anderen lachten sie aus.
Auch Fallersfeld versuchte an diesem Abend mit aller Beredsamkeit, seine Reiter zu überzeugen, daß es besser sei, diese Nacht im Freien zu schlafen.
«Ich weiß, ihr haltet mich für einen alten, verkalkten Trottel«, sagte er.»Bleibt bei eurer Ansicht, aber tut mir persönlich den Gefallen und übernachtet heute im Park.«
«Wenn unbedingt ein Stern vom Himmel fallen soll, kann er statt auf dem Haus auch im Park landen. «Dr. Rölle prostete Fallersfeld mit einem Glas Rotwein zu.»Aber Sie sollen beruhigt sein — wir gruppieren uns um den großen Springbrunnen und warten mit Ihnen auf den Weltuntergang. Nur eine Bedingung stellen wir — wenn morgen früh die Welt noch bestehen sollte, ist mindestens eine Kiste Sekt fällig.«
«Zehn Kisten, Jungs!«Fallersfeld strahlte. Er war glücklich.»Kissen und Decken gepackt und hinaus in die Natur! Ihr sollt sehen, wie gut euch das tut!«
Sana Kawio, der reiche Malaie und Hausherr, hielt erstaunt auf einem Spaziergang durch den Park inne, als die deutschen Reiter sich rund um den Brunnen auf die Bänke gelegt hatten. Er fragte nicht, dazu war er zu höflich, aber er stand lange sinnend auf der großen, säulengestützten Terrasse und grübelte, wieso die korrekten Deutschen, die er immer bewundert hatte, sich plötzlich wie die irgendwie naiveren Amerikaner verhielten.
Einem Hausherrn, vor allem wenn er Malaie ist, sind die Wünsche und Launen seiner Gäste Aufforderung, es ihnen gleichzutun. Er erweist ihnen damit die Ehre, daß ein Gast immer recht hat. Auch Sana Kawio dachte da nicht anders, er holte ebenfalls Kissen und Decken aus seinem Schlafzimmer, befahl seiner Dienerschaft, seinem Beispiel zu folgen, und legte sich auf eine Bank in Fallersfelds Nähe. Die Diener verzogen sich in einen anderen Teil des Parks, zum Flamingoteich.
«Ich danke Ihnen, Mr. Kawio«, sagte Fallersfeld leise, als der Malaie mit seinem Bettzeug an ihm vorbeischlich.»Jetzt bin ich wenigstens nicht der einzige Verrückte.«
Die Zeit floß dahin. Die meisten Deutschen schliefen schon, nur Fallersfeld und Hartung waren noch wach. Angela lag auf einer Bank neben Hartung, zwischen ihnen schnarchte laut Sana Kawio. Fallersfeld hob den Kopf, als Hartung aufstand und um den Brunnen spazierte. Er sah, wie Hartung rauchte, der glimmende Punkt leuchtete öfter auf, als es sonst der Fall ist.
«Nervös?«fragte Fallersfeld leise. Hartung blieb stehen.
«Ja. Sie haben uns alle verrückt gemacht, Baron. Wie spät ist es?«
«Zwei Uhr siebzehn.«
«Und Ihr verdammter Mond?«
«Sehen Sie hin. «Fallersfeld zeigte zur Manila Bay.»Steht genau über den Bergen von Bataan Pen. Da — was war das?«
Er sprang mit einem Satz von der Bank. Hartung schüttelte den Kopf.
«Was denn?«
«Die Bank hat gewackelt.«
«Wenn Sie so unruhig liegen.«
«Unsinn. Ich lag ganz ruhig. O verflucht!«
Irgendwo, aus der Tiefe der Erde, ob hier im Park oder drüben in den Bergen oder ganz weit weg, quoll ein dumpfes Grollen und
Rumoren. Dann schwankte der Boden, zog sich zusammen wie eine frierende Haut und dehnte sich wieder in kleinen, kurzen Stößen.
Sana Kawio war von seiner Bank gesprungen und klammerte sich jetzt an der Lehne fest. Die deutschen Reiter rissen ihre Decken weg, Angela rannte zu Hartung, nur Dr. Rölle schlief weiter. Aber der nächste Erdstoß ließ ihn von der Bank rollen. Vom Flamingoteich rannten schreiend die Diener herbei.
Und die Erde begann, sich in Wellen zu bewegen, als sei aus Steinen Wasser geworden.
Mit offenem Mund starrte Sana Kawio auf sein schönes weißes, säulengetragenes Haus. Wie in Zeitlupe brach es auseinander, die Mauern zerbarsten, senkten sich, fielen in sich zusammen, die Säulen kippten um, das Dach rutschte ganz langsam über die Trümmer, schien eine Sekunde frei in der Luft zu schweben und zerbarst dann mit einem schrecklichen Getöse. Wo eine der schönsten Villen Manilas gestanden hatte, dampfte der Trümmerstaub in die mondhelle Nacht.
Und noch immer schwankte die Erde, grollte es aus der Tiefe, der Brunnen, eine Marmorarbeit im Stil maurischer Zisternen, zerbarst. Der Wasserstrahl, aus seinem engen Rohr befreit, schoß in die Höhe. Der Himmel wurde fahl und rötlich — große Brände mußten ausgebrochen sein, von der Bay her hörte man das Toben des Meeres.
Fallersfeld und Hartung hielten Angela umklammert und hatten selbst Mühe, auf dem schwankenden Boden stehen zu bleiben. Die Diener Kawios knieten in einem Halbkreis um das vernichtete Haus und beteten.
«Bin… bin ich noch verrückt.«, stotterte Fallersfeld.»Was wäre von uns übriggeblieben, wenn wir im Haus geschlafen hätten? Mein Gott, die Ställe! Die Pferde!«
Das Erdbeben dauerte vier Minuten. Vier Minuten, in denen die Erdoberfläche verändert wurde, Millionenwerte in Schutt versanken, Reiche arm wurden und Arme noch ärmer, Feuersbrünste sich ausbreiteten und Hunderte in den Trümmern starben — erschlagen, erstickt, zerquetscht.
Hartung, Fallersfeld und Angela rannten aus dem Park. Die anderen Reiter folgten ihnen. Als letzter humpelte Dr. Rölle hinterher, er war über einen Stein gestolpert. Auf dem langen Privatweg standen die gemieteten Wagen, unversehrt, nur das Auto Fallersfelds war an der Kühlerhaube eingedellt, ein dicker Ast hatte es getroffen.
Die Fahrt zu den Ställen im Grace Park führte durch zerstörtes Land. Das Erdbeben mußte in einem schmalen Streifen gewandert sein — neben völlig unversehrten Villen in dieser reichen Gegend lagen andere in Trümmern, Wasser aus geborstenen Leitungen strömte über die Straßen, Feuerwehr, Krankenwagen, Polizei und Militär rasten mit grellem Sirenengeheul zu den am meisten betroffenen Gebieten. Schreiende Menschenmassen fluteten ihnen entgegen — weg ins Freie, weg von der lebendig gewordenen Erde. Ins flache Land, in die Felder, wo keine Trümmer einem den Kopf einschlagen.
Von den neuerbauten Ställen stand nichts mehr. Sie waren nicht nur zusammengefallen, als die Erde schwankte — ein Hügel hinter ihnen war ins Rutschen geraten, und die Erdmassen hatten sich über die langen Gebäude gewälzt.
Fassungslos starrten die deutschen Reiter auf dieses Bild der Vernichtung. Scheinwerfer erhellten bereits das Gelände. Militär und alles, was Hände hatte, waren dabei, sich zu den eingedrückten Ställen vorzuarbeiten.
«Laska.«, stammelte Hartung.»Laska, mein Mädchen. «Fallersfeld und Angela hielten ihn fest. Mit einem wilden Ruck riß er sich los und stürzte sich in die Menge der Grabenden.
Die ersten Pferde wurden freigelegt — tot, erschlagen, erdrückt. Sie hatten in ihren Boxen gestanden, hilflos und zitternd, bis alles über ihnen zusammenbrach und sie begrub.
«Pedro!«brüllte Hartung. Er sah Romanowski wie einen Irren im Schutt wühlen. Er riß Balken zur Seite, schleuderte Steine weg, die sonst nur ein Bagger heben konnte.»Pedro!«
«Se is drin!«heulte Romanowski.»Meene Olle. Ick hole ihr raus, Herrchen, ick, ick.«
Er weinte, grub sich in den Schutt hinein und riß einem Filipino eine Hacke aus der Hand.
«Warum warst du nicht bei Laska?«brüllte Hartung. Er riß Romanowski an der Schulter herum.»Wo warst du?«
«Jesoffen hab ick, Herrchen! Jesoffen! Wär ick dajeblieben, könnt ick ihr nich holen! Da wär ick tot!«
Das war ein Argument, gegen das Hartung nicht ankam. Gemeinsam hackten und schaufelten sie die Erdmassen weg, die über die Ställe gerutscht waren. Tapa Tambog, der Turnierleiter, war ebenfalls eingetroffen, er blutete aus einer Stirnwunde. Eine herabstürzende Mauer hatte ihn gestreift. Sein Anzug war staubbedeckt und zerrissen.
«Sehen Sie sich die Russen an!«sagte Fallersfeld erschüttert.»Sie haben als einzige überlebt. Sie haben diesem Moro Memanuk geglaubt, wie ich. Und Sie wollten ihn verhaften lassen.«
«Er ist tot. «Tapa Tambog drückte sein Taschentuch gegen die blutende Stirn.»Als das Erdbeben losging, stand er auf der Wiese und brüllte in Richtung der Ställe: >Kommt hierher! Kommt alle hier-her!< Man hat es mir eben erzählt. Ein umstürzender Baum hat ihn erschlagen.«
Nach einer halben Stunde erreichte Romanowski die Stallmauer. Sie war geborsten, aber nicht eingestürzt. Die Balkendecke war eingebrochen, aber irgendwie — es war ein Wunder — hatte sie den Druck ausgehalten, und die Erdmassen waren über sie hinweggerutscht, hatten den Stall begraben, aber ihn nicht zusammengequetscht.
«Laska!«brüllte Romanowski und hämmerte mit beiden Fäusten gegen das Stück Mauer, das freigelegt war.»Laska! Meen olles Luder!«
Und von innen antwortete ein dumpfes Dröhnen.
Laska donnerte mit den Hufen gegen die Wand.
«Sie lebt! Sie lebt!«Romanowski fiel Hartung um den Hals und küßte ihn, er tanzte herum wie der Idiot Memanuk, er lachte und weinte, hieb dann wieder in die Erdmassen und grub sich mit vierzig Soldaten weiter durch den gewanderten Hügel.
Es dauerte noch eine Stunde, bis sie an Laska herankonnten. Romanowski hatte ein Luftloch in die Mauer geschlagen, und dort erschienen plötzlich Laskas weiche Nüstern und sogen gierig die Luft ein. Einen Augenblick ließen die Männer die Schaufeln sinken sie erlebten ein Wunder.
Hartung langte durch das Loch und streichelte Laskas Maul. Sie leckte ihm die Hand, kniff ihn in die Handfläche und wieherte laut.
Keine Angst, hieß das. Ich lebe. Ich warte auf euch. Ich wußte ja, daß ihr kommt.
Beim Morgengrauen waren alle Pferde geborgen. Von den deutschen Pferden lebten nur Laska und Enno, die Amerikaner hatten alle verloren, ebenso die Italiener und Australier. Sieben Pferde wurden verletzt aus den Trümmern geborgen — sie lagen auf der Wiese, die Tierärzte bemühten sich um sie. Dann hörte man vier peitschende Schüsse.
Noch nie hatten so viele Männer geweint wie an diesem Morgen.
Das Turnier am nächsten Tag fand statt. Aber es wurde kein Pokal ausgesprungen. Es wurde die erschütterndste Trauerfeier, erschütternd darum, weil hier zum erstenmal der Mensch ein Tier ehrte, wie er sonst nur Helden zu ehren pflegt.
Alle Hindernisse des Parcours waren mit schwarzen Tüchern zugedeckt, die Militärkapelle spielte einen Trauermarsch. Und dann öffnete sich die Schranke, und Soldaten in Paradeuniform, Trauerflore um den Arm, marschierten in das Stadion. Sie trugen Schilder mit den Namen der getöteten Pferde — eins hinter dem anderen, eine lange, bedrückende Reihe.
Voraus aber, allein, gesattelt wie zum Springen, aber mit hochgebundenen Bügeln, geführt von Romanowski, um dessen Kopf ein dicker Verband prangte, ging Laska mit gesenktem Kopf an den schweigenden Menschen vorbei. Die Namensschilder folgten ihr.
Pierrot.
Ladylike.
Mentor.
Shadow.
Heidi.
Abdal.
Ingelore.
Ratna.
Namen, die die ganze Welt kannte, die auf allen Turnierplätzen zu Hause waren, die Siege ersprangen, Pokale gewannen, das Siegesband am Ohr trugen, die Nationalhymne ihres Landes hörten, im Jubel der Menschenmassen ihre Ehrenrunde trabten.
Pferde.
Der älteste Freund des Menschen unter den Tieren. Sein Begleiter seit Jahrtausenden. Auf seinem Rücken wurde die Welt erobert.
Was wäre der Mensch ohne das Pferd geworden?
Langsam marschierten die Soldaten mit den von schwarzen Schleiern umrahmten Namensschildern um das Stadion. Als sie das weite Rund verlassen hatten, stand nur noch Laska auf dem Rasen. Von der Tribüne — sie war aus Holz gebaut, hatte beim Erdbeben nur geschwankt, war aber stehengeblieben — ging Hartung in den Parcours hinein. Er band Laska den Trauerflor, den sie an beiden Stirnseiten trug, zurück, führte sie zur Starterfahne und schritt dann langsam die Hindernisse ab. Er zog die Reitspur, die an diesem Tage neununddreißig Pferde galoppieren sollten, zu Fuß hinunter, blieb an jedem Hindernis stehen, grüßte und ging weiter. Starr, wie aus Gold gegossen, stand Laska am Start. Nur ihre großen klugen braunen Augen folgten ihrem Herrn.
Das letzte Hindernis. Hartung hob die Hand, und Laska trabte an, fiel in den Aufgalopp und setzte mit wehenden schwarzen Schleiern über den ersten Oxer.
Ein Pferd sprang allein für seine toten Kameraden. Ohne Reiter, ohne Applaus, sprang über die schwarz abgedeckten Hindernisse, und wer das sah, dem schossen die Tränen in die Augen.
Schweigen lag über den Menschen, als Laska das letzte Hindernis nahm. Schweigen begleitete sie hinaus, wo Angela sie in Emp-fang nahm und das Gesicht in ihrem schweißnassen Fell vergrub. Schweigend verließen die Menschen das Stadion. Sie kamen zurück in ein zerstörtes Land, wo Bulldozer die Trümmer umpflügten und Tausende nach Vermißten und Toten suchten.
«Das war Laskas schwerster Parcours«, sagte Hartung zu Fallersfeld.»Und ihr letzter.«
«Wir überschlafen das noch, Horst.«
«Nein. Es ist endgültig. Wann fliegen wir zurück?«
«In fünf Tagen. «Fallersfeld kaute an der Unterlippe. Das Drama von Manila würde er nie verwinden.»Mit leichtem Gepäck, wir haben ja nur noch zwei Pferde.«
«Fünf Tage. Das müßte reichen.«
«Wofür?«
«Um Ihnen zu beweisen, wie ernst es mir ist mit dem Aufhören. Ich werde Angela endlich heiraten.«
«Hier in Manila?«
«Ja.«
«Auf einmal so eilig?«
«Ich habe Angela versprochen, vom Tage der Hochzeit ab nicht mehr auf einem Turnier zu springen. Jetzt löse ich dieses Versprechen ein, und es kann gar nicht schnell genug geschehen. Baron«, er umfaßte Laskas Hals,»das war unser letzter Parcours. Komm, mein Mädchen.«
Er ging an ihm vorbei, den Arm noch um Laskas Hals gelegt, und wie sie so der Sonne entgegenschritten, war es ein Bild, das an Schönheit nicht mehr zu überbieten war.
Fallersfeld fiel das Monokel aus dem Auge und zerschellte auf der Erde.
Es war das zweitemal in seinem Leben.
Horst Hartung und Angela Diepholt heirateten in der kleinen, altspanischen Kirche San Christofero in der Altstadt von Manila.
Reiter aus neun Nationen bildeten vor der Kirche das Spalier. In dieser Gasse stand Laska, blank geputzt, mit bunten Bändern in der Mähne, zwischen den Ohren einen weißen Schleier und im Maul einen riesigen Blumenstrauß. Romanowski paßte neben ihr auf, daß sie die Blumen nicht vor der Überreichung fraß.
«Meine zweite Braut«, sagte Hartung und streckte die Hand nach Laska aus.
«Das war die schon immer. «Angela nahm Laska den Blumenstrauß aus dem Maul und streichelte über die weichen Nüstern.»Ich war so eifersüchtig auf sie, und sie auf mich, aber jetzt können wir ohne sie nicht mehr leben. Laska, mein Mädchen, darf ich das jetzt auch sagen?«
Laska hob den Kopf, blähte die Nüstern und wieherte hell.
Wer sagt da, ein Pferd hätte weder Seele noch Verstand?
Er kann unmöglich Laska kennen. Laska, auf deutsch >Die Lie-be<.