Seit Tagen sprach man in Rom von nichts anderem als von der Coppa d'Italia, dem größten Reiterpreis, den Italien zu vergeben
hat. Kolonnen von Anstreichern und Gärtnern brachten das Stadion auf Hochglanz, die Tribünen glänzten weiß in der Sonne, die amphitheatralisch aufsteigenden Sitzreihen wurden repariert, an hundert Fahnenstangen flatterten die Fahnen von siebzehn Nationen im heißen römischen Wind. Die Hindernisse wurden aufgebaut.
Mit Güterzügen und in langen Wagenkolonnen trafen die Pferde und Reiter ein. Auf den Flugplätzen landeten die schweren Transportmaschinen. Vermummte, bandagierte Tiere kletterten vorsichtig aus den Spezialboxen. Pferde, behütet wie wertvolle Diamanten, betreut von Pflegern, die nichts auf der Welt kannten als ihren Pflegling, wurden umgeladen in die fast luxuriösen Transporter. Millionenwerte auf vier Beinen — oder Stolz des Landes, das sie auf dem Parcours vertraten.
Im Zimmer 19 des Hotels >Michelangelo< saßen um diese Zeit vier ehrenwerte Herren. Sie tranken Fruchtsäfte, rauchten ägyptische Zigaretten, fächelten sich mit Zeitungen Luft zu und schwitzten ausgiebig. Vor der Zimmertür hing ein Schild >Bitte nicht stören<, und bei dem, was diese Herren besprachen, durften sie auch nicht gestört werden.
«Wir haben vierzig Millionen Lire zu verlieren«, sagte ein dicker, kleiner Mann mit krausem schwarzem Haar. Er saß in einem Sessel, hatte die Beine weit von sich gestreckt und sprach mit einer Zigarette im Mundwinkel. Im Gästebuch des Hotels stand hinter dem Namen Ricardo Bonelli bescheiden: Großhändler. Er war vor dem >Michelangelo< mit einem sündhaft teuren Maserati vorgefahren; die Geschäfte schienen also gut zu gehen, sein Anzug besaß das gewisse Etwas eines vorzüglichen Schneiders, und seine Sprache war frei von irgendwelchen Dialektanklängen. Ein wahrer Ehrenmann, wie die drei anderen, die abwechselnd tranken und sich den Schweiß abwischten.
«Vierzig Millionen«, wiederholte Bonelli eindringlich.»Und ich habe die Absicht, den Einsatz um weitere zwanzig Millionen zu erhöhen, wenn wir uns jetzt einig werden, Signori. Ich habe auf >Franco< unter Locatelli gesetzt, ein verdammt sicherer Tip, denn wer kann
Locatelli in seiner heutigen Form schlagen? Wo gibt es ein Pferd wie >Franco«
«Auf der ganzen Welt nicht«, sagte ein mittelgroßer, schlanker Mann, der mitten auf dem Kopf eine kahle Stelle hatte wie eine Priestertonsur.»Wozu Ihre Aufregung, Bonelli?«
«So dämlich fragt ein Kind, das in die Hose gemacht hat: Mama, was ist das?«Bonelli zog den Zigarettenqualm durch die Nase und hielt eine Zeitung hoch.»Haben Sie noch nicht gelesen?«
«Sofia Loren soll wieder schwanger sein«, sagte der Mann mit der teilweisen Glatze.»Mein Gott, es ist Sauregurkenzeit!«
«Stefano, Sie bringen mich um mit Ihrer Ruhe. «Bonelli wedelte wild mit der Zeitung.»Wissen Sie, wen die deutsche Equipe mitbringt?«
«Immer der alte Hut. Winkler, Schockemöhle, Jarasinski, Steen-ken — das reißt Sie vom Stuhl, Ricardo?«
Bonelli warf die Zeitung auf den Teppich. Hastig trank er einen Schluck.»Hartung mit >Laska< ist auch gemeldet.«
«Hartung, naja. «Stefano Grazioli blinzelte den anderen zu und lächelte geringschätzig.»Sein Wallach >Prinz< kann >Franco< nicht gefährlich werden.«
«Madonna!«Bonelli griff sich an den Kopf.»Ich habe nicht >Prinz<, sondern >Laska< gesagt. >Laska<, Signori.«
Sie sahen Bonelli erstaunt an. Der Name sagte ihnen gar nichts, er war unbekannt.
«Na und?«fragte Grazioli.
«Nichts von Aachen gehört?«schnaufte der dicke Bonelli.
«Nein, da war ich in New York. Wozu studieren Sie alle Parcoursmeldungen? Sie sind der Fachmann, wir legen nur das Geld auf den Tisch. Was ist mit dieser >Laska«
«Ein Wunderpferd!«
«Blödsinn!«Grazioli winkte lächelnd ab.»Jedes Jahr erscheint auf irgendeinem Parcours ein neues Wunderpferd. Beim nächsten Turnier stolpert es über seine eigenen Beine. Seit >Meteor< und >Hal-la< gibt es keine Wunder mehr auf den Springplätzen. Auch diese >Laska< — in Aachen war es, sagen Sie — wird in Rom untergehen! Unsere einzige Gefahr ist Pessoa!«
«Signori, glauben Sie mir — wir müssen umdenken!«Bonelli beugte sich vor.»Vierzig Millionen Lire. Und nochmals zwanzig! Alle auf >Franco< gesetzt, es gibt eine Katastrophe, wenn er nicht gewinnt.«
«Er wird siegen. «Grazioli stand auf und trat ans Fenster. Unten auf der Straße brauste der römische Sommerverkehr. Heiß lag die Luft über der Stadt, dick zum Schneiden, unbeweglich. Es war, als presse eine unsichtbare Riesenfaust die Sonne genau über Rom aus. Nur in den Außenbezirken wehte von Ostia herüber ein leichter Wind.»Ich wundere mich, Bonelli. Seit zwanzig Jahren verdienen Sie auf den Renn- und Springplätzen ein Vermögen und kennen jedes Pferd von den Ohren bis zur Schwanzrübe. Sie wissen, wenn ein Gaul hustet und ob er Verdauungsbeschwerden hat, und plötzlich sind Sie außer Rand und Band wegen eines unbekannten Kleppers. Das ist doch bloß ein Nervenkrieg, Bonelli, die Deutschen hauen auf die Pauke, damit man von ihnen spricht.«
«Das haben sie gar nicht mehr nötig. Signori, statt sich Luft damit zuzufächeln, sollten Sie die Zeitungen lieber lesen. «Bonelli war beleidigt, streckte sich im Sessel und trank sein Glas leer.
Die drei Männer falteten die Blätter auseinander, suchten den Sportteil und vertieften sich eine Weile in die Berichte. Zuerst blickte Grazioli auf. In seinen Augen stand Ratlosigkeit. Er warf die Zeitung weg und steckte sich eine neue Zigarette an.
«Wenn das wahr ist«, sagte er gedehnt.
«In Aachen hat man Kopf gestanden. «Bonelli strahlte Befriedigung aus. Endlich werden die Schwachköpfe wach, dachte er. Geld ist nicht immer ein Beweis von Intelligenz.»Stellen Sie sich vor — sie ist die 2 Meter 10 hohe Mauer gesprungen. Fast aus dem Stand heraus. Als jeder glaubte, jetzt rast sie mitten durch das Hindernis, hüpfte sie einfach hoch — und drüber. Selbst Hartung war sprachlos, er saß im Sattel wie ein Nachtwandler. «Bonelli machte eine Kunstpause und sagte dann wie ein dramatischer Schauspieler:»Und jetzt kommt sie nach Rom!«»Laska. «Grazioli kaute den Namen wie eine heiße Kartoffel.»Wie kann ein Pferd so plötzlich ganz oben sein?«
«Warum brechen Vulkane aus, na?«Bonelli richtete sich gerade im Sessel auf. In lässiger Haltung kann man schlecht über Millionen reden.»Signori, wenn >Laska< an den Start geht, rutschen uns die Hosen runter! Wir müssen etwas tun.«
«Vorschläge!«rief Grazioli vom Fenster.
«Wir bleiben beim Einsatz auf >Franco<. Er hat die einzige Gewinnchance. Auf >Laska< umzubuchen wäre ein gewagtes Spiel, denn — wie Grazioli richtig sagte — wer weiß, ob sie die gleiche Form wie in Aachen hat. Hier ist ein Unsicherheitsfaktor. Hat sie aber die Form, dann gewinnt sie. Vorschlag — >Laska< darf nicht zum Parcours antreten.«
«Immer diese alte Masche!«Grazioli winkte heftig mit beiden Hände ab.»Man wird diesen Gaul wie ein Juwel bewachen.«
«Auch Juwelen sind schon oft geklaut worden!«
«Sie können doch kein Pferd klauen, Bonelli! Aus den Turnierställen! Eher rauben Sie die römische Staatsbank aus.«
«Wer spricht von Stehlen?«Bonelli lächelte breit.»Ich habe mich gleich, als ich wußte, daß >Laska< springt, erkundigt. Betreut wird sie von einem Pedro Romanowski.«
«Pedro? Ein Spanier?«
«Ein Deutscher. Stoßen Sie sich nicht an dem Namen Pedro, Gra-zioli. Es gibt Italiener, die heißen Siegfried. Also Romanowski pflegt sie. Ihn zu überwinden ist schwerer, als eine Stahlkammer aufzubrechen.«
«Na also.«
«Aber Sie kennen Adriana nicht, Signori. «Bonelli glänzte wie eine Sonnenölreklame.
«Wer ist Adriana?«
«Adriana Lucca. Rothaarig, mit Kurven wie die Rennbahn von Monza, Blicke wie Laserstrahlen. So etwas kennt auch ein Romanowski nicht. Adriana wird ihn ausschalten. Sie hat schon mehrmals für mich gearbeitet, und immer mit einem kompletten Sieg.
Sie ist nicht ganz billig, aber ihr Erfolg bringt das Geld wieder herein.«
«Eine gute Idee, Bonelli. Legen Sie Adriana auf diesen Pedro. Und dann?«
«Dann schleicht sich Luciano Pavese in den Stall der Deutschen und gibt Laska ein Spritzchen.«
«Wer ist Luciano?«
«Ein Arztgehilfe. Er arbeitet für mich auf den Galopp-Plätzen und dopt die Renner. Bisher hat noch niemand was gemerkt — ein Fachmann, wie Sie sehen, Signori.«
«Und nach der Spritze wird diese verdammte >Laska< umfallen?«
«Das wäre zu offensichtlich. Nein, sie wird müde. «Bonelli hob lächelnd beide Hände.»Die römische Hitze. Der Sommer. Die dicke Luft. Der Klimawechsel. So ein Pferd ist wie eine Primadonna, die im Durchzug steht. Wer kann es >Laska< verübeln, wenn sie klimakrank wird? Wenn sie schläft, statt zu hüpfen? Bisher hat es noch keinen Tierarzt gegeben, der Lucianos Injektionen richtig diagnostiziert hätte. Am Morgen des Turniertages wird >Laska< müde herumhumpeln und gegen Mittag sich zufrieden ins Stroh legen und die Äuglein schließen. Wer will dann >Franco< hindern zu gewinnen?«
«Niemand. «Grazioli klatschte in die Hände.»Wir akzeptieren Ihren Plan, Bonelli. «Die anderen nickten wortlos.»Und wenn etwas schiefgeht?«
«Ausgeschlossen bei Adriana.«
Zehn Minuten später verließen drei gepflegte Männer das Hotel >Michelangelo<. Bonelli nahm das Schild >Bitte nicht stören< von der Klinke, warf es in den Vorraum und ging hinunter an die Bar, um einen eiskalten Campari zu trinken. Vorher aber hatte er noch Adriana, die rothaarige Sexbombe, angerufen.
«Neue Arbeit, mein Liebling«, sagte er.»Ein leichter Fall. Hunderttausend Lire auf die Hand. Handle nicht mit mir, ein unbedarfter Deutscher, bei dem brauchst du nichts weiter als kräftig mit dem Hintern zu wackeln.«
Zufrieden saß Bonelli später an der Bar und unterhielt sich mit dem Keeper über den neuesten Gesellschaftsklatsch. Zehn Millionen Lire sind mir sicher, dachte er dabei. Man muß eben Fachmann sein.
Die deutsche Equipe war eingetroffen. Fallersfeld war als Quartiermeister schon seit einer Woche in Rom und empfing seine Reiter mit einem Fäßchen kühlem deutschem Bier. Die stehende heiße Luft war unerträglich geworden. Bei der geringsten Bewegung brach der Schweiß aus den Poren. Die Schiebetüren der Spezialgüterwagen standen weit offen, trotzdem dampften die Pferde und ließen die Köpfe hängen.
«Schwierigkeiten?«fragte Fallersfeld.»Hat alles geklappt?«
«Soweit ja. «Hans-Günther Winkler winkte ab. Die obligate Sonnenbrille verdeckte sein Mienenspiel.»Laska. «Er drehte sich um und ging zu dem Waggon, aus dem seine Pferde gerade über die hölzerne Rampe auf den Boden geführt wurden.
Fallersfeld ahnte Böses. Er seufzte und tupfte sich den Schweiß vom Gesicht. Immer diese Laska. Ein Aas von einem Gaul! Zänkisch, widerborstig, stur, undiszipliniert, unberechenbar — nur wenn Hartung bei ihr war, konnte sie sich benehmen wie ein Osterlämmchen.
«Was hat sie wieder angestellt?«fragte Fallersfeld, als er die Güterwagen erreicht hatte. Schockemöhle und Steenken wechselten einen schnellen Blick.»Nun redet schon!«
«Sie fährt allein«, sagte Steenken und deutete auf den übernächsten Wagen.»Es war nicht mehr auszuhalten. Wo wir sie auch hinsteckten, sie beißt, donnert gegen die Wände, rennt die anderen Pferde um, ein richtiger Satan.«
«Wo ist Horst?«schrie Fallersfeld.»Das geht zu weit, das geht entschieden zu weit!«
Horst Hartung und Pedro Romanowski blickten aus ihrem Waggon mit solch unschuldigen und fragenden Gesichtern, daß Fallersfeld, impulsiv wie immer, seine Sportmütze auf die Erde schleu-derte.
«Willkommen in Rom«, sagte Hartung und sprang aus dem Waggon.»Das Klima bekommt Ihnen, Baron! Sie sind ja mit Temperament geladen.«
«Horst!«Fallersfeld streckte den Arm aus — ein Pfahl, der auf Las-ka zeigte. Ihr schöner Kopf erschien neben Romanowski in der Tür, die klugen großen Augen begrüßten die Sonne. Nur die Ohren spielten unruhig vor und zurück.»Was höre ich da?«
«Es stimmt. Ein eigener Waggon. «Hartung nahm ein Glas eisgekühltes Bier in Empfang, das ihm vom Fäßchenwagen herübergebracht wurde. Romanowski winkte mit beiden Armen.
«Hierher!«schrie er.»Leute, det Faß steht falsch. Rollt man was näher!«
«Wer bezahlt den Waggon?«fragte Fallersfeld gefährlich leise.»Ich denke nicht daran, meinen Etat deines wilden Gaules wegen zu überschreiten. Kein Wort mehr, Horst. Die Gesänge kenne ich! Und wenn Laska siebenmal ein Wunderpferd ist — das ist ihr letzter Parcours, wenn sie keine Disziplin lernt. Ich schwöre es dir.«
«Polizei!«schrie Romanowski aus dem Waggon.»Polizei! Hier schwört einer Meineide!«
«Die Waggonmiete geht auf meine Kosten«, sagte Hartung. Er wartete, bis alle Pferde der deutschen Equipe ausgeladen waren, und winkte dann Romanowski.»Ich halte nur die Hand auf, wenn Laska die Coppa d'Italia gewinnt.«
«Das ist Erpressung, Horst!«Fallersfeld wandte sich abrupt zum Gehen. Dann fiel ihm noch das Wichtigste ein, er starrte Laska an, die zögernd über die schräge Rampe den Eisenbahnwagen verließ und die Nüstern hob, als sie den Baron anblickte.»Sie mag mich nicht«, sagte Fallersfeld fast beleidigt.
«Wundert Sie das, Baron?«Hartung lachte und tätschelte Laskas Hals.
«Was ist mit dem Stall? Benötigt dein Bock etwa auch einen eigenen Stall?«Fallersfeld reckte das Kinn kampfeslustig vor.»Sie bekommt ihre Box neben >Feuerwind<. Die letzte in der Reihe. Da hat sie eine Steinwand, um Pauke zu spielen.«
Es wurde Abend, bis die deutsche Equipe mit dem Einrichten fertig war. Die Pferde wurden gefüttert und getränkt, abgerieben und vom Tierarzt untersucht. Dr. Rölle, der Equipenarzt, betrachtete Las-ka von weitem. Sie hatte den Kopf zurückgewandt und stand unbeweglich.
«Nicht mit mir!«sagte Dr. Rölle.»Ich falle nicht drauf 'rein. Pedro, wie fühlt sie sich?«
«Verdreht wie imma, Herr Dokta. Ick hasse det Biest. Se kostet mir zehn Jahre Leben. «Romanowski ballte die Fäuste.
«Aber jede Nacht schlafen Sie neben ihr, und wenn einer den anderen eine Stunde lang nicht sieht, fangen beide zu weinen an!«
«Det is es ja, Dokta. «Romanowski wischte sich über die Augen.»Wir hassen uns so, det wir uns jejenseitig brauchen, um jlücklich zu sein.«
Dr. Rölle bückte sich und betrachtete Laskas Hufe und Sprunggelenke.
«Keine Schwellungen?«
«Nich die Bohne.«
«Transportschäden?«
«Nervös wie imma.«
«Schon bewegt?«
«Dokta, bin ich'n Penner? Natürlich hab ick det Luder bewegt. «Romanowski klatschte Laska auf den Schenkel. Sie hob den Kopf, wieherte verhalten und musterte mit ihren großen sprechenden Augen den Arzt. Ich bin fit, sagte dieser Blick. Laßt mich jetzt in Ruhe.»Ick hab se uffn Platz jeführt und jedacht, jetzt fällt se um, von wejen die Hitze. Und wat macht se? Reißt sich von der Longe los, ick rolle in'n Sand, und ab jeht die Post. Immer rund im Galopp wie 'n Mustang aus Wildwest. Erst als der Chef kam und schnauzte: >Hierher! Sofort!<, legt det Biest die Ohren an und ist zahm wie'n Karnickel. Von wejen Hitze! Die schluckt alles.«
Dr. Rölle zog die Augenbrauen hoch, blickte Laska in die braunen Augen und zuckte mit den Schultern.
«Ich werde aus dem Pferd nicht klug«, murmelte er.»Irgendwo hat es einen Hirnfehler. So benimmt sich kein normaler Gaul.«
Er hob seine Medikamententasche vom Boden und verließ den Stall.
Romanowski baute sein Schlafzimmer auf: eine Wolldecke über einen Haufen auseinandergezogenes Stroh, eine Batterielampe an einem Nagel in der Wand, Laskas Sommerdecke als Kopfkissen. Dann zog er den Rock aus, hängte ihn an Laskas Boxentür, zerrte sich die Stiefel von den Beinen, rieb sich die Zehen, warf sich auf sein Lager und seufzte laut.
«Gute Nacht, olles Luder!«sagte er zärtlich.
Endlich Ruhe, endlich lang liegen, endlich schlafen. Gibt es etwas Schöneres, als in einem Pferdestall zu schlafen? Der Geruch der Tiere, des Heus und des Strohs, die wohlige Wärme, die den Pferdeleibern entströmt, das behutsame Scharren der Hufe, das Schnauben und Rumoren, ab und zu ein leises Wiehern, als wenn eines der Pferde träumt — eine kleine glückliche nächtliche Welt, die Romanowski nicht gegen ein Prunkbett eingetauscht hätte.
Er streckte sich, knipste die Batterielampe an und begann, einen Kriminalroman zu lesen. Romanowskis Spezialität waren knallharte Gangsterjagden. Meistens aber ärgerte er sich über die Kriminalbeamten, denn er hätte solche Fälle ganz anders gelöst. Einfacher und schneller. Und weil er dieser Meinung war, verschlang er einen Kriminalroman nach dem anderen.
Gegen 23 Uhr schlief Romanowski ein. Für ihn war der Fall des >Moormörders< gelöst.
Dafür begann, ohne daß er es merkte, der >Fall Romanowski<.
Am Abend landete auch Angela Diepholt in Rom. Horst Hartung holte sie mit einem großen Blumenstrauß ab. Fallersfeld hatte beim Abendessen im Hotel zu ihm gesagt:»Da man Kinder und Verrückte nie allein lassen darf, kommt Angela in einer Stunde an.«
«Mir ist, als werde ich verfolgt«, stellte Hartung fest, nachdem er
Angela mit einem Kuß begrüßt hatte. Sie sah hinreißend aus in einem rosafarbenen Kostüm mit weißen Biesen und einem Chiffonschal um die langen Haare. Über Rom lag dumpfe abendliche Schwüle.
«Genauso ist es, mein Lieber. «Angela hängte sich bei Hartung ein.»Vier Wochen habe ich dich nicht gesehen.«
«Training. Ich mußte Laska auf den Coppa vorbereiten.«
«Natürlich. Und um dich daran zu erinnern, daß es mich auch noch gibt, bin ich hier.«
«Ich freue mich, Angi.«
«Du hast schon eleganter gelogen. Dein Kuß vorhin war eine Pflichtübung. Und die Rosen hat die Hotelsekretärin besorgt, nicht wahr?«
«Giftnudel!«Hartung führte Angela zu den Taxiständen. Eine geraume Zeit fuhren sie stumm über die breite Chaussee nach Rom. Landhäuser hinter hohen weißen Mauern. Pinienhaine. Zypressen ragten wie grüne Säulen in den Himmel. Blühende Büsche. Reklameschilder. Schreiende, spielende Kinder. Streunende Hunde. Autoschlangen, in deren Lücken die kleinen Fiats wie schwirrende Käfer hineinsausten. Das Häusermeer mit der heißen Dunstglocke darüber. Ruinen aus mehreren Jahrtausenden, das Forum Romanum, im Abendrot der Rundbau der Engelsburg, schwebend fast die Kuppel des Petersdoms.
«Roma!«sagte der Chauffeur höflich und blickte in den Rückspiegel.»Wohin, Signorina?«
«Hotel Terminus.«
«Was?«Hartung wandte sich um.»Nicht bei uns?«
Es waren die ersten Worte, die sie wieder sprachen. Bisher hatten sie sich nur wortlos angesehen.
«Nein. «Angela lehnte sich zurück.»Ich bin eine neutrale Rombesucherin, kein Equipenmitglied.«
«Und wann sehen wir uns?«
«Ruf mich an, wenn du Zeit hast.«
«Heute abend. Wir könnten heute abend bummeln gehen.«
«Und Laska, dein Augenstern?«Es klang bitter, angriffslustig.
«Pedro schläft bei ihr.«
«Übertreibt ihr das nicht? Dieser Kult um ein Pferd! Die heiligen Kühe in Indien sind ja Ausgestoßene dagegen.«
«Laska ist nervös.«
«Sie ist immer nervös, mein Lieber!«Angela drehte sich zu Hartung.»Hast du schon einmal gehört, daß eine vernachlässigte Braut auch nervös werden kann?«
«Ich appelliere an die Vernunft dieser Braut.«
«Dann sprich in gleicher Weise auch mal mit Laska. Angeblich versteht sie jedes Wort von dir.«
«Hotel Terminus!«rief der Fahrer und bremste.
Hartung beugte sich vor.»Fahren Sie noch einmal um den Block.«
«Si, signore. Capito.« Der Chauffeur winkte dem herbeistürzenden Hotelportier ab, gab Gas und fädelte sich tollkühn wieder in den Verkehr ein.
«Das ist Freiheitsberaubung«, sagte Angela und lächelte krampfhaft.
«Hier kann ich wenigstens mit dir reden, hier kannst du nicht einfach weglaufen und übelnehmen. «Hartung holte aus der Rocktasche einen Bogen Papier und faltete ihn auseinander. Er war mit Namen und Daten dicht beschrieben.»Lies das einmal durch.«
«Warum?«Angela nahm das Blatt und überflog es. Ein Terminplan. Turnier auf Turnier. Berühmte Parcours-Namen. Preise, Ehrungen, Pokale, Nationenwertungen. Ein Geflecht aus Daten, das Hartung wie ein Panzer umschloß. Angela warf das Blatt auf den Sitz.
«Das ist ein uraltes Alibi mit riesigem Bart!«sagte sie.»Lebst du nur, um über Hindernisse zu springen?«
«Im Augenblick ja. «Hartung steckte den Terminkalender wieder ein.»Verstehst du das nicht?«
«Nein.«
«Das nie ausdiskutierte Problem. Ich bin kein Krautjunker, der Zuk-kerrüben anbaut oder Schweine mästet, sondern ich habe einen verdammt harten Job. Ich reite mir die Seele aus dem Leib, zum Ruh-me des Pferdesports.«
«Du redest wie ein Marktschreier. Zum Ruhme! Welch ein Unsinn. Wer dankt dir das? Wenn du vom Pferd fällst und brichst dir irgendeinen Wirbel und mußt im Rollstuhl gefahren werden, wer kümmert sich dann um dich? Ein paar Zeitungsartikel, ein paar Bildreportagen und dann Schluß. Vergessen! Abgeschoben! In der nächsten Saison spricht schon keiner mehr von Horst Hartung. Nur der gilt, der noch im roten Rock im Sattel sitzt, der gelähmte Hartung ist dann längst mit dem Stalldung weggefegt. So ist das, Horst, und du weißt das ganz genau!«
«Darin sind wir nicht anders als Soldaten. Gehorchen, siegen oder untergehen!«
«Und das nennt ihr noch Sport!«Sie fuhren jetzt zum drittenmal am Hotel >Terminus< vorbei. Der Portier, der immer auf dem Sprung stand, tippte sich bei der dritten Runde an die Stirn. Der Fahrer zuckte mit den Schultern und hob beide Hände. Prego, amico — solange Verrückte zahlen, können sie bei mir machen, was sie wollen. Einfacher kann ich meine Lire nicht verdienen.»Laß mich 'raus, Horst.«
«Wir lieben uns doch, Angi.«
«Ist das Liebe, wenn wir irgendwo auf der Welt zusammenprallen wie zwei Gewitterwolken und dann weiterziehen? Genügt dir das? Mir nicht! Ich will mit dir leben und nicht eine Duftnuance des Stalldunstes sein.«
«Du bist heute wieder von einer umwerfenden Rhetorik. «Hartung lehnte sich seufzend zurück und tippte dem Fahrer auf die Schulter. Der kleine Italiener nickte stumm.»Ich habe dir versprochen — nach der Olympiade heiraten wir.«
«Mein Gott, das sind ja noch drei Jahre. «Angela schüttelte den Kopf.»Wir werden uns trennen, Horst.«
«Angi!«Hartung versuchte, ihre Hand zu ergreifen, aber sie zog sie abrupt zurück. Vor ihnen tauchten die Lichterketten der Hotels auf. Nur noch ein paar Sekunden.»Angi, soll ich jetzt, wo Laskas Stern aufgeht, alles hinschmeißen? Du weißt am besten, was in Las-ka steckt.«
«Pökele sie dir ein«, sagte Angela wütend. Sie riß die Tür des Taxis auf, als es noch vor dem Hoteleingang ausrollte, und sprang hinaus. Der Portier kam diesmal zu spät. Die fahren doch noch eine Runde, dachte er. Er war entsetzt, als die Signorina aus dem Wagen stürzte und sich nur mit größter Mühe auf den Beinen hielt. Die Bremsen kreischten.
«Madonna mia!« schrie der Chauffeur und schlug die Hände zusammen.
«Angi!«Hartung beugte sich aus der offenen Tür.»So können wir nicht auseinandergehen. Ich hole dich in einer Stunde ab.«
Er wußte nicht, ob sie es gehört hatte. Sie lief ins Hotel, fegte durch die breite Glastür und verschwand. Der Portier holte die beiden Koffer aus dem Wagen, musterte Hartung wie einen Menschenjäger, tuschelte mit dem Taxichauffeur und schritt dann gravitätisch zur Tür der Hotelgepäckannahme.
Eine Stunde später sagte der Chefportier in der Rezeption zu Hartung in fließendem Deutsch:»Bedaure, mein Herr, die Dame ist ausgegangen. «Und am nächsten Morgen, am Telefon:»Bedaure, mein Herr, die Dame ist nicht im Hause.«
Am Mittag, nach einem harten Training:»Bedaure, mein Herr, die Dame hat hinterlassen, sie mache einen Ausflug auf der Via Ap-pia. «Am Abend — Hartung hatte einen Smoking angezogen und zwei Opernkarten für eine Aufführung von >La Boheme< in der Tasche — die gleiche, stereotype Auskunft des eleganten Chefportiers mit den beiden gekreuzten Schlüsseln auf dem Samtkragen:»Bedaure, mein Herr, die Dame ist vor einer Stunde abgeholt worden.«
«Abgeholt worden?«Hartung war ratlos.»Haben Sie ihr meinen Brief gegeben?«
«Natürlich, mein Herr. «Der Chefportier verzog das Gesicht. Was für eine Frage!
«Und? Was geschah mit dem Brief?«
«Die Dame steckte ihn ein.«
«Ungelesen?«
«Meines Wissens — ja.«
«Wer holte sie ab?«
Der Chefportier musterte Hartung wie einen Bettler, der sich in diese heiligen Hallen des Geldadels verirrt hat.»Mein Herr«, sagte er betont,»unser Haus ist bekannt für seine Diskretion. Darf ich Ihnen durch den Boy eine Erfrischung bringen lassen?«
«Danke. «Hartung wandte sich ab. Im Hinausgehen zerknüllte er die Theaterkarten und warf sie in einen großen Aschenbecher. Dann bummelte er über die Via Veneto, trank drei Campari, wehrte vier entzückende, wohlgerundete, aber teure Mädchen ab, langweilte sich in einem Nachtclub bei mittelprächtigem Striptease, dessen Höhepunkte in flackernden roten Scheinwerfern untergingen — die römischen Behörden verlangten es so, und kam in sein Hotel zurück, als Fallersfeld mit den anderen Reitern der deutschen Equipe an der Bar zum Abschluß des Tages noch ein Bier trank.
«Unser Kulturpapst!«rief Fallersfeld ausgelassen.»Na, wie war's? Wie eiskalt ist dies Händchen — hast du's gewärmt, Horst?«
«Einen Kognak und ein Bier! Heute besauf ich mich«, verkündete Hartung düster. Er kletterte auf den Barhocker und sah mit bereits alkoholisiertem Blick in die Runde.»Wenn ich jetzt ans Reiten denke, könnte ich kotzen.«
«Morgen früh um acht Geländeübung. «Fallersfeld lachte dröhnend.»Vor nichts hat der Bengel Angst, nur vor dem Ja am Altar. Ein Kognak, ein Bier — mehr wird nicht erlaubt. Und übermorgen dürft ihr keine Nerven haben.«
Die letzte Nacht vor dem Turnier.
Angela ließ sich weiter verleugnen. Jede freie Stunde rief Hartung im Hotel >Terminus< an, sie war immer unterwegs, nicht erreichbar, gerade ausgegangen. Schließlich sagte der Chefportier, wenn er Har-tungs Namen hörte, nur noch:»Wie immer!«und legte den Hörer auf. Es hatte keinen Sinn, das Telefon weiter zu blockieren.
Romanowski war hundemüde. Das Training war zermürbend ge-wesen, Laska sprang wie ein altes Weib über eine Pfütze, ohne Haltung, ohne den Blitz im Leib, wie Fallersfeld es nannte. Die Hindernisse nahm sie ausgesprochen lustlos, latschte beim Abreiten wie eine triefäugige Kuh, war sichtlich beleidigt bei der Cavaletti-Arbeit und wurde nur munter, als Dr. Rölle sie abhorchen wollte. Fallersfeld rannte herum mit hochrotem Kopf.
«Das ist der letzte Parcours, das schwöre ich«, schrie er Hartung an.»Ich streiche Laska so lange von der Liste, bis sie Disziplin gelernt hat. Das ist das mindeste, was ich verlangen kann. Wir haben hier doch kein Cowboy-Rodeo!«
Nur Romanowski war trotz aller Müdigkeit und allen Kampfes mit Laskas Dickschädel glücklich. Er hatte eine Bekanntschaft gemacht.
Ein Mädchen, wie aus einem schwedischen Magazin. Überall rund, wo man es erwartete, rothaarig und eindeutig in Romanowski verliebt. Sie stand plötzlich überall dort, wo Romanowski mit Laska arbeitete, kullerte mit den Augen, drehte die Hüften in dem engen, kurzen Rock und schob die Brüste vor. Romanowski wurde es heiß unter der Mütze. Zuerst trank er Limonade, dann einen Whisky mit Eis, und als es gar nicht mehr auszuhalten war, sprach er die Rothaarige an.
«Signorina«, sagte er, ging in die Knie und wippte auf und ab.»Schön hoppehoppe?«
«Sär schön!«Die Rothaarige blinzelte Pedro an.»Isch libbä Pfär-de.«
Sie kann deutsch, jubelte Romanowski innerlich. O ewiges Rom, jetzt breche ich einen Stein aus dir!
Adriana Lucca hatte ihren Auftrag begonnen.
Es war — wie Bonelli gesagt hatte — ein leichtes Spiel. Romanowski brannte schon nach dem ersten Satz, den Adriana sprach, nach fünf Minuten näherer Bekanntschaft loderte in ihm ein Vulkan.
Es ist eine alte Weisheit, daß Liebe die Hirnwindungen leerfegt und Männer rettungslos verblöden läßt. Wer dazu noch ein Mann wie Pedro Romanowski ist, dem freiwillig keine Frau nachläuft, ihn nicht einmal interessiert mustert, denn außer Kraft hatte die Natur ihm wenig mitgegeben, was ein Frauenherz entzückt, wer immer nur zugesehen und nie im Mittelpunkt gestanden hat, der überläßt sich glücklich der Leidenschaft, wenn ihn eine Frauenhand anders als abwehrend berührt.
Adriana verstand ihr Metier. Mit allen Wassern weiblicher Verführungskunst gewaschen, eroberte sie Romanowski im Sturm. Er begriff gar nicht, wie so etwas möglich sein konnte. Ausgerechnet ich, dachte er immer wieder. Da laufen Hunderte von Männern herum wie aus einem Modejournal, und mich stinkenden Pferdeknecht hat sie herausgepickt.
Beim Geländeritt fing es an. Hartung ritt Laska vorsichtig, er kannte die Tücken des Bodens nicht, versteckte Wurzeln, Mäuse- oder Kaninchenlöcher, Unebenheiten — alle möglichen Fallen, in denen sich ein Pferd den Fuß verstauchen konnte. Adriana trippelte neben Romanowski durchs Gelände, bestaunt von den anderen Reitern und Helfern, argwöhnisch beäugt von Fallersfeld, der noch genug hatte von Hartungs Affäre mit der schönen Luisa Gironi in Aachen. Er machte da keinen Unterschied zwischen Hartung und Romanowski — alle drei, mit Laska, bildeten eine Einheit. Wurde diese gesprengt, mußte es immer zu einer Katastrophe kommen. Die einzige Ausnahme war Angela. Sie würde die Dreieinigkeit bestimmt nicht zerstören, sondern sich völlig integrieren in diesen Block. Aber Hartung begriff das noch nicht.
«Madonna«, sagte Adriana am zweiten Tag, als Hartung über die Übungshindernisse sprang.»Und du machst Pfärd fit?«
«Wer sonst?«Romanowski warf sich in die Brust. Da war allerhand — ein Brustkasten wie eine Truhe, Schultern wie ein Brückenpfeiler.»Herrchen — so nenne ick meinen Chef — reitet bloß. Ick sorje für die Kondition von Gaul und Reiter. Det is eene Lebensaufgabe, Mädchen. «Er bemühte sich, ein verständliches Hochdeutsch zu sprechen, aber nach einigen Anläufen gab er die Bemühungen auf. Was se vastehen will, bejreift se ooch so, dachte er. Und wenn ick ihr um die Taille fasse, is det international.»Ohne mir jebe et keene Parcours nich. Ick bin sozusajen det Schmieröl im Motor. Vastehste mir?«
«Si, si. «Adriana Lucca lächelte ihn so zuckersüß an, daß Romanowskis Herz hämmerte.»Du großär Pfärdemann.«
Mir knallt det Herz noch um die Ohren, dachte Romanowski. Det is 'ne Puppe für morgens, mittags und abends, und 'n Mann wie ick kann ooch noch 'ne Zwischenmahlzeit vertragen. Pedro, hol mal tief Luft und dann hinein ins Wasser.
Er faßte Adriana um die Hüfte — der internationale Griff — und strahlte sie an. Adriana kicherte und bekam große Kulleraugen. Durch ihre roten Haare wehte der Wind. Romanowski geriet in Atemnot.
«Isch zeige dir Rom«, sagte sie und schmiegte sich an ihn. Eine Katze hätte nicht zärtlicher geschnurrt.»Via Veneto, kleine Bar, du und isch, ganz soletto!«
Romanowski versuchte einen Angriff. Er riß Adriana an sich, küßte sie wie ein Barbar, wunderte sich, daß sie quietschte wie eine Maus in den Krallen einer Katze, ließ sie los und holte tief Luft. Es war der erste Kuß seines Lebens, den er bis in die Zehenspitzen gespürt hatte. Ein völlig neues Lebensgefühl. Und ein gutes dazu.
«Morjen, Puppe«, sagte er keuchend.»Morjen. Heute Nacht muß ick Laska bewachen.«
«Heute. Soletto!« sagte Adriana. Sie hatte einen trotzigen Zug um den Mund. Ihre Augen blitzten.»Morgen nix! Jetzt.«
«Puppe, det Turnier. «Romanowski wurde abwechselnd heiß und kalt. Er sah sich um, zog Adriana hinter einen Busch und küßte sie wieder. Dabei legte er die Hand auf ihre Brust, und dieser Griff ins Volle entschied alles. Was ist eine Laska gegen solche Lebensfülle? Wo bleibt die Moral bei so massiver Versuchung? Sie verdorrt wie eine Blume in der Wüste.»Ick schlafe im Stall«, sagte Romanowski rauh, ließ seine Pranke auf der Brust und sehnte sich nach einem eiskalten Bier.»Wenn dir det zu popelig is?«
«Zu was?«fragte Adriana brav zurück.
«Popelig. Mein Jott, wie soll ick dir det erklären? Popelig is, wenn de Appetit auf'n Kotelett hast und kriegst nur 'ne Schrippe mit Gum-miwurst. Vastehste?«
«Alles«, sagte Adriana und hob sich auf die Zehenspitzen. »Un ba-cio«, bettelte sie. Und Romanowski verstand sie sofort.
«Um zehn Uhr im Stall«, sagte er später. Er hob beide Hände hoch.»Zehn! Dann sind se alle weg! Ick mach uns 'n Lager wie aus Tausendundeine Nacht. Verdammt Puppe, wie heeßt du eigentlich. Ick bin Pedro.«
«Il mio nome eAdriana.«
«Adriana — det is wie Musik.«
Er umarmte sie noch einmal mit seinen Pranken, küßte sie wie ein Verdurstender und hörte erst auf, als Hartung nach ihm rief.
«Det is Herrchen«, seufzte er und umfaßte mit einem langen Blick noch einmal seine unfaßbare Eroberung.»Mein Jott, wer hätte det jedacht? Jetzt muß ick mir zerreißen.«
Was Romanowski tat, das tat er gründlich.
Er baute neben Laskas Box ein Liebeslager, wie es die Schweden im Dreißigjährigen Krieg nicht besser hatten. Viel Stroh, darüber weiche Decken, eine romantische Stallaterne, ein Brett mit Wurst, Schinken, Wein, Weißbrot und Orangen. Vor den Eingang nagelte er rechts und links eine Decke an den Balken fest, sie gab ein Gefühl von Abgeschlossenheit, von Intimität.
Nach dieser Einrichtung seiner Liebeslaube begann Romanowski, sich selbst aufzupolieren. Er wartete, bis der normale Stalldienst gegangen war, holte dann zehn Eimer Wasser, goß sie in einen Trog, zog sich nackt aus und badete. Es kostete Überwindung — er stand eine Zeitlang sinnend vor dem Wasser, fühlte mit der Hand, tauchte ein Bein hinein, zuckte, holte dann tief Atem, ballte die Fäuste und setzte sich in das kalte Wasser.
Alles für die Liebe, dachte er. Wenn sich bloß det Kalte nich auf anderes auswirkt!
Das Bad erfrischte, wie Romanowski verblüfft feststellte. Da er allein war, lief er nackt und triefend im Stallgang hin und her, machte ein paar Kniebeugen und glaubte dann, gerüstet für den Großkampf dieser Nacht zu sein. Er zog nur eine Unterhose an, rollte mit den Muskeln, blickte dann auf seine Armbanduhr und stellte fest, daß er noch eine halbe Stunde Zeit hatte.
Adriana Lucca telefonierte unterdessen mit Bonelli. Es ging um eine Honorarerhöhung.
«Du Kretin!«fauchte sie Bonelli an.»Leichte Arbeit! Ein Riese ist das! Ein Urmensch! Eine Kreuzung zwischen einem Mammut und einem Saurier! Er wird mich bestimmt zerquetschen! — Ich weigere mich!«
«Dann haue ich dir den schönen Hintern blau, cara mia. Schalte ihn aus, das ist dein Auftrag. Wie du das machst, ist deine Sache. Luciano wird draußen warten. Wenn du im Stallfenster die rote Lampe blinken läßt, ist alles nur eine Sache von Sekunden.«
«Laska wird ihn vor den Kopf treten.«
«Überlaß das uns. Sind wir Amateure? Kümmere du dich um deinen Saurier, mehr verlangt keiner von dir!«
Mit einem kleinen Fiat fuhren Adriana und Luciano Pavese hinaus zu den Ställen. Sie parkten ihn in der Nähe des Abreiteplatzes und schlichen im Schatten der hohen Transporter und Pferdeanhänger zu dem langgestreckten, dunklen Gebäude. Nur im letzten kleinen Fenster schimmerte ein einsames Licht.
Romanowskis Liebeslampe.
«Bleib in der Nähe, Luciano«, bettelte Adriana. Sie hatte plötzlich ganz gemeine Angst.»Wenn ich schreie, sofort kommen und losschlagen. Hast du den Totschläger bei dir?«
«Immer. Luciano ist immer bereit. «Pavese lächelte töricht. Er war ein einfältiger Mensch, aber Sonderaufträge, die man ihm eingedrillt hatte, führte er mit der Präzision einer Maschine aus. Ein lebender Computer, der nur richtig programmiert zu werden brauchte. Für Bonelli tat er alles, denn Bonelli hatte ihn als erster wie einen Menschen behandelt.
Adriana schlüpfte in den Stall. Die Tür knarrte kaum, schattengleich und lautlos glitt sie in die Dunkelheit. Der Dunst von Pferdeschweiß und Urin und eine schwere Wärme schlugen ihr entgegen. Was Romanowskis Lebensinhalt war, traf sie wie eine Faust. Sie würgte kurz, fuhr sich mit zitternden Händen über das Gesicht und sah dann Romanowski kommen, unter einer Decke hervor, nackt bis auf seine kurze weiße Unterhose, ein Fleischberg, ein Muskelpaket auf zwei Beinen.
Man kann wirklich nicht behaupten, daß Adriana keine Vergleichsmöglichkeiten besaß, aber was sie jetzt sah, verschlug ihr glatt den Atem. Ihre Augen wurden tellergroß, und als Romanowski sie wortlos packte, auf die Arme nahm und zu seinen Lager trug, war sie zu jeder Abwehr völlig unfähig.
OMamma mia, dachte sie bloß. Er wird mich zermalmen. Wenn er ernst macht, bricht er mir sämtliche Knochen. Luciano, komm her und ziehe ihm den Totschläger über den Schädel. Luciano!
«Zuerst essen und trinken wir«, sagte Pedro und setzte Adriana vorsichtig wie ein rohes Ei auf seinem Liebeslager ab.»Det kalte Buffet is garniert. «Er zeigte auf Wurst, Schinken, Brot und Wein auf dem Holzbrett und streckte sich wohlig aus.»Schwitzt de nich, Adriana? Zieh dir aus!«
Romanowskis >dolce vita< begann. Sein siebter Himmel wurde schon zum achten, denn Adriana knöpfte kühn ihre Bluse auf, streifte sie ab und enthüllte Formen, die Romanowski den Atem raubten.
Vor dem Stall wartete Luciano Pavese zehn Minuten. Als das rote Licht nicht aufleuchtete — Adriana hatte jetzt andere Sorgen, als mit einer Stablampe zu schwenken —, schlüpfte er in den Stallgang und wartete dort hinter der großen Futterkiste, geduckt, zum Sprung bereit, in der Hand den Totschläger. Um den Hals trug er einen Lederbeutel.
Im Stall herrschte Ruhe. Die Pferde waren müde. Training, Hitze, Luftveränderung — das kann auch ein Pferd nicht so schnell verkraften. Das Schaben der Pferdeleiber gegen die Boxenwände, ab und zu ein Hufschlag oder ein Schnauben waren die einzigen Lau-te. Doch nein — von hinten, vom Ende des Stalles, klang gedämpftes Kichern und Rascheln von Stroh. Luciano grinste breit, schlich weiter und blieb vor Laskas Box stehen. Daneben, bei abgeschirmter Lampe und hinter einer sich im Luftzug bewegenden Decke, wurde eine heiße Schlacht geschlagen.
Luciano handelte schnell. Er zog Romanowskis Stalljacke an, die neben der Box an einem Nagel hing, holte aus dem Lederbeutel um seinen Hals eine lange Spritze und schob leise die Tür zu Laskas Box auf.
Laska stand still, nur die Ohren zuckten hin und her. Durch die Nüstern sog sie den vertrauten Geruch ein. Gehorsam trat sie ein paar Schritte zur Seite, als Luciano sie mit einem Klatschen gegen den Hals dirigierte. Ahnungslos, voll Vertrauen auf ihren Freund Pedro, zuckte sie bloß kurz zusammen und wandte den Kopf zurück.
Luciano tastete die Flanken ab, fand die richtige Stelle und stach ein. Ebenso schnell drückte er die Flüssigkeit in den warmen Pferdeleib, riß dann die Nadel heraus, rieb mit dem Handballen über die Einstichstelle und schlüpfte hinaus auf den Stallgang.
Laska schnaubte verwundert. Sie drehte sich, preßte den Kopf gegen das vergitterte Oberteil der Tür und sah Luciano an. Der zog Romanowskis Jacke wieder aus, hängte sie an den Nagel zurück, lüftete einen Zipfel der Decke und betrachtete kurz die verschlungenen Glieder auf dem Strohlager. Mit schnellem Griff riß er die Stalllaterne an sich und blies sie aus.
Romanowski grunzte laut, fluchte und warf in der Dunkelheit das Brett mit Wein und Schinken um.
«Da hätt ick mir den Hintern verbrennen können!«sagte er und tastete nach der Laterne.»Mensch, Puppe, hast du 'n Schenkeldruck!«
Luciano rannte aus dem Stall. Unhörbar klappte die Tür zu. Ein paar Minuten später folgte Adriana. Romanowski hatte die Lampe wiedergefunden, angezündet und hockte nun auf seinem zerwühlten Strohlager, setzte die Weinflasche an den Mund und trank sie mit einem Zug leer.
Saufen — Himmeldonnerwetter, nur noch saufen! Jetzt ist sie davongelaufen. Einen Schock hat sie bekommen. Wenn unsereiner schon mal Glück hat, fällt die Lampe vom Nagel. Zum Kotzen, Leute.
Dann schlief er ein und träumte von roten Wolken, die alle das Gesicht von Adriana trugen. Erst als diese Wolken zu regnen begannen, sprang er mit einem Schrei auf.
Hartung stand vor Romanowski und hielt noch den Eimer in der Hand, den er ihm über den Kopf geschüttet hatte. Nebenan in ihrer Box lag Laska auf der Seite und schlief.
«Was hast du mit Laska gemacht?«schrie Hartung.»Sie rührt sich nicht!«
«Mit La.?«Romanowski schüttelte sich wie ein nasser Hund, blickte über die Boxenwand und erschrak. Dann wurde er rot und holte tief Luft.»Aufstehen!«brüllte er, daß Hartung erschrocken zurückprallte.»Allez hop!«
«Bist du übergeschnappt?«stotterte Hartung.»Und besoffen bist du auch!«
«So weck ick det Luder imma!«schrie Romanowski.»Aufstehen!«
Aber Laska blieb liegen. Apathisch hob sie nur den Kopf, blinzelte und ließ ihn zurückfallen. Entsetzt starrte Romanowski auf den goldbraunen Fellberg.
«Det macht se extra«, stammelte er.»Nu hat se 'ne neue Tour. Spielt tote Fliege. Herrchen, wenn se man bloß det Vieh nich jekauft hätten! Se bringt mir um den Verstand!«
Es war ein absolutes Rätsel. Laska blieb liegen, auch als Hartung ihr zuredete, mit der Peitsche drohte, ihr auf die Kruppe schlug, sie anschrie. Das einzige, was sie tat, war ein leises Schnauben, ein Hochstemmen auf die Vorderbeine, dann brach sie wieder ein und rollte sich zur Seite.
«Mein Gott, sie hat irgendeine Schwäche«, sagte Hartung leise.»Du siehst doch, daß sie nicht hoch kann.«
In den Stall kamen jetzt die anderen Pferdepfleger, Fallersfeld, Hartwig Steenken, Winkler und Schockemöhle. Romanowski tanzte um Laska herum, beschimpfte sie, lockte, kniete neben ihrem Kopf und hob ihn in seinen Schoß. Laska blieb ruhig. Aus müden, halbgeschlossenen Augen musterte sie die Welt. Hartung hatte sein Ohr auf ihren Leib gelegt und horchte sie ab.
«Einen Arzt!«schrie Fallersfeld, der sofort die Situation erfaßte.»Wo ist Dr. Rölle? Sofort hierher! Horst, hörst du was?«
«Nichts. «Hartung richtete sich auf. Winkler und Schockemöh-le bemühten sich, Laska an der Trense hochzuziehen, Romanowski gab ihr Schläge auf die Kruppe. Es war, als wollte man einen Klumpen Fleisch das Tanzen lehren. Laska lag da und rührte sich nicht.
«Gehen wir systematisch vor!«sagte Fallersfeld mit bebender Stimme.»Wer hatte Stallwache?«
«Ich!«Romanowski stand stramm wie zum Rapport.
«Und?«
«Keine besonderen Vorkommnisse, Herr Baron.«
«Was machte Laska?«
«Se pennte, Herr Baron.«
«Das wissen Sie genau?«
«Ick hab imma über de Wand jeguckt, Herr Baron. Imma!«
«Und Sie haben nichts bemerkt?«
«Nix, nee, Herr Baron.«
«Der Mann ist nicht nur blöd, sondern auch blind!«schrie Fallersfeld.»Liegt so ein Pferd da?«
«Keen normales, Herr Baron. «Romanowski holte tief Luft. Er dachte an Adriana. Wenn die det wissen, kastrieren se mich, dachte er. Ein Jlück, det ick alles aufjeräumt habe. Den BH hat se verjessen. Den hab ick jetzt in der linken Hosentasche, 'n Fummel aus Spitzen. Wenn die bloß nich det Parfüm riechen!
«Aba is die Laska een normales Pferd?«fragte er treuherzig.
Fallersfeld gab sich geschlagen.»Irgend etwas muß sie ja haben«, sagte er ratlos.»Falsches Futter?«
«Ausjeschlossen, Herr Baron. «Romanowski tat beleidigt.»Ick füt-tere ihr imma selber.«
«Eine Erkältung?«
«Bei der Hitze?«
«Gerade!«
«Dann tät se husten. Tut se det?«
Dr. Rölle stürzte in den Stall. Er war gerade gekommen und sofort zum Stall V gerufen worden. Mit deutlicher Zurückhaltung blieb er vor der Box stehen.
«Ist sie auch wirklich zahm?«fragte er.
«Wenn sogar Hans-Günther neben ihr knien darf, dem sie keinen Sieg verzeiht!«rief Fallersfeld.»Doktor, sie liegt da wie gelähmt! Was kann das sein? Mein Pferdeverstand versagt.«
«Eine Kreislaufschwäche. «Dr. Rölle packte das Stethoskop aus, kniete neben Hartung und Winkler in den Häksel und tastete Las-ka ab.»Das Herz ist nur wenig langsamer, das kann es nicht sein«, sagte er erstaunt.»Aber wenn ich mir die Augen ansehe, das ist überhaupt kein Laska-Blick mehr. So schaut ein müder Esel drein. «Er schob die Nüstern zurück, eine mutige Tat, denn niemand hätte früher gewagt, außer Hartung und Pedro, Laskas Nüstern zu berühren, und starrte in das Maul. Die Zunge glänzte bläulich und dick. Dr. Rölle setzte sich entgeistert an die Wand und zog die Beine an.»Vergiftet«, sagte er langsam.
«Unmöglich!«brüllte Romanowski.»Ick war imma um se!«
«Aber sie ist vergiftet. Eine überstarke Schlafmitteldosis!«Dr. Rolle hob beide Hände, als Romanowski wieder losbrüllen wollte.»Pedro, waren Sie ohne Unterbrechung im Stall?«
«Ja!«schrie Pedro. Das war noch nicht einmal gelogen.
«Sie waren keine Minute draußen? Luft schnappen, pinkeln?«
Romanowski zog das Kinn an. Sein Gesicht fiel auseinander.»Wat der Mensch tun muß, muß er tun«, stotterte er.»Ick kann mir doch nich selbst ertränken.«
«Aha! Wo waren Sie?«
«Hinterm Stall. Aba nur drei Minuten. Sie sind ja Dokta. Rechnen Se mal aus, wie lang so 'ne menschliche Blase entleert werden
kann. Mehr war nich.«
«Drei Minuten!«Fallersfeld fuhr sich erschüttert über die Augen.»Diese drei Minuten muß der Täter abgepaßt haben. In drei Minuten kann man ein Dutzend Spritzen setzen. Doktor, bekommen Sie Laska bis zum Mittag wieder auf die Beine?«
«Auf die Beine vielleicht. Aber für den Parcours fällt sie mit hundertprozentiger Sicherheit aus.«
«Prost, dein Onkel Otto!«rief Fallersfeld.»Horst, du wirst sofort >Fahnenkönig< abreiten. Romanowski!«
Hackenknallen. Stramme Haltung.»Herr Baron!«
«Du wirst ab sofort innerhalb des Stalles an die Wand pinkeln, verdammt noch mal! Los, Jungs, an die Arbeit, um Laska wird sich der Doktor kümmern. In ein paar Stunden müßt ihr siegen.«
Bis zum Mittagessen war Laska durch Injektionen so weit gekräftigt, daß sie auf den Beinen stand. Sie schwankte wie eine Betrunkene, stieß mit dem Kopf überall an, und als sie an die Luft kam, begann sie zu zittern und wollte sich wieder hinlegen. Dann führte Romanowski sie herum, abseits von allen anderen Pferden. Er schämte sich. Da ist man einmal ausgerutscht, und schon hat's solch eine Wirkung. Die Liebe ist eine verflucht gefährliche Sache.
Vom Turnierplatz klang Musik herüber. Hartung ritt >Fahnenkönig< ein, Fallersfeld und die deutschen Reiter schritten die Hindernisse ab. Winkler maß die Distanzen, rechnete sich die Schrittlängen und die besten Anreitewinkel aus. Die große Arena begann sich mit Menschen zu füllen. Eine Farbenpracht, die das Auge blendete. Wolkenlos blau dehnte sich der Himmel darüber mit einer glühenden Sonne.
«Was machste bloß«, klagte Romanowski.»Olles Luder, warum haste dir det Ding verpassen lassen? Ick weeß, ick weeß, meine Schuld is et! Siel mir da mit det rote Aas rum, und dich jeben se die Spritze. Du, det bleibt unter uns, wa? Meen liebes Luder!«Er umfaßte Laskas Hals und weinte in ihre Mähne hinein.
Dr. Rölle traf sie eine Stunde vor dem Turnier in der Nähe des Stalles. Romanowski hatte wie ein todesmutiger Löwenbändiger seinen Kopf halb in das offengehaltene Maul Laskas gesteckt und schnupperte vernehmlich. Es war, als wolle er mit der Nase den Mageninhalt analysieren. Dr. Rölle tippte Romanowski auf die Schulter. Erschrocken fuhr der zurück.
«Na?«sagte Dr. Rölle gemütlich.»Was sehen wir denn? Alles dunkel? Sicherlich Darmverschlingung.«
«Det is 'n uralter Hut, Dokta! Darüber haben schon Adam und Eva jelacht. «Romanowski hielt Laska kurz an der Trense. Sie hatte eine Abneigung gegen Dr. Rölle und tänzelte nervös herum.»Ick habe da so meene Idee.«
«Und die wäre?«
«Ick brauche 'nen jroßen Eimer Milch.«
«Was?«
«Milch!«Romanowski war in Erinnerungen versunken.»Meen Jroß-vater sagte imma: >Milch is det einzige Wunder, det man saufen kann.< Ick will Laska 'nen Eimer Milch geben.«
«Von mir aus. Mehr als auskotzen kann sie ihn nicht. «Dr. Röl-le hob ratlos beide Arme.»Ich weiß nicht mehr weiter, Pedro. Die haben da ein Schlafmittel gespritzt, das allen Gegengiften widersteht. Morgen kann Laska wieder munter sein, bestimmt ist sie das, aber morgen ist es auch zu spät.«
Die deutsche Equipe kam noch einmal zur letzten Besprechung zusammen. Horst Hartung ritt >Fahnenkönig<, die Chancen der deutschen Reiter standen nicht schlecht, aber auch nicht auf Sieg. Was man im Training beobachtet hatte, wurde zur Gewißheit: Die Italiener traten mit einer Mannschaft an, die nicht zu schlagen war. Die Brüder d'Inzeo ritten Pferde, deren Sprungvermögen und Schnelligkeit sagenhaft waren.
Für Fallersfeld ging es jetzt nur darum, den ehrenvollen zweiten Platz zu belegen. Das hieß: Vieles wagen, aber nicht zu viel! Kein Vabanquespiel. Auf Sicherheit reiten. Zeitfehler hinnehmen, aber sauber über die Hindernisse.
Horst Hartung hatte noch einmal versucht, Angela zu erreichen. Als der Chefportier des Hotels wieder mit seinem Satz begann, legte er wortlos auf. Jetzt suchte Hartung mit dem Fernglas die Haupttribüne ab. Irgendwo mußte Angela sitzen, versteckt in der bunten Menge, aber er fand sie nicht.
Über den Parcours marschierte eine italienische Militärkapelle und spielte flotte Weisen. Eisverkäufer drängten sich schreiend durch die Sitzreihen. Über die Lautsprecher wurde die Mutter eines Kindes Lucia gesucht. Es war bei den Pferden gefunden worden und wußte nur, daß es Lucia hieß und Mama auch im Stadion sei.
Eine halbe Stunde vor dem Start. Die Pferdeburschen führten die wertvollen Pferde auf dem Abreiteplatz hin und her. Ricardo Bonelli und Stefano Grazioli, in hellgrauen Sommeranzügen vom besten römischen Schneider, besichtigten noch einmal die italienische Equipe, ehe sie zufrieden zu ihrer Loge gingen.
«Das wird ein Geschäft«, sagte Bonelli zuversichtlich.»Haben Sie gehört? Laska schläft wie ein Bär im Winter. Die Deutschen sind nur noch Außenseiter.«
«Noch hat das Turnier nicht begonnen. «Grazioli schätzte keine Prophezeiungen. Er war Realist, er glaubte nur, was er sah oder in der Hand hielt.»Erst wenn die italienische Hymne ertönt, drücke ich Ihnen die Hand, Bonelli.«
Romanowski rannte unterdessen herum und suchte Milch. Drei Milchverkäufer wiesen ihn ab, als er ihren ganzen Wagen kaufen wollte und seinen Eimer schwenkte. Ein vierter rief die Polizei, es war zum Verzweifeln.
Aufschluchzend lief er Angela entgegen, die plötzlich zwischen den Ställen auftauchte.
«Ist das wahr?«rief sie schon von weitem.»Laska ist krank?«
«Vajiftet haben se ihr!«heulte Romanowski.»Jetzt will ick Milch, und keener jibt se mir. Mit Milch krieg ick se wieder hin. Wie jut, det ick an meenen Jroßvater dachte!«
Milch. Angela nahm den Eimer aus Romanowskis Hand und rannte davon.
«Die jeben Ihnen nischt!«brüllte Romanowski hinter ihr her.»Die rufen die Polizei, die Idioten!«
Diesmal gelang es. Angela legte einige große Scheine auf die The-ke des Milchwagens, holte sich, unter dem sprachlosen Staunen der Italiener, aus der Kühlbox selbst zwanzig Literbeutel heraus, riß sie auf und schüttete die Milch in den Stalleimer.
«Un pazzo«, stammelte der Milchverkäufer, als Angela mit dem vollen Eimer davonrannte. »Madonna, un pazzo!« Er tippte sich an die Stirn und grinste den patrouillierenden Polizisten an.
Romanowski war außer sich vor Freude, als Angela mit dem überschwappenden Eimer um die Ecke bog.»Milch!«schrie er und zog Laskas Kopf herunter.»Milch, olles Luder! Die wirste jetzt saufen und springen wie 'ne Heuschrecke! Milch!«
Man weiß bis heute nicht, ob der Großvater Romanowskis mit seiner Therapie ein Allheilmittel entdeckt hatte, ob Laska selbst spürte, daß Milch jetzt genau die richtige Medizin war, oder ob tatsächlich das Gift in ihrem Körper nur durch Milch neutralisiert werden konnte. Mit Genuß soff sie ohne Unterbrechung den Eimer leer und stand dann prustend und mit Milchschaum vor den Nüstern in der Sonne. Romanowski rannte in den Stall, schleppte den Sattel heran und legte ihn auf.
«Luft ablassen!«kommandierte er, als er den Sattelgurt anzurrte.»Himmel, bläst sich det Aas wieder auf!«
Noch zehn Minuten bis zur offiziellen Eröffnung.
Rede des Oberbürgermeisters von Rom. Dann Ansprache des Präsidenten der CHIO.
Der erste Reiter: Harway Smith.
Er stand schon bereit, saß auf seinem herrlichen Schimmel wie ein Standbild.
Noch zehn Minuten.
Fallersfeld zog den Kopf tief zwischen die Schultern, als er zufällig zum Abreiteplatz blickte. Dort führte Romanowski seelenruhig Las-ka am langen Zügel, gesattelt, mit den ledernen Sprungglocken um die Hufe, die Startnummer 11 vor dem Ohr.
«Wer einen Verrückten sehen will, der mache Augen links!«kommandierte Fallersfeld.»Horst, bleiben Sie hier! Horst! Verdammt! Zwei Verrückte, Jungs!«
Hartung lief über den Platz. Laska sah ihn, hob den Kopf und wieherte hell. Ein Triumphschrei war das. Ich bin hier! Wir können reiten! Verlaß dich auf mich! Ich springe ihnen allen davon!
Sie tänzelte, scharrte mit den Vorderhufen und streckte den Kopf weit vor, als Hartung sie erreichte.
«Aufsitzen, Herrchen!«rief Romanowski. Er strahlte, als habe man ihn mit einem Metallputzmittel poliert.»Aufsitzen. Springen Sie denen was vor. De Augen sollen denen ausfallen!«
Hartung war mit einem Satz im Sattel. Romanowski warfihm die Zügel zu und hüpfte zur Seite. Hartung riß Laska herum, galoppierte an, genau auf die Umzäunung des Abreiteplatzes zu, der deutschen Equipe entgegen, die wie ein roter Haufen zusammengedrängt am Geländer stand, Fallersfeld fuchtelte mit beiden Armen und stürzte dann zur Seite, als Hartung genau auf ihn zuritt.»Mein Mädchen«, sagte Hartung und beugte sich zu Laskas Ohr vor.»Mein liebes Mädchen, wenn du's schaffst — 'rüber!«
Dann drückte er ab. Hoch flog der goldschimmernde Körper durch die Sonne, weit über den Zaun hinweg, landete weich neben den auseinanderspritzenden deutschen Reitern und stand dann wie aus Erz gegossen da. Selbst die Ohren bewegten sich nicht.
Horst Hartung zog seine schwarze Kappe.
«Horst Hartung bittet, auf Laska reiten zu dürfen«, sagte er laut.
Fallersfeld schob die Mütze resigniert ins Gesicht.
«Meldung an die Turnierleitung«, sagte er heiser zu einem der Pferdehalter.»Hartung reitet auf Laska. Und morgen gehe ich in Urlaub!«
Am Abend flüchtete Bonelli aus Rom. Er war pleite und wurde von seinen Gläubigern verfolgt.
Laska hatte hinter Piero d'Inzeo den zweiten Platz in der Gesamtwertung belegt, mit acht Fehlerpunkten. Aber sie rettete damit der deutschen Equipe den Sieg.
Die Coppa d'Italia ging nach Deutschland.
Und während am Fahnenmast die deutsche Flagge hochgezogen und die deutsche Hymne gespielt wurde, senkte Laska ganz lang-
sam den Kopf und schlief wieder ein.