Die >ehrenwerten Männer

Die Deutschen kommen«, sagte Bruno Salti und drückte auf den Knopf, der das Radio zum Schweigen brachte.»Jetzt ist es sicher! Sie landen morgen auf dem Flugplatz, fangen übermorgen ihr Training an und siegen am Sonntag beim >Grand National Cup<. Leute, es muß was geschehen. Die Deutschen werfen unser ganzes Programm durcheinander. Erst hieß es, sie kommen nicht. Dann wieder, sie kommen doch! Vor drei Tagen — die Pferde können sich nicht so schnell akklimatisieren, das harte Turnier in Paris, der Flug, das ist eine Quälerei. Und nun sind sie doch da!«

Bruno Salti blickte aus dem riesigen Panoramafenster. Vor ihm rauschte der Pazifik, seine Wellen brachen sich an den Klippen, schäumten hoch, übergossen die Felsen mit Gischt und zerrannen dann im Geröll. Wenn die Sonne abends versank, war das Meer rot, und oft stand Salti dann an diesem Fenster und genoß mit einem prickelnden Schaudern die Illusion, Blut sprühe gegen sein Haus.

Der Gedanke war gar nicht so abwegig. Mit Blut hatte Salti sein Imperium in San Franzisko aufgebaut. Vor genau vierunddreißig Jahren war er aus Sizilien herübergekommen, ein armseliger Bauarbeiter, der in seinem Dorf Terrasole mehr Staub als Nahrung schluckte, der neun kleine Geschwister miternähren mußte und die Großeltern dazu. Da schrieb ihm Giorgio Brusco aus New York.»Komm 'rüber, Bruno. Hier braucht man Jungs wie Dich. Steine und Mörtel brauchst Du nicht mehr zu schleppen, hier gibt es Möglichkeiten, von denen Du nicht einmal träumst. «Und Bruno Salti war ausgewandert, Giorgio hatte zusammen mit einem Unbekannten namens Jim Brazzer für ihn gebürgt, und plötzlich stand er in der Steinwüste von New York, bewohnte ein Zimmer für sich allein — was bis dahin für ihn unvorstellbar war —, erhielt sofort hundert Dollar Handgeld und lernte einen Haufen Leute kennen, die alle arme Schweine wie er gewesen waren.

Aber das Leben ist hart, ob auf Sizilien oder in New York. Jim Brazzer, so stellte sich heraus, hatte nicht nur aus Menschenfreundlichkeit gebürgt, sondern verlangte Gegendienste. Bruno Salti geriet in die Kolonne, in der auch Giorgio arbeitete: Er verkaufte in den Nachtbars Heroin. Das ging so lange gut, bis Salti sich ausrechnete, daß er erbärmlich bezahlt wurde, während die ande-ren einen fast tausendfachen Gewinn einsackten. Eines Nachts holte er von der >Zentrale< für hunderttausend Dollar >Stoff< ab, fuhr statt zu den Bars zum Flugplatz und verschwand. Jim Brazzer erschoß daraufhin den unschuldigen Giorgio, aber das erfuhr Salti erst viel später und erregte sich nicht sonderlich darüber. Er schickte einen guten Mann nach New York, der Jim Brazzer in den Hafen lockte und mit vier Zentnern Beton an den Füßen versenkte.

Zu dieser Zeit war Bruno Salti in San Franzisko schon ein großer Mann. Er hatte mit seinem Startkapital eine Maklerfirma gegründet, handelte mit Grundstücken, die er billig erwarb, indem er die Besitzer unter Druck setzte, billig zu verkaufen oder selbst in die Erde zu kommen (was dreimal geschah, und die Witwen verkauften sofort), baute am Strand des Pazifiks südlich von San Franzisko kleine Bungalows, ganze Kolonien, die man später >Salti-Stadt< nannte und vollzog einen Zusammenschluß, der ihn unangreifbar machte: Er wurde Mitglied der >Cosa Nostra<. Zwar knabberte die Vereinigung der >Ehrenwerten Männer< an seinem Gewinn, aber niemand belästigte ihn mehr, er brauchte keine eigenen Schutztruppen mehr, er meldete unliebsame Zeitgenossen dem Liquidationskommando, dessen Einfallsreichtum in bezug auf Todesarten unerschöpflich war, stiftete ein Waisenhaus, wurde Präsident mehrerer Wohltätigkeitsvereine und schuf sich eine weiße Weste, wie sie reiner nicht sein konnte. Selbst seinen Alleingang in New York verzieh man ihm, denn er zahlte der Mafia die hunderttausend Dollar zurück.

Bruno Salti, das war ein Name, bei dem der Gouverneur von Kalifornien sich immer die Hände rieb. Und am Pazifik baute und baute die Firma Haus nach Haus — weiße, kleine Villen für die biederen Amerikaner, die gern das Meer rauschen hören und mit der Angel zwischen den Felsen sitzen.

Das war die eine Seite. Die andere war unbekannt und lag in Chinatown und am Hafen. Hier gehörten Salti jede Menge von Nachtlokalen, Bordellen und Spielsalons, die Dirnen lieferten seinen Kassierern die vereinbarten Prozente ab, von Mexiko landeten Schmuggelschiffe in einsamen Buchten, wo die Firma Salti gerade mit Ausschachtungen für neue Ferienkolonien begonnen hatte, und in den Wettbüros für Football und Pferderennen zogen die Buchmacher schon gleich von ihrem Gewinn die Anteile für Salti ab.

Bruno Salti war überall. Er besaß sogar vier Springpferde, war ein Pferdenarr und hatte seinen Wallach >White Star< als Favorit im >Grand National Cup< gemeldet. Es war undenkbar, daß er verlor, die Wetten liefen auf Hochtouren, und wenn Salti das Geld auch nicht mehr nötig hatte — er setzte seinen Stolz darein zu gewinnen. Er mußte gewinnen! Und wenn ein Salti das sagt, gibt es gar keine andere Möglichkeit.

Aber jetzt kamen die Deutschen. Nicht Winkler, Schockemöhle, Steenken oder Jarasinski, sondern eine neue Equipe mit Nachwuchsreitern. Nur einer war darunter, dem ein Ruf vorausging, daß selbst Salti die Ruhe verlor: Horst Hartung mit seinem Pferd Las-ka.

Salti wandte sich vom Schauspiel der sich an den Klippen brechenden Ozeanwellen ab und trat in das saalartige Zimmer zurück. In einem Sessel, mit echtem französischem Gobelin bezogen, hockte ein Mann mit dem Gesicht eines Frettchens. Er rauchte, indem er die Zigarette vom linken zum rechten Mundwinkel wandern ließ und bisher stumm dem nervösen Salti zugehört hatte. Er zog die Brauen hoch, als Salti vor ihm stehenblieb und laut sagte:

«Hartung darf nicht gewinnen!«

«Nichts leichter als das. «Das Frettchen grinste breit.»Man wird glauben, er sei verdunstet.«

«Blödsinn, Joe. «Salti schüttelte den Kopf. Joe Brollio war noch ein Gefährte aus den alten Tagen des Aufbaus. Irgendwie hing Salti an ihm, obgleich er die anderen Freunde im Laufe der Jahre verunglücken ließ, weil sie zuviel wußten. Nur Brollio blieb übrig, klein, schmal, fast knochig, vertrocknet, obwohl er literweise trinken konnte. Er arbeitete bis zur Stunde für seinen Herrn, ein Dackel, der in jeden Fuchsbau kriecht. Salti verschonte ihn vielleicht, weil er aus Chivinaro kam, dem Nachbarort von Saltis sizilianischem Hei-matdorf. Manchmal leistete er sich solche Sentimentalitäten, wie er auch immer in Tränen ausbrach, wenn er irgendwo ein Bild von Sizilien entdeckte.

«Ich habe im Leben alles erreicht, weil alle meine Geschäfte so abliefen, daß die Polizei nie auf meinen Namen stieß — höchstens bei Stiftungen für ihre Waisenkasse. «Joe Brollio lachte leise.»Wir müssen Hartung anders ausschalten. Mit Ideen!«

«Die beste ist immer noch eine Frau!«

«Er soll in dieser Richtung stur wie ein Panzer sein.«

«Wir machen das Pferd krank.«

«Das ist schon in Rom mißlungen. Denk an unseren armen Bo-nelli. Um über diesen Pedro Romanowski an Laska zu kommen, muß man ihn schon in die Luft sprengen. Genau das wollen wir nicht. >White Star< soll so siegen, daß jeder daran glaubt. Er wird gegen Laska antreten! Und gewinnen, mit Bravour gewinnen!«

«Dann flieg nach Rom, bete im Petersdom und bitte um ein Wunder«, spottete Brollio. Er konnte sich das leisten, Salti nahm ihm nichts übel. Er lachte höchstens.

«Ich habe Waldon Harris herbestellt. «Salti goß sich ein Glas Rotwein ein und leerte es langsam und genußvoll.»Waldon ist der Turnierleiter. Ein anständiger Mann, nur hat er eine Geliebte, die viel Geld kostet. Jane Shrivers.«

«Oha! Etwas anderes konnte er sich nicht aussuchen?«Brollio drückte die Zigarette aus.»In Hollywood erfolglos, aber bekannt in allen Betten.«

«Waldon braucht immer Geld. Ich könnte ihn kaufen.«

«Springt Harris über die Hindernisse oder Laska?«

«Wir sollten uns etwas einfallen lassen, Joe.«

«Mit Waldon? Der steht im Glaskasten und quasselt ins Mikrophon. Warum sollten wir diesen Hartung sich nicht in San Fran-zisko verirren lassen?«

«Und wie, mein kluger Junge?«

«Wir haben doch Betty.«

«Himmel noch mal, er macht sich nichts aus Weibern! Er ist glücklich verlobt und einer jener deutschen Typen, die morgens nach dem Duschen die Treue unters Hemd schnallen. Idee gestorben.«

«Wir werden ihm Betty nicht im Bett servieren, natürlich nicht. «Brollio beugte sich vor. Wenn er dachte, wurde sein Gesicht noch runzliger, jetzt bestand es nur noch aus Falten.»Er wird bei Betty den deutschen Helden spielen! Das ist eine Rolle, der kein Deutscher ausweicht. Der Ritter vom goldenen Schwert!«

«Joe, trink einen, du redest irr!«

Brollio sprang aus dem Sessel. Er reichte Salti bis zur Schulter und war so dünn wie ein Hosenbein seines Herrn.

«Fünftausend Dollar.«

Salti tippte sich an die Stirn.»Wofür?«

«Ich bringe Hartung mit Betty zusammen, und er verschläft das Turnier.«

«Angenommen. Und ich kümmere mich mit Waldon Harris um eine Möglichkeit, daß >White Star< gegen Laska siegt. Das heißt, daß du verlierst und Hartung reiten wird.«

Joe Brollio blickte Salti versonnen an. Zum erstenmal hatte er ein merkwürdiges Gefühl in der Brust. Eine Wette ohne Gegenleistung — das war nicht Saltis Art.

«Was kann ich verlieren?«fragte er vorsichtig.

«Fünftausend Dollar.«

«Sonst nichts?«

Salti lächelte breit. Er verstand die Frage.»Du wirst an Altersschwäche sterben, Joe, genügt dir das?«

Joe Brollio nickte und verließ mit eingezogenem Kopf das Zimmer. Ein Insekt, dachte Salti, wahrhaftig ein Insekt. Wer glaubt ihm, daß er siebzehn Menschen auf dem Gewissen hat?

Das Ausladen der Pferde, die Kontrollen auf Transportschäden, das Tränken und das Umladen in die breiten, gepolsterten Turnierwagen war beendet. Romanowski zwängte sich zu Laska in den Transporter und winkte mit beiden Händen dem Fahrer ab, der auf ihn

einbrüllte.

«Quatsch du man nur amerikanisch«, sagte er gemütlich.»Ick va-steh dir nich. Ick bleibe bei Laska, ooch wenn dir de Zunge rausfällt.«

Fallersfeld hatte seine Reiter um sich versammelt und wartete auf den Kleinbus, der sie zum Hotel bringen sollte. In der Hitze flimmerten die Santa-Cruz-Berge. Das Wasser der San-Franzisco-Bay schien zu verdampfen. In der Ferne, dort, wo die Riesenstadt lag, schwebte eine Dunstglocke zwischen dem stahlblauen Himmel und den Betonklötzen. Fallersfeld wedelte sich mit einem großen Taschentuch Luft in sein gerötetes Gesicht. Der Wind, der vom Pazifik herüberwehte, brachte kaum Kühlung, nur einen warmen Luftstrom, der den Schweiß aus den Poren trieb.

«Zustand der Pferde?«fragte er knapp.

«Bisher gut. Sie haben den Transport gut überstanden. «Hartung, als Ältester so etwas wie >Sprecher< der Equipe, strahlte Zuversicht aus. Fallersfeld preßte das Taschentuch an die Stirn. In der Ferne hoppelte ein weißes Etwas heran, der Bus, vom Hotel zum Flugplatz geschickt.

«Und Laska? Es ist ihr erster großer Flug, nicht wahr?«

«Pedro war bei ihr, die ganze Zeit.«

«Hat er ihr auch einen Schnuller gegeben?«Fallersfeld dachte an den Abflug in Frankfurt. Wohlwollend hatte er Laska auf die Kruppe geklopft, und sie hatte sich bedankt, indem sie nach ihm schnappte, so schnell, daß sein Ärmel zwischen ihren Zähnen blieb.

«Für mich ist dieses Vieh gestorben!«hatte er geschrien.»Himmel noch mal, warum muß gerade dieses Aas so herrlich springen?«

«Pedro hat ihr Geschichtchen von einem Baron Fallersfeld erzählt«, antwortete Hartung.»Laska hat so gelacht, daß sie den Flug gar nicht gemerkt hat.«

«Sehr witzig. «Fallersfeld atmete auf, als der Bus vor ihnen hielt. >Hotel Sun<, stand in großen roten Buchstaben auf dem weißen Lack. Dazu ein gemaltes Bild von einem Palmengarten mit einem riesigen ovalen Schwimmbecken.»Sehr verlockend!«riefer.»Kühles Was-ser. Ich springe vom Bus direkt in den Swimming-pool! Jungs, ob die Pferde diesen Klimawechsel aushalten?«

Die deutsche Equipe stieg ein, die Türen schlugen zu, das Kühlgebläse rauschte, es wurde angenehm kälter, dann raste der Bus über die Betonpiste zum Seitenausgang des Platzes.

Dort stand im Schatten ein schneeweißer flacher Cadillac. Hinter dem Lenkrad, kaum sichtbar, hockte Joe Brollio, neben ihm saß eine üppige Blondine in einem Minikleid, das eine Provokation darstellte.

«Das ist er, Schatz«, sagte Joe und nickte zum Hotelbus.»Der da am zweiten Fenster. Mit den leicht ergrauten Haaren. Merke dir sein Gesicht gut.«

«Ein interessanter Mann. «Betty Simpson blickte dem Bus nach.»Wenn ein Mann mir gefällt, vergeß ich ihn nicht.«

Der weiße Cadillac bog langsam und lautlos in die Straße ein und folgte dem Hotelbus in weitem Abstand. Vor dem Hotel >Sun< hielt er hinter ihm, und Betty hatte Gelegenheit, Hartung genau zu betrachten. Sie schien auf den ersten Blick verliebt zu sein.

«Er könnte mich schwach machen, Joe«, sagte sie.

«Das ist genau, was er nicht soll. «Brollio stieß Betty mit dem Ellbogen in die Rippen.»Du sollst ihn ausschalten, und dabei mußt du die Stärkere sein. Baby, mach keinen Quatsch. Das kostet mich fünftausend Dollar und dich eine Woche Krankenhaus und ein neues Gesicht.«

«Schon gut. «Betty zog einen Flunsch und lehnte sich zurück.»Fahr ab, Kanaille, ich brauche einen Drink, um ins Gleichgewicht zu kommen.«

Auf der Treppe des Hotels blickte Hubert Ludens dem weißen Cadillac nach und hielt Hartung fest, der an ihm vorbeiging.

«Hast du den Wagen gesehen, Horst?«Ludens war ein Nachwuchsreiter, die neue Generation, die in den Trainingscamps heranwuchs. Seine Pferde >Frühlingswind< und >Edda< galten als die kommenden Favoriten.

«Nein. «Hartung blickte dem schnell davonschießenden Wagen nach.»Eines dieser Riesenschiffe. Gutgeschneidertes Blech.«

«Mensch, Horst, was drin saß! Weißblond! Stromlinie!«

«Gefärbt und Schaumgummi. Junge, du bist zum erstenmal in den Staaten. Hier sind Ersatzteile vier Fünftel des Lebens. Was glaubst du, wie manche Engel aussehen, wenn sie abends abschnallen?«

«Die nicht. Da war alles echt!«Ludens blieb auf der Treppe, bis der Cadillac um die nächste Ecke verschwunden war. Erst dann folgte er Hartung ins Hotel.

Sie sollten Betty noch nahe genug kennenlernen.

Das Training hatte begonnen. Die Stallzelte, die Waldon Harris der deutschen Equipe gegeben hatte, waren unter hohen Bäumen aufgebaut, verhältnismäßig kühl und groß genug, um das gesamte Material aufzunehmen. In einem Nebenzelt wohnten die Stallknechte und Dr. Rölle, der es ablehnte, sein Hotelzimmer zu beziehen.

«Ich bleibe bei den Pferden«, sagte er.»Ich habe von Rom noch die Nase voll. Ein Tierarzt hat bei den Tieren zu sein — daher der Name. «Ein weiser Ausspruch, über den Fallersfeld ein schiefes Gesicht zog und antwortete:

«Sie waren schon mal witziger, Doktor. Aber gut, pennen Sie im Betreuerzelt. Ehrlich — mir ist's auch eine Beruhigung.«

Romanowski richtete sich neben Laska ein. Das war selbstverständlich, und zu den amerikanischen Stallknechten, die wie Cowboys herumliefen, mit Lederhosen, Stetsons, breiten Gürteln, engen Stiefeln und riesigen Radsporen, sagte er, als sie lachten:»Leckt mir am Arsch, ihr nachjemachten Typen, an meene Laska kommt keener ran.«

Aber auch Romanowski akklimatisierte sich. Er kaufte sich am Abend noch einen riesigen weißen Stetson, zerbeulte ihn, als sei er schon zehn Jahre alt, und stolzierte dann im Camp herum, lässig, mit schleppendem Schritt, wie ein alter Texasrancher. Selbst Las-ka lachte — als Pedro mit seinem Cowboyhut in den Stall kam, wieherte sie hell, warf den Kopf hoch und bleckte die Zähne.

«Keen Jeschmack haste!«schrie Romanowski sie an.»Wat kann ma von 'nem Jaul wie dir ooch anders erwarten!«

Das tägliche Üben, die Arbeit an der Longe, an den Cavalettis, den Hindernissen, im Gelände. Die Pflege der Pferde, die Futterzusammenstellung, für die Dr. Rölle maßgebend war, das Gewöhnen an das neue Klima, die Gehorsamsübungen und immer wieder Lockerungstraining, leichte Sprünge, das Entkrampfen der Muskeln — vier Tage lang, morgens und nachmittags, unter den wachsamen Augen Fallersfelds und des Trainers Hein Adams. Am Morgen ritt Hartung selbst seine Laska, am Nachmittag saß Romanowski im Sattel, ein Bild, das jeder der deutschen Equipe filmte, denn Pedro ritt mit seinem großen weißen Cowboyhut und tippte sich vor jedem, der lachte, an die Stirn.

Vier Tage lang beobachteten Joe Brollio und Betty Simpson die deutschen Springreiter aus der Ferne. Schließlich wußten sie die genauen Trainingszeiten und die Stunden, in denen Hartung das pflegte, was er >Privatleben< nannte. Sie fuhren ihm unbemerkt nach und stellten fest, daß Hartung systematisch die Riesenstadt San Franzisko erkundete. Er fuhr mit den an einem Drahtseil gezogenen Straßenbahnen die steilen Straßen hinauf, stand über eine Stunde auf der Golden Gate Bridge und beobachtete den Schiffsverkehr, bummelte durch die verschiedenen Viertel und fotografierte das bunte Menschengewimmel und die oft bizarren Fassaden der Häuser und Lokale.

«Das ist deine Chance, Betty«, sagte Joe Brollio am vierten Tag.»Morgen muß die Sache klappen. Wenn du ihn vierundzwanzig Stunden festhältst, ist dein Näschen um tausend Dollar goldener.«

Bruno Salti war davon nicht so überzeugt.»Wo ist seine Braut?«fragte er, als Joe ihm Bericht erstattete.

«Braut?«Brollio staunte ehrlich.»Nichts gesehen.«

«Aber sie kommt. Sie reist ihm zu jedem Turnier nach. Ich habe genaue Informationen aus Europa. Eine bittersüße Liebesgeschichte. Sie will, er will, aber die Reiterei läßt ihnen keine Zeit. So taucht sie überall auf, wo er ist, um zu zeigen, daß sie zumindest

Zeit hat. Steter Tropfen, der den Stein höhlen soll. Und gerade hier ist sie nicht aufgekreuzt?«

«Wir haben Hartung nur allein gesehen.«

«Sehr verdächtig. Wenn sie heute oder morgen erscheint, ist dein Plan nur ein müdes Lächeln wert.«

«Morgen ist Hartung schon mit Betty zusammen.«

«Abwarten. Ich habe meine Sicherungen schon eingebaut. «Salti rieb sich die Hände. Manchmal konnte er sich kindlich freuen über etwas, das eigentlich banal war und das er sich ausgedacht hatte.»Waldon Harris steckt bis zu den Haarwurzeln in Schulden. Als ich ihm fünftausend Dollar anbot, hätte er fast ein Hallelujah gesungen. Er ist zu allem bereit, wenn es nur nicht auffällt. Und dafür habe ich gesorgt. Komm mal mit.«

Salti führte Brollio in einen Nebenraum. Dort war das Modell eines Springhindernisses aufgebaut, ein Oxer mit drei Stangen. Joe verzog das faltige Gesicht.

«Springst du da jetzt drüber? Trimm dich, Bruno!«

Salti grinste zurück. Für diese Art von Humor hatte er Verständnis. Er winkte Brollio und dirigierte ihn an die Seite des Hindernisses.

«Siehst du etwas, Joe?«

«Nein. Doch — ja. Wenn ich die obere Stange antippe, fällt sie 'runter. Sie liegt nur lose in der Halterung.«

«Idiot. Das ist normal. Sonst gäbe es ja keine Abwürfe. Aber jetzt nimm einmal an, diese Laska hüpft drüber. Immer ein paar Zentimeter höher als die Stangen, was dann?«

«Null Fehler und Sieg.«

«Normalerweise — ja. Aber hier nicht. Sie kann über die Hindernisse fliegen wie eine Taube, die Stange fällt.«

«Vom Luftzug?«

«Joe, du bist ein Mensch ohne Phantasie. Auf dem Parcours stehen vierzehn Hindernisse. An jedem Hindernis passen zwei Mann auf, daß auch alles in Ordnung ist. Diese achtundzwanzig Burschen hat Waldon Harris engagiert. Jeder von ihnen erhält ein Pflaster von hundert Dollar, dafür sind sie stumm wie Maulwürfe. Sie haben nur eine Aufgabe — immer eine Stange mehr fallen zu lassen als bei den anderen Reitern, wenn Laska auf dem Platz ist. In der Praxis: Macht >White Star< vier Fehler, macht Laska acht. Eine einfache Rechnung. Und bei allen anderen Pferden ist's genauso. Jedes macht mehr Abwürfe als >White Star<.«

«Sollen die Jungs die Stangen anpusten oder >huh-huh< machen, wenn die Pferde drüberspringen?«

«Viel einfacher, Joe. «Salti war sichtlich stolz auf seine Idee. Er zeigte auf einen fast unsichtbaren Nylonfaden, der aus dem Gewirr der Stangen und Büsche heraushing. Wer es nicht wußte, bemerkte ihn nie.

«An diesem Fädchen hängt alles, nämlich die obere Stange. Setzt Laska über das Hindernis und hat einen Abwurf gut, zieht der Bursche am Hindernis ganz kurz am Faden, und die Stange fällt. Da er mit seinem Kollegen die Stange wieder auflegt, ist niemand da, der das merkt. In der Tasche haben alle achtundzwanzig Boys einen Summer, der von mir ferngesteuert wird. Soll das Hindernis fallen, brummt es bei ihnen, und sie wissen: Hundert Dollar, Junge

— zieh an dem Nylonfaden. «Salti führte es vor — ein unsichtbarer Ruck, und die Stange polterte auf den Boden.»Na?«fragte er stolz.

Brollio starrte auf die gefallene Stange, auf die so blödsinnig einfache Konstruktion und schüttelte den Kopf.

«Genial«, sagte er.

«Und was soll das Kopfschütteln?«

«Daß ich nicht darauf gekommen bin!«

Bruno Salti lachte zufrieden, faßte Brollio um die Schulter und schob ihn aus dem Zimmer. Dann tranken sie eiskalten Campari und waren sich sicher, daß >White Star< den >Grand National Cup< gewinnen würde. Das gewettete Geld war unwichtig, es ging nur um den Triumph.

Chinatown ist ein Stadtteil von San Franzisko, durch den am Tage und auch in der Nacht ein Weißer spazieren kann, ohne Gefahr, für immer zu verschwinden oder krankenhausreif geprügelt zu werden. Ganz im Gegensatz zu New Yorks Harlem, wo ein Weißer allein nur ein Selbstmörder sein kann. Die Chinesen sind freundliche Menschen, nur auf ihr Geschäft bedacht, sie wollen verdienen, weiter nichts. Warum auch? Der große Laotse hat gesagt, daß Friedfertigkeit eine Stufe der Glückseligkeit auf Erden ist. Und so duftet Chinatown tagaus, tagein rund um die Uhr nach allen Gerüchen Asiens, nach gebratenem Fisch und Hühnern, Curryreis und Pfefferschoten, gedämpfter Ananas und gesottenem Hammelfleisch.

Horst Hartung bummelte durch diesen bunten Stadtteil, fotografierte, trank bei einem alten Chinesen, der sich ein dutzendmal verbeugte, ein Glas Dortmunder Bier, besuchte ein chinesisches Schattentheater und nahm sich dann vor, in einem der Lokale chinesisch zu Abend zu essen.

Morgen war das Turnier. Es sollte ein kurzer Abend werden. Hartung schlief gern lange vor einem Parcours, um Kraft zu sammeln für die Stunden, in denen Millionen Augen auf ihn gerichtet waren, im Stadion, vor den Fernsehgeräten, in den Illustrierten und Zeitungen.

Horst Hartung auf Laska — vier Worte, die bereits die ganze Welt kannte.

Er hatte gerade das Schattentheater verlassen und ging langsam die Straße hinunter, als ein blondes Mädchen mit flatternden, aufgelösten Haaren um die Ecke lief, mit ausgebreiteten Armen auf ihn zustürzte und sich laut weinend und verzweifelt an ihn klammerte.

«Hilfe!«schrie das Mädchen. In ihren Augen stand Angst.»Hilfe! Bitte helfen Sie mir, Sir. Zwei Männer… sie kommen gleich… sie wollten mich. «Ihre Stimme erstickte in Schluchzen.»In einem Hausflur wollten sie. Ich konnte mich losreißen, aber sie rannten hinterher, zwei Gelbe. Hilfe! Hilfe!«Zitternd preßte sie das Gesicht an seine Brust.

Wie Joe Brollio vorausgesagt hatte, regte sich in Hartung die Ritterlichkeit. Er legte die Arme um das weinende Mädchen und war-tete auf die beiden Verfolger. Aber die kamen nicht. Hartung war darum nicht böse, denn er hatte keine Lust, sich hier in Chinatown mit zwei Chinesen zu prügeln. Weit und breit war kein Polizist zu sehen.

«Es ist alles vorbei«, sagte er. Sein Englisch war so vorzüglich, als sei er irgendwo in den Staaten geboren.»Sie kommen nicht mehr.«

«Sie schneiden uns den Weg ab! Sie kennen die Gelben nicht! Ganz Chinatown ist eine Höhle. Plötzlich stehen sie in irgendeiner Haustür und fallen über uns her. «Das Mädchen zitterte noch stärker.»Ich habe Angst, Sir, Angst. Bitte, bitte bringen Sie mich nach Hause!«Sie hob den Kopf. Ihr tränenüberströmtes Gesicht war puppenhaft. Erst jetzt spürte Hartung ihre vollen, straffen Brüste, die sich gegen ihn preßten.»Ich wohne am Meer. Ein kleiner Bungalow. Bitte, lassen Sie mich nicht allein!«

Es klang so ängstlich, daß Hartung aus voller Überzeugung den Ritter weiterspielte. Er winkte einem Taxi, und beide stiegen ein. Der Fahrer schwieg. Ein heulendes Girl, ein Kavalier — sorry, wen geht das was an? Sie sah nicht so aus, als habe sie gerade die Unschuld verloren.

«Zur Playa da Sole«, sagte das Mädchen. Sie putzte sich die Nase und lächelte Hartung dankbar an. Das Taxi raste zum Meer. Der Fahrer wußte Bescheid. Die weißen Häuschen am Felsstrand — Ruhesitze von Beamten und Liebesnester von teuren Girls. Eine verrückte Mischung. Moralverein und Bordell nebeneinander.

Eine typische Salti-Siedlung.

«Ich heiße Betty Simpson«, sagte sie, als das Schluchzen aufhörte. Es war eine Glanzleistung von Betty, aber Hollywood hatte sie immer noch nicht entdeckt.

«Horst Hartung.«

«Oh!«Sie riß die blauen Augen weit auf.»Sie sind das?«

«Sie kennen mich?«

«Aus der Zeitung, vom Fernsehen. Der Reiter aus Germany, nicht wahr? Sie haben vorgestern ein Interview für die BFC gegeben?«

«Stimmt.«

«Ich bewundere Sie. Ich habe die Trainingssprünge gesehen. Phantastisch. Wissen Sie, ich liebe Pferde, und wenn sie so über die Hindernisse fliegen. Und ausgerechnet Sie — das ist Glück im Unglück, Sir.«

Der Fahrer lächelte still vor sich hin. Die versteht ihr Geschäft. In fünfzehn Minuten säuselt sie ihm die Dollar aus der Tasche. Sie fuhren jetzt auf der Küstenstraße nach Süden. Die ersten Kolonien der weißen Bungalows tauchten schon zwischen den Klippen auf.

Horst Hartung genoß ahnungslos die Fahrt, die Gegenwart des Mädchens, das unverbindliche Abenteuer, wie er dachte. Angela Die-pholt kam nicht nach San Franzisko. Sie hatte ein Telegramm geschickt.»Vater krank. Muß leider hierbleiben. «Zum erstenmal war sie nicht am Rande des Parcours. Hartung kam sich irgendwie verwaist vor, auch wenn er immer geschimpft hatte über diese Verfolgung aus Liebe<. Nun fuhr er mit einer lebendigen Puppe am Pazifik entlang, und er hatte sie vor zwei Wüstlingen gerettet.

Der Wagen stoppte.»Ist es hier?«fragte der Fahrer.

«Ja, hier können Sie halten. «Betty sprang aus dem Auto, Hartung bezahlte vier Dollar und wollte gerade sagen:»Warten Sie!«, als das Taxi anfuhr und wegbrauste. Wer hier ausstieg, hatte Zeit.

«Sie waren so nett zu mir«, sagte Betty. Ihr Augenaufschlag hätte geeiste Butter geschmolzen.»Darf ich Sie zu einem Drink einladen? Man trinkt nicht jeden Tag mit einem Horst Hartung.«

Hartung sah auf seine Armbanduhr. Eine Stunde höchstens, dachte er. Dann ins Bett, fest geschlafen bis neun Uhr früh, gut ge-frühstückt und hinaus zum Platz. Dort brauche ich meine Nerven, denn Laska spürt sofort, wenn etwas nicht stimmt. Sie ist empfindlich wie ein Seismograph.

Betty verstand den Blick auf die Uhr falsch.»Nur ein Gläschen«, flötete sie.»Ich bin ja so froh, in Sicherheit zu sein. «Sie ging voraus, wippte mit dem Po und zog alle Register. Hartung folgte ihr. Sein Blick streifte über die Schönheit der Küste, die Klippen, das anbrandende Meer, die weißen Jachten auf dem Pazifik. Dann wunderte er sich über die Einrichtung des kleinen Bungalows. Sie war teuer, geschmackvoll, modern und farblich aufeinander abgestimmt. Salti hatte den besten Innenarchitekten mit der Ausstattung beauftragt. Hier verbrachte er ab und zu eine Nacht mit einem Girl, das für ihn nicht mehr bedeutete als ein Glas Wein. Mädchen, die er auf der Straße oder in den Lokalen auflas. Zufallsbekanntschaften, die auch so behandelt wurden. Aber der Rahmen mußte nach >Salti rie-chen<, wie er sagte.

«Wunderschön«, meinte Hartung und setzte sich auf die breite weiße Ledercouch. Der Blick auf das Meer durch das große Terrassenfenster war hinreißend.»Sie leben allein hier?«

«Ich bin Mannequin. «Betty mixte an der Bar zwei Cocktails in langen, schlanken Gläsern. Long Drinks, die mit viel Eis jetzt gerade richtig waren. Für Hartungs Glas benutzte sie ein Mixrezept, das von Joe Brollio stammte. Um die Gläser nicht zu verwechseln, steckte sie einen roten Rührquirl hinein. Mit strahlendem Gesicht setzte sie sich neben Hartung.

«Ich zittere innerlich noch vor Aufregung«, sagte sie.»Nie mehr gehe ich allein durch Chinatown! Wenn Sie nicht zufällig. Cheerio!«

Sie prostete ihm zu, Hartung nahm sein Glas, es fühlte sich herrlich kalt an, die Eiswürfel schwammen auf der rosa Flüssigkeit.»Wie heißt das Getränk?«fragte er.

«Mexikanische Nacht.«

«Klingt verlockend. Auf Ihre Rettung, Miss Simpson.«

Hartung trank. Es tat ihm gut, erfrischte, belebte ihn. Mit drei Zügen war das Glas leer, nur die Eiswürfel klirrten noch. Betty beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Nanu, er fällt nicht um? Hat Joe ein falsches Fläschchen erwischt? Stimmte die Zusammensetzung nicht? Wenn irgend etwas schieflief — Angst kroch in ihr hoch, denn Joe war ein Mann, den ein praller Busen nicht von Grausamkeiten ablenkte.

Hartung war fröhlich. Er erzählte vom Turniersport, von Abenteuern, die Betty mit» Oh «und» Ah «kommentierte — und plötzlich, als habe man den Tonarm von einer Schallplatte genommen, verstummte er und fiel seitlich von der Couch auf den dicken Teppich.

«Endlich!«sagte Betty erlöst.»Da hat er wieder ein Teufelsding auf Lager gehabt.«

Sie ließ Hartung liegen, schob ein Eisengitter vor die Terrassentür, ließ alle Fensterläden, die elektrisch reagierten, herunter und nahm den Schlüssel der Schaltung an sich. Um ganz sicher zu gehen, knüpfte sie um Hartungs Hände und Füße zwei Stricke und verließ dann das Haus.

Oben auf der Straße wartete ein weißer Cadillac. Joe Brollio steckte den Kopf durch das heruntergekurbelte Fenster.

«Alles okay, Baby?«rief er.

«Alles. Er träumt selig. Tausend Dollar her, Joe.«

«Bei Salti. Er wird sauer sein wie eine eingelegte Gurke.«

Aber Bruno Salti war durchaus nicht sauer, zahlte aber auch die fünftausend Dollar nicht.

«Nach dem Sieg von >White Star<, Freunde«, sagte er jovial.»Bis morgen mittag kann noch viel passieren. Ich zahle bei solchen windigen Geschäften nie im voraus.«

Manchmal hat man eben Vorahnungen.

Horst Hartung schlief fest bis zum nächsten Morgen. Niemand vermißte ihn, denn jeder in der Equipe wußte, daß er den Rest des Tages mit >Landerforschung< ausfüllte, wie es Fallersfeld nannte. Er war vor seinem Ausflug nach Chinatown noch auf dem Abreiteplatz gewesen, hatte Laska begrüßt, ein paar Runden geritten und war zufrieden mit ihr. Sie hatte den Flug gut überstanden, ging gehorsam, sprang wie ein Floh und ärgerte sogar Romanowski nicht. Dr. Röl-le untersuchte sie zum letztenmal, hörte sie ab, kontrollierte Hufe, Fesseln und alle Sprunggelenke.

«Topfit«, sagte er.»Aber mir gefällt sie trotzdem nicht. Haben Sie gesehen? Ich durfte ihren geheiligten Körper berühren, ohne daß sie nach mir biß oder trat. Irgendwie ist sie doch nicht in Ordnung.«

Hartung und alle anderen Reiter lachten. Sogar Fallersfeld, der schon viermal gebissen worden war. Die Stimmung war also blendend, und die Chancen der deutschen Equipe stiegen. In der Presse wurden sie zu den heimlichen Favoriten.

Es war fast zehn Uhr morgens, als Hartung erwachte. Zunächst wußte er gar nicht, wo er war, dann spürte er Kopfschmerzen und Ohrensausen, Übelkeit und Schlaffheit in allen Gliedern. Er versuchte, sich zu erheben, aber die Fesseln ließen das nicht zu — er rollte zurück. Da erst wurde er völlig wach, erinnerte sich und erkannte klar seine Lage.

«Ich Rindvieh«, sagte er.»Tappe in diese Falle wie ein Blinder.«

Er beugte sich vor, sah aufseine Uhr und erschrak. In einer Stunde mußte er auf dem Parcours sein. Longieren, abreiten, Lockerungsübungen, noch einmal Schrittübungen über die Cavalettis.

Er versuchte es zunächst mit Gewalt, zerrte an den Fesseln, aber sie gaben nicht nach, obwohl Betty sie dilettantisch geknüpft hatte. Dann rollte er sich über den Teppich zu einem schweren Schrank und begann, die Fesseln an den Vorsprüngen der geschnitzten Schrankfüße zu lockern.

Immer und immer wieder, mit verzweifelter Geduld, schabte er die Stricke über das Schnitzwerk und spürte, wie sich die Fesseln um die Handgelenke lockerten. Schließlich konnte er hinausschlüpfen und befreite auch seine Füße.

Aber das Haus selbst erwies sich jetzt als Gefängnis. Stahlrolläden, ein Scherengitter, dicke Türen. Hier wäre man selbst mit einem Brecheisen nicht weitergekommen.

Hartung lief durch den kleinen Bungalow und suchte ein geeignetes Werkzeug. Ein lächerlicher kleiner Hammer lag im Werkzeugkasten, eine Zange, ein Schraubenzieher. Aber auch ein Lötkolben.

Hartung steckte die Schnur in die Steckdose, heizte den Kolben aufund begann dann, um das Haustürschloß herum das Holz wegzubrennen.

Wer jemals mit einem Lötkolben gearbeitet hat, kann ermessen, wie mühsam das war. Das Holz wurde zunächst nur braun, der verbrannte Lack stank bestialisch, aber von einem tieferen Einbrennen war keine Rede.

Doch Hartung gab nicht auf. Er arbeitete sich durch das Holz, es war, als weiche er es auf, um es dann mit dem Schraubenzieher weiter zu durchbohren. Endlich, nach über einer Stunde, war er durch

— ein Loch, so groß wie der Schraubenzieher. Aber der Weg war frei. Mit dem Hammer schlug er jetzt das Schloß heraus, wobei er den Schraubenzieher als Meißel benutzte. Als die Tür aufsprang, war er schweißgebadet und völlig ausgepumpt. Die Betäubung lag ihm noch in den Gliedern — die ersten Schritte in der Morgenluft waren wie Gehübungen eines Schwerkranken.

Sie sind schon alle auf dem Platz, dachte er, als er wieder auf seine Uhr blickte: Fallersfeld wird dumme Witze machen. Kaum ist seine Braut nicht da, entdeckt Hartung den Wüstling in sich. Mein lieber Baron, wenn du wüßtest, was für ein Riesenrindvieh ich gewesen bin!

Er schwankte über die Straße in Richtung San Franzisko. Neun Wagen überholten ihn, der zehnte hielt an, und ein junger Mann mit Beatlemähne sah aus dem Fenster.

«Trainieren für Marathonlauf?«fragte er.

«Nein. Ausgesetztes Waisenkind.«

«Dann steigen Sie ein, Mister. Ich habe auch keinen Papa und keine Mama mehr.«

So kam Hartung nach San Franzisko zurück. Der junge Mann, er war Graphiker bei einer Werbefirma, setzte ihn am Bahnhof ab.

Mit aufheulendem Motor brauste er weiter.

Hartung nahm ein Taxi, fuhr zum Hotel und stellte sich unter die kalte Brause. Dann trank er ein Kännchen Mokka, rasierte sich, zog seine Turnierkleidung an und fuhr mit dem Lift hinunter in die Halle. Dort stand — immer zur unrechten Zeit — Fallersfeld und unterhielt sich mit einem älteren Herrn, der sehr vornehm aussah.

«Oh, Hartung!«rief der Herr begeistert, und Fallersfeld fuhr herum. Sein Blick auf die Hoteluhr sagte alles.

«Passen Ihnen die Stiefel noch, Horst, oder fallen sie 'raus?«knurrte er.»Nicht, daß Ihnen beim ersten Sprung der Puder aus den Ohren fliegt.«

Hartung schwieg. Er machte eine kleine Verbeugung vor dem vornehmen Herrn, rannte aus dem Hotel und fuhr mit dem Taxi zum Parcours. Romanowski arbeitete Laska durch, der gute, treue Pedro.

Er hielt sofort an, als er Hartung sah.»Herrchen«, riefer und rieb sich die Hände,»det war'n Erlebnis. Ick schlafe bei dem ollen Luder hier, und plötzlich steht eener im Stall. Vor meener Box. Ick raus wie'n geölter Furz, keene Frage, knall ihm eene in de Fresse, der Kerl schlägt 'nen Purzelbaum, und weg is er. Ick habe darauf det Licht anjelassen und mit mich selber Skat jespielt bis zum Morgen. Die Halunken. Wollen det so machen wie in Rom! Nich mit Romanowski!«

«Schon gut, Pedro. Red nicht drüber.«

«Tu ick ooch nicht. Wollen Herrchen jetzt aufsitzen?«

«Nein. Reite du Laska ab. «Hartung lehnte sich an einen Baum. Trotz kalter Dusche und Mokka war die Müdigkeit noch in ihm. Er streichelte Laska die Rammsnase, küßte sie auf die weichen Nüstern und sagte:»Guten Morgen, mein Mädchen!«

Laska schnaubte, rieb den Kopf an seiner Brust und leckte ihm die Hand. Es war eine Liebe zwischen den beiden, wie es sie selten gab.

Nach dem Abreiten blieb Hartung in der Nähe Laskas. Fallersfeld suchte ihn, fand ihn natürlich und fragte knapp:

«Alles weg aus dem Kreuz?«

«Alles drin, Baron.«

«Horst, kein Weibsbild?«

«Keins.«

«In Ordnung. «Fallersfeld lächelte.»Es gibt für Laska nur einen Gegner. >White Star<.«

«Ich weiß.«

«Er springt wie ein Gummiball.«

«Der Parcours wird's zeigen.«»Dann Hals- und Beinbruch, Horst. Die Auslosung hat ergeben, daß du immer nach >White Star< reitest.«

Auf dem riesigen Platz, in typisch amerikanischen Ausmaßen, saßen bereits Tausende von Menschen. Eine Militärkapelle spielte Märsche. Dazu paradierte eine Kompanie bunt uniformierter Mädchen und exerzierte mit goldlackierten Stäben.

Auf der Haupttribüne, in seiner Loge, trat Bruno Salti ein. Joe Brollio und Betty folgten ihm. Waldon Harris, der Turnierleiter, begrüßte ihn von weitem mit Handzeichen, die nur er und Salti verstanden.

Alles okay. Die Hindernisse sind präpariert. Die Nylonschnürchen baumeln. Die achtundzwanzig Jungen sind auf dem Posten.

«Er hat die doppelte Dosis bekommen«, sagte Joe leise zu Salti.»Betty, das Schaf, hat ein großes Glas gemixt. Hartung wird bis morgen mittag schlafen, wenn er überhaupt wieder aufwacht. Weiß man, wie stark sein Herz ist?«

«Das ist euer Problem. «Salti setzte sich und winkte einer Eisverkäuferin.»Mich interessiert jetzt nur noch >White Star<.«

Die ersten Umläufe waren vorbei. Acht Fehler, zwölf Fehler, ein Ausscheiden wegen zweimaliger Verweigerung, acht Fehler, vier Fehler. Salti notierte sich das sofort. Roger Delange, Frankreich. Beim zweiten Umlauf bekam er unter Garantie zwölf Fehler.

«White Star.«

Er sprang wie ein weißer Blitz. Der Reiter, James Hucheby, führte den Wallach vorzüglich. Das Publikum jubelte, schrie bei jedem genommenen Hindernis auf, klatschte wie verrückt, als >White Star< mit null Fehlern aus der Bahn trabte.

«Jetzt kommt die große Pleite«, flüsterte Salti. Er schwitzte wie in der Sauna.»Jetzt gehen die Deutschen baden.«

Im Turnierturm versuchte Waldon Harris vergeblich, Kontakt mit Salti zu bekommen. Für einen Boten war es zu spät, selbst zu laufen war zu auffällig, die Summergeräte in den Taschen übermittel-ten nur Befehle, die Stangen fallen zu lassen.

O Himmel, dachte Harris. Wenn jetzt die Ansage kommt — Salti wird verrückt.

Die Stimme im Lautsprecher klang klar und nüchtern.

«Als nächster Reiter mit der Nummer 15: Horst Hartung auf Las-ka.«

Salti saß unbeweglich, starr, wie versteinert. Er wurde nicht verrückt, er tobte nicht. Dafür erbleichte Joe und kniff Betty in den Oberschenkel.

«Was ist da los?«zischte er.

Betty schossen die Tränen in die Augen.»Weiß ich es? Vielleicht ist es ein Bluff.«

Es war kein Bluff. Hartung ritt ein. Laska tänzelte.

«Fünftausend Dollar im Eimer«, sagte Salti trocken.»Joe, du wirst doch alt. Ich hatte wieder mal recht. Verlaß dich nie auf Weiber! Jetzt bin ich am Zug.«

Überflüssig zu sagen, wie Laska sprang, wie Hartung sie führte. Es war ein Augenschmaus. Sie nahm die Hindernisse, als seien sie gar nicht vorhanden das war ein federnder Galopp, ein Schweben in der Luft, ein zierliches Aufsetzen, daß die vierzigtausend Zuschauer zu trampeln begannen.

Der Oxer. Das Holsteiner Tor. Die Steinmauer. Wassergraben. Hochweitsprung. Buschoxer. Doppelrick. Der Wall. Die Ziegelmauer. Der Zaun.

Null Fehler. Und in der Zeit >White Star< auch voraus.

Salti drückte auf eine Stelle an seinem Jackett. Irgendwo da unten auf dem Parcours brummte in der Tasche eines Burschen der Summer.

Nylonfädchen ziehen.

Die Dreierkombination. Laska überflog sie unter vieltausendstimmigen Jubelschreien. Und da — beim letzten Oxer fiel die Stange. Totenstille senkte sich über das Stadion. Hartung blickte zurück, begriff das nicht. Tatsächlich, die Stange lag auf dem Rasen und wurde gerade wieder aufgelegt. Auch Laska wackelte mit den Ohren.

Ich war es nicht, nein, ich war es nicht.

«Ruhe, Mädchen, Ruhe«, sagte Hartung zu ihr.»Kann ja vorkommen. Wir haben noch einen Umlauf.«

Noch vier Hindernisse. Ein Steilsprung von 1 Meter 75.

Genaue Berechnung der Schritte, jetzt, Laska, jetzt, Absprung! Ein Strecken des Körpers, das Gefühl der Schwerelosigkeit — hinüber.

Und die oberste Stange fiel.

«Er hat se nich berührt!«brüllte Romanowski an der Sperre.»Die nich und die erste ooch nich. Ick hab's jenau jesehen! Laska is drüber, ick hätt die Hand drunter halten können. Da is'n Trick jelaufen! Protest, Protest!«

Acht Fehler für Hartung mit Laska.

Es gab keinen Zweifel, die Stangen lagen unten. Das allein gilt, nichts anderes. Nicht, was einer gesehen hat, sondern was herunterfiel.

Acht Fehler.

Hartung stieg ab und sprang fast in die Arme Fallersfelds.

«Also doch Weiber!«knirschte er.»Keine Kraft mehr, den Gaul 'rüberzudrücken. Der Sieg ist weg, retten wir den zweiten Platz!«

Bruno Salti war zufrieden. Sein System funktionierte vorzüglich. Kein Pferd hatte null Fehler, nur >White Star<.

«Das laß ich mir durch die Cosa Nostra patentieren«, sagte er fröhlich zu Joe Brollio.»Damit kann man Millionen machen!«

Der zweite Umlauf.

>White Star< sprang acht Fehler — eine Katastrophe, die Salti gelassen hinnahm. Von jetzt an summte es rundherum an allen Hindernissen, die Stangen fielen wie reife Birnen, die Rundfunk- und Fernsehreporter sprachen von einem mörderisch schweren Parcours, der den Pferden alles abverlangte, und als Laska erschien, senkte sich wieder gespanntes Schweigen über die Menschen.

Sie muß es schaffen. Das Wunderpferd aus Germany.

Aber San Franzisko schien es in sich zu haben. Laska riß dreimal — zwölf Fehler gegen acht von >White Star<.

Der Sieger stand fest.

Hinter der Sperre tanzte Romanowski herum wie ein Irrer.»Schiebung!«brüllte er.»Ick hab uffjepaßt. Wie'n Schießhund. Laska hat nie berührt. Beim Doppeloxer fiel de Stange, da war se schon uffn Weg zum Wassergraben. Schiebung!«

«Seien Sie still, Pedro«, knurrte Fallersfeld.»Man muß auch verlieren können. Kopf hoch, Jungs. Der dritte Platz ist ganz schön. Immer nur siegen ist langweilig, sagte schon Napoleon.«

Nach der Siegerehrung rannte Romanowski auf den Parcours. Beim Doppeloxer, wo er's genau gesehen haben wollte, stellten sich ihm die beiden Hinderniswärter in den Weg.

Aber wer kann einen Romanowski aufhalten, wenn er wie ein Stier ankommt? Es gab ein Handgemenge, die beiden Burschen flogen zur Seite, und ehe sie Romanowski erneut festhalten konnten, war er beim Hindernis und sah sofort den dünnen Nylonfaden. Er zog daran — und siehe da, die Stange polterte ins Gras, ohne daß ein Pferd in der Nähe war.

«Det habt ihr euch jut ausjedacht«, sagte Romanowski leise. Er duckte sich, schlug zweimal zu und hatte danach Ruhe.

Die Sensation am nächsten Tag war groß. >White Star< wurde nachträglich disqualifiziert, aber auch die Ergebnisse der anderen Reiter galten nicht, denn alle Fehler waren ja manipuliert gewesen. An eine Wiederholung war nicht zu denken, das Stadion gehörte jetzt den Football-Kämpfen. So wurde der riesige Pokal wieder in einen Tresor verschlossen.

«Bis zum nächsten Jahr«, hieß es.

Die Presse stürzte über diese Schiebung her, Rundfunk und Fernsehen hatten ihre Millionenberichte. Aber alles verlief im Sand. Wer die Idee mit den Nylonfäden gehabt hatte, man erfuhr es nie. Die achtundvierzig Hinderniswarte schwiegen wie die Fische. Mit Salti als Feind war das Leben verdammt kurz.

Aber die Amerikaner waren clever. Fünf Rundfunkanstalten finanzierten ein Privatturnier. Auf einer Wiese, die einem Fernsehboß gehörte, wurden die gleichen Hindernisse wie auf dem Parcours aufgebaut, dann surrten die Kameras, und vierzig Millionen Fernsehzuschauer erlebten mit, wie Horst Hartung mit Laska diese Hindernisse fehlerlos nahm.

«Das ist die Wahrheit«, sagte der Fernsehkommentator.»Wir sind es unserem Land schuldig, das festzustellen. Wir danken der deutschen Mannschaft, sie waren wirkliche Sportsleute.«

Gibt es in Amerika ein größeres Lob?

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