Pünktlich um acht, wie es am Abend vorher bestellt worden war, brachte der Etagenkellner das Frühstück. Er klopfte an die Tür von Zimmer 245, wartete auf einen Zuruf, klopfte nochmals und drückte dann die Klinke herunter. Die Tür war unverschlossen.
«Monsieur, das Frühstück«, sagte der Etagenkellner und blieb im Vorraum stehen. Er stützte sich auf den kleinen Servierwagen und lauschte. Diskretion ist die Grundvoraussetzung für jeden Hotelberuf. Ob man ein Doppel- oder ein Einzelzimmer betritt, Überraschungen sind dazu da, übersehen oder am besten vermieden zu werden.
Der Kellner räusperte sich, klopfte an die gläserne Trenntür zum Schlafraum und wartete weiter. Mon Dieu, er hat einen gesunden Schlaf, dachte er. Vor einer halben Stunde ist er von der automatischen Weckanlage geweckt worden, und jetzt schläft er immer noch. Muß ein hartes Leben sein, so ein Reiterdasein.
In dem kleinen Hotelappartement war es still. Kein Geräusch des Wasserhahns, kein Planschen im Badezimmer, nur die Ruhe einer in den Morgen übergehenden Nacht.
Der Etagenkellner entschloß sich, die Glastür zu öffnen, den Servierwagen hineinzuschieben und schnell wieder zu verschwinden. Er hatte schon Situationen erlebt, die man gar nicht schildern konnte. Ein so berühmter Mann wie Horst Hartung, mit einem Aussehen, daß selbst die verwöhnten Zimmermädchen der zweiten Etage zu schwärmen begannen, warum sollte er anders sein als die meisten Männer, die allein nach Paris kommen?
Paris im Sommer, das ist der Inbegriff von Leben. Das sind son-nendurchglühte Boulevards, blühende Gärten, Angler an den Sei-neufern, durchsichtige Kleidchen, mit Menschen übersäte Wiesen, ein Troß von Kinderwagen, Kühle spendende Brunnen, ein Hauch von Blüten und heißen Benzindünsten.
Der Etagenkellner betrat das Zimmer. Nanu, dachte er. Das Bett ist unberührt, aufgeschlagen, wie es das Zimmermädchen abends herrichtet. Der Schlafanzug lag ausgebreitet, aber unbenutzt auf dem Kopfkissen. Monsieur Hartung ist gar nicht nach Hause gekommen. Wer weiß, wohin ihn das Glück verschlagen hat?
Er fuhr den Servierwagen mit dem Frühstück vor das Bett, denn bestellt ist bestellt, deckte den kleinen Tisch am Fenster, stellte eine kleine Vase mit blaßrosa Moosröschen zwischen Marmelade und Schinkenplatte — eine Aufmerksamkeit der Hotelleitung, denn Blumen am Morgen schaffen eine Atmosphäre von Zufriedenheit und Wohlbefinden, blickte dann noch einmal auf das unberührte Bett und verließ so diskret das Appartement, als habe er Hartung in den Armen einer unbekannten Schönen aufgeweckt.
Um neun Uhr rief Fallersfeld bei Hartung an. Er ließ dreimal durchklingeln und legte dann knurrend auf.
«Das gibt es doch nicht«, sagte er.»In einer halben Stunde beginnt das Training. «Er steckte sich eine Zigarre an, rauchte vier Züge und machte sich dann auf den Weg zu Zimmer 245. Es lag auf einem anderen Gang. Fallersfeld spazierte an einer Reihe von Zimmern vorbei, deren Türen offenstanden und aus denen schon das Geräusch der Staubsauger klang, blieb dann vor Hartungs Zimmer stehen und klopfte laut an.
Keine Antwort. Fallersfeld schüttelte den Kopf, hatte weniger Skrupel als der Etagenkellner, betrat ohne weitere Anmeldung das Appartement und sah sofort den Frühstückstisch und das nicht benutzte Bett.
«Das ist neu!«sagte Fallersfeld und setzte sich auf einen der roten Plüschsessel.»Er bummelt vor dem Turnier. Himmel, muß es ihn gepackt haben. Die ganze Nacht! Junge, dich kaufe ich mir!«
Er griff zum Telefon, ließ sich mit Winkler und dann mit Schok-kemöhle verbinden, fragte, ob sie Hartung gesehen hätten, und er-fuhr, daß Hartung über Kopfschmerzen geklagt hätte und bald ins Bett wollte. Winkler sah ihn in der Hotelhalle noch mit einer eleganten Dame sprechen. Es schien, als wollte sie von ihm ein Autogramm haben.
«Aha!«rief Fallersfeld.»Meine Ahnung!«
«Ich glaube es nicht, Baron. «Winklers Stimme klang bestimmt.»Horst war in mieser Laune. Er wollte sich schlafen legen. Der hat sich gestern abend bestimmt nicht für eine Frau interessiert.«
«Aber er liegt nicht in seinem Bett! Hat die ganze Nacht nicht drin gelegen! Das Frühstück steht herum, der Kaffee ist kalt. «Fallersfeld nahm mit spitzen Fingern eine Scheibe rohen Schinken, rollte sie zusammen und schob sie in den Mund.»Ganz zart und mild gesalzen.«
«Was?«fragte Winkler entgeistert.»Die Frau?«
«Der Schinken, Hans-Günther. Solltest du mal probieren.«
«Was ist mit Horst?«
«Weiß ich es? Er ist weg! Irgendwo in diesem schönen Paris wird er in einem nach Parfüm duftenden Weiberbett liegen.«
«Glauben Sie das, Baron?«
«Wo soll er sonst sein? Hier hat er jedenfalls mit Sicherheit nicht geschlafen.«
«Vielleicht ist wieder irgend etwas mit Laska los, und er hat im Stall übernachtet.«
«Das werden wir bald wissen. «Fallersfeld legte auf. Er seufzte, aß noch eine Scheibe Schinken und trank einen Schluck kalten Kaffee.»Laska«, sagte er gedehnt.»Dieser Name ist jedesmal wie ein Hammerschlag auf meinen Kopf. Natürlich ist wieder was mit Laska passiert.«
Aber das war ein Irrtum. Als die deutsche Equipe nach dem Frühstück auf dem für den >Prix Rothschild< hergerichteten neuen Turnierplatz im Park von Saint-Cloud erschien, waren alle Pferde bereits bei der Morgenarbeit. Romanowski ritt Laska wie immer etwas abseits von den anderen Pferden in allen Gangarten durch, lok-kerte sie und übte ein paarmal das Herumreißen während des Galopps. Hartung nannte es schlicht >fliegende Wende<, eine Spezialität von Laska, die beim Stechen immer wertvolle Zehntelsekunden damit herausholte.
Fallersfeld schob die Sportmütze in den Nacken. Sein rundes Gesicht war ratlos.»Fehlanzeige, Jungs«, sagte er. Zum erstenmal klang seine Stimme bedrückt.»Laska ist in Hochform, und Hartung ist verschollen! Mit dem Zug um 10 Uhr 27 trifft Angela auf dem Gare du Nord ein. Ich weiß, ich weiß, ihr habt jede Menge Ausreden parat und könnt Horst mit Alibis eindecken, aber Angela ist hellhörig für Lügen. Sie merkt alles, sie sieht es ihm einfach an. Und wenn er sich dreimal heiß badet, sie riecht das fremde Parfüm. «Fallersfeld winkte mit beiden Armen.»Pedro!«
Romanowski ritt im Arbeitstrab heran und ließ Laska vier Schritte vor Fallersfeld stehen. Die beiden haßten sich, es gab dafür keine Erklärung. Wer kann in eine Pferdeseele blicken? Romanowski hatte die Zügel fest in der Hand, die Ohren Laskas zuckten hin und her.
«Herr Baron?«
«Wo ist Hartung?«
«Weeß ick det? Ick denke, Se bringen ihn mit?«
«War er gestern noch spät abends im Stall?«
«Nee, Herr Baron.«
«Sie haben ihn nicht mehr gesehen?«
«Nich 'n Fatz von ihm.«
«Merkwürdig. «Fallersfeld wandte sich ab. Er schob die Unterlippe vor und dachte angestrengt nach. Es war das erstemal, daß Hartung unpünktlich war. Es würde auch das erstemal sein, daß er einer Frau wegen das Training versäumte. Aber alles passiert irgendwann zum erstenmal.»Wenn er um elfUhr nicht hier ist«, sagte Fallersfeld und sah auf seine Armbanduhr,»haben wir Grund, unruhig zu werden.«
Es wurde elf, es wurde halb zwölf, Horst Hartung tauchte nicht wieder auf. Das Bewegungstraining war längst vorüber, die Pferde wurden gestriegelt und gefüttert, die Reiter standen am Rand des Parcours und sahen dem Aufbau der Hindernisse zu. Bei den Italienern wurde gefeiert, ein Sektkorken knallte, irgend jemand hatte Geburtstag. Die Engländer saßen abseits und hörten sich einen Vortrag ihres Trainers an. Die Schweden waren schon zu ihrem Hotel gefahren. Die Russen standen am Parcours und fotografierten die Hindernisse.
«Es ist etwas passiert«, sagte Fallersfeld. Seine Stimme klang brüchig.»So schön kann eine Frau gar nicht sein, daß Horst nicht mehr an seine Laska denkt. Mein Gott, wenn er doch noch ausgegangen und auf dem Montmartre schweren Jungs oder was weiß ich in die Hände gefallen ist! Jede Nacht werden erlebnishungrige Fremde niedergeschlagen und beraubt. Hamburg, London, New York oder Paris, in dieser Beziehung ist es überall dasselbe!«Fallersfeld sah sich im Kreise seiner Reiter um.»Polizei? Was meint ihr?«
Von den Ställen kam Romanowski gelaufen. Schon von weitem schrie er:»Nischt, Herr Baron. Im Hotel ist er nich! Aba er muß dajewesen sein.«
«Was sagen Sie da?«rief Fallersfeld.»Er war im Hotel?«
«In seinem Zimmer. Ick hab den Etagenkellner am Telefon je-sprochen. >War in Zimmär<, sagt er. >Hat gegessen zwei Scheiben Schinken.< Aba jesehen hat ihn keener.«
Fallersfeld verzog das Gesicht, nickte und wandte sich ab. Über den fehlenden Schinken gab er keine Erklärung ab. Das kann man den Ermittlungsbeamten immer noch stecken, dachte er. Polizei! Es bleibt uns keine andere Wahl. Horst Hartung ist in Paris verschollen.
Inspektor Jacques Labois nahm die Ermittlungen und Verhöre so diskret wie möglich auf. Er betrachtete kurz das unberührte Bett, hörte geduldig zu, wie Fallersfeld seinen Reiterstar Hartung als einen überkorrekten, pflichtbewußten, immer pünktlichen Menschen schilderte, dem es nie in den Sinn käme.
«Bon, tres bien«, sagte Inspektor Labois.»Ein vollkommener Mensch ohne Fehler, den gibt es nicht. «Er sprach französisch mit Fallersfeld, denn der Baron beherrschte die Sprache, als sei er irgendwo an der Loire geboren.»Monsieur le Baron, denken wir zuerst daran, daß Monsieur Hartung einen Parisbummel machte.«
«Er kennt Paris. Er braucht nicht mehr zu bummeln! Und Montmartre interessiert ihn nur kunstgeschichtlich. Paris als Stadt der Liebe ist für ihn nicht existent.«
«Als Mann?«Labois lächelte milde.»Na, na.«
«Nicht na, na, Inspektor. Hartung ist verlobt, glücklich, seine Braut ist jung und hübsch.«
«Ich habe Männer kennengelernt, die waren mit der schönsten Frau verheiratet, besaßen Millionen, und ich holte sie aus schmierigen Hinterzimmern heraus, wo sie mit Weibern der übelsten Sorte… Bon, Ihr Hartung ist anders. Glauben wir es. Wo aber kann er dann sein? In Paris? Nachts? Mon cher Baron, ein unberührtes Hotelbett in Paris kann nur bedeuten.«
«Wir haben schon erlebt, daß man Reiter mit Entführung oder Tod bedrohte, wenn sie gewinnen!«
«Im Roman, im Kino«, grinste Labois. Fallersfeld begann zu schwitzen, ein untrügliches Zeichen, daß er innerlich kochte.
«In Chikago…«
«Wir sind aber in Paris, Monsieur le Baron. «Inspektor Labois setzte sich an den kleinen Tisch, öffnete seine Aktentasche, entnahm ihr einen Notizblock und drückte die Mine seines Kugelschreibers heraus.»Ich werde Ihnen beweisen, was in Paris bei allen Kriminalfällen immer am Anfang steht — oder am Ende: Cherchez la femme.«
Bis drei Uhr verhörte Labois das Hotelpersonal. Den Etagenkellner, die Zimmermädchen, den Nachtportier, die Nachtboys, den Barmixer, verschiedene Gäste, die sich nach Aussage der Schlüsselausgabe spät in der Hotelhalle aufgehalten hatten, die beiden Toilettenfrauen, sieben Nachtkellner. Aus allen Aussagen kristallisierte sich ein Bild heraus:
Horst Hartung war nach dem Abendessen gegen 21 Uhr zum letztenmal in der Hotelhalle mit einer auffallend eleganten Dame ge-sehen worden. Von da an nicht mehr, die ganze Nacht hindurch. Ob er mit der Dame das Hotel verlassen hatte, war nicht mehr festzustellen. Nach dem Essen herrscht so viel Betrieb, daß man auf einen einzelnen nicht mehr achten kann.
Labois klappte seinen Notizblock zu, als keiner mehr zu verhören war.
«Bitte«, sagte er mit einem maliziösen Lächeln.»Da haben wir es: Cherchez la femme! Elegant, eine auffallende Erscheinung, aristokratisch, sagt der Chefportier. Auf sein Urteil ist Verlaß, er kennt die Menschen besser als der liebe Gott. Zweifeln Sie noch immer, Baron?«
Fallersfeld saß zusammengesunken in einem Sessel und starrte auf den Teppich. Er muß völlig den Verstand verloren haben, dachte er. Es gibt Frauen, die einem den letzten Funken Vernunft rauben. Aber Hartung, ausgerechnet Hartung — unbegreiflich.
«Was — was gedenkt die Polizei zu unternehmen?«
«Nichts«, antwortete Labois.
«Das ist ja eine umwerfende Initiative!«
«Sollen wir mit Lautsprecherwagen durch Paris fahren und ausrufen lassen: >Monsieur Hartung, aufhören mit Liebe! Kommen Sie zurück ins Hotel!<«
«Sehr witzig.«
«Monsieur Hartung wird kommen, wenn er von Liebe genug hat. Bei dem einen Mann geht das schnell, bei anderen dauert es länger. «Inspektor Labois ließ das Schloß seiner Aktentasche zuschnappen.»Ich kenne die Konstitution von Monsieur Hartung nicht.«
Er schickte sich an, zu gehen, als es klopfte und ein Page hereinkam. Er stand an der Tür stramm, stolz auf seine rote Uniform und auf das, was er zu melden hatte.
«In der Halle steht die Dame, mit der Monsieur Hartung gestern abend gesprochen hat. Sie ist eben ins Hotel gekommen.«
«Allein?«schrie Fallersfeld und fuhr hoch.
«Oui, allein.«
«Sie will vielleicht ein frisches Hemd für ihn holen. «Labois schien nicht im geringsten überrascht zu sein. Fallersfeld rang nach Luft.
«Ihre Witze sind einsame Klasse«, stöhnte er.»Schnell, hinunter, ehe sie wieder weg ist!«
«Die Dame hat einen Tisch im Restaurant bestellt«, sagte der Page.
«Na, also. «Labois hob beide Hände und lächelte Fallersfeld beschwichtigend zu.»Wenn ein Franzose ißt, hat er viel Zeit. Wir brauchen nicht in die Halle zu fliegen, Baron. «Dann wurde er plötzlich ernst, wandelte sich so gründlich in einen Kriminalbeamten, daß Fallersfeld ihn verblüfft anstarrte.»Wissen Sie, daß wir wieder am Anfang stehen?«
«Natürlich weiß ich das!«fauchte Fallersfeld. Der hat Nerven, dachte er. Läßt einfach einen Vorhang vor sein Gesicht fallen, und damit wird die ganze Geschichte dramatisch.»Wenn Sie allein kommt, ist das ein Beweis, daß Hartung in der vergangenen Nacht nicht.«
«Es sei denn, sie ist wie eine Spinne, die das Männchen hinterher auffrißt.«
«Inspektor, ich bin mit den Nerven fertig. Noch ein solcher Witz, und mich trifft der Schlag. Wissen Sie, daß morgen der >Prix Roth-schild< ausgeritten wird? Um zwei Uhr beginnt der erste Umlauf. Ermessen Sie die Katastrophe, wenn Hartung dann immer noch verschwunden ist? Die gesamte Weltpresse wird über Sie herfallen!«
«Dann werde ich die Weltpresse auffordern, in Paris nach einem Mann zu suchen. Ich suche unterdessen ein zweiköpfiges Kalb. Wetten, daß ich es eher finde?«Inspektor Labois schüttelte tiefbetrübt den Kopf, klemmte die Aktentasche unter den Arm, schlug dem Pagen auf die schmale Schulter und ging dann über den langen, breiten Korridor zum Lift. Fallersfeld folgte ihm, den Kopf gesenkt wie ein angreifender Stier.
Die Dame in der Hotelhalle — Fallersfeld genügte ein Blick, um jeden Verdacht fallenzulassen — hob erstaunt die Augenbrauen, als In-spektor Labois sie vor dem Zeitungsstand ansprach. Sie suchte aus einem Stapel Zeitschriften ein Modeheft heraus und war nicht einen Augenblick erschrocken, von einem Polizisten gebeten zu werden, ein paar Schritte zur Seite zu treten und einige Fragen zu beantworten.
Fallersfeld verbeugte sich knapp, ganz alte Schule, und bewunderte dieses Ebenmaß und die Vollkommenheit weiblicher Schönheit.
«Nur ein paar einfache Fragen, Madame«, sagte Labois.»Es ist mir peinlich, aber wenn ich Ihnen den Grund erkläre.«
«Fallersfeld. «Der Baron stellte sich vor. Donnerwetter, ist das eine Frau, dachte er begeistert. Lächerlich, sie zu verhören. Jetzt übertreibt Labois seinen Diensteifer. Das sieht doch jeder, daß die Dame zur ersten Gesellschaft gehört.
«Gräfin Elise de Bericourt«, antwortete sie. Sie hatte eine angenehme, warme Stimme. Ihre großen braunen Augen blickten fragend von Labois zu Fallersfeld. Augen wie Laska, dachte der Baron. Dieser Vergleich ärgerte ihn sofort. Augen wie eine Madonna von Raffael, berichtigte er sich. Das gefiel ihm besser.
«Gräfin«, ergriff Fallersfeld das Wort,»eine ganz dumme Geschichte. Sie kennen Horst Hartung? Verzeihen Sie, ich weiß, eine solch direkte Frage ist ungehörig, aber man hat Hartung gestern abend in Ihrer Gesellschaft gesehen, und seit gestern abend ist er spurlos verschwunden.«
«Nein!«Ein wohltemperierter Ausruf, nicht zu laut, aber auch nicht zu unterkühlt. Die Augen wurden noch größer, die schöngeschwungenen Lippen zitterten leicht.»Verschwunden? Wieso denn?«
«Monsieur Hartung ist verschollen. «Labois zog das Kinn ein und blinzelte wie ein Kurzsichtiger.»Es gibt eine Reihe von Zeugen, die Sie, Gräfin, und Monsieur Hartung hier in der Halle gesehen haben. Von da an verliert sich jede Spur.«
«Und nun soll ich ihnen sagen, wo er ist?«Sie lachte amüsiert. Fallersfeld bewunderte ihr weißes Gebiß. Eine Idiotie, sie zu fragen.»Bedaure, Messieurs, aber ich kann Ihnen nur spärliche Auskunft ge-ben. Ich habe Monsieur Hartung um ein Autogramm gebeten. Wir kennen uns vom Turnier im vorigen Jahr her und haben noch ein paar Minuten miteinander geplaudert. Und dann ging er.«
«Er ging? Wohin?«Labois blinzelte stärker.
«Aus dem Hotel. Er wollte nach Saint-Cloud, zu seinem Pferd. Er sagte wörtlich — lassen Sie mich nachdenken, ja: >Ich fahre noch einmal bei Laska vorbei. Wollen Sie mitkommen?< Ich lehnte ab, ich wollte mich hier mit Bekannten treffen. Mit dem Marquis de Lafourge und seiner Frau, Sie kennen ihn, Inspektor?«
Labois nickte gemessen. Lafourge war ein Alibi, das man nicht nachzuprüfen brauchte. Wer es trotzdem wagte, beging beruflichen Selbstmord.
«Und Hartung fuhr nach Saint-Cloud?«
«Ich nehme es an. Er verließ das Hotel. Das war alles, was ich sah.«
«Er ist aber nie in Saint-Cloud angekommen. «Fallersfeld war blaß geworden. Die Gräfin de Bericourt zeigte Ansätze von Besorgnis. Ihre Finger zerknüllten die Modezeitschrift. Ein Brillant, groß wie eine Haselnuß, blitzte auf.
«Das ist ja schrecklich«, sagte sie.»Befürchten Sie ein Verbrechen? Mon Dieu, wenn jemand in Paris verschwindet, wie soll man den jemals wiederfinden?«
Labois sah Fallersfeld herausfordernd an.»Meine Rede, Gräfin. Es gibt da nur drei Möglichkeiten: Der Mann taucht von allein wieder auf, der Mann wird gefunden, meistens ist er dann tot, oder der Mann bleibt verschwunden.«
«So einfach möchte ich die Welt auch einmal sehen«, sagte Fallersfeld betroffen.»Wenn das alles ist, was die Polizei kann!«
«O Baron, wir können mancherlei. «Labois blickte kurz auf seine Uhr.»Vierundzwanzig Stunden nach dem Zeitpunkt des Verschwindens kann ich eine umfassende Suchaktion starten. Rundfunk, Fernsehen, Pressebilder, Steckbriefe, Plakate, Belohnungen — irgendein Hinweis kann dann zu einer heißen Spur führen. Kann!«Labois räusperte sich.»Im Augenblick können wir nur abwarten. Stellen Sie sich vor, wir setzen den ganzen Fahndungsap-parat in Bewegung, und plötzlich ist Monsieur Hartung wieder da, aufgetaucht aus irgendeinem Bett!«
Fallersfeld war konsterniert. Er schielte zur Gräfin de Bericourt.»Labois, Sie sind in Gesellschaft einer Dame!«
«Pardon, aber eine französische Gräfin wird für diese Art von Verschwinden das gleiche Verständnis haben wie jede Dame in Frankreich. «Labois winkte mit einer großen Geste. Einige Männer, die bisher nicht aufgefallen waren, strebten zum Ausgang. Erst jetzt merkte Fallersfeld, daß sechs Beamte in der Halle herumgestanden hatten. Plötzlich sah er Labois mit anderen Augen an. Das ist ein ganz Stiller, ein vorzüglicher Schauspieler! Während er den leicht Vertrottelten spielte, arbeitete sein Polizeiapparat aufHochtouren.»Fahren wir hinaus nach Saint-Cloud.«
«Aber da war Hartung nicht!«rief Fallersfeld.
«Wissen Sie das so genau?«
«Auf Pedro ist Verlaß. Es gibt keine Mücke, die Pedro nicht sieht, wenn sie auf Laska sitzt.«
«Wir suchen auch keine Mücke, sondern einen Menschen. «La-bois verabschiedete sich von der Gräfin mit einer leichten Verbeugung.»Ich habe das Gefühl, in Saint-Cloud sehen wir klarer.«
Angela Diepholt war am Gare du Nord vom stellvertretenden Equipechef Hans Lommel abgeholt worden. Er begrüßte sie mit einem Blumenstrauß, den er im Automaten gezogen hatte.
«Weiß Horst, daß ich komme?«fragte Angela, nachdem sie sich gebührend für den Strauß bedankt hatte. Sie sah in dem dünnen Sommerkleid bezaubernd aus.
«Natürlich nicht. «Lommel lachte jungenhaft.»Aber er würde sich wundern, wenn Sie nicht plötzlich am Parcours ständen.«
Sie blickte kurz auf die riesige Bahnhofsuhr.»Er trainiert jetzt?«
«Ja natürlich. «Lommels Stimme klang gedehnt.
«Fahren wir direkt hinaus nach Saint-Cloud?«
«Ich würde vorschlagen, erst ins Hotel zu fahren. «Lommel hielt die Tür des Taxis auf, das er bestellt hatte.»Der Baron möchte Sie sprechen.«
«Wieder Schwierigkeiten mit Laska?«
«Nein. «Lommel wich Angelas Blick aus, und das war etwas, das jede Frau nicht nur neugierig macht, sondern sie warnt.
«Lommel, Sie verschweigen mir etwas. «Angela klopfte dem Taxifahrer auf die Schulter.»Nach Saint-Cloud. Zum Turnierplatz. «Der Wagen fuhr an, Lommel ließ sich in die Polster zurückfallen.
«Der Baron frißt mich«, sagte er.»Ich soll Sie im Hotel abliefern. Aber wenn Sie unbedingt nach Saint-Cloud wollen! Ich kann Sie nur bitten, erst mit dem Baron.«
«Was ist passiert? Lommel, raus mit der Sprache! Ist Horst gestürzt, verletzt, ist beim Training etwas geschehen? Mein Gott, reden Sie schon, ich bin nicht aus Zucker.«
«Hartung ist weg«, sagte Lommel leise.
«Weg? Was heißt das?«
«Verschwunden. Irgendwo in Paris verschwunden. Keiner weiß etwas, niemand hat ihn gesehen. Er ist nach dem Essen gestern abend auf sein Zimmer gegangen. Aber das Bett war am Morgen unberührt, das Frühstück nicht angetastet.«
«Eine — eine andere Frau?«fragte Angela und wandte das Gesicht zur Straße. Lommel schüttelte den Kopf.
«Ausgeschlossen. Das — das wäre das erstemal.«
«Man kann einen Mann nicht verurteilen, wenn er in Paris schwach wird. Für die anderen ist das bitter, aber. «Ihr Kopf fuhr herum.»Zum Training war er nicht da?«
«Nein, und gerade das finden wir alle so merkwürdig. Ein Hartung, der Laska vergißt, das gibt es nicht.«
«Wem sagen Sie das, Lommel?«Angela Diepholt knetete die Tasche, die auf ihrem Schoß lag. Sie kann sich großartig beherrschen, dachte Lommel. Jede andere Braut, deren Bräutigam verschwindet, hätte anders reagiert: mit endlosen Fragen, mit Tränen, Beschuldigungen, Verdächtigungen. Angela sagte nur: In Paris kann ein Mann schwach werden. Eine bewundernswerte Haltung. Nur ihre Hände verrieten, wie es in ihrem Innern aussah.
Im Park von Saint-Cloud trafen sie Romanowski vor dem Stall an. Er saß in der Sonne, rauchte Pfeife und hatte eine heiße Schlacht siegreich geschlagen. Er hatte sieben Reporter abgewehrt, die von ihm wissen wollten, warum Hartung heute nicht trainiert hatte. Einen Tag vor dem >Prix Rothschilds das war ungewöhnlich. Romanowski hatte eine simple Erklärung dafür:»Wenn eener so in Form is wie Herrchen, denn braucht er nich zu trainieren, wat?«sagte er.»Ick bin der Ansicht, die anderen brauchen erst jar nich zu springen — wir jewinnen den Pokal ja doch!«
Ein Reporter, der lange Zeit in Berlin gearbeitet hatte, übersetzte Pedros kernige Worte ins Französische, und damit war das Interview beendet. Später rief Fallersfeld noch einmal an, ob Hartung gekommen sei. Und nun erschien auch noch Angela auf dem Platz.
Romanowski steckte die Pfeife ein und rief schon von weitem:»Kee-ne Sorje nich, Frolleinchen. Die spielen alle varrückt. Kann ja mal vorkommen, det man de Zeit vajißt. Ick reiß mir da keen Been aus.«
«Der Schatten seines Herrn. «Angela lächelte sarkastisch.»Aus dem quetscht keine Autopresse was heraus. Lommel, sparen Sie sich den anstrengenden Versuch, mich zu trösten. Wissen Sie etwas? Bitte ehrlich!«
«Wir wissen alle nur, daß er verschwunden ist.«
«Gut. Dann warte ich hier. Wenn Horst wieder auftaucht, wird er zuerst zu seiner Laska gehen.«
«Das allein ist völlig sicher. «Lommel nickte.
Romanowski nagte an der Unterlippe und vermied es, Angela anzusehen. Er blickte erst auf, als sie ihn mit der Faust anstieß.
«Und du, Pedro, brauchst erst gar keine Warnraketen steigen zu lassen. Du bleibst immer in meiner Nähe, verstanden? Ich will als erste und allein mit Horst sprechen, wenn er kommt!«
«Det is Ihr Recht. «Romanowski trollte sich zurück zum Stall. Er hatte ein ungutes Gefühl, nicht wegen Angela und den in der Luft liegenden Komplikationen, sondern wegen Hartung selbst.
Auch Romanowski glaubte nicht mehr an eine durchbummelte
Nacht. Die Angst um >Herrchen< machte ihn fast verrückt, aber niemand sah es ihm an.
Das Landschloß der Gräfin de Bericourt lag am Rande der Wälder von Chaville.
Ein langgestreckter Spätrenaissancebau mit verzierten Giebeln, einem Wald von Schornsteinen, einer breiten, pompösen Freitreppe und einem Park mit Schwanenteich, Teehäusern, verschwiegenen Wegen, Bänken, Steinfiguren, Putten, einem Springbrunnen und einem Freigehege mit Fasanen. Ein Landsitz voller Romantik, efeuumwachsen, dornröschenhaft. Nur der elegante knallrote Sportwagen vor der Freitreppe wies auf die Gegenwart hin.
Elise de Bericourt bewohnte das Schloß allein, das heißt ohne Mann, ohne Verwandte. Die Angestellten zählten nicht, eine Köchin, ein Zimmermädchen, ein Gärtner, dreimal wöchentlich drei Putzfrauen, die dafür sorgten, daß das Schloß nicht verstaubte. Einmal im Monat glitzerten im Festsaal alle Kristallüster, dann gab Elise eine Party, von der man in eingeweihten Kreisen die widersprüchlichsten Dinge erzählte. Nach einer solchen rauschenden Nacht versank das Schloß wieder in Schlaf. Elise de Bericourt lebte zurückgezogen, fuhr allein nach Paris, kaufte ein, besuchte Theater und Oper, ihre elegante Erscheinung war auf den großen Einkaufsboulevards bekannt, ab und zu soupierte sie im Maxim, wo sich die Elite des Geldadels traf, von Gulbenkian bis Onassis. Nie sah man sie mit einem Mann, das war erstaunlich. Sie ist so kühl, wie sie schön ist, hieß es bald, nachdem sieggewohnte Kavaliere bei ihr abblitzten und die Playboys vom Dienst jämmerlich Schiffbruch erlitten. Eine unglückliche Liebe zu einem verheirateten Mann hat ihr Herz versteinert, flüsterte man später. Zweimal im Jahr verreiste sie mit unbekanntem Ziel, da wird sie sich austoben, wo keiner sie kennt. Geld genug hat sie ja als Erbin einer der größten Konservenfabriken Frankreichs.
Elise de Bericourt war vom Mittagessen in Paris zurückgekommen.
Sie hatte den roten Sportwagen vor die Treppe gefahren, war ins Schloß gelaufen, als werde sie verfolgt, und stürzte nun in eines der großen Schlafzimmer im ersten Stockwerk. Ein Raum mit schweren Portieren, geschnitzten und goldverzierten Decken, einem riesigen Himmelbett auf einem Podest, venezianischen Spiegeln an den seidenbespannten Wänden. Ein erdrückender Prunk.
Elise warf die Tür hinter sich zu und lehnte sich an das geschnitzte Holz.»Sie suchen dich«, sagte sie triumphierend.»Diese Aufregung! Inspektor Labois will Rundfunk, Fernsehen, Presse und Plakate einsetzen! Ganz Paris wird dich suchen! Aber hierher werden sie nicht kommen. Ich habe mit Labois gesprochen. Eine Bericourt verdächtigt man nicht.«
Horst Hartung saß auf dem prunkvollen Bett, die Beine angezogen, neben sich einen Servierwagen mit Sandwiches und Gebäck und Flaschen mit Mineralwasser, Kognak, Whisky, Wein und Likör. Er hatte nichts angerührt, betrachtete jetzt mit auf die Hand gestütztem Kopf Elise wie einen exotischen Vogel und wartete auf weitere Berichte. Elise lachte dunkel, knöpfte das Kleid auf und begann, sich auszuziehen.
«Sie sind verrückt, Gräfin«, sagte Hartung. Er sprang auf und ging zum Fenster. Wundervolle schmiedeeiserne Gitter verhinderten einen Einbruch — aber auch eine Flucht. Der Blick über den Park war paradiesisch — der Teich mit den Schwänen, die Goldfasane, die Zypressen und Oleanderbüsche. Hartung seufzte und wandte sich wieder um. Elise stand völlig unbekleidet hinter ihm, ein vollendeter Frauenkörper.»Verzeihen Sie, aber ich finde kein anderes Wort dafür. Denken Sie nicht an den Skandal, wenn das alles herauskommt! Eine Frau entführt einen Mann!«
«Weil ich dich liebe!«
«Und das berechtigt Sie, mich einfach zu kidnappen?«
«Du bist sofort ein freier Mensch, wenn du mich geliebt hast. «Sie drehte sich vor ihm. Das Sonnenlicht schimmerte auf ihrer Haut. Ein lautloser Tanz, in dem jeder Schritt, jede Bewegung der Arme, der Beine, des Kopfes und des Rumpfes eine einzige Verlockung dar-stellte. Die großen braunen Augen waren weit geöffnet, glänzten feucht.
«Bin ich so häßlich?«fragte sie. Ihre Stimme klang heiser.
«Ich habe eine ganze Nacht lang versucht, Ihnen zu erklären, warum ein Abenteuer zwischen uns zur Katastrophe werden muß. Sie wollen es nicht einsehen, sperren mich ein, als lebten wir im Mittelalter, was versprechen Sie sich eigentlich davon?«
«Ich lasse mich nicht beleidigen!«
«Beleidigen?«Hartung starrte sie ungläubig an.
«Ich stehe nackt vor dir, und du siehst mich an wie ein Stück Holz. Ohne Regung, ohne Gefühl, ohne ein Blitzen in deinen Augen, als hättest du da drinnen kein Herz, kein Herz, nur einen Klotz — einen widerlichen, verrostenden Eisenklotz!«Sie trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. Ihr nackter Körper war jetzt ganz nahe bei ihm, er brauchte ihn nur zu umfassen, an sich zu drücken, die samtweiche Haut zu streicheln, die bebenden Lippen zu küssen, und wenn er sie auf seine Arme nahm und zum Bett trug, wenn er Liebe heuchelte, ihr Erfüllung schenkte — was folgte dann?
Das Ringen um den Besitz, der Anspruch auf ihn, der Stolz der Siegerin, der Kampfgegen Angela und am Ende das Drama des Auseinandergehens.
Sie preßte sich an ihn. Ihre Brüste waren hart, und als er die Hand auf ihren Rücken legte, spürte er die Spannung ihrer Muskeln.
«Bist du kein Mensch?«flüsterte sie.»Bin ich keine Frau? Fühlst du es nicht?«Plötzlich ergriff sie seine Hand, führte sie über ihre glatte kühle Haut, von den Brüsten bis zum Schoß. Sie dehnte sich wohlig, wand sich, stöhnte.
«Du weißt nicht, wie gemein du bist«, stammelte sie.»Stehst da wie ein Stück Eisen! Ich möchte dich umbringen, hätte ich nur die Kraft, dich zu erwürgen!«
Hartung hob Elise hoch, trug sie zum Bett und ließ sie auf die Decken fallen. Sie zuckte, zerfetzte ein Kissen und warf schreiend die Federn in die Luft. Dann lag sie reglos da und ließ sich von dem Daunenregen zudecken.
«Vorbei?«fragte Hartung, nüchtern wie ein Arzt, der den Anfall einer Patientin beobachtet hat.»Können wir jetzt vernünftig miteinander reden?«
«Nein. Du bleibst bei mir, solange ich will.«
«Das ist doch Wahnsinn!«Hartung schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.»Sie können mich doch nicht tagelang.«
«Tagelang?«Sie hob den Kopf.»Ein ganzes Leben lang!«
«Gräfin — «
«Komm her und liebe mich.«
«Mir ist jetzt endgültig klar, daß alles Reden sinnlos ist. «Hartung blickte sich um. Das Fenster vergittert, die Tür aus schwerem, massivem Holz. Ein Gefängnis aus venezianischen Spiegeln, Marmorboden und einem riesigen Bett. Elise beobachtete ihn und streute spielerisch die Federn über ihren Körper.
«Kein Ausgang«, sagte sie.»Und um uns herum Einsamkeit. Wir sind die einzigen Menschen auf dieser Welt.«
«Morgen um 14 Uhr muß ich auf dem Parcours sein.«
«Du bleibst hier!«
«Ich werde die Tür aufbrechen!«
«Mit bloßen Händen? Bist du Samson?«
«Gräfin, ein letzter Versuch. Ich bitte Sie, vernünftig zu sein.«
«Liebe mich!«
Es hat keinen Zweck, dachte Hartung. Wozu noch reden? Der einzige Weg aus diesem Zimmer führt durch die Tür. Aber sie ist abgeschlossen, den Schlüssel hat sie in der Tasche ihres Kleides.
Mit einem Sprung war er an der Tür, wo auf dem Boden Elises Kleider lagen. Aber sie erkannte seine Absicht, sprang aus dem Bett, erreichte Hartung nicht mehr, warf sich vor die Tür und riß von der Wand ein langes ziseliertes Damaszenerschwert.
«Dieses Schwert hat eine Geschichte«, sagte sie leise.»Jean de Be-ricourt brachte es als Kreuzritter aus dem Orient mit. Der Henker in Caesarea hieb damit allen Christen die Köpfe ab. Die Klinge ist so scharf, daß sie Seidenpapier schneidet! Willst du's sehen?«
Sie schleuderte mit dem Fuß ihr Unterkleid durch die Luft, führte einen Schwertstreich — ein Zischen, und das Hemd fiel in zwei Hälften auf den Marmorboden zurück.
«Was ist dagegen ein Hals«, sagte sie tonlos.
«Sie würden wirklich zuschlagen?«fragte Hartung ungläubig.
«Ohne Zögern! Du beleidigst mich jede Sekunde, in der du ruhig vor mir stehen kannst!«
«Sie werden nicht zuschlagen. Nein, das können Sie nicht. «Hartung schüttelte den Kopf und kam langsam näher. Elise hob wieder das Schwert.»Seien Sie vernünftig, Elise! Schließen Sie die Tür auf!«
«Bleib stehen, mein Gott, bleib stehen!«Elise preßte die Lippen zusammen. In ihren Augen war eine Härte, die Hartung zögern ließ. Noch einen Schritt, dann kam er in den Bereich der Waffe. Ein weiterer Schritt konnte den Tod bedeuten.»Bleib stehen!«schrie Elise. Die Klinge fuhr hoch, jeder Muskel des nackten Körpers war gespannt.
Hartung war nie ein Feigling gewesen. Was das Leben bisher von ihm gefordert hatte, war er angegangen, mutig, seine Chancen abwägend, direkt oder diplomatisch. Er hatte nie gekniffen. Er war nur ausgewichen, wo es die Klugheit befahl, um dann später um so energischer voranzugehen. Ein Gefühl von Angst hatte er nur dreimal erlebt — auf dem großen Treck von Ostpreußen nach dem Westen, verfolgt von sowjetischen Panzerkolonnen, ein kleiner Junge, der zusehen mußte, wie alte Männer und Frauen im Straßengraben erfroren. Zum zweitenmal überfiel ihn die Angst, als er während eines Urlaubes in Dalmatien an der felsigen Küste nach alten Amphoren tauchte und ein scharfer Stein seinen Atemschlauch zerriß. In den Sekunden, bis er die Meeresoberfläche wieder erreichte, hatte er alle Qualen der Verzweiflung durchgemacht. Das drittemal erwischte es ihn mitten in Berlin, auf der Joachimsthalerstraße, an einem trüben Regentag. Ein Lastwagen kam ins Schleudern, rutschte aufihn zu, und er war von dem Anblick des auf ihn zuschlitternden Ungetüms so gelähmt, daß er sich nicht rühren konnte und das Bewußtsein, gleich zermalmt zu werden, jeden Gedanken auslöschte.
Jetzt, vor dieser zu allem bereiten nackten Frau mit dem Damaszenerschwert in der Hand, war es keine Feigheit, wenn er stehenblieb. Es war einfach die Erkenntnis, klüger zu sein als die von ihrer Leidenschaft getriebene, aller Vernunft beraubte Elise de Be-ricourt.
«Warten wir es also ab«, sagte er und ging rückwärts bis zum Fenster. Dort blieb er stehen und zeigte auf das Bett und das zerrissene Kissen.»Wenn schon Historie, Kreuzritterschwert und so — warum zwingen Sie mich nicht mit ihrer scharfen Klinge zur Liebe? Zerhackt werden oder lieben — aus dieser Alternative fände ich einen Ausweg.«
«Du sollst mich lieben, weil ich schön bin. Ich bin doch schön, nicht wahr?«
«Sie haben alles, was einen Mann begeistern kann. Einen herrlichen Körper, Temperament, Geist.«
«Und trotzdem?«
«Ja, trotzdem. Sie zu lieben bedeutet, Sklave zu werden. Ich könnte mir vorstellen, daß ein Mann der Sie einmal besessen hat, an nichts anderes mehr denken kann als an diese Stunde.«
«Ist das ein so schrecklicher Gedanke?«
«Ich habe eine andere Aufgabe, als von weiblichen Reizen zu träumen.«
«Ich weiß. Du mußt reiten, springen, siegen. Das alles kannst du auch hier haben. Ich richte dir den schönsten Parcours der Welt ein, du kannst die besten Pferde kaufen, ich werde dir zusehen, wenn du trainierst, wenn du die Hindernisse überwindest, du wirst immer der Sieger sein! Und nach jedem Turnier winkt dir ein Preis, wie du ihn noch nie gewonnen hast — ich!«Sie breitete die Arme aus. Über ihren schlanken nackten Körper tanzten die Sonnenstrahlen.»Es wird ein wundervolles Leben sein!«
«Und alles hier, in diesem Park, hinter den hohen Mauern?«
«Ein Paradies!«
«Eine blühende, duftende, vergoldete Hölle!«Hartung schlug mit der Faust gegen die Wand.»Ich werde jede Gelegenheit zum Aus-bruch wahrnehmen.«
«Es wird keine Gelegenheit geben«, sagte Elise de Bericourt mit einer erschreckend nüchternen Stimme. Sie bückte sich, raffte ihre Kleider zusammen, klemmte das Schwert unter die Achsel — es sah unbeschreiblich komisch aus —, schloß die Tür auf und verließ den Raum. Deutlich hörte Hartung, wie sie von draußen wieder abschloß.
Er wartete ein paar Minuten, rannte dann zur Tür, rüttelte daran, untersuchte das Schloß, klopfte das Holz ab und strich sich resignierend über die Stirn. Vor ein paar Jahrhunderten baute man massiver als heute. Das Schloß war handgeschmiedet, die Tür aus massiven Eichenbrettern mit geschnitzten Ranken.
Versuchen wir es trotzdem, dachte er. Nach einem langen Anlauf ließ er sich gegen die Tür fallen, das einzige, was er damit erreichte, war ein heftiger Schmerz in der Schulter. Sie schwoll an, wurde dunkelrot, er konnte den Arm schon nach einer Minute kaum noch heben.
Irgend jemand muß mich doch hören, überlegte er weiter. Sie lebt doch nicht allein auf diesem riesigen Schloß. Es gibt Angestellte. Mädchen, einen Gärtner, vielleicht sogar mehrere. Einer allein kann diesen Prunk gar nicht pflegen, er müßte schon Tag und Nacht arbeiten. Wenn ich schreie, gibt es hier auch Ohren.
Er rannte zum Fenster, riß es auf und brüllte hinaus in den Park. Niemand antwortete, niemand erschien. Nur der Schwan auf dem Teich schlug mit den Flügeln, reckte den Hals und glitt majestätisch weiter. Ein leichter Wind rauschte in den Bäumen, wiegte die Blütenbüsche.
Sonst Stille.
Ein Paradies.
Für Inspektor Labois kam die Stunde des Einsatzes. Vierundzwanzig Stunden waren verstrichen — von Horst Hartung noch keine Nachricht, aber auch keine Spur. Labois hatte im stillen weiter ermittelt. Wettgangster schieden völlig aus — der >Prix Rothschild< war kein
Nationalpreis, außerdem wettete man in Frankreich nur Galopp- oder Trabrennen, Drohungen oder Erpressungen lagen nicht vor, keine Lösegeldforderungen, nicht das leiseste Tatmotiv. Es war der rätselhafteste Fall, den die Pariser Polizei je untersucht hatte. Ein Mann, ein berühmter Springreiter, verschwindet spurlos aus einem Hotel, nachdem er noch detailliert sein Frühstück für den nächsten Morgen bestellt hat. Er gibt der Gräfin de Bericourt ein Autogramm, und von da ab ist er nicht mehr vorhanden.
Labois zögerte. In der Routinearbeit der Polizei ist die letzte Kontaktperson immer die wichtigste. Der letzte, der mit einem Vermißten gesprochen hat, kann — ohne es zu wissen — die Lösung in der Hand halten. Hier war es eine Bericourt, und Labois kam sich selbst lächerlich vor, die Gräfin noch einmal zu verhören. Er hatte vorsichtig Erkundigungen eingezogen — die Jungfrau von Orleans war verdächtiger als Elise.
Fallersfeld blieb bis zuletzt im Hotel, immer noch in der Hoffnung, einen Hinweis über Hartung zu erhalten. Dann fuhr er hinaus nach Saint-Cloud, bleich, übernächtigt, mit müden Augen.
Zehn Uhr früh.
Um vierzehn Uhr begann der erste Umlauf zum Goldenen Pokal.
Noch vier Stunden.
Die deutsche Equipe saß bedrückt auf dem Abreiteplatz. Noch war offiziell nichts bekannt, Laska mit Hartung stand noch auf der Startliste. Mit dem Nachtflugzeug war Jarasinski nach Paris geflogen, um für Hartung einzuspringen. Aber er weigerte sich, Laska zu reiten. Es nützte nichts, daß Fallersfeld brüllte und tobte, ihm den Befehl gab und Konsequenzen androhte.
«Ich mache mich lächerlich auf diesem Biest«, sagte Jarasinski. Es gab keinen deutschen Reiter, der ihm nicht beipflichtete.»Erinnern Sie sich an Hamburg beim M-Springen? Birkel saß auf Laska, weil Hartung eine Gastritis bekam. Vier Hindernisse nahm sie mit Bravour. dann buckelte sie mitten beim Anreiten, warf Birkel ab und machte den Parcours allein und ohne Reiter zu Ende. Null Fehler.
Über Birkel hat alles wochenlang gelacht. Wir haben >Odysseus< bei uns — den reite ich!«
«Odysseus ist in einer Form, daß er sich selbst in den Hintern tritt!«schrie Fallersfeld.»Ich brauche Laska!«
«Ohne mich.«
Was nun werden sollte, war noch nicht geklärt, als Fallersfeld endlich auf dem Platz erschien. Romanowski ritt Laska um das Viereck, sie wirkte ungemein locker, tänzelte, liefdie saubersten Schritte seit Wochen, setzte über die Übungshindernisse, als springe sie über einen Ast. Fallersfeld stützte sich auf den Zaun und starrte Laska an.
«Das Aas ist in Superform«, sagte er, als Winkler sich neben ihn stellte.»Es ist, als wüßte sie, daß sie heute nicht geritten wird, und zeigt uns jetzt alles, was in ihr steckt. Ein perfides Stück! In dieser Form mit Hartung, der Pokal wäre schon im Schrank, bevor das Turnier beginnt! Mein Gott, womit habe ich das verdient?«
«Von Hartung nichts?«fragte Winkler leise.
«Keine Spur.«
«Was macht die Polizei?«
«Labois versucht, mich mit philosophischen Reden aufzuheitern. Ich könnte ihn erwüreen.«
«Wenn man ein Motiv wüßte!«
«Labois' Rede. Selbst Raubmord schaltet aus. Hartungs Brieftasche mit allem Geld und allen Papieren liegt in seinem Zimmer. Er kann nur ein paar Francs in der Tasche gehabt haben.«
«Was wiederum beweist, daß er nicht die Absicht hatte, bummeln zu gehen. Er blieb im Hotel, wollte ja früh ins Bett.«
«Und hat das Bett nicht erreicht! Zum Verrücktwerden ist das!«
«Dann muß er nach dem Gesetz der Logik noch im Hotel sein!«
«Logik! Im Hotel kann doch keiner verschwinden! Jetzt sag bloß noch, der große Unbekannte hat ihn versteckt.«
«Die Zimmermädchen?«
«Kannst du dir vorstellen, daß Hartung zwei Tage in der Kammer eines Zimmermädchens bleibt und alles um sich herum vergißt? Es sei denn, er ist verrückt geworden. Außerdem hat Labois schon längst alle Angestelltenzimmer kontrolliert. Diese blöde Idee hatte er nämlich auch. «Fallersfeld schob plötzlich die Mütze korrekt zurecht und straffte sich. Verwundert folgte Winkler seinem Blick. Ein knallroter Sportwagen fuhr langsam zum Abreiteplatz. Ein breiter weißer Hut leuchtete hinter der Windschutzscheibe.
«Oha!«sagte Winkler und lächelte breit.»Besuch.«
«Eine Gräfin. «Fallersfeld fuhr sich schnell mit beiden Zeigefingern über die Augenbrauen.»Hartung hat zuletzt mit ihr gesprochen.«
«Sieh an, sieh an!«
«Keine dummen Bemerkungen, Hans-Günther. Ein Autogramm wollte sie. Du hast es doch selbst beobachtet.«
«Ach, die ist das?«Winkler blinzelte Fallersfeld zu.»Ich gehe zu Angela.«
«Mein Gott, Angela! Wo ist sie? Wie trägt sie es?«
«Tapfer. Sie sitzt im Stall und wartet.«
«Und weint.«
«Keine Träne. So wenig sie sich leiden mögen, im Grunde sind sie sich ähnlich, Laska und Angela. Sie haben unerschütterliches Vertrauen zu ihrem Herrn. Sie glauben einfach an kein Verbrechen. Und Romanowski, das ist der reine Holzklotz.«
Es war, als habe Romanowski das gehört. Er ritt auf Laska im leichten Trab heran, hielt und nahm seine Sportmütze ab, als bedanke er sich auf dem Parcours bei den Zuschauern. Fallersfeld schielte zu ihm hoch.»Na, Pedro?«
«Kann ick mit ihnen reden, Herr Baron?«
«Immer.«
«Lassen Sie mir reiten, Herr Baron.«
«Das tust du doch.«
«Für Herrchen auf dem Parcours.«
«Wohl durchgedreht, was?«
«Laska pariert mir und sonst keenem. Und wie se loofen kann, det haben Sie ja jesehen. Wenn ick mir in 'n roten Rock zwänge, ick jlobe, heute schaff ick es ooch. Det wäre die beste Lösung.«
«Und in Pulvermanns Graben liegste im Dreck, was?«
Romanowski ritt beleidigt weiter. Pulvermanns Graben — das war ein dunkler Punkt in seinem Reiterleben. Ein einziges Mal hatte er mit Laska eine Übungsrunde ganz durchgesprungen. In Ludwigsburg. Bei Pulvermanns Graben schoß er über Laskas Hals hinaus in den Sand und brach sich zwei Rippen an. Das Beschämendste aber war, daß Laska stehenblieb, umkehrte, ihn mit der Schnauze anstieß und triumphierend wieherte.
Der rote Sportwagen hielt mit leise quietschenden Bremsen. Fallersfeld riß die Mütze herunter, ließ seine weißen Haare im Wind wehen — er wußte, wie attraktiv das auf Frauen wirkte — und ging mit festen Reiterschritten auf den Wagen zu. Elise de Bericourt winkte mit beiden Händen und zeigte dann auf die Pferde im Abreite-viereck.
«Wo ist Laska?«rief sie. Ihre dunkle Stimme kam Fallersfeld wie Samt vor. Schwarzer Samt, nein, roter Samt, tiefroter Samt.
«Dort. Das goldrote Pferd. Pedro, das ist Hartungs Bereiter, steigt gerade ab. «Fallersfeld beugte sich über eine lange, kräftige Hand und küßte sie. Elise nahm es gar nicht wahr, sie blickte hinüber zu Laska. Ihre Lippen schoben sich vor.
«Wer ist das Mädchen, das jetzt bei ihr steht?«
Fallersfeld war es eine Freude, darauf zu antworten.»Angela Die-pholt, die Verlobte Hartungs.«
«Ach, er ist verlobt?«
«Seit Jahren. Nur vor der Heirat reitet er immer davon. «Fallersfeld lachte ausgiebig über dieses Bonmot.»Vor zwei Jahren war es fast soweit, wir putzten uns schon die Stiefel für die Kirche, da entdeckte er Laska. Bums, war alles wieder vorbei. Kein Ehrenspalier. Jetzt hat er nur noch Zeit für Laska.«
«Kann ich mir das Pferd näher ansehen?«
«Aber ja, Gräfin.«
«Ganz nah?«
«Warum nicht?«Fallersfeld führte Elise hinüber zu den Stallungen. Es waren Zelte, die man auf dem Rasen des Parks von Saint-Cloud für das Turnier aufgeschlagen hatte.
Das also ist sie, dachte Elise, je näher sie Angela und Laska kamen. Laska und Angela, meine großen Rivalen. So schön wie ich bist du nicht, Angela. Derber, bäuerlicher, germanisch. Dir fehlt das Fluidum, der südliche Himmel, die Sonne. Meine Haut ist gepflegter, meine Brüste voller, meine Beine schlanker. Sieh dir meine Fesseln an. Mein Gang, meine Haltung, mein Temperament, meine Lebenslust. - Was hast du dagegen? Einen seelenvollen Blick. Wollen Männer so etwas? Du hast verloren, meine kleine Angela. Männer sind Eroberer, Forscher, Abenteurer — ich kann ihnen alles geben: Neuland, Wildnis und Kampf.
Und du, Laska? Von Pferden verstehe ich nicht viel, nur, daß man sie reiten kann und daß sie einen Sattel tragen. Bist du ein schönes Pferd? Ich weiß es nicht. Bist du ein kluges Pferd? Gibt es das? Pferde sind dumm, sagt man. Ihr Kopf ist größer als ihr Verstand. Wie kann man eine Frau wie mich gegen dich eintauschen? Gegen ein Tier! Sie hob die Hand und streichelte Laska über die weichen Nüstern. Fallersfeld kam zu spät, das zu verhindern. Er riß ihr den Arm zurück, als sie Laska schon berührt hatte.
Laskas Kopf zuckte hoch. Die großen Augen wurden starr, die Ohren legten sich an, als seien sie plötzlich mit dem Fell verwachsen.
«Festhalten!«brüllte Romanowski, der mit dem Halfter aus dem Zelt kam.»Zur Seite! Weg!«
Elise de Bericourt spürte, wie Fallersfeld sie packte und wegriß. Im gleichen Augenblick stieg Laska hoch und schlug mit den Vorderhufen zu. Hätte Elise noch auf ihrem Platz gestanden, wäre der Huftritt ihr Ende gewesen.
Pedro war noch zu weit entfernt, um einzugreifen, Fallersfeld zerrte die Gräfin zum Auto, die deutschen Reiter waren verteilt über den Abreiteplatz. Grell wiehernd, den Kopf hochgereckt, setzte Laska zum Lauf an.»Olles Aas!«brüllte Romanowski.»Biste varrückt geworden?«
Ein Ruf, der bisher immer gewirkt hatte. Sagte Pedro >olles Aas<, blieb Laska stehen und wartete erst einmal ab. Aber heute war etwas stärker — ein Geruch, eine Ahnung, eine geheimnisvolle, unerklärliche Kraft. Laska riß sich aus den Zügeln, die Angela umklammerte, los und galoppierte auf den kleinen Wagen zu.
Fallersfeld, mit Pferden aufgewachsen, überblickte sofort die heranbrausende Katastrophe. Niemand hielt Laska mehr auf, es sei denn, man mußte sie erschießen. Aber selbst dazu war keine Zeit mehr. Er warf Elise fast in ihren offenen Wagen und schrie ihr zu:»Starten Sie! Weg! Sie sind schneller!«
Elise de Bericourt zögerte eine Sekunde, und diese Sekunde fehlte ihr. Laska erreichte den roten Wagen, als er anfuhr, aber es genügte noch zu einem Zusammenprall. Er war so heftig, daß das Heck herumschleuderte. Elise gab Vollgas und raste davon. In ihrem Gesicht stand panisches Entsetzen.
Fallersfeld lag auf dem Boden und hielt die Arme schützend über den Kopf gelegt. Aber um Fallersfeld kümmerte sich Laska nicht, sie starrte dem roten Wagen nach, den Kopf hochgeworfen und schnuppernd, jeder Nerv vibrierte. Angela erreichte sie im letzten Moment. Sie konnte noch aufspringen, klammerte sich am Sattel fest und wurde dann mitgerissen in einem Galopp, wie ihn Laska noch nie gelaufen war.
«Seit wann wird sie denn bei Rot wild?«brüllte Fallersfeld, noch immer auf der Erde liegend.»Ist sie mit einem Bullen gekreuzt? Ihr nach! Fangt sie ein! Angela wird sich den Hals brechen!«
Laska galoppierte. Aus dem anfänglichen harten Schritt wurde ein weiches, kräftesparendes Vorwärtsschnellen. Unter ihren Hufen wirbelte der Sand hoch, später ganze Ballen Grasnarben, als sie quer durch den Park raste, gelenkt von Angela, die damit dem roten Wagen den Weg abschneiden wollte.
«Du weißt, wo Herrchen ist«, sagte Angela und umklammerte den Hals des Pferdes. Sie beugte sich zu den anliegenden Ohren und küßte sie.»Hast du ihn gerochen? Nein, du bist kein Hund, ein Pferd hat keine Witterung, sagt man. Aber du hast Herrchen entdeckt. Lauf, mein Mädchen, lauf, sie entkommt uns nicht!«
Es war, als strecke Laska sich. Erwachte die Erinnerung an die Zigeuner? Weite Koppeln, ein unendlicher Himmel, man flog mit den Schwalben um die Wette.
Im Rückspiegel sah Elise, wie das Pferd sie verfolgte. Eine wilde Angst überfiel sie. Das ist nicht möglich. Ein Pferd kann nicht riechen. Ein Pferd hat keinen Verstand. Aber es verfolgt mich.
Sie trat den Gashebel durch, schleuderte auf die Chaussee von Sevres, der Wind riß ihr den Hut vom Kopf, sie beugte sich tief über das Steuerrad und lachte hysterisch.
170 km. Kann ein Pferd so schnell laufen? Bevor es das Schloß erreichte, war Hartung längst abtransportiert. Nach Verrieres, in ein stilles, mitten im Wald gelegenes Jagdhaus.
Der rote Punkt auf der Chaussee wurde immer kleiner. Laska rannte mit donnernden Hufen, Funken sprühten aus dem Asphalt. Vergeblich versuchte Angela, sie zu zügeln. Ihre Beine, dachte sie, ihre wertvollen Beine. Nach dieser wahnsinnigen Jagd über die Chaussee wird sie nie wieder springen können. Ihre Gelenke werden anschwellen wie Ballons. Auf dieser Chaussee stirbt das Wunderpferd Laska.
Elise atmete auf. Sie war allein auf der Straße. Laska war abgehängt, mit jeder Minute vergrößerte sich der Abstand, gewann Elise das ungleiche Rennen. Sie machte schon wieder Pläne. Antibes — die kleine weiße Villa am Mittelmeer. Ererbt von ihrer Mutter, das war ein Liebesnest, wo niemand sie aufstöbern würde. Ein Adlerhorst in den Felsen mit einem Schwimmbecken, in das jeden Tag frisches Meerwasser gepumpt wurde.
Lastwagen kamen ihr entgegen, flogen an ihr vorbei wie Schemen. Schneller, schneller — es geht um Minuten. Hartung muß fort sein, wenn sie das Schloß erreicht. Keiner hat ihn gesehen, keiner. Sie hat nur ein Pferd — ich habe 180 unter der Motorhaube.
Aber Elise blieb nicht lange allein. Eine große schwarze Limousine überholte sie, rauschte an ihr vorbei und verschwand langsam vor ihr im welligen Gelände. Drei unbekannte Männer saßen darin, der vierte, den Elise kennen mußte, hatte den Kopf eingezogen und sich hinter der breiten Schulter seines Nebenmannes versteckt. Wie erwartet warf sie den Kopf herum, als der schwere Wagen sie überholte, aber da es keine Personen vom Turnierplatz waren — die waren anders gekleidet —, wandte sie sich wieder der Straße zu.
Labois setzte sich wieder hoch, als sie Elise aus dem Rückspiegel verloren hatten.»Wer hätte das gedacht?«sagte er kopfschüttelnd.»Man soll die Dame nicht vor dem nächsten Morgen loben!«
Es war alles ziemlich schnell gegangen. Labois hatte mit seinen Leuten gerade den Turnierplatz erreicht, als Laska auf den kleinen roten Wagen sprang und Elise de Bericourt flüchtete. Einer Eingebung folgend, hatte Labois gerufen:»Dem roten Bonbon nach! Lassen Sie das Pferd in Ruhe, das ist mein bester Detektiv!«Dann war die wilde Jagd in vollem Gange, und Labois hielt dabei einen Vortrag über das Seelenleben der Pferde. Es war erstaunlich, was er darüber wußte, denn er hatte nie eine Stunde geritten und außerdem Angst vor Pferden.
Der kleine rote Wagen schleuderte in die Auffahrt von Schloß Be-ricourt, durchraste den Weg bis zur großen Freitreppe und stoppte dort mit kreischenden Bremsen.
Die große schwarze Limousine wartete bereits. Vier Männer standen davor und zogen höflich die Hüte wie bei einem Begräbnis, wenn der Sarg herankommt. Elise erkannte Inspektor Labois sofort.
«Madame«, sagte er mit allem pariserischen Charme,»es gibt ein Pferd, 180 Pferdestärken und 240. Wir hatten 240 und haben gewonnen. Das Recht des Stärkeren. Wo finden wir Monsieur Hartung?«
Wortlos reichte ihm Elise den Schlüssel. Dann wandte sie sich ab, sprang wieder in ihren Wagen und brauste davon. Labois blickte ihr mit geneigtem Kopf nach.»Wem wird es je gelingen, eine Frau zu begreifen?«sagte er langsam. -»Oder ist das gerade das Besondere an den Frauen?«
Um vierzehn Uhr neunzehn ritt Horst Hartung auf Laska zum ersten Umlauf auf dem Parcours. Laska ging etwas steifbeinig — die Chaussee mit ihrer Asphaltdecke lag ihr noch in den Gelenken.
«Oje«, sagte Fallersfeld und griff sich mit seiner typischen Geste an den Kopf.»Die ist hin! Ave, Laska!«
Sie trabte an, fiel in den Aufgalopp — steif, ganz steif, als sei sie aus Holz geschnitzt.»Ich mache die Augen zu«, stöhnte Fallersfeld.»Wer hält mir die Ohren zu?«Das erste Hindernis, ein Birkenoxer, 1 Meter 50 hoch. Laska sprang ab, streckte sich in der Luft und flog hinüber, als sei der Boden aus Gummi und habe sie abgeschnellt.
Mit vier Fehlern in 65,7 Sekunden gewann Hartung auf Laska den >Prix Rothschild< von Paris. Im zweiten Stechen, als ihm niemand mehr eine Chance gab.
Erst im Stallzelt begann Laska zu zittern. Die vier Hufgelenke schwollen an. Und Romanowski, der starke, harte, ewig knurrende Riese Romanowski, kniete vor ihr, kühlte die Füße und weinte.
«Mein olles Biest«, schluchzte er.»Du dämliches Aas, wenn se dir jetzt bloß nich schlachten. Springen kannste nich mehr, aba ick stell mir vor dir! Erst müssen se den Romanowski vor de Rübe hauen!«
«Ich sehe schwarz«, sagte Dr. Rölle vor dem Zelt.»Hartung, ich brauche Ihnen nichts über Pferde zu erzählen. Hält das, was Las-ka hinter sich hat, ein Pferd aus?!«
Hartung antwortete nicht. Er wandte sich ab und ging allein um das Zelt herum in die Dunkelheit.
Es wird heute noch behauptet, daß Hartung hinter dem Zelt gebetet hat.