Drei Wochen nach Schuljahrsbeginn durften die Schülerinnen ihre Eltern am Wochenende besuchen. Daher war es am Sonntag in Meadowbank sehr ruhig, und zum Mittagessen erschienen nur zwanzig Mädchen. Auch einige Lehrerinnen waren fortgefahren, die erst Sonntagabend oder Montag früh zurückkommen würden.
Miss Bulstrode, die im Allgemeinen während der Unterrichtszeit die Schule nicht verließ, hatte ausnahmsweise die Einladung der Herzogin von Welsham angenommen, das Wochenende auf Schloss Welsington zu verbringen. Sie hatte aus einem ganz bestimmten Grund zugesagt. Mr Henry Banks, der Vorsitzende des Aufsichtsrats von Meadowbank, wurde ebenfalls auf Schloss Welsington erwartet. Die Schule war seinerzeit mit der finanziellen Unterstützung von Mr Banks gegründet worden, und die Einladung der Herzogin klang fast wie ein Befehl, bei Hofe zu erscheinen. Selbstverständlich ließ sich Miss Bulstrode nur dann Befehle erteilen, wenn sie ihr in den Kram passten. Sie unterschätzte den Einfluss der Herzogin nicht, außerdem legte sie Wert darauf, mit ihr und mit Mr Banks sowohl die tragischen Ereignisse in Meadowbank als auch ihre persönlichen Probleme zu besprechen.
Dank Miss Bulstrodes guten Beziehungen war der Mord in der Presse taktvoll behandelt worden – mehr wie ein Unglücksfall als wie ein Verbrechen. Es wurde angedeutet – aber nicht wirklich klar ausgesprochen –, dass Jugendliche in der Turnhalle von Miss Springer überrascht worden waren. In der darauf folgenden Panik sei sie erschossen worden. Die Polizei sei den Burschen bereits auf der Spur, schrieben die Zeitungen.
Es war Miss Bulstrode bekannt, dass die Herzogin und Henry Banks sie von ihrem Entschluss, sich bald zur Ruhe zu setzen, abbringen wollten. Sie hielt den Augenblick für gekommen, mit ihnen über Miss Vansittart zu sprechen und ihnen klarzumachen, dass Eleanor eine in jeder Beziehung würdige Nachfolgerin abgeben würde.
Am Sonnabendmorgen, nachdem Miss Bulstrode den letzten Brief diktiert hatte, klingelte das Telefon. Ann Shapland nahm das Gespräch an.
»Der Emir Ibrahim ist im ›Claridge‹ angekommen, Miss Bulstrode«, sagte sie. »Er möchte morgen mit Shanda ausgehen.«
Miss Bulstrode nahm ihr den Hörer aus der Hand, um selbst mit dem Adjutanten des Emirs zu sprechen. Sie sagte, Shanda werde ab halb zwölf am Sonntag bereit sein; abends um acht müsste sie nach Meadowbank zurückkehren.
Dann legte sie den Hörer auf und erklärte: »Ich wünschte, diese orientalischen Potentaten würden einem nicht immer im letzten Augenblick Bescheid sagen. Shanda sollte morgen mit Gisèle d’Aubray ausgehen. Das müssen wir nun wieder umändern. Sind noch irgendwelche Briefe zu schreiben?«
»Nein, Miss Bulstrode.«
»Dann kann ich also mit gutem Gewissen fortfahren. Wenn Sie die Briefe getippt haben, können Sie sich das Wochenende ebenfalls freinehmen. Ich brauche Sie nicht vor Montagmittag.«
»Vielen Dank, Miss Bulstrode.«
»Viel Vergnügen, Miss Shapland.«
»Das bestimmt«, sagte Ann.
»Ein junger Mann?«
»Ja, allerdings.« Ann errötete. »Aber nichts Ernstes.«
»Sehr bedauerlich. Wenn Sie die Absicht haben zu heiraten, verschieben Sie es nicht zu lange.«
»Ich treffe nur einen alten Freund. Nichts Aufregendes.«
»Die große Leidenschaft ist oft nicht die beste Basis für eine gute Ehe«, warnte Miss Bulstrode. »Bitte schicken Sie mir jetzt Miss Chadwick.«
Miss Chadwick kam geschäftig herein.
»Der Emir Ibrahim will morgen mit Shanda ausgehen, Chaddy. Falls er sie selbst abholen sollte, sag ihm bitte, dass sie gute Fortschritte macht.«
»Sehr aufgeweckt ist sie nicht«, erwiderte Miss Chadwick zögernd.
»Ja, geistig ist sie noch ziemlich unreif«, gab Miss Bulstrode zu. »Aber in gewisser Beziehung ist sie weit über ihre Jahre hinaus entwickelt. Man hat manchmal das Gefühl, mit einer Zwanzigjährigen zu reden – wahrscheinlich, weil sie schon soviel herumgekommen ist. Sie hat in Paris, Teheran, Istanbul und wer weiß wo noch gelebt. Wir in England legen Wert darauf, junge Menschen so lange wie möglich als Kinder zu betrachten. Aber wahrscheinlich ist das ein Fehler.«
»Ich bin da nicht ganz deiner Meinung«, erwiderte Miss Chadwick kopfschüttelnd. »So, jetzt werde ich Shanda über die Pläne ihres Onkels informieren. Ich wünsche dir ein angenehmes Wochenende. Vergiss mal alles, und mach dir keine Sorgen um die Schule.«
»Bestimmt nicht«, erwiderte Miss Bulstrode. »Ich betrachte es als eine gute Gelegenheit, Eleanor Vansittart die Verantwortung zu übertragen und zu sehen, ob sie der Aufgabe gewachsen ist. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass alles gut gehen wird – schließlich bist du ja auch noch da.«
Shanda sah erstaunt und nicht sehr erfreut aus, als Miss Chadwick ihr von der Ankunft ihres Onkels in London erzählte.
»Aber ich wollte doch morgen mit Gisèle d’Aubray und ihrer Mutter ausgehen, Miss Chadwick«, sagte sie enttäuscht. »Mein Onkel ist gar nicht amüsant. Er grunzt so beim Essen, und es ist alles sehr langweilig.«
»So dürfen Sie nicht über Ihren Onkel sprechen, Shanda. Wie ich höre, ist er nur für eine Woche in England. Natürlich möchte er Sie sehen.«
Shandas mürrisches Gesicht klärte sich plötzlich auf.
»Vielleicht hat er eine neue Heirat für mich arrangiert. Das wäre wunderbar.«
»Mag sein, aber vorläufig sind Sie noch viel zu jung zum Heiraten. Zuerst müssen Sie noch eine Menge lernen und Ihre Bildung vervollständigen.«
»Bildung ist langweilig«, erklärte Shanda.
Der Sonntag war ein klarer, schöner Tag. Miss Shapland war am Sonnabend, kurz nach Miss Bulstrode, fortgefahren. Miss Johnson, Miss Rich und Miss Blake verließen die Schule am Sonntagmorgen.
Miss Vansittart, Miss Chadwick, Miss Rowan und Mademoiselle Blanche waren zurückgeblieben.
»Ich hoffe, die Mädchen werden zuhause nicht zu viel über den Tod der armen Miss Springer reden«, seufzte Miss Chadwick.
»Hoffen wir, dass der ganze Vorfall bald in Vergessenheit geraten wird«, entgegnete Miss Vansittart und fügte hinzu: »Falls irgendwelche Eltern mich ausfragen wollen, werde ich mich höflich, aber entschieden weigern, den Fall zu diskutieren.«
Gegen halb zwölf begannen die Autos vorzufahren. Miss Vansittart stand lächelnd, würdig und huldvoll in der Vorhalle. Sie begrüßte die Mütter mit einigen liebenswürdigen Worten, die sich auf deren Sprösslinge bezogen. Allen unangenehmen Fragen über den Mord wich sie höflich und geschickt aus.
»Grauenhaft, ganz grauenhaft«, sagte sie. »Sie werden verstehen, dass wir den Fall, mit Rücksicht auf die Mädchen, hier nicht weiter erwähnen.«
Julia und Jennifer pressten ihre Nasen gegen ein Fenster und beobachteten das Kommen und Gehen der verschiedenen Besucher.
»Tante Isabel hätte wirklich mit mir ausgehen können«, beklagte sich Julia.
»Meine Mutter holt mich nächsten Sonntag ab, weil Daddy heute wichtigen Geschäftsbesuch hat«, erklärte Jennifer.
»Sieh mal, da kommt Shanda. Die hat sich aber mächtig rausgeputzt«, sagte Julia. »Ein Glück, dass Miss Johnson ihre Stöckelschuhe nicht gesehen hat!«
Ein livrierter Chauffeur öffnete die Tür eines riesigen Cadillacs. Shanda kletterte hinein, und das Auto fuhr ab.
»Ich habe Mum geschrieben, dass ich nächste Woche eine Freundin mitbringen möchte. Du hast doch Lust mitzukommen?«, fragte Jennifer.
»Schrecklich gern. Vielen Dank«, erwiderte Julia. »Sieh nur, wie huldvoll sich Miss Vansittart gibt. Ich könnte mich kranklachen. Sie gibt sich solche Mühe, Miss Bulstrode nachzuahmen. Leider wirkt es nur wie eine Parodie.«
»Guck mal, da ist Pams Mutter mit den beiden kleinen Jungen. Ob die wirklich alle in dem winzigen Morris Platz haben?«
»Sie machen einen Ausflug. Sieh mal die beiden großen Picknickkörbe.«
»Was hast du heute Nachmittag vor?«, fragte Jennifer. »Ich brauche nicht nachhause zu schreiben, weil ich Mum ja nächste Woche sehe.«
»Du bist faul, Jennifer.«
»Ich weiß nie, was ich schreiben soll.«
»Mir fällt immer furchtbar viel ein«, erklärte Julia. »Leider hat es für mich wenig Sinn zu schreiben, weil Mummy in einem Autobus durch Anatolien gondelt.«
»Hat sie dir keine Adresse hinterlassen?«, fragte Jennifer.
»Doch, eine ganze Latte von Konsulaten. Das Erste in Istanbul, dann Ankara und dann irgendein komischer Name, den ich vergessen habe.« Nach kurzer Pause fügte sie nachdenklich hinzu: »Ich möchte nur wissen, warum Bully sich unbedingt mit Mummy in Verbindung setzen wollte.«
»Bestimmt nicht deinetwegen. Du hast doch nichts ausgefressen, Julia – oder?«
»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Julia. »Vielleicht wollte sie ihr über die Springer schreiben.«
»Glaube ich kaum«, meinte Jennifer. »Wahrscheinlich ist sie heilfroh, dass wenigstens eine Mutter nichts von dem Mord weiß.«
»Warum? Glaubst du, dass unsere Mütter fürchten, man könnte ihre Töchter ermorden?«
»Ganz so schlimm wird’s wohl nicht sein«, entgegnete Jennifer. »Aber meine Mutter hat sich mächtig aufgeregt über die ganze Sache.«
»Ich hab den Verdacht, dass man uns nur die Hälfte erzählt hat«, äußerte Julia.
»Wie kommst du darauf?«
»Schwer zu sagen, aber es geschehen so sonderbare Dinge. Zum Beispiel die Geschichte mit deinem neuen Tennisschläger.«
»Ja, wirklich, ich wollte dir nämlich gerade erzählen, dass ich mich bei Tante Gina bedankt habe. Daraufhin hat sie mir geschrieben, sie freue sich, dass ich nun einen neuen Tennisschläger hätte, aber sie habe ihn mir nicht geschickt.«
»Ich fand das Ganze von Anfang an höchst mysteriös«, verkündete Julia triumphierend. »Und dann ist doch auch bei euch zuhause eingebrochen worden, nicht wahr?«
»Ja, aber gestohlen haben sie nichts.«
»Dadurch wird die Sache nur noch interessanter«, stellte Julia fest. »Ich vermute, dass bald ein zweiter Mord stattfinden wird«, fügte sie düster hinzu.
»Wie kommst du denn nur darauf, Julia?«
»In den meisten Kriminalromanen passiert ein zweiter Mord«, erwiderte Julia. »Ich habe das Gefühl, dass du dich sehr vorsehen musst, Jennifer, wenn du dem Mörder nicht zum Opfer fallen willst.«
»Ich? Warum sollte jemand ein Interesse daran haben, mich zu ermorden?«, fragte Jennifer verblüfft.
»Weil du irgendwie in den Fall verwickelt bist«, erklärte Julia. »Wir müssen nächsten Sonntag versuchen, deine Mutter auszuhorchen, Jennifer. Vielleicht hat ihr jemand in Ramat Geheimpapiere übergeben…«
»Was für Geheimpapiere?«
»Ach, woher soll ich das wissen«, entgegnete Julia ungeduldig. »Geheimpläne, oder eine Formel für neue Kernwaffen. Es gibt tausend Möglichkeiten.«
Jennifer schüttelte den Kopf.
Miss Vansittart und Miss Chadwick saßen zusammen im Wohnzimmer, als Miss Rowan hereinkam und fragte:
»Wo ist Shanda? Ich kann sie nirgends finden. Der Wagen des Emirs ist eben angekommen, um sie abzuholen.«
Chaddy blickte erstaunt auf.
»Das muss ein Irrtum sein. Der Wagen des Emirs hat Shanda bereits vor einer Dreiviertelstunde hier abgeholt. Ich habe sie selbst einsteigen und abfahren sehen.«
Eleanor Vansittart zuckte die Achseln.
»Wahrscheinlich sind versehentlich zwei Autos bestellt worden«, meinte sie.
Sie ging hinaus und sprach mit dem Chauffeur.
»Ich verstehe das nicht«, sagte der Fahrer. »Man hat mir gesagt, ich soll die junge Dame aus Meadowbank abholen und nach London bringen.«
»Dann muss es sich um ein Missverständnis handeln«, erklärte Miss Vansittart.
»Schon möglich«, erwiderte der Fahrer. »In unserer Firma hat sich bestimmt niemand geirrt, aber bei diesen orientalischen Herren, die mit einem ganzen Stab von Leuten reisen, werden manchmal Anweisungen doppelt gegeben. So wird’s wohl gewesen sein.«
Mit diesen Worten wendete er den großen Wagen geschickt und fuhr davon.
Miss Vansittart sah ihm einen Augenblick unsicher nach, dann kam sie zum Schluss, dass kein Grund zur Besorgnis vorlag, und sie begann, sich auf einen friedlichen Nachmittag zu freuen.
Nach dem Mittagessen schrieben die wenigen zurückgebliebenen Schülerinnen Briefe, gingen im Garten spazieren, spielten Tennis oder schwammen.
Miss Vansittart setzte sich unter die Schatten spendende Zeder, um Briefe zu schreiben. Miss Chadwick blieb im Haus, und als um halb fünf das Telefon läutete, ging sie an den Apparat.
»Meadowbank?«, fragte eine kultivierte junge Männerstimme. »Kann ich bitte mit Miss Bulstrode sprechen?«
»Miss Bulstrode ist nicht da. Hier spricht Miss Chadwick.«
»Ich rufe im Auftrag von Emir Ibrahim aus dem ›Claridge‹ an. Es handelt sich um seine Nichte…«
»Um Shanda?«
»Ja. Der Emir ist erstaunt und ärgerlich, weil man ihm nicht Bescheid gesagt hat.«
»Bescheid? Worüber?«
»Dass seine Nichte nicht kommen kann.«
»Was soll das heißen? Ist Shanda noch nicht angekommen?«
»Nein, aber wenn ich Sie richtig verstehe, hat sie Meadowbank verlassen.«
»Allerdings. Das Auto hat sie um halb zwölf hier abgeholt.«
»Das verstehe ich nicht. Dann müsste sie doch längst hier sein…«
»Hoffentlich hatte sie keinen Unfall«, sagte Miss Chadwick besorgt.
»Man sollte nicht immer gleich an das Schlimmste denken«, erwiderte der junge Mann beruhigend. »Wir oder Sie wären längst benachrichtigt worden, wenn sie einen Unfall gehabt hätte. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Aber Miss Chadwick machte sich Sorgen.
»Ich kann das einfach nicht verstehen«, sagte sie.
»Wäre es möglich…«
Der junge Mann zögerte.
»Ja?«, fragte Miss Chadwick.
»Ich habe nicht die Absicht, es dem Emir gegenüber zu erwähnen, aber halten Sie es – im Vertrauen gesagt – für möglich, dass ein junger Mann dahinter steckt?«
»Das ist völlig ausgeschlossen«, erwiderte Miss Chadwick würdevoll.
Aber war es wirklich ausgeschlossen? Was wusste man schon von den jungen Mädchen?
Sie legte den Hörer auf und begab sich, fast widerwillig, auf die Suche nach Miss Vansittart. Es war nicht anzunehmen, dass Miss Vansittart die Lage besser beurteilen konnte als sie, aber Miss Chadwick hielt es für ihre Pflicht, sie um Rat zu fragen.
»Das zweite Auto…«, sagte Miss Vansittart.
Sie sahen sich wortlos an. Schließlich fragte Chaddy zögernd: »Müssten wir nicht die Polizei verständigen?«
»Nein, bestimmt nicht die Polizei«, erwiderte Miss Vansittart verstört.
»Shanda fürchtete, dass jemand sie entführen wollte«, entgegnete Chaddy.
»Entführung? Unsinn!«, erwiderte Miss Vansittart scharf. »Miss Bulstrode hat mir für die Zeit ihrer Abwesenheit die Verantwortung für die Schule übertragen. Ich habe nicht die Absicht, diese Angelegenheit der Polizei zu melden und neue Schwierigkeiten heraufzubeschwören.«
Miss Chadwick betrachtete sie missbilligend. Sie hielt Eleanor Vansittarts Entschluss für kurzsichtig und töricht. Sie ging zurück ins Haus und rief im Schloss Welsington an. Unglücklicherweise war niemand zuhause.