Hercule Poirot, innerlich darauf vorbereitet, dass eine Schulvorsteherin einem Ausländer mit spitzen Lackschuhen und einem großen Schnurrbart mit einem gewissen Misstrauen begegnen würde, war angenehm überrascht, als Miss Bulstrode ihn mit höflicher Zuvorkommenheit begrüßte. Er stellte mit Genugtuung fest, dass sie wusste, wer er war.
»Herzlichen Dank für Ihren prompten Anruf, Monsieur Poirot«, sagte sie. »Glücklicherweise hatten wir uns um Julia keine Sorgen gemacht, da ihre Abwesenheit noch gar nicht bemerkt worden war.« Sie wandte sich an Julia. »Heute Vormittag sind so viele Schülerinnen abgeholt worden, dass ein weiterer leerer Platz beim Mittagessen niemandem aufgefallen ist. Ich bin erst nach dem Telefongespräch in Ihr Zimmer gegangen, wo ich Ihr Briefchen vorfand.«
»Sie sollten nicht denken, dass ich entführt worden bin, Miss Bulstrode.«
»Das war eine gute Idee, Julia. Aber warum haben Sie mich nicht über Ihre Pläne informiert?«
»Weil ich es nicht für angebracht hielt«, erwiderte Julia. Sie fügte geheimnisvoll hinzu: »Les oreilles ennemies nous écoutent.«
»Eine besonders gute Aussprache hat Mademoiselle Blanche Ihnen aber noch nicht beigebracht«, bemerkte Miss Bulstrode kopfschüttelnd. »Doch ich will Ihnen keine Vorwürfe machen.« Sie blickte von Julia zu Poirot. »Würden Sie so gut sein, mir jetzt genau zu schildern, was sich ereignet hat, Julia?«
»Sie gestatten?«, sagte Hercule Poirot. Er ging schnell zur Tür, öffnete sie und sah hinaus. Dann schloss er sie mit einer übertriebenen Geste und kehrte lächelnd zurück.
»Wir sind allein«, bemerkte er. »Wir können fortfahren.«
Miss Bulstrode blickte von ihm zur Tür, dann wieder auf Poirot. Sie hob die Augenbrauen. Poirot erwiderte ihren Blick, und Miss Bulstrode senkte, fast unmerklich, den Kopf. Dann sagte sie mit ihrer üblichen forschen Stimme: »So, und jetzt können Sie mir alles berichten, Julia.«
Julia erzählte vom Austausch der Tennisschläger, von der fremden Dame und schließlich von den Edelsteinen, die sie im Griff des Tennisschlägers gefunden hatte.
Poirot bestätigte Julias Schilderung der Ereignisse.
»Mademoiselle Julia hat einen genauen Bericht abgegeben«, erklärte er. »Ich habe die Juwelen an mich genommen und sie in einer Bank deponiert. Daher glaube ich, dass Sie keine weiteren unangenehmen Zwischenfälle in Meadowbank zu befürchten haben.«
»Ich verstehe«, erwiderte Miss Bulstrode. »Ich verstehe…« Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: »Halten Sie es für richtig, dass Julia hier bleibt? Wäre es nicht besser, wenn sie zu ihrer Tante nach London ginge?«
»Bitte, bitte, lassen Sie mich hier bleiben«, bat Julia. »Ich bin so schrecklich gern in Meadowbank, und gerade jetzt ist es so aufregend.«
»Darauf legen wir im Allgemeinen hier keinen Wert«, erwiderte Miss Bulstrode trocken.
»Ich glaube nicht, dass Julia gefährdet ist«, erklärte Poirot. Er blickte wieder zur Tür.
»Ich denke, ich verstehe«, sagte Miss Bulstrode.
»Ich setze natürlich voraus, dass Julia diskret ist«, bemerkte Poirot.
»Monsieur Poirot wünscht, dass Sie den Mund halten, Julia, und nicht mit den anderen Mädchen über Ihre Entdeckung reden. Werden Sie das fertigbringen?«, fragte Miss Bulstrode.
»Ja«, versicherte Julia.
»Die Versuchung, Ihren Freundinnen zu erzählen, was Sie in dem Tennisschläger gefunden haben, muss groß sein. Aber es ist aus bestimmten Gründen sehr wichtig, dass nicht darüber gesprochen wird«, erklärte Poirot.
»Kann ich mich auf Sie verlassen, Julia?«, fragte Miss Bulstrode.
»Ja. Ehrenwort.«
»Ich hoffe, dass Ihre Mutter bald zurückkommt«, meinte Miss Bulstrode lächelnd.
»Das hoffe ich auch«, entgegnete Julia.
»Kommissar Kelsey hat bereits versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Leider sind die Autobusverbindungen in Anatolien schlecht, und die Fahrpläne werden oft nicht eingehalten.«
»Aber Mummy kann ich es doch erzählen, nicht wahr?«, fragte Julia.
»Selbstverständlich. So, und jetzt möchte ich mich noch einen Augenblick mit Monsieur Poirot allein unterhalten«, sagte Miss Bulstrode.
Julia ging und machte die Tür hinter sich zu. Miss Bulstrode fixierte Poirot einen Augenblick schweigend.
»Ich nehme an, dass ich Sie richtig verstanden habe«, sagte sie endlich. »Als Sie vorhin an der Tür waren, ließen Sie diese absichtlich einen Spalt offen, nicht wahr?«
Poirot nickte.
»Damit unsere Unterhaltung draußen gehört werden konnte?«
»Ja, falls jemand die Absicht gehabt haben sollte. Es war eine Vorsichtsmaßnahme im Hinblick auf Julia. Es muss sich herumsprechen, dass die Juwelen nicht mehr in ihrer Hand sind, sondern im Tresor einer Bank.«
Miss Bulstrode presste die Lippen zusammen.
»Diese Angelegenheit muss jetzt zu einem Ende kommen«, erklärte sie entschlossen.
»Ich halte es vor allen Dingen für wichtig, dass wir unsere Ideen und Informationen austauschen«, erklärte der Polizeichef. »Wir freuen uns, dass Sie uns bei unserer Aufgabe helfen wollen, Monsieur Poirot. Auch Kommissar Kelsey erinnert sich noch sehr gut an Sie«, fügte er hinzu.
»Ja, obwohl es schon viele Jahre her ist, dass ich die Ehre hatte, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Kelsey. »Ich war damals noch ein Anfänger und arbeitete unter Polizeichef Warrender.«
»Mr Adam Goodman – wie wir ihn augenblicklich nennen – ist Ihnen nicht bekannt, Monsieur Poirot«, fuhr der Polizeichef fort. »Sie dürften allerdings seinen Vorgesetzten kennen – Spezialabteilung.«
»Colonel Pikeaway?«, fragte Hercule Poirot nachdenklich. »Ich habe ihn lange nicht gesehen. Ist er noch immer so verschlafen?«
Adam lachte.
»Sie kennen ihn wirklich gut, Monsieur Poirot. Ich habe ihn noch nie völlig wach gesehen; wenn das einmal vorkommen sollte, werde ich wissen, dass er nicht ganz bei der Sache ist.«
»Gut beobachtet, junger Freund«, bemerkte Poirot anerkennend.
»Aber wir wollen zur Sache kommen«, mahnte der Polizeichef. »Ich habe nicht die Absicht, Ihnen meine eigenen Theorien auseinanderzusetzen. Ich möchte vielmehr hören, was die Herren, die den Fall bearbeiten, dazu zu sagen haben. Ich will nur eine Angelegenheit klären, die mir von gewisser Seite nahe gelegt worden ist.« Er sah Poirot an. »Nehmen wir an, dass ein junges Mädchen – eine Schülerin – zu Ihnen kam und behauptete, im ausgehöhlten Griff eines Tennisschlägers etwas gefunden zu haben. Sagen wir, eine Sammlung imitierter Edelsteine, vielleicht waren es sogar Halbedelsteine, die oft genauso schön sind wie echte Steine. Selbstverständlich wäre jedes Kind über einen solchen Fund ungeheuer erregt, und wahrscheinlich würde es den Wert einer solchen Sammlung weit überschätzen…« Er sah Poirot scharf an. »Halten Sie das nicht auch für möglich?«
»Ich halte es für durchaus möglich«, erwiderte Poirot.
»Gut«, sagte der Polizeichef. »Da die Person, die diese… diese bunten Steine ins Land brachte, nichts davon wusste und also ganz unschuldig war, ziehen wir die Möglichkeit eines Schmuggels in Betracht.
Ferner erhebt sich die Frage nach außenpolitischen Verwicklungen, die wir unbedingt vermeiden wollen… Aber einen Mord kann man nicht geheim halten, und selbstverständlich haben die Zeitungen darüber berichtet, ohne jedoch die Juwelen zu erwähnen. Ich wäre dafür, es im Augenblick dabei zu lassen.«
»Das ist auch meine Meinung«, erklärte Poirot. »Man darf gewisse internationale Komplikationen nicht unnötig heraufbeschwören.«
»Sehr richtig. Der verstorbene Herrscher von Ramat galt als Freund dieses Landes. Ich glaube bestimmt, dass die zuständigen Stellen seinen Wünschen entsprechend vorgehen möchten, falls sich ein Teil seines Eigentums in England befinden sollte. Über Art und Ausmaß dieses Eigentums weiß natürlich niemand Bescheid, und das ist gut so, denn dadurch sind wir nicht in der Lage, etwaige diesbezügliche Fragen der neuen Regierung von Ramat zu beantworten.«
»Très bien. Man kann mit gutem Gewissen behaupten, dass man nichts Genaues über den Privatbesitz des verstorbenen Herrschers weiß, aber die Angelegenheit im Auge behalten wird«, sagte Poirot.
Der Polizeichef stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Ich danke Ihnen, Monsieur Poirot. Wir verstehen uns.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Wie ich weiß, haben Sie in Regierungskreisen Freunde, die volles Vertrauen zu Ihnen haben, Monsieur Poirot. Sie würden Wert darauf legen, einen gewissen Gegenstand vorläufig in Ihrer Obhut zu lassen – falls Sie nichts dagegen einzuwenden haben?«
»Ich habe nichts dagegen«, erwiderte Poirot. »Lassen wir es dabei bewenden. Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen, nicht wahr? Denn was sind drei viertel Millionen Pfund – oder mehr – im Vergleich zu einem Menschenleben?«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, erklärte der Polizeichef.
»Ich auch«, bekräftigte Kelsey. »Wir sind auf der Suche nach einem Mörder. Vorläufig tappen wir noch im Dunkeln, und wir brennen darauf, Ihre Meinung zu hören, Monsieur Poirot. Das Ganze ist wie ein wirres Knäuel von bunten Wollfäden.«
»Eine ausgezeichnete Beschreibung«, lobte Poirot. »Es ist unsere Aufgabe, diese Fäden zu entwirren und die richtige Farbe zu isolieren – die Farbe des Mörders… Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie noch einmal in allen Einzelheiten wiederholen würden, was sich bisher abgespielt hat.«
Poirot lehnte sich zurück, um zuzuhören.
Zuerst sprach Kommissar Kelsey, dann Adam Goodman. Schließlich fasste der Polizeichef die Berichte noch einmal kurz zusammen.
Poirot lauschte mit geschlossenen Augen. Dann nickte er.
»Zwei Morde«, sagte er. »Am gleichen Ort, unter den gleichen Bedingungen. Eine Entführung. Das entführte Mädchen könnte unter Umständen im Mittelpunkt des verbrecherischen Plans stehen. Versuchen wir festzustellen, warum sie entführt worden ist.«
Kelsey gab die Unterhaltung wieder, die er mit Shanda gehabt hatte. »Ich hielt das Ganze für Wichtigtuerei«, gestand er.
»Aber die Tatsache, dass sie entführt worden ist, lässt sich nicht leugnen. Warum?«
»Man hat Lösegeld verlangt…«, sagte Kelsey langsam.
»Aber nicht ernsthaft darauf bestanden, nicht wahr?«, fragte Poirot. »Man hat es nur verlangt, um die Theorie einer Entführung zu unterstreichen, habe ich Recht?«
»Ja. Die Verabredungen wurden nicht eingehalten.«
»Shanda muss also aus einem anderen Grund entführt worden sein. Aus welchem Grund?«
»Vielleicht wollte man von ihr erfahren, wo die Wertgegenstände verborgen sind?«, meinte Adam unsicher.
Poirot schüttelte den Kopf.
»Davon wusste sie nichts, das steht fest. Nein, es muss einen anderen Grund gehabt haben…«
Er schwieg einen Augenblick mit gerunzelter Stirn. Plötzlich stellte er eine Frage:
»Ihre Knie! Haben Sie jemals ihre Knie bemerkt?«
Adam sah ihn erstaunt an.
»Nein. Warum sollte ich?«
»Es gibt viele Gründe, warum ein Mann die Knie eines Mädchens bemerkt. Leider haben Sie es nicht getan«, erwiderte Poirot.
»Hatte sie vielleicht eine Narbe am Knie? Oder etwas Ähnliches?«, fragte Adam. »Ich habe jedenfalls nichts gesehen, da die Röcke der jungen Mädchen vorschriftsmäßig die Knie bedecken.«
»Haben Sie sie niemals im Schwimmbad gesehen?«, fragte Poirot hoffnungsvoll.
»Bestimmt nicht. Sie ist nie ins Wasser gegangen; war ihr zu kalt, nehme ich an. Sie war an ein wärmeres Klima gewöhnt. Denken Sie an eine Narbe?«
»Nein, nein. Durchaus nicht… jammerschade.«
Poirot wandte sich zum Polizeichef.
»Wenn Sie gestatten, werde ich mich mit meinem alten Freund, dem Polizeipräsidenten von Genf, in Verbindung setzen. Er wird uns vielleicht helfen können.«
»Handelt es sich um etwas, das sich während ihrer dortigen Schulzeit ereignet hat?«
»Schon möglich. Sie haben nichts dagegen? Gut. Es ist nur so eine meiner Ideen…« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Die Presse hat die Entführung doch bisher nicht erwähnt?«
»Nein, auf ausdrücklichen Wunsch des Emirs Ibrahim.«
»Aber ich habe in einem Feuilleton etwas über eine junge Ausländerin gelesen, die plötzlich aus ihrem Internat verschwand. Der Journalist deutete an, dass es sich um eine Liebesgeschichte handeln würde, nicht wahr?«
»Das war meine Idee«, erklärte Adam. »Ich hielt es für eine gute fälsche Fährte.«
»Hervorragend!«, lobte Poirot. »Und nun wenden wir uns von der Entführung ab und dem Mord zu. Zwei Morde in Meadowbank.«