23


Miss Bulstrode hatte alle Lehrerinnen in einem der kleineren Klassenzimmer um sich versammelt: Miss Chadwick, Miss Johnson, Miss Rich und die beiden jungen Lehrerinnen. Ann Shapland hatte ihren Stenoblock parat, um nötigenfalls mitzuschreiben. Neben Miss Bulstrode saß Kommissar Kelsey und neben diesem Hercule Poirot. Adam Goodman saß in einer Ecke. Miss Bulstrode erhob sich.

»Es ist meine Pflicht«, sagte sie mit ruhiger, sicherer Stimme, »Ihnen allen mitzuteilen, was wir bisher erfahren haben. Kommissar Kelsey hat mich auf dem Laufenden gehalten. Monsieur Hercule Poirot, der internationale Verbindungen besitzt, ist es gelungen, wichtige Informationen aus der Schweiz zu bekommen. Er selbst wird Ihnen später darüber berichten. Leider sind unsere Nachforschungen noch nicht beendet, aber gewisse Dinge haben sich inzwischen aufgeklärt. Ich glaube, es wird allen eine Beruhigung sein zu erfahren, wie die Sache im Augenblick steht.«

Miss Bulstrode sah Kommissar Kelsey an, und dieser stand auf.

»Offiziell bin ich nicht befugt, Ihnen alles mitzuteilen, was ich weiß. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass wir Fortschritte machen und zu wissen glauben, wer für die drei Verbrechen verantwortlich ist. Mehr möchte ich jetzt nicht sagen. Mein Freund, Hercule Poirot, der nicht zum Schweigen verpflichtet ist, wird Ihnen nun gewisse Informationen geben, die er selbst uns verschafft hat. Ich weiß, dass Miss Bulstrode sich auf Sie und Ihre Diskretion verlassen kann. Sie werden begreifen, dass Klatsch und Gerede unbedingt vermieden werden müssen. Ist das klar?«

»Selbstverständlich, wir sind alle bereit, Meadowbank die Treue zu halten«, sagte Miss Chadwick emphatisch.

»Selbstverständlich«, versicherten Miss Johnson und die beiden jungen Lehrerinnen.

»Das versteht sich von selbst«, erklärte Eileen Rich.

»Darf ich bitten, Monsieur Poirot?«

Hercule Poirot stand auf, lächelte liebenswürdig und zwirbelte seinen Schnurrbart. Die beiden jungen Lehrerinnen konnten ein Kichern nur mit Mühe unterdrücken.

»Ich weiß, dass Sie alle viel durchgemacht haben und dass Miss Bulstrode selbstverständlich am schwersten betroffen ist. Sie haben drei Ihrer Kolleginnen verloren, von denen eine seit Langem in Meadowbank tätig war, nämlich Miss Vansittart. Obwohl Miss Springer und Mademoiselle Blanche erst kurze Zeit hier waren, muss auch ihr Tod ein schwerer Schock für Sie gewesen sein. Sie selbst hatten zweifellos das Gefühl, in Gefahr zu sein, denn es schien, dass eine Art Vendetta gegen die Lehrerinnen dieser Schule im Gange war. Kommissar Kelsey und ich können Ihnen jedoch versichern, dass das nicht der Fall ist. Durch eine Serie unglücklicher Zufälle wurde Meadowbank zum Zentrum zweifelhafter Umtriebe. Es gab da, so könnte man sagen – eine Katze im Taubenschlag. Drei Morde und eine Entführung haben stattgefunden. Ich werde mich zuerst mit der Entführung beschäftigen, denn obwohl es sich auch hier um ein Verbrechen handelt, dürfen wir uns dadurch nicht ablenken lassen. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich in unserer Mitte ein Mörder befindet, der vor nichts zurückschreckt.«

Er nahm eine Fotografie aus der Tasche.

»Zuerst möchte ich Ihnen diese Fotografie zeigen.«

Kelsey nahm sie ihm ab und gab sie Miss Bulstrode, die sie an die Lehrerinnen weiterreichte. Nachdem Poirot das Foto wieder an sich genommen hatte, betrachtete er aufmerksam alle Gesichter. Sie waren alle ausdruckslos.

»Erkennt jemand von Ihnen das Mädchen auf diesem Bild?«

Alle schüttelten die Köpfe.

»Sie sollten sie aber erkennen«, sagte Poirot. »Ich habe diese Fotografie aus Genf bekommen. Es ist ein Bild von Prinzessin Shanda.«

»Aber das ist doch nicht Shanda!«, rief Miss Chadwick erregt.

»Doch«, erwiderte Poirot. »Ich werde das Rätsel lösen. Die ganze Verwicklung hat ihren Ursprung in Ramat, wo, wie Sie wissen, vor drei Monaten ein Staatsstreich stattgefunden hat. Es gelang dem Herrscher, Prinz Ali Yusuf, mit seinem Privatpiloten zu entkommen. Jedoch stürzte das Flugzeug in den Bergen nördlich von Ramat ab und wurde erst später aufgefunden. Ein gewisser Wertgegenstand, den Prinz Ali immer bei sich trug, war verschwunden. In dem zertrümmerten Flugzeug wurde er nicht gefunden, und es verbreitete sich das Gerücht, er sei nach England geschafft worden. Verschiedene Gruppen von Leuten versuchten nun, sich diesen Wertgegenstand anzueignen. Ein Weg dazu führte über die einzige nahe Verwandte des Prinzen, seine Kusine, die in der Schweiz zur Schule ging. Es war anzunehmen, dass dieser Wertgegenstand in die Hände der Prinzessin Shanda gelangen würde, falls er sich nicht mehr in Ramat befand. Ihr Onkel, der Emir Ibrahim, wurde von gewissen Agenten heimlich überwacht, andere behielten die Prinzessin selbst im Auge. Es war bekannt, dass sie zu Beginn dieses Schuljahrs nach Meadowbank kommen sollte. Selbstverständlich würde sie in diesem Fall auch hier weiter beobachtet werden. Jedoch fand man einen viel einfacheren Ausweg. Man beschloss, Shanda zu entführen und statt ihrer eine junge Person nach Meadowbank zu schicken, die sich als Prinzessin Shanda ausgab. Man konnte das ruhig tun, weil der Emir Ibrahim in Ägypten war und England erst im Spätsommer besuchen wollte. Miss Bulstrode selbst hatte das Mädchen vorher noch nie gesehen, alle Verhandlungen waren über das Londoner Konsulat gegangen.

Die echte Shanda verließ die Schweiz angeblich in Begleitung eines Vertreters der englischen Gesandtschaft. Tatsächlich war der Gesandtschaft mitgeteilt worden, dass sie von einer der Lehrerinnen der Schweizer Schule nach England gebracht werden würde. Die wahre Shanda wurde in ein reizendes Schweizer Chalet in den Bergen gebracht, in dem sie noch immer weilt. Ein anderes junges Mädchen kam in London an, wo es von einem Vertreter der Gesandtschaft empfangen und nach Meadowbank gebracht wurde. Dieses Mädchen war natürlich wesentlich älter als die Prinzessin, aber das würde nicht weiter auffallen, da Orientalinnen oft älter aussehen, als sie sind. Eine junge französische Schauspielerin, die oft Schulmädchenrollen spielt, übernahm es, als Prinzessin Shanda aufzutreten.

Ich habe mich neulich erkundigt, ob jemandem die Knie der Prinzessin aufgefallen sind«, fuhr Poirot fort. »Knie geben nämlich zuverlässigen Aufschluss über das Alter eines Menschen. Man kann die Knie einer Frau von fünfundzwanzig unmöglich mit den Knien einer Fünfzehnjährigen verwechseln. Leider waren sie niemandem aufgefallen.

Der Plan erwies sich allerdings nicht als erfolgreich. Niemand versuchte, sich mit Shanda in Verbindung zu setzen; sie erhielt weder Briefe noch Telefonanrufe. Man begann zu fürchten, dass der Emir Ibrahim eher als geplant nach England kommen würde, denn er ist ein Mann schneller und unvorhergesehener Entschlüsse.

Die falsche Shanda war sich darüber klar, dass jederzeit jemand auf der Bildfläche erscheinen konnte, der die echte Shanda kannte, ganz besonders nach dem ersten Mord. Daraufhin bereitete sie ihre Entführung vor, indem sie mit Kommissar Kelsey über diese Möglichkeit sprach. Selbstverständlich wurde sie niemals wirklich entführt. Sowie sie erfuhr, dass ihr Onkel sie am nächsten Morgen abholen lassen wollte, setzte sie sich telefonisch mit ihren Leuten in Verbindung, und daraufhin wurde sie von einem großen Auto abgeholt und ›offiziell‹ entführt. Wie Sie wissen, erschien das Auto des Emirs eine halbe Stunde später in Meadowbank. Die falsche Shanda tauchte in London unter, da ihre Rolle ausgespielt war. Um das Entführungsmärchen aufrechtzuerhalten, wurde jedoch ein Lösegeld verlangt.«

Hercule Poirot machte eine kurze Pause. Dann sagte er: »Mit diesem kleinen Trick beabsichtigte man lediglich unsere Aufmerksamkeit abzulenken, denn die wirkliche Entführung hatte ja bereits vor drei Wochen in der Schweiz stattgefunden.«

Poirot war zu höflich, um festzustellen, dass er allein auf diesen Gedanken gekommen war.

»Wir müssen nun von der Entführung zu einem viel ernsteren Thema übergehen: Mord.

Die falsche Shanda hätte Miss Springer natürlich ermorden können, aber weder Miss Vansittart noch Mademoiselle Blanche. Jedoch war es nicht ihre Aufgabe zu morden, sondern lediglich, den Wertgegenstand an sich zu nehmen, falls er ihr gebracht würde, oder Nachrichten zu empfangen.

Kehren wir zurück nach Ramat, wo alles begann. In Ramat hatte sich das Gerücht verbreitet, dass Prinz Ali Yusuf diesen Wertgegenstand Bob Rawlinson, seinem Privatpiloten, übergeben hatte, der ihn nach England bringen sollte. An jenem Tag ging Rawlinson in jenes Hotel in Ramat, wo sich seine Schwester, Mrs Sutcliffe, und ihre Tochter Jennifer aufhielten. Mrs Sutcliffe und Jennifer waren gerade nicht da, aber Bob Rawlinson ging in ihr Zimmer hinauf, wo er sich mindestens zwanzig Minuten aufhielt – reichlich lange unter diesen Umständen. Er hätte seiner Schwester einen ausführlichen Brief schreiben können, aber das tat er nicht. Er hinterließ nur einen kurzen Gruß, den zu schreiben nur eine Minute gedauert haben konnte.

Der Gedanke lag nahe, dass er während der Zeit, die er im Zimmer seiner Schwester verbrachte, einen gewissen Gegenstand in ihrem Gepäck versteckt hatte. Von da an müssen wir zwei verschiedene Spuren verfolgen. Eine oder mehrere Gruppen nahmen an, dass Mrs Sutcliffe diesen Gegenstand nach England gebracht hatte. Daraufhin wurde in ihr Landhaus eingebrochen, und es wurde alles gründlich durchsucht. Das zeigt, dass diese Gruppe nicht wusste, wo der Gegenstand verborgen war, nur dass er sich irgendwo unter Mrs Sutcliffes Sachen befand.

Aber jemand anderer wusste ganz genau, wo der Gegenstand war, und ich glaube, dass ich Ihnen jetzt unbesorgt mitteilen kann, wo Bob Rawlinson ihn versteckt hatte: nämlich im Griff eines Tennisschlägers, den er ausgehöhlt hatte und den er danach so geschickt wieder zusammenmontierte, dass nichts zu sehen war.

Der Tennisschläger gehörte seiner Nichte Jennifer. Jemand, der genau wusste, wo der Wertgegenstand war, ging eines Nachts in die Turnhalle, zu der er sich einen Nachschlüssel verschafft hatte. Er nahm an, dass um diese Zeit alle schlafen würden, aber er irrte sich. Miss Springer sah vom Haus aus ein flackerndes Licht in der Turnhalle und beschloss nachzusehen, was da los ist. Sie war eine kräftige, durchtrainierte junge Person, die davon überzeugt war, allein mit einem Eindringling fertigwerden zu können. Die infrage kommende Person war wahrscheinlich gerade damit beschäftigt, die Tennisschläger durchzugehen. Als sie sich von Miss Springer entdeckt und erkannt sah, zögerte sie nicht… Sie erschoss Miss Springer. Danach musste der Mörder schnell handeln. Man hatte den Schuss gehört, Leute näherten sich, und der Mörder musste um jeden Preis ungesehen aus der Turnhalle kommen. Der Tennisschläger musste für den Augenblick zurückgelassen werden…

Nach ein paar Tagen versuchte man es mit einer anderen Methode. Eine fremde Dame, die mit einem amerikanischen Akzent sprach, lauerte Jennifer Sutcliffe auf, als sie vom Tennisplatz kam. Sie erzählte ihr eine glaubhaft erscheinende Geschichte von einer Verwandten, die ihr einen neuen Tennisschläger schickte. Jennifer schöpfte keinen Verdacht und vertauschte ihren alten Tennisschläger freudig mit dem neuen teuren Sportgerät. Allerdings hatte sich einige Tage zuvor etwas ereignet, wovon die Dame mit dem amerikanischen Akzent nichts wusste: Jennifer Sutcliffe und Julia Upjohn hatten nämlich ihre Tennisschläger ausgetauscht. Die Fremde erhielt also Julia Upjohns Tennisschläger, auf dessen Griff sich allerdings ein Schild mit Jennifers Namen befand.

Jetzt kommen wir zur zweiten Tragödie. Aus unbekannten Gründen ging Miss Vansittart an dem Tag, an dem Shanda entführt worden war, nachdem alle anderen bereits im Bett waren, mit einer Taschenlampe in die Turnhalle. Jemand, der ihr dorthin gefolgt war, erschlug sie mit einem Gummiknüppel oder mit einem Sandsack, als sie sich gerade über Shandas Schließfach beugte. Auch dieses Verbrechen wurde sofort entdeckt. Miss Chadwick, die das Licht in der Turnhalle gesehen hatte, eilte unverzüglich an den Tatort.

Wieder war die Polizei sofort zur Stelle, und wieder wurde der Mörder daran gehindert, die Tennisschläger zu untersuchen. Inzwischen war die intelligente Julia Upjohn zu dem logischen Schluss gekommen, dass der Tennisschläger, den sie besaß und der ursprünglich Jennifer gehört hatte, irgendwie von Bedeutung sein musste. Sie untersuchte ihn auf eigene Faust, und nachdem sich ihre Annahme bestätigt hatte, brachte sie mir den gefundenen Wertgegenstand. Dieser befindet sich jetzt an einem sicheren Ort«, fuhr Hercule Poirot fort, »und somit kommen wir zur dritten Tragödie.

Was Mademoiselle Blanche wusste oder zu wissen glaubte, werden wir nie erfahren. Vielleicht hat sie jemanden gesehen, der in der Nacht, in der Miss Springer ermordet wurde, das Haus verließ. Wie dem auch sei, die Identität des Mörders war ihr bekannt, aber sie gab ihr Geheimnis nicht preis. Sie traf eine Verabredung mit dem Mörder, und sie wurde ermordet.«

Poirot machte eine weitere Pause; dann blickte er sich um.

»So, jetzt wissen Sie, was sich ereignet hat.«

Aller Augen ruhten auf ihm. Die Gesichter, auf denen sich zuerst Interesse, Erstaunen und Erregung gespiegelt hatten, waren jetzt wie eingefroren, fast als fürchteten sie, irgendwelche Gefühle zu zeigen.

Hercule Poirot nickte ihnen zu.

»Ich weiß, wie Ihnen zu Mute ist«, sagte er. »Es betrifft Sie alle mehr, als Sie glaubten, nicht wahr? Deshalb haben Kommissar Kelsey, Adam Goodman und ich Nachforschungen angestellt, denn wir müssen unbedingt feststellen, ob sich – sagen wir – noch immer eine Katze im Taubenschlag befindet. Sie verstehen, was ich meine… Ist hier jemand, der unter einer falschen Flagge segelt?«

Eine leichte Bewegung ging durch die lauschende Gruppe, aber niemand blickte auf, niemand wagte es, den Nachbarn anzusehen.

»Ich kann Ihnen versichern, dass sich keiner unter Ihnen als eine andere Person ausgibt«, fuhr Poirot fort. »Es besteht kein Zweifel, dass Miss Chadwick, die seit Bestehen der Schule hier tätig ist, niemand anderes ist als Miss Chadwick. Miss Johnson ist Miss Johnson, Miss Rich ist Miss Rich. Dasselbe gilt für Miss Shapland, Miss Rowan und Miss Blake. Adam Goodman, der hier im Garten arbeitet, tut dies nicht unter seinem richtigen Namen, aber wir wissen genau, wer er ist. Wir haben also nicht nach einer Person zu suchen, die sich hinter einer falschen Identität verbirgt, sondern schlicht und einfach nach einem Mörder.«

In dem Raum herrschte jetzt eine bedrohliche Stille.

Poirot fuhr fort: »Wir sind vor allem an einer Person interessiert, die vor drei Monaten in Ramat war. Nur ihr war es möglich zu wissen, was der Griff des Tennisschlägers enthielt. Jemand muss Bob Rawlinson an Ort und Stelle beobachtet haben… Wer von Ihnen ist vor drei Monaten in Ramat gewesen? Miss Chadwick, Miss Johnson, Miss Rowan und Miss Blake waren hier.«

Er hob die Hand und zeigte mit dem Finger auf Miss Rich.

»Miss Rich dagegen war während des letzten Schulhalbjahrs nicht hier, nicht wahr?«

»Ich? Nein. Ich war krank«, erklärte Eileen Rich hastig.

»Das haben wir erst zufällig vor ein paar Tagen erfahren«, erwiderte Poirot. »Beim Verhör hatten Sie nur ausgesagt, dass Sie seit anderthalb Jahren in Meadowbank seien, ohne Ihre vorübergehende Abwesenheit zu erwähnen. Es ist durchaus möglich, dass Sie in Ramat gewesen sind, und ich glaube sogar, Sie waren dort. Seien Sie vorsichtig, Miss Rich, denn wir brauchen nur Ihren Pass zu überprüfen.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann blickte Eileen Rich auf.

»Ja, ich war in Ramat«, erwiderte sie ruhig. »Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?«

»Warum waren Sie dort, Miss Rich?«

»Weil ich krank war und weil man mir geraten hatte, einen Auslandsurlaub zu nehmen, den Miss Bulstrode mir gewährte.«

»Das stimmt«, sagte Miss Bulstrode. »Miss Rich schickte mir ein Attest ihres Arztes, der eine längere Erholung verordnet hatte.«

»Und so fuhren Sie nach Ramat?«, fragte Poirot.

»Ja«, erwiderte Eileen Rich mit zitternder Stimme. »Es gab billige Ferienreisen für Lehrerinnen, und ich brauchte Ruhe und Sonne. Und so verbrachte ich zwei Monate in Ramat… Warum auch nicht?«

»Sie haben niemals erwähnt, dass Sie zurzeit der Revolution in Ramat waren.«

»Warum sollte ich? Was hat das mit Meadowbank zu tun? Ich habe niemanden ermordet… ich bin keine Mörderin!«

»Man hat Sie wiedererkannt«, sagte Poirot. »Die kleine Jennifer war ihrer Sache allerdings nicht ganz sicher, denn die Person, der Sie so ähnlich sehen, war dick, nicht mager… Was haben Sie dazu zu sagen, Miss Rich?« Poirot fixierte sie. Sie warf trotzig den Kopf zurück, aber sie hielt seinem Blick stand.

»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, rief sie erregt. »Sie wollen behaupten, dass diese Morde nicht von einem Spitzel oder von einem Geheimagenten verübt worden sind, sondern von jemandem, der zufällig mit angesehen hat, dass die Juwelen in einem Tennisschläger versteckt wurden. Jemand, der begriff, dass Jennifer auf dem Weg nach Meadowbank war, jemand, der ihr folgte, um sich die Juwelen anzueignen. Aber das ist nicht wahr! Ich schwöre Ihnen – es ist nicht wahr!«

»Doch. Ich glaube, dass es so gewesen ist«, erwiderte Poirot. »Jemand hat zufällig mit angesehen, wie die Edelsteine versteckt wurden, und war von diesem Augenblick an fest entschlossen, sie sich selbst zu verschaffen.«

»Es ist nicht wahr! Ich habe nichts gesehen…«

Poirot warf Kelsey einen Blick zu.

Kelsey nickte, ging zur Tür, öffnete sie, und… Mrs Upjohn betrat das Zimmer.

»Wie geht es Ihnen, Miss Bulstrode?«, fragte Mrs Upjohn ziemlich verlegen. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich so unordentlich aussehe, aber ich komme geradewegs aus Ankara…«

»Das macht nichts«, sagte Poirot. »Wir wollten Sie etwas fragen.«

»Es handelt sich um den Tag, an dem Sie Ihre Tochter nach Meadowbank brachten, Mrs Upjohn«, sagte Kelsey. »Sie waren in Miss Bulstrodes Wohnzimmer und sahen zum Fenster hinaus – zu dem Fenster, von dem aus man die Einfahrt überblicken kann –, und Sie stießen einen Laut des Erstaunens aus, als hätten Sie plötzlich jemanden erkannt. Stimmt das?«

»Am Tag des Schuljahrbeginns? In Miss Bulstrodes Wohnzimmer?« Mrs Upjohn blickte den Kommissar erstaunt an. »O ja, jetzt fällt es mir ein, ich sah damals ein bekanntes Gesicht…«

»Warum waren Sie darüber so erstaunt?«

»Weil… weil ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.«

»Seit Ende des Krieges, nicht wahr? Seit Sie den Geheimdienst verlassen hatten?«

»Ja, und obwohl sie viel älter aussah, habe ich sie sofort erkannt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, was sie hier zu suchen hatte.«

»Ich möchte Sie bitten, sich in diesem Zimmer umzusehen und mir zu sagen, ob diese Person anwesend ist, Mrs Upjohn.«

»Natürlich ist sie hier«, erwiderte Mrs Upjohn. »Ich sah sie, als ich hereinkam. Dort sitzt sie.«

Sie streckte ihren Zeigefinger aus. Kommissar Kelsey und Adam handelten schnell – aber nicht schnell genug. Ann Shapland war aufgesprungen. Sie hielt einen kleinen, gefährlich aussehenden Revolver in der Hand, der auf Mrs Upjohn gerichtet war. Miss Bulstrode erfasste die Situation sofort, aber Miss Chadwick kam ihr zuvor. Mit zwei schnellen Schritten drängte sie sich zwischen Ann Shapland, Mrs Upjohn und Miss Bulstrode.

»Nein, das dürfen Sie nicht!«, schrie Chaddy und warf sich in dem Augenblick schützend auf Miss Bulstrode, als der Schuss krachte.

Miss Chadwick schwankte, bevor sie zu Boden sank. Miss Johnson lief zu ihr hinüber. Adam und Kelsey hielten Ann Shapland fest, die sich wie eine Wildkatze zu wehren versuchte. Es gelang ihnen mit vereinten Kräften, ihr die Waffe zu entwinden.

»Schon damals hatte sie den Ruf einer Killerin«, sagte Mrs Upjohn atemlos. »Sie war eine der gefährlichsten Spioninnen. Ihr Deckname war Angelica.«

»Gemeine Lügnerin!«, kreischte Ann Shapland.

»Sie lügt nicht. Sie sind eine gefährliche Person«, sagte Hercule Poirot. »Sie haben von jeher ein gefährliches Leben geführt. Bis heute ist es Ihnen allerdings geglückt, Ihre Identität zu verbergen. Alle Stellungen, die Sie innehatten, waren einwandfrei, und Sie haben Ihre Arbeit zur Zufriedenheit Ihrer Vorgesetzten ausgeführt. Aber Sie haben alle diese Stellungen nur angenommen, um sich Informationen zu verschaffen. Sie waren bei einer Ölgesellschaft beschäftigt, bei einem Archäologen, der in einem bestimmten Teil der Welt zu tun hatte, und bei einer Schauspielerin, deren Freund ein wichtiger Politiker war. Seit Ihrem siebzehnten Lebensjahr sind Sie Geheimagentin gewesen, und zwar haben Sie für die verschiedensten Leute gearbeitet. Sie haben Ihre Dienste denen zur Verfügung gestellt, die am meisten zahlen konnten. Sie haben die Mehrzahl der Aufträge unter Ihrem richtigen Namen angenommen und durchgeführt; in einigen besonderen Fällen mussten Sie sich in eine andere Person verwandeln. In solchen Zeiten behaupteten Sie, nachhause zu Ihrer kranken Mutter zu müssen. Ich habe den starken Verdacht, dass die alte, verwirrte Dame, die ich neulich in dem Dörfchen besuchte, wo sie mit einer Krankenschwester lebt, nicht Ihre Mutter ist, Miss Shapland. Sie haben sie lediglich als einen Vorwand benutzt, wenn es Ihnen in den Kram passte. Während der drei Monate, die Sie angeblich mit Ihrer Mutter verbrachten, waren Sie in Ramat, aber nicht als Miss Shapland, sondern als Angelica de Toredo, eine spanische Tänzerin, die in einem Kabarett auftrat. Sie wohnten im selben Hotel wie Mrs Sutcliffe, und zwar im Nebenzimmer. Durch Zufall konnten Sie mit ansehen, wie Bob Rawlinson die Juwelen in den Griff des Tennisschlägers tat. Da an jenem Tag alle Engländer aus Ramat evakuiert wurden, konnten Sie den Tennisschläger nicht mehr an sich bringen, aber Sie hatten die Adresse auf den Kofferschildern gelesen… Es fiel Ihnen nicht schwer, hier den Posten einer Sekretärin zu erhalten. Ich habe herausgefunden, dass Sie Miss Bulstrodes ehemaliger Sekretärin eine beträchtliche Summe bezahlten, damit sie den Posten eines angeblichen Nervenzusammenbruchs wegen aufgab. Sie behaupteten ihr gegenüber, eine Journalistin zu sein, die eine Artikelserie über Mädcheninternate schreiben sollte…

Nichts würde leichter sein, als eines Nachts in die Turnhalle zu gehen und die Juwelen aus dem Tennisschläger zu entfernen, nicht wahr? Aber Sie hatten nicht mit Miss Springer gerechnet. Vielleicht waren Sie von ihr schon früher beim Untersuchen der Tennisschläger ertappt worden. Vielleicht ist sie zufällig in jener Nacht aufgewacht. Sie folgte Ihnen, und Sie erschossen sie. Als Mademoiselle Blanche später den Versuch machte, Sie zu erpressen, ermordeten Sie sie ebenfalls. Das Töten fällt Ihnen nicht schwer, Miss Shapland.«

Er machte eine Pause. Kommissar Kelsey warnte seine Gefangene mit monotoner Stimme, nichts Unbedachtes zu sagen.

Statt dessen überschüttete sie Poirot mit einer Flut von Flüchen.

»Herrgott«, sagte Adam, als sie schließlich von Kelsey abgeführt wurde. »Und ich habe sie für ein nettes Mädchen gehalten.«

Miss Johnson kniete neben Miss Chadwick.

»Ich fürchte, sie ist schwer verletzt«, sagte sie. »Wir dürfen sie nicht aufheben, bevor der Arzt kommt.«



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