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»Ein Mr Robinson wünscht Sie zu sprechen.« Hercule Poirot streckte die Hand aus und nahm einen Brief vom Schreibtisch, an dem er saß. Er betrachtete den Brief nachdenklich, dann sagte er: »Bitte führen Sie ihn herein, George.«

Der Wortlaut des Briefes war folgender:

Lieber Poirot,

ein Mr Robinson wird in diesen Tagen bei Ihnen vorsprechen. Sie mögen bereits von ihm gehört haben, denn er ist in gewissen Kreisen sehr bekannt. Leute seiner Art werden heutzutage gebraucht… Ich glaube, dass er in diesem Fall der gerechten Sache dient. Diese Zeilen sind nichts als eine Empfehlung. Ich möchte betonen, dass wir keine Ahnung haben, was er mit Ihnen besprechen will…

In diesem Sinne,

mit besten Grüßen,

Ihr Ephraim Pikeaway

Poirot legte den Brief auf die Schreibtischplatte und erhob sich, als Mr Robinson ins Zimmer trat. Er verbeugte sich, reichte ihm die Hand und bat ihn, Platz zu nehmen.

Mr Robinson setzte sich, zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich damit über sein großes gelbliches Gesicht. Er bemerkte, dass es sehr warm sei.

»Sie sind doch hoffentlich nicht zu Fuß hergekommen?«, fragte Poirot, dem der bloße Gedanke daran den Schweiß aus allen Poren trieb. Er zwirbelte instinktiv seinen Schnurrbart, um sich zu vergewissern, dass die Spitzen nicht schlaff geworden waren.

»Zu Fuß? O nein«, erwiderte Mr Robinson, ebenso entsetzt bei diesem Gedanken. »Ich bin natürlich in meinem Rolls gekommen. Die Staus werden täglich schlimmer…«

Poirot nickte verständnisvoll. Dann entstand eine Pause – die Pause, die dem Hauptteil einer Unterhaltung oft vorausgeht.

»Ich habe mit großem Interesse erfahren, dass Sie sich mit den Vorgängen in einer Mädchenschule beschäftigt haben… Es kommt einem ja so vieles zu Ohren, wissen Sie… Meadowbank ist eine der besten englischen Schulen«, stellte Mr Robinson fest.

»Ja, Meadowbank ist eine sehr gute Schule.«

»Ist oder war?«

»Ich hoffe Ersteres.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Mr Robinson. »Allerdings mag es an einem seidenen Fädchen hängen. Nun, man wird sich die größte Mühe geben, die unvermeidliche Übergangsperiode zu erleichtern. Finanzielle Unterstützung, die geschickte Auswahl neuer Schülerinnen… ich werde alles tun, meinen Einfluss in den entsprechenden Kreisen geltend zu machen…«

»Auch ich bin nicht ohne Einfluss«, erwiderte Poirot. »Wie Sie so richtig sagen, kann man leicht etwas nachhelfen, außerdem haben die meisten Menschen glücklicherweise kein sehr gutes Gedächtnis.«

»Hoffentlich! Immerhin muss man zugeben, dass die Ereignisse selbst für Eltern mit starken Nerven eine Zumutung waren. Drei Morde – die Turnlehrerin, die Französischlehrerin und eine dritte Lehrerin.«

»Das lässt sich leider nicht leugnen.«

»Ich höre, dass die unglückselige Täterin von Jugend auf eine krankhafte Abneigung gegen Lehrerinnen gehabt hat«, sagte Mr Robinson. »Sie soll während ihrer eigenen Schulzeit sehr gelitten haben. Die Verteidigung wird sich das zu Nutze machen und einen Psychiater zuziehen. Man wird zu beweisen versuchen, dass sie vermindert zurechnungsfähig war…«

»Das nehme ich auch an«, erwiderte Poirot. »Aber ich hoffe doch sehr, dass diese Behauptung keinen Glauben finden wird.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung. Eine abgefeimte Mörderin. Natürlich wird die Verteidigung auch versuchen, ihre erfolgreiche Tätigkeit als Spionin während des Krieges in die Waagschale zu werfen, auch ihren starken Charakter, ihre Tüchtigkeit als Sekretärin – glauben Sie nicht auch?«

»Durchaus möglich«, antwortete Poirot.

»Sie soll trotz ihrer Jugend eine hervorragende Geheimagentin gewesen sein«, fuhr Mr Robinson fort. »Soviel ich weiß, hat sie für beide Seiten gearbeitet. Das war ihr métier, und sie hätte dabei bleiben sollen. Natürlich war die Versuchung sehr groß, etwas auf eigene Faust zu unternehmen, um einen großen Fisch zu fangen… einen sehr großen Fisch.«

Poirot nickte.

Mr Robinson beugte sich vor.

»Wo sind sie, Monsieur Poirot?«

»Wenn ich mich nicht irre, wissen Sie das bereits.«

»Offen gestanden, ja. Was würden wir ohne die nützliche Einrichtung von Banken tun?«

Poirot lächelte.

»Ich glaube, wir brauchen kein Blatt vor den Mund zu nehmen, mein Freund. Was wollen Sie damit anfangen?«

»Ich warte auf Vorschläge.«

»Ich verstehe.«

»Ich möchte sie natürlich dem rechtmäßigen Besitzer übergeben«, erklärte Poirot. »Aber es scheint nicht ganz einfach zu sein, ihn zu finden.«

»Die Regierungen sind in einer schwierigen Lage«, sagte Mr Robinson. »So viel steht auf dem Spiel: Öl, Stahl, Uranium, Kobalt… Diplomatische Verwicklungen müssen unter allen Umständen vermieden werden. Die Angelegenheit muss taktvoll geregelt werden, damit man mit gutem Gewissen behaupten kann, dass die Regierung Ihrer Majestät keinerlei Informationen besitzt.«

»Aber ich kann diesen Wertgegenstand nicht auf unabsehbare Zeit in meiner Bank lassen.«

»Das versteht sich. Deshalb mache ich Ihnen den Vorschlag, ihn mir auszuhändigen.«

»Und warum, wenn ich fragen darf?«

»Das kann ich Ihnen genau erklären, Monsieur Poirot. Diese Juwelen – wir dürfen das Kind ja unter uns ruhig beim richtigen Namen nennen – waren zweifellos das Privateigentum des verstorbenen Prinzen Ali Yusuf.«

»Das ist mir bekannt.«

»Seine Hoheit hat sie seinem Privatpiloten, Bob Rawlinson, anvertraut. Er sollte versuchen, sie aus Ramat hinauszubringen und sie mir auszuhändigen.«

»Können Sie das beweisen?«

»Selbstverständlich.«

Mr Robinson zog einen Briefumschlag aus der Tasche, dem er verschiedene Papiere entnahm, die er vor Poirot auf dem Schreibtisch ausbreitete. Poirot studierte die Dokumente sorgfältig.

»Scheint in Ordnung zu sein«, sagte er schließlich. »Würden Sie mir nur noch eine Frage beantworten?«

»Gern.«

»Was haben Sie persönlich davon?«

Mr Robinson sah ihn erstaunt an.

»Ich verdiene natürlich daran, mein Freund. Eine recht ansehnliche Summe.«

Poirot betrachtete ihn nachdenklich.

»Es ist ein sehr altes, einträgliches Gewerbe«, fuhr Mr Robinson fort. »Wir sind zahlreich, und unser Netzwerk erstreckt sich über die ganze Welt. Wir arbeiten unauffällig – nicht im grellen Rampenlicht. Wir zählen Könige, Präsidenten und Politiker zu unseren Kunden. Wir arbeiten miteinander und füreinander; unser Profit ist groß, aber man kann sich auf unsere Ehrlichkeit verlassen.«

»Ich verstehe«, bemerkte Poirot. »Eh bien! Ich nehme Ihren Vorschlag an.«

»Ich kann Ihnen versichern, dass Sie Ihren Entschluss nicht bereuen werden. Alle Beteiligten werden einverstanden sein.«

Mr Robinsons Blick ruhte einen Augenblick auf Colonel Pikeaways Brief, der auf dem Schreibtisch lag.

»Einen Augenblick noch. Ich kann meine Neugierde nicht bezähmen. Was werden Sie mit den Juwelen tun?«

Mr Robinson sah ihn nachdenklich an. Dann breitete sich ein Lächeln über sein großes gelbliches Gesicht. Er beugte sich vor.

»Ich werde es Ihnen erzählen…«

Auf der Straße spielten Kinder. Ihr fröhliches Geschrei erfüllte die Luft.

Als Mr Robinson schwerfällig aus seinem Rolls-Royce stieg, prallte er mit einem kleinen Jungen zusammen. Er schob das Kind freundlich beiseite und suchte nach der Hausnummer.

Nummer 15 – jawohl. Er stieß das Gartentor auf und ging die drei Stufen hinauf, die zur Haustür führten. Er bemerkte die sauberen weißen Vorhänge an den Fenstern und den blankgeputzten Messingtürklopfer. Ein bescheidenes kleines Haus, in einer bescheidenen Straße, in einem ärmlichen Teil von London – aber ordentlich und gepflegt.

Die Tür wurde von einer hübschen, etwa fünfundzwanzigjährigen blonden Frau geöffnet.

»Mr Robinson?«, fragte sie mit einem freundlichen Lächeln. »Bitte treten Sie ein.«

Sie führte ihn in ein kleines Wohnzimmer mit geblümten Kretonnevorhängen, einem Klavier und einem Fernsehgerät. Sie trug einen dunklen Rock und einen grauen Pullover.

»Möchten Sie eine Tasse Tee? Das Wasser muss gleich kochen.«

»Nein, danke. Ich trinke niemals Tee, und ich kann mich nicht lange aufhalten. Ich bringe Ihnen nur das, was ich Ihnen bereits brieflich angekündigt habe.«

»Von Ali?«

»Ja.«

»Glauben Sie, dass… ich meine, besteht noch eine Hoffnung? Ist er wirklich tot?«

»Ich furchte, ja«, erwiderte Mr Robinson sanft.

»Ich habe immer gewusst, dass ich ihn nicht wiedersehen würde, nachdem er damals zurück musste. Natürlich dachte ich nicht an eine Revolution oder… oder dass er umkommen könnte. Aber es war mir klar, dass er sich in Ramat mit einer Frau aus seinen Kreisen verheiraten würde.«

Mr Robinson legte ein kleines Päckchen auf den Tisch. »Bitte, öffnen Sie es«, bat er.

Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie den Bindfaden entknotete und das Päckchen auspackte.

Funkelnde Brillanten, glitzernde Rubine und leuchtende Smaragde verwandelten den trüben kleinen Raum in Aladins Wunderhöhle…

Sie hielt den Atem an. Mr Robinson beobachtete sie. Er hatte schon viele Frauen gebannt auf Edelsteine blicken sehen…

»Ist das… ist das alles echt?«, fragte sie atemlos.

»Ja, diese Steine sind echt.«

»Aber die müssen doch ein Vermögen wert sein…«

Mr Robinson nickte.

»Wenn Sie diese Juwelen verkaufen wollen, werden Sie wohl mindestens eine halbe Million Pfund dafür bekommen.«

»Nein… nein, das kann doch nicht wahr sein!«

Sie ließ die Steine einen Augenblick durch ihre Finger gleiten, dann packte sie sie mit entschlossener Miene wieder ein.

»Ich habe Angst, sie sind mir unheimlich«, sagte sie. »Was soll ich damit anfangen?«

Die Tür flog auf, und ein kleiner Junge stürmte ins Zimmer.

»Billy hat mir einen fabelhaften Panzerwagen geschenkt, Mum. Sieh nur…«

Er unterbrach sich und sah Mr Robinson erstaunt an.

Der Junge hatte große dunkle Augen und eine olivfarbene Haut.

»Geh in die Küche, Allen«, sagte seine Mutter. »Deine Milch steht auf dem Tisch. Du kannst dir auch ein Stück Honigkuchen nehmen.«

»Oh, fein.«

Er warf die Tür hinter sich zu.

»Er heißt also Allen«, sagte Mr Robinson.

Sie errötete.

»Es war der Name, der am meisten wie ›Ali‹ klang. Ich konnte ihn nicht gut Ali nennen… wegen der Nachbarn… und überhaupt…«

Ihr Gesicht nahm plötzlich einen besorgten Ausdruck an. »Was habe ich jetzt zu tun?«, fragte sie.

»Zunächst möchte ich Ihre Heiratsurkunde sehen, um ganz sicher zu sein, dass Sie auch die Person sind, für die Sie sich ausgeben.«

Sie sah ihn einen Augenblick erstaunt an, dann ging sie zu einem kleinen Schreibtisch, öffnete eine Schublade und entnahm ihr einen Briefumschlag.

Mr Robinson prüfte das Dokument eingehend.

»Standesamt Edmonstown… Ali Yusuf, Student… Alice Calder, ledig ja, es ist alles in Ordnung.«

»Ja, natürlich – alles ist legal, obwohl das nicht sehr viel bedeutet… Niemand hat herausgefunden, wer er war. Es gibt hier so viele Studenten aus dem Nahen Osten… Er hat mir offen gesagt, dass er als Mohammedaner mehrere Frauen heiraten darf. Wir haben das alles ganz sachlich besprochen, als ich ein Kind erwartete. Wir haben nur geheiratet, damit Allen offiziell einen Vater hat. Mehr konnte Ali nicht für mich tun, obgleich er mich wirklich geliebt hat.«

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Mr Robinson. Dann fuhr er lebhaft fort: »Falls Sie mir diese Angelegenheit übergeben wollen, bin ich bereit, die Juwelen für Sie zu verkaufen. Außerdem werde ich Ihnen die Adresse eines wirklich guten, zuverlässigen Anwalts geben. Er wird Ihnen höchstwahrscheinlich raten, das Geld in mündelsicheren Papieren anzulegen.

Sie würden gut daran tun, sich von ihm auch über die zukünftige Erziehung Ihres Sohnes und Ihre neue Lebensweise beraten zu lassen. Geld allein macht nicht glücklich, das habe ich nur zu oft erlebt. Aber Sie haben Charakter. Sie und Ihr Sohn werden hoffentlich mehr Glück haben als sein armer Vater.«

Er machte eine Pause.

»Einverstanden?«, fragte er.

»Ja. Hier – nehmen Sie sie.« Sie schob ihm das Päckchen zu, dann sagte sie unvermittelt: »Ich möchte dem Mädchen, das sie gefunden hat, gern einen der Steine schenken. Welche Farbe… ich meine, was für ein Stein würde ihr wohl gefallen?«

Mr Robinson überlegte.

»Vielleicht ein funkelnder Smaragd? Sie wird sich bestimmt sehr darüber freuen… eine gute Idee!«

»Ich stelle Ihnen meine Dienste natürlich nicht umsonst zur Verfügung«, sagte Mr Robinson. »Ich bin nicht billig, aber ich werde Sie nicht betrügen.«

Sie sah ihn prüfend an.

»Davon bin ich überzeugt. Ich brauche wirklich dringend einen Berater, denn von geschäftlichen Dingen verstehe ich nichts.«

»Sie sind eine sehr vernünftige Frau, wenn ich das sagen darf. So, dann werde ich die Steine also mitnehmen; aber möchten Sie nicht wenigstens einen zum Andenken behalten?«

»Nein, ich möchte nicht einen einzigen behalten«, erwiderte Alice errötend. »Vielleicht finden Sie es sonderbar, dass ich mir nicht einen Rubin oder einen Smaragd zur Erinnerung aufheben will. Aber sehen Sie, obwohl er Mohammedaner war, habe ich ihm manchmal aus der Bibel vorgelesen, und einmal lasen wir von der Frau, die mehr wert war als alle Diamanten und Rubine… Und deshalb möchte ich lieber keine Edelsteine haben. Verstehen Sie?«

Eine ungewöhnliche Frau, dachte Mr Robinson, als er über den Gartenpfad zu seinem Rolls zurückging.

Wirklich, eine ungewöhnliche Frau…

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