Miss Chadwick warf sich ruhelos von einer Seite auf die andere. Sie zählte Lämmer, sie sagte lange Gedichte auf – alles umsonst. Sie konnte nicht einschlafen.
Als Shanda um zehn Uhr immer noch nicht zurückgekehrt war und sie auch keine Nachricht von ihr erhalten hatte, beschloss Miss Chadwick, Kommissar Kelsey anzurufen. Zu ihrer Erleichterung schien er die Sache nicht allzu tragisch zu nehmen. Er bat sie, sich nicht zu beunruhigen und alles Weitere ihm zu überlassen. Er wollte zunächst feststellen, ob Shanda einen Autounfall gehabt hatte; wenn nicht, würde er sich mit London in Verbindung setzen. Er hielt es auch für möglich, dass das junge Mädchen ihnen einen Streich gespielt hatte. Jedenfalls gab er Miss Chadwick den Rat, in der Schule möglichst wenig darüber verlauten zu lassen und nur anzudeuten, dass Shanda die Nacht bei ihrem Onkel verbracht habe.
»Miss Bulstrode will bestimmt vermeiden, dass diese Sache an die Öffentlichkeit dringt«, erklärte Kelsey. »Ich halte eine Entführung für höchst unwahrscheinlich. Bitte machen Sie sich keine Sorgen, Miss Chadwick. Sie können alles Weitere getrost uns überlassen.«
Aber Miss Chadwick machte sich Sorgen.
Während sie sich schlaflos im Bett wälzte, wanderten ihre Gedanken von der Möglichkeit einer Entführung wieder zum Mord.
Mord in Meadowbank. Grauenhaft! Unvorstellbar! Meadowbank.
Miss Chadwick liebte die Schule vielleicht noch mehr als Miss Bulstrode, wenn auch auf eine andere Art. Die Gründung des Internats war ein ungeheurer Entschluss gewesen, der Tatkraft und Mut erfordert hatte. Sie besaßen nicht viel Kapital, und sie riskierten alles. Wie leicht hätte der Versuch misslingen können. Miss Bulstrode hatte Freude am Abenteuer, aber Miss Chadwick war immer dafür gewesen, den sicheren Weg zu wählen. Miss Bulstrode hatte jedoch ihre Vorstellungen verwirklicht, ohne die finanzielle Sicherheit in Betracht zu ziehen, und am Ende damit Recht behalten. Niemand war glücklicher als Chaddy, dass Meadowbank sich zu einer der berühmtesten englischen Schulen entwickelt hatte. Sie genoss Frieden und Wohlstand wie ein Kätzchen die wärmenden Sonnenstrahlen.
Sie war außer sich gewesen, als Miss Bulstrode davon zu sprechen begann, dass sie sich zur Ruhe setzen wollte. Gerade jetzt – auf dem Höhepunkt des Erfolges? Sie hielt es für eine Verrücktheit. Miss Bulstrode hatte von Reisen gesprochen; man müsste doch die Schönheiten der Welt kennen lernen, sagte sie. Aber für Miss Chadwick gab es nichts Schöneres als Meadowbank – ihr geliebtes Meadowbank. Und jetzt… Mord… Mord im Paradies! Unvorstellbar.
Die arme Miss Springer. Natürlich war es nicht ihre Schuld, und doch, obwohl es ganz unlogisch war, machte Chaddy ihr heimlich Vorwürfe. Ihr bedeuteten die Traditionen von Meadowbank nichts. Sie war eine taktlose Person, die den Mord irgendwie herausgefordert haben musste. Miss Chadwick wälzte sich auf die andere Seite und nahm sich vor, an etwas anderes zu denken. Es gelang ihr nicht, und sie beschloss, aufzustehen und zwei Aspirin zu nehmen. Wie spät war es eigentlich? Sie knipste das Licht an und sah auf die Uhr. Es war Viertel vor eins. Genau die Zeit, um die Miss Springer… nein, nein, sie durfte nicht weitergrübeln… Aber es war auch zu dumm gewesen von Miss Springer, ganz allein rauszugehen, ohne jemanden zu wecken…
Miss Chadwick stand auf und ging zum Waschbecken. Sie nahm zwei Aspirin mit einem Schluck Wasser. Auf dem Rückweg zog sie den Vorhang ein wenig zur Seite und starrte in die Nacht hinaus. Sie tat es fast unbewusst, um ganz sicher zu sein, dass nie wieder mitten in der Nacht in der Turnhalle ein Licht zu sehen sein würde…
Aber es war ein Licht zu sehen.
Innerhalb einer Minute war Chaddy bereit. Sie zog ein Paar feste Schuhe an, warf einen Mantel über die Schultern, ergriff eine starke Taschenlampe und lief im Sturmschritt die Treppe hinunter. Obgleich sie es Miss Springer zum Vorwurf gemacht hatte, allein durch den dunklen Garten zur Turnhalle gelaufen zu sein, tat sie jetzt das Gleiche, ohne weiter darüber nachzudenken. Sie musste um jeden Preis herausfinden, wer der Eindringling war. Bevor sie das Haus durch die Seitentür verließ, ergriff sie eine Waffe – vielleicht keine sehr gute, aber immerhin eine Art Waffe –, dann lief sie atemlos über den Gartenpfad zur Turnhalle. Erst als sie sich der Tür näherte, bemühte sie sich, leise aufzutreten. Die Tür stand einen Spalt offen. Sie stieß sie ganz auf und blickte hinein…
Etwa um die Zeit, als Miss Chadwick ihre Aspirin einnahm, saß Ann Shapland in einem eleganten schwarzen Kleid im »Nid Sauvage« und aß Hühnerfrikassee. Sie lächelte dem ihr gegenübersitzenden jungen Mann freundlich zu. Der gute Dennis ändert sich nie, dachte Ann, und deshalb werde ich ihn auch nicht heiraten. Schade, denn eigentlich ist er sehr nett.
»Wie gefällt dir die neue Stellung?«, fragte Dennis.
»Gar nicht schlecht.«
»Mir scheint es nicht ganz das Richtige für dich zu sein.«
Ann lachte. »Schwer zu sagen, was das Richtige für mich ist. Jedenfalls liebe ich die Abwechslung, Dennis.«
»Ich habe nie verstanden, warum du deine Stellung bei Sir Mervyn Todhunter aufgegeben hast.«
»Hauptsächlich wegen Sir Mervyn. Seine Frau fand, er schenke mir zu viel Beachtung. Es ist mein Prinzip, die Gattinnen meiner Arbeitgeber niemals zu verärgern. Diese Weiber können gefährlich werden… Warum wunderst du dich eigentlich über meine augenblickliche Stellung?«
»Weil du nicht in eine Schule passt.«
»Nun, ich möchte um nichts auf der Welt Lehrerin sein – zeit meines Lebens ausschließlich auf die Gesellschaft von Frauen angewiesen sein! Aber es macht mir Freude, dort als Privatsekretärin der Schulleiterin zu arbeiten. Meadowbank ist immerhin eine führende Schule, und Miss Bulstrode ist ein außergewöhnlicher Mensch. Ihren scharfen stahlgrauen Augen bleibt nichts verborgen – unmöglich, Geheimnisse vor ihr zu haben. Sie ist streng, aber gerecht.«
»Ich wünschte, du könntest dich entschließen, deinen Beruf aufzugeben und Hausfrau zu werden, Ann«, sagte Dennis.
»Du bist zu lieb, Dennis«, erwiderte Ann leichthin.
»Wir würden uns gut verstehen«, drängte er.
»Ja, ich weiß. Aber ich möchte noch ein wenig warten. Außerdem muss ich an meine Mutter denken…«
»Du bist zu gut, Ann. Wie oft hast du schon, ohne zu zögern, einen guten Posten aufgegeben, wenn deine Mutter Hilfe brauchte! Aber es gibt heutzutage Heime, in denen solche – solche Leute gut aufgehoben sind – ich spreche nicht etwa von Irrenanstalten, sondern…«
»Ich weiß Bescheid«, unterbrach ihn Ann. »Privatkliniken, die ein Vermögen kosten.«
»Nicht unbedingt. Es gibt Heime für Kassenpatienten…«
»Vielleicht wird es sich am Ende nicht vermeiden lassen«, erwiderte Ann bitter. »Aber vorläufig geht es noch so. Ich habe eine nette ältere Haushälterin gefunden, die bei Mutter lebt und im Allgemeinen sehr gut mit ihr fertigwird. Nur im Notfall muss ich natürlich zur Stelle sein.«
»Willst du damit sagen, dass sie… dass sie gelegentlich…«
»… Tobsuchtsanfälle bekommt? Du hast eine zu lebhafte Fantasie, Dennis. Nein, Mutter ist ganz ungefährlich, nur manchmal etwas verwirrt. Sie vergisst, wo sie ist und wer sie ist. Sie macht plötzlich lange Spaziergänge oder steigt in einen Zug oder in einen Autobus, und… und das ist eben alles ziemlich kompliziert. Aber trotz allem ist Mutter ganz glücklich und zufrieden. Sie hat sogar einen gewissen Sinn für Situationskomik, wenn sie plötzlich an einem wildfremden Ort ankommt und keine Ahnung hat, wo sie ist und warum sie da ist.«
»Ich habe bisher leider keine Gelegenheit gehabt, sie kennen zu lernen«, bemerkte Dennis.
»Darauf lege ich auch keinen Wert«, erwiderte Ann. »Ich will meine Mutter wenigstens vor dem Mitleid und der Neugierde ihrer Mitmenschen bewahren.«
»Es ist nicht Neugierde, Ann.«
»Ich weiß – nur Mitleid«, entgegnete Ann seufzend. »Aber im Übrigen irrst du dich, wenn du glaubst, dass ich mir etwas daraus mache, gelegentlich meine Stellung aufzugeben, um nachhause zu eilen. Ich möchte mich nicht zu sehr an einen bestimmten Chef oder an eine bestimmte Umgebung gewöhnen. Ich weiß, dass ich eine erstklassige Sekretärin bin und jederzeit einen guten Job finden kann. Es macht mir Spaß, neue Menschen kennen zu lernen, und jetzt finde ich es hochinteressant, das Leben in einem der berühmtesten englischen Internate zu studieren. Ich will etwa anderthalb Jahre dort bleiben.«
»Du wehrst dich dagegen, irgendwo Wurzeln zu schlagen, nicht wahr, Ann?«
»Sieht so aus«, erwiderte Ann nachdenklich. »Ich muss wohl ein geborener Beobachter sein.«
»Du bist so unabhängig«, sagte Dennis bedrückt. »Du scheust vor jeder festeren Bindung zurück.«
»Das wird sich eines Tages ändern«, versicherte Ann.
»Hoffen wir’s. Jedenfalls glaube ich nicht, dass du es auch nur ein Jahr dort aushalten wirst. Die vielen Weiber werden dir auf die Nerven fallen.«
»Der Gärtner ist ein gut aussehender junger Mann«, sagte Ann. Sie lachte, als sie Dennis’ Gesicht sah. »Schau nicht so unglücklich drein, ich versuche doch nur, dich eifersüchtig zu machen!«
»Wie erklärst du dir den Mord an der Turnlehrerin?«
»Das Ganze ist mir ein Rätsel, Dennis«, antwortete Ann ernst. »Sie war schlicht, sportlich und ungeschminkt – die brave einfache Turnlehrerin, wie sie im Buche steht. Die Sache muss geheimnisvolle Hintergründe haben, die bisher noch nicht an den Tag gekommen sind.«
»Pass nur auf, dass du nicht in die Sache verwickelt wirst, Ann«, warnte Dennis besorgt.
»Das ist leichter gesagt als getan. Bisher hat sich mir noch keine Möglichkeit geboten, mein Talent als Privatdetektiv zu zeigen – vielleicht wäre ich gar nicht so unbegabt…«
»Vorsicht, Ann!«
»Ich habe nicht die Absicht, gefährlichen Verbrechern nachzuspüren. Ich habe nur einige logische Schlussfolgerungen gezogen. Warum und wer und weshalb? Ich habe bereits eine interessante Entdeckung gemacht, die allerdings nicht in das Gesamtbild zu passen scheint«, bemerkte Ann nachdenklich. »Vielleicht wird noch ein Mord geschehen, und danach wird man möglicherweise klarer sehen…«
Genau in diesem Augenblick stieß Miss Chadwick die Tür der Turnhalle auf.