»Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll«, erklärte Mrs Sutcliffe und sah Hercule Poirot missbilligend an. »Außerdem ist Henry nicht zuhause.«
Wahrscheinlich will sie damit andeuten, dass Henry eher imstande wäre, mit dieser Angelegenheit fertigzuwerden, dachte Poirot.
»Eine äußerst peinliche Sache«, erklärte Mrs Sutcliffe. »Ich bin nur froh, dass Jennifer wieder zuhause ist, obwohl sie sich sehr albern benimmt. Nachdem sie sich anfangs geweigert hat, nach Meadowbank zu gehen, weil sie die Schule für übertrieben vornehm hielt, schmollt sie jetzt von früh bis abends, weil wir sie nicht dort gelassen haben.«
»Meadowbank ist zweifellos eine der besten englischen Schulen«, bemerkte Poirot.
»War eine der besten Schulen«, korrigierte Mrs Sutcliffe.
»Und wird es wieder sein«, erklärte Poirot.
»Glauben Sie wirklich?«
Mrs Sutcliffe sah Poirot nachdenklich an. Seine teilnahmsvolle, liebenswürdige Art begann sie zu beeindrucken.
»Leider befindet sich Meadowbank im Augenblick in einer recht unglücklichen Lage«, sagte Poirot, da ihm nichts Besseres einfiel. Er war sich über die Unzulänglichkeit seiner Bemerkung klar, und sie fiel Mrs Sutcliffe natürlich sofort auf.
»Mehr als eine unglückliche Lage«, entgegnete sie. »Zwei Morde und eine Entführung! Man kann seine Tochter nicht in eine Schule schicken, in der ein Mord nach dem anderen geschieht.«
Dagegen ließ sich nicht viel einwenden.
»Wenn sich herausstellt, dass eine Person für beide Morde verantwortlich ist, und wenn diese Person festgenommen wird, sieht alles anders aus, finden Sie nicht?«
»Mag sein«, erwiderte Mrs Sutcliffe unsicher. »Sie meinen wohl jemanden wie ›Jack the Ripper‹ oder diesen anderen Mörder – wie hieß er doch? –, der immer einen bestimmten Typ von Frauen umgebracht hat… und dieser Mörder hat es eben auf Lehrerinnen abgesehen… grauenhaft! Immerhin, wenn er festgenommen wird, sieht wohl alles anders aus…, aber dann bleibt immer noch die Entführung. Man will seine Tochter schließlich auch nicht auf einer Schule lassen, aus der andere junge Mädchen entführt worden sind, nicht wahr?«
»Bestimmt nicht, Madame. Ich sehe, dass Sie logisch denken können. Ich gebe Ihnen unbedingt Recht.«
Mrs Sutcliffe fühlte sich geschmeichelt. So etwas hatte seit Jahren niemand zu ihr gesagt.
»Ich habe gründlich darüber nachgedacht«, gab sie zu.
»Ich würde mir über die Entführung, im Vertrauen gesagt, keine grauen Haare wachsen lassen, Madame. Entre nous – Prinzessin Shanda ist wahrscheinlich gar nicht entführt worden –, wir glauben eher, dass es sich um ein kleines Abenteuer handelt.«
»Wollen sie damit sagen, dass sie durchgebrannt ist, um jemanden zu heiraten?«
»Meine Lippen sind versiegelt«, erwiderte Hercule Poirot. »Sie werden begreifen, dass ein Skandal um jeden Preis vermieden werden muss… Ich kann mich doch auf Ihre Diskretion verlassen?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Mrs Sutcliffe mit Nachdruck. Sie betrachtete den Brief des Polizeichefs, den Poirot ihr überreicht hatte. »Ich verstehe nur immer noch nicht ganz, wer Sie eigentlich sind, Monsieur Poirot. Sind Sie ein so genannter Privatdetektiv?«
»Man konsultiert mich in schwierigen Fällen«, erklärte Poirot salbungsvoll.
»Tatsächlich?« Mrs Sutcliffe war sichtlich beeindruckt. »Worüber wollen Sie mit Jennifer sprechen?«
»Über nichts Bestimmtes. Ich möchte nur hören, was für einen Eindruck sie hat… ist sie eine scharfe Beobachterin?«
»Das kann man beim besten Willen nicht behaupten«, erwiderte Mrs Sutcliffe. »Sie ist ziemlich nüchtern und fantasielos«, fügte sie hinzu.
»Das ist besser, als der Fantasie zu freien Lauf zu lassen und Dinge zu erzählen, die sich gar nicht zugetragen haben«, sagte Poirot.
»Das braucht man bei Jennifer bestimmt nicht zu befürchten«, erklärte Mrs Sutcliffe mit Bestimmtheit. Sie stand auf, ging zum Fenster und rief: »Jennifer!«
»Ich wünschte, Sie könnten Jennifer klarmachen, dass ihr Vater und ich nur ihr Bestes im Auge haben«, sagte sie, als sie zum Tisch zurückkam.
Jennifer erschien mit mürrischem Gesicht. Sie betrachtete Poirot misstrauisch. Er verbeugte sich höflich.
»Sehr angenehm. Ich bin ein alter Freund von Julia Upjohn, die mich kürzlich in London aufgesucht hat.«
»Julia war in London?«, fragte Jennifer erstaunt. »Warum?«
»Um mich um Rat zu fragen«, entgegnete Poirot. »Jetzt ist sie wieder in Meadowbank.«
»Sie ist also nicht aus der Schule genommen worden«, stellte Jennifer mit einem strafenden Blick auf ihre Mutter fest.
Poirot schaute zu Mrs Sutcliffe hinüber, die aus irgendeinem Grund aufstand und das Zimmer verließ; vielleicht war sie gerade mit einer Hausarbeit beschäftigt gewesen, als Poirot kam, oder vielleicht spürte sie auch nur, dass sie überflüssig war.
»Wenn meine Eltern nur nicht ein solches Theater machen würden«, klagte Jennifer. »Ich habe Mum auseinander gesetzt, wie lächerlich ich es finde. Es sind ja gar keine Schülerinnen ermordet worden.«
»Haben Sie eine Theorie über die Morde?«, fragte Poirot.
Jennifer schüttelte den Kopf. »Vielleicht ein Verrückter?«, meinte sie zögernd. Dann fügte sie nachdenklich hinzu: »Miss Bulstrode wird sich wohl nach neuen Lehrerinnen umsehen müssen.«
»Schon möglich«, erwiderte Poirot. »Ich interessiere mich besonders für die Dame, die Ihnen den neuen Tennisschläger für Ihren alten gegeben hat… erinnern Sie sich an die, Mademoiselle Jennifer?«
»Die werde ich nicht so leicht vergessen«, meinte Jennifer. »Ich weiß bis heute nicht, wer mir den Tennisschläger geschickt hat. Meine Tante Gina war es bestimmt nicht.«
»Wie sah die Dame aus?«, fragte Poirot.
Jennifer schloss die Augen, um besser nachdenken zu können.
»Ich kann mich nicht genau entsinnen. Sie trug, glaube ich, ein blaues Kleid mit einem kleinen Cape und einen großen, weichen Filzhut.«
»Erinnern Sie sich auch an ihr Gesicht?«, erkundigte sich Poirot.
»Sie war sehr stark geschminkt – ich meine, auf dem Land bemalt man sich doch nicht so. Ich glaube, sie war Amerikanerin, und wenn ich mich nicht irre, war sie blond.«
»Hatten Sie sie früher schon einmal gesehen?«, fragte Poirot.
»Nein. Ich glaube nicht, dass sie in der Gegend wohnt. Sie hat gesagt, dass sie auf einer Cocktailparty gewesen sei – oder so was Ähnliches.«
Poirot sah sie nachdenklich an. Eigenartig, dass Jennifer alles, was man ihr erzählt, für bare Münze nimmt, dachte er.
»Vielleicht hat sie aber nicht die Wahrheit gesagt«, gab er zu bedenken.
»Möglich, wer weiß?«, erwiderte Jennifer.
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie die Dame niemals vorher gesehen haben? Wäre es nicht vorstellbar, dass sie eine Ihrer Mitschülerinnen oder der Lehrerinnen war, die sich verkleidet hatte?«
»Verkleidet?«, wiederholte Jennifer verwirrt.
Poirot zeigte ihr die Zeichnung, die Eileen Rich von Mademoiselle Blanche gemacht hatte.
»War es diese Frau?«
Jennifer betrachtete die Skizze unschlüssig.
»Sie sieht ihr etwas ähnlich, aber ich glaube nicht, dass es diese Dame war.«
Poirot nickte.
Offensichtlich hatte Jennifer nicht erkannt, dass es sich um eine Zeichnung von Mademoiselle Blanche handelte.
»Ich habe mir die Dame gar nicht so genau angesehen«, fuhr sie fort. »Sie war eine Amerikanerin, ich kannte sie nicht, und sie hat mir auch gleich den Tennisschläger gegeben…«
Damit war Poirot klar, dass Jennifer sich für nichts als für den neuen Tennisschläger interessiert hatte. Er schnitt ein anderes Thema an.
»Haben Sie jemals in Meadowbank jemanden getroffen, dem Sie in Ramat begegnet waren?«, fragte er.
»In Ramat?« Jennifer überlegte. »Nein – das heißt – ich glaube nicht.«
»Sie glauben nicht! Sind Sie ganz sicher, Mademoiselle Jennifer?«, fragte Poirot sofort.
Jennifer rieb sich verwirrt die Stirn.
»Man sieht so oft Leute, die jemandem gleichen«, sagte sie. »Manchmal weiß man gar nicht, an wen sie einen erinnern. Dann wieder trifft man Leute, die man zwar kennt, aber deren Namen man sich nicht gemerkt hat. Das kann sehr peinlich sein.«
»Das passiert uns allen«, stimmte Poirot zu. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Wahrscheinlich ging es Ihnen so mit Prinzessin Shanda, die Sie in Ramat gesehen haben müssen.«
»Ach – war Shanda in Ramat?«
»Höchstwahrscheinlich. Sie ist eine nahe Verwandte des königlichen Hauses. Vielleicht haben Sie sie dort gesehen?«
Jennifer runzelte die Stirn.
»Nein, ich kann mich nicht entsinnen«, meinte sie. »Aber außerdem müssen die Frauen ja dort mit einem Schleier vorm Gesicht herumlaufen, nicht wahr? In Paris, in Kairo und natürlich auch in London dürfen sie ihn allerdings abnehmen.«
»Jedenfalls ist Ihnen niemand in Meadowbank begegnet, den Sie von früher her kannten?«, fragte Poirot beharrlich weiter.
»Bestimmt nicht, und die meisten Menschen fallen einem sowieso nicht auf. Nur wenn jemand so ein komisches Gesicht hat, wie Miss Rich zum Beispiel, bemerkt man es.«
»Glauben Sie, Miss Rich früher schon einmal irgendwo gesehen zu haben?«
»Eigentlich nicht; ich kann mich dunkel an eine Frau erinnern, die ihr etwas ähnlich sah, aber sie war viel dicker.«
»Eine viel dickere Frau«, wiederholte Poirot nachdenklich.
»Miss Rich kann das nicht gewesen sein«, erklärte Jennifer lachend. »Miss Rich ist doch so dünn wie ne Bohnenstange. Außerdem war sie während des vorigen Schuljahres krank und kann gar nicht in Ramat gewesen sein.«
»Kannten Sie einige Ihrer Mitschülerinnen von früher?«, fragte Poirot.
»Nur wenige. Ich war ja erst seit drei Wochen in Meadowbank; ich kenne kaum die Hälfte der Leute und die meisten von ihnen nur vom Sehen. Wenn ich ihnen morgen begegnete, würde ich sie wahrscheinlich nicht einmal wiedererkennen.«
»Sie sollten sich daran gewöhnen, Ihre Umwelt etwas schärfer zu beobachten«, mahnte Poirot streng.
»Man kann sich nicht alles merken«, protestierte Jennifer. »Jedenfalls würde ich schrecklich gern nach Meadowbank zurückgehen. Ich langweile mich hier entsetzlich, und ich habe keine Gelegenheit zum Tennisspielen. Könnten Sie meinen Eltern nicht gut zureden, Monsieur Poirot?«
»Ich werde mein Möglichstes tun«, versprach Poirot.