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»Zwei Morde in Meadowbank«, wiederholte Poirot nachdenklich.

»Wir haben Ihnen die Tatsachen berichtet«, sagte Kelsey. »Was halten Sie davon?«

»Warum in der Turnhalle? Das war die Frage, nicht wahr?«, sagte Poirot zu Adam. »Die Antwort darauf ist uns jetzt bekannt. Weil dort ein Tennisschläger war, in dessen ausgehöhltem Griff sich ein Vermögen befand. Aber wer hat davon gewusst? Möglicherweise Miss Springer, die, wie Sie mir gesagt haben, es nicht mochte, dass Leute, die dort nichts zu suchen hatten, in die Turnhalle kamen. Das bezog sich ganz besonders auf Mademoiselle Blanche.«

»Mademoiselle Blanche«, wiederholte Kelsey stirnrunzelnd.

Poirot wandte sich an Adam.

»Auch Sie schöpften Verdacht, als Sie Mademoiselle Blanche in der Turnhalle antrafen, nicht wahr?«

»Sie gab sich übertrieben große Mühe, ihre Anwesenheit zu erklären. Nur das hat mich stutzig gemacht.« Poirot nickte.

»Das ist nur zu verständlich.« Er wandte sich an Kelsey. »Wo war Miss Springer, bevor sie nach Meadowbank kam?«

»Das ist uns nicht bekannt. Sie hat bis zum vorigen Sommer an einer anderen Mädchenschule gearbeitet, aber was sie danach tat, wissen wir nicht.« Er fügte trocken hinzu: »Bevor sie ermordet wurde, hatten wir keine Gelegenheit, sie zu fragen, und sie hat weder nahe Verwandte noch enge Freunde besessen.«

»Sie könnte also schon in Ramat gewesen sein«, stellte Poirot fest.

»Ich glaube, dass zurzeit der Revolution eine Gruppe von Lehrerinnen dort war«, bemerkte Adam.

»Nehmen wir einmal an, dass sie dort war und auf irgendeine Weise das Geheimnis des Tennisschlägers erfuhr. Dann hat sie sich mit den Gepflogenheiten in Meadowbank vertraut gemacht und ist eines Abends in die Turnhalle gegangen. Sie fand den Tennisschläger und war gerade dabei, den Inhalt aus dem Griff zu nehmen, als sie überrascht wurde… aber von wem? Wer hatte sie beobachtet? Wer war ihr an jenem Abend gefolgt? Wer immer es gewesen sein mag, er besaß einen Revolver und erschoss Miss Springer. Doch er hörte Schritte, die sich der Turnhalle näherten, und war gezwungen, die Flucht zu ergreifen, ohne die Juwelen oder den Tennisschläger in der Eile mitnehmen zu können.«

»Glauben Sie, dass es so war, Monsieur Poirot?«, fragte der Polizeichef.

»Es ist jedenfalls eine Möglichkeit. Die andere wäre, dass die Person mit dem Revolver zuerst in der Turnhalle war und von Miss Springer überrascht wurde. Vielleicht war es jemand, der Miss Springer schon lange verdächtig erschien…«

»Und die andere Frau?«, fragte Adam.

Poirot blickte langsam von ihm zu den beiden anderen Herren. »Ich weiß es ebenso wenig wie Sie. Glauben Sie, dass es jemand war, der nicht im Haus lebt?«

Kelsey schüttelte den Kopf.

»Kaum. Wir haben in der Nachbarschaft gründlich sondiert, vor allem haben wir uns nach Ausländern erkundigt. Eine Madame Kolinsky, die Adam bekannt ist, hat in der Nähe gewohnt, aber sie kann nichts mit den beiden Morden zu tun gehabt haben.«

»Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Aufmerksamkeit auf Meadowbank zu konzentrieren.«

»Ich fürchte, ja«, seufzte Kelsey. »Den ersten Mord hätten fast alle Bewohner der Schule begehen können – mit Ausnahme von Miss Chadwick, Miss Johnson und dem jungen Mädchen, das Ohrenschmerzen hatte. Für den zweiten Mord kommen weniger Leute infrage. Miss Rich war zwanzig Meilen von Meadowbank entfernt. Miss Blake war in Littleport, und Miss Shapland war in einem Londoner Nachtklub mit einem gewissen Mr Dennis Rathbone.«

»Miss Bulstrode war, wie ich hörte, ebenfalls fort, nicht wahr?« Adam grinste. Kelsey und der Polizeichef waren verblüfft.

»Miss Bulstrode war bei der Herzogin von Welsham zu Besuch«, beantwortete Kelsey die Frage.

»Damit hätten wir also auch Miss Bulstrode aus dem Kreis der Verdächtigen eliminiert«, stellte Poirot mit ernster Miene fest. »Wer käme sonst noch infrage?«

»Zwei Dienstboten, die im Hause leben: Mrs Gibbons, die Köchin, und Doris Hogg. Aber ich halte es praktisch für ausgeschlossen, dass sie etwas mit dem Verbrechen zu tun hatten. Bleiben also nur noch Miss Rowan und Mademoiselle Blanche.«

»Und die Schülerinnen.«

»Halten Sie das wirklich für möglich?«, fragte Kelsey erstaunt.

»Offen gestanden – nein. Aber man darf keine Möglichkeit außer Acht lassen.«

Doch Kelsey ging nicht weiter darauf ein. Er fuhr fort:

»Miss Rowan ist seit über einem Jahr hier. Sie hat einen guten Ruf. Soviel ich weiß, hat sie sich nie etwas zu Schulden kommenlassen.«

»Damit bleibt uns also nur noch Mademoiselle Blanche.«

Es folgte ein längeres Schweigen.

»Wir haben keine Beweise. Auch ihre Referenzen scheinen echt zu sein«, erklärte Kelsey.

»Sie hat sich in alles eingemischt, aber das ist noch kein Beweis dafür, dass sie ein Verbrechen begangen hat«, sagte Adam.

»Einen Augenblick«, bat Kelsey. »Mir fällt eben etwas ein. Die Sache mit dem Schlüssel. Ich glaube, der Schlüssel zur Turnhalle fiel aus dem Schloss, sie hob ihn auf und vergaß ihn wieder zurückzustecken. Daraufhin machte die Springer ihr eine Szene.«

»Die Person, die plant, nachts in die Turnhalle zu gehen, um nach dem Tennisschläger zu suchen, brauchte einen Schlüssel«, griff Poirot den Faden auf. »Also musste sie sich ein Schlüsselduplikat verschaffen.«

»In diesem Fall wäre es töricht gewesen von Mademoiselle Blanche, den Zwischenfall Ihnen gegenüber zu erwähnen«, bemerkte Adam.

»Durchaus nicht«, erwiderte Kelsey. »Die Springer mochte über die Schlüsselsache gesprochen haben, und daher hielt die Blanche es für besser, sie ebenfalls zu erwähnen.«

»Auf jeden Fall wollen wir uns diesen Vorfall merken«, sagte Poirot. »Dann bliebe noch eine Möglichkeit: Julia Upjohns Mutter soll am Tag des Schuljahrsbeginns ein bekanntes Gesicht hier entdeckt haben. Sie war überrascht, die betreffende Person in Meadowbank wiederzusehen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass diese Person mit dem Geheimdienst in Verbindung stand. Falls Mrs Upjohn bestätigen sollte, dass sie Mademoiselle Blanche erkannt hat, könnten wir das Verfahren mit ziemlicher Sicherheit einleiten.«

»Das ist leichter gesagt als getan«, seufzte Kelsey. »Wir haben uns vergeblich bemüht, sie in Anatolien zu finden. Leider macht sie keine organisierte Gruppenreise, sondern fährt mit dem gewöhnlichen Autobus nach Lust und Laune durch das Land. Wo soll man eine so unternehmungslustige Frau suchen? Man hat ja keine Ahnung, wo sie sich gerade aufhält.«

»Schwierige Situation«, stimmte Poirot zu.

»Und inzwischen sitzen wir hier fest«, sagte Kelsey. »Diese Französin kann Meadowbank und das Land ungehindert verlassen. Wir haben keine Beweise gegen sie in der Hand.«

Poirot schüttelte den Kopf. »Das wird sie nicht tun.«

»Da bin ich nicht so sicher.«

»Doch. Wenn man einen Mord begangen hat, vermeidet man es, Aufmerksamkeit zu erregen. Mademoiselle Blanche wird ruhig bis zum Ende des Schuljahrs hier bleiben.«

»Ich hoffe, Sie haben Recht.«

»Ich bin fest davon überzeugt. Und vergessen Sie nicht, dass die Person, die Mrs Upjohn gesehen hat, nicht weiß, dass sie gesehen worden ist«

Kelsey seufzte. »Wenn das alles ist…«

»Es gibt noch andere Dinge – Unterhaltungen zum Beispiel.«

»Unterhaltungen?«

»Wenn man etwas zu verbergen hat, sagt man früher oder später einmal zu viel.«

»Sie meinen, dass man sich verrät?«, fragte der Polizeichef skeptisch.

»Ganz so einfach ist es nicht. Man bemüht sich, nicht über das zu sprechen, was man verbergen muss. Aber oft sagt man zu viel über andere Dinge. Auch die Unterhaltungen unschuldiger Leute können interessant sein, da diese oft keine Ahnung haben, dass sie etwas Wichtiges wissen. Dabei fällt mir ein…« Poirot stand auf. »Ich bitte um Verzeihung, meine Herren. Ich muss sofort zu Miss Bulstrode, um sie zu fragen, ob hier jemand zeichnen kann.«

»Zeichnen?«

»Ja, zeichnen.«

»Na so was«, sagte Adam, nachdem Poirot hinausgegangen war. »Zuerst interessiert er sich für Jungmädchenknie, jetzt sucht er einen Zeichner. Was wird er sich als Nächstes ausdenken?«

Miss Bulstrode beantwortete Poirots Frage ohne ein Anzeichen des Erstaunens.

»Miss Laurie, unsere Zeichenlehrerin, ist heute nicht hier«, sagte sie. »Sie kommt nur einmal in der Woche. Was soll sie denn für Sie zeichnen?«, fügte sie freundlich hinzu, als spräche sie mit einem Kind.

»Gesichter«, erwiderte Poirot.

»Miss Rich zeichnet auch ganz gut…«

»Versuchen wir’s mit ihr.«

Er stellte zu seiner Genugtuung fest, dass Miss Bulstrode keine unnötigen Fragen stellte. Sie verließ das Zimmer und kam kurz darauf mit Miss Rich zurück.

»Wie ich höre, sind Sie eine gute Zeichnerin. Können Sie Leute porträtieren?«

Eileen Rich nickte.

»Würden Sie so freundlich sein, eine Skizze von der verstorbenen Miss Springer für mich zu machen?«

»Das ist schwierig. Ich kannte sie nur sehr kurze Zeit, aber ich will es versuchen.«

Sie kniff die Augen zusammen und begann schnell zu zeichnen.

»Bien«, sagte Poirot und nahm ihr die Skizze aus der Hand. »Und nun bitte Miss Bulstrode, Miss Rowan, Mademoiselle Blanche und Adam, den Gärtner.«

Eileen Rich sah ihn erstaunt an, dann machte sie sich an die Arbeit. Er betrachtete das Resultat befriedigt.

»Sie sind sehr begabt, mit ein paar Strichen gelingt es Ihnen, Gesichter deutlich erkennbar zu machen. Ausgezeichnet! Und jetzt möchte ich Sie bitten, etwas noch Schwierigeres zu versuchen. Geben Sie Miss Bulstrode eine andere Frisur, verändern Sie die Form ihrer Augenbrauen.«

Eileen sah ihn fassungslos an.

»Ich bin nicht verrückt geworden, Miss Rich«, sagte er. »Ich mache lediglich ein Experiment.«

Sie führte seine Wünsche aus.

Poirot betrachtete die Zeichnung.

»Glänzend! Nun möchte ich Sie bitten, auch Mademoiselle Blanche und Miss Rowan auf die gleiche Weise zu verändern.«

Nachdem Eileen die beiden Skizzen vollendet hatte, legte Poirot die drei Porträts vor sich auf den Tisch.

»Nun will ich Ihnen etwas zeigen«, sagte er. »Miss Bulstrode ist trotz der Veränderungen deutlich als Miss Bulstrode zu erkennen. Aber sehen Sie sich die beiden anderen an! Da sie uninteressante Züge haben und im Gegensatz zu Miss Bulstrode keine starken Persönlichkeiten sind, sind sie durch die geringfügigen Veränderungen ganz andere Menschen geworden, nicht wahr?«

Eileen Rich gab ihm Recht. Als er die Skizzen sorgfältig zusammenfaltete und einsteckte, fragte sie:

»Was werden Sie damit tun?«

»Ich werde sie benutzen«, erwiderte Poirot geheimnisvoll.

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