24


Mrs Upjohn wanderte durch die Schulkorridore. Sie hatte die aufregenden Ereignisse vergessen, die sie eben miterlebt hatte, denn in diesem Augenblick war sie nur eine Mutter auf der Suche nach ihrem Kind. Sie fand Julia in einem leeren Klassenzimmer, über ein Schreibpult gebeugt. Ihre Zungenspitze war zu sehen, während sie sich darauf konzentrierte, einen Aufsatz zu schreiben.

Sie blickte erstaunt auf. Dann sprang sie auf und warf sich mit einem Freudenschrei in die Arme ihrer Mutter.

»Mummy!«

Gleich darauf schämte sie sich ihres Gefühlsausbruch, wie es die meisten Mädchen ihres Alters tun. Sie fragte steif:

»Wieso bist du denn schon zurück?«

»Ich bin von Ankara zurückgeflogen«, erklärte Mrs Upjohn beinahe entschuldigend.

»Ach so«, sagte Julia, »ich freu mich jedenfalls, dass du wieder da bist.«

»Und ich freu mich auch«, erwiderte Mrs Upjohn.

Sie sahen sich verlegen an. »Was machst du denn da?«, fragte Mrs Upjohn.

»Ich schreibe einen Aufsatz für Miss Rich. Sie gibt uns immer wunderbare Themen.«

»Wie lautet denn das heutige Thema?«

»›Macbeth und Lady Macbeth – vergleiche ihre verschiedenen Einstellungen zum Mord.‹«

»Jedenfalls ist das ein sehr aktuelles Thema«, meinte Mrs Upjohn.

Sie las den Anfang des Aufsatzes:

»Macbeth hatte viel über Mord nachgedacht, aber brauchte einen Anstoß, um sich zur Tat zu entschließen. Als er erst einmal angefangen hatte, fand er am Morden Gefallen und hatte weder Angst noch Gewissensbisse. Lady Macbeth war ganz einfach gierig und ehrgeizig. Sie tat alles, um das zu bekommen, was sie wollte. Aber als sie es erst einmal hatte, gefiel es ihr nicht mehr…«

»Elegant ist dein Stil nicht gerade«, stellte Mrs Upjohn fest. »Da hast du noch viel zu lernen; aber dem Sinn nach triffst du die Sache nicht schlecht.«

»Für Sie ist das alles ganz einfach, Poirot«, sagte Kommissar Kelsey in leicht vorwurfsvollem Ton. »Sie dürfen vieles tun und sagen, was wir uns nicht leisten können. Jedenfalls war das Ganze sehr gut inszeniert. Sie war fest davon überzeugt, dass wir es auf Miss Rich abgesehen hatten; aber durch Mrs Upjohns plötzliches Erscheinen verlor sie den Kopf. Ich bin nur froh, dass sie den Revolver behalten hat. Wenn es die gleiche Kugel ist…«

»Es wird die gleiche sein, mon ami«, sagte Poirot.

»Dann steht fest, dass sie die Springer getötet hat. Auch Miss Chadwick ist schwer verletzt. Aber es ist mir noch immer ein Rätsel, wer Miss Vansittart ermordet hat. Ann Shapland kann es nicht gewesen sein. Sie besitzt ein einwandfreies Alibi – falls nicht Rathbone und das gesamte Personal des ›Nid Sauvage‹ von ihr bestochen worden sind.«

Poirot schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen«, sagte er. »Ihr Alibi ist in Ordnung. Sie hat Miss Springer und Mademoiselle Blanche umgebracht. Aber Miss Vansittart…«, er zögerte einen Augenblick und sah Miss Bulstrode an. »Miss Vansittart ist von Miss Chadwick ermordet worden.«

»Miss Chadwick?«, riefen Miss Bulstrode und Kelsey wie aus einem Mund.

Poirot nickte. »Ja, zweifellos.«

»Aber warum?«

»Ich glaube, Miss Chadwick hat Meadowbank zu sehr geliebt.«

Poirots Blicke ruhten auf Miss Bulstrode.

»Ja, ich verstehe«, erwiderte Miss Bulstrode. »Und ich hätte es wissen sollen.« Sie machte eine Pause. »Sie glauben also, dass…«

»Ich glaube, dass Miss Chadwick, die von Anfang hier war, Meadowbank als ein gemeinsames Unternehmen betrachtete.«, sagte Poirot. »Als Sie erwähnten, dass Sie sich bald zur Ruhe setzen wollten, hielt Miss Chadwick es für selbstverständlich, dass sie Ihre Nachfolgerin werden würde.«

»Aber sie ist viel zu alt«, entgegnete Miss Bulstrode.

»Ja, sie ist zu alt und ungeeignet für den Posten einer Schulleiterin«, stimmte Poirot zu. »Aber sie selbst war nicht dieser Ansicht. Und dann wurde ihr klar, dass Sie eine andere im Auge hatten – Eleanor Vansittart.«

»Eleanor war leider sehr von sich überzeugt, vielleicht wirkte sie sogar hochmütig. Das ist bestimmt nicht leicht zu ertragen, wenn man eifersüchtig ist – und Chaddy war eifersüchtig.«

»Ja«, sagte Poirot, »sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Miss Vansittart Schulvorsteherin werden würde… Ist es möglich, dass sie etwas später das Gefühl hatte, dass Sie Ihrer Sache nicht mehr ganz sicher seien?«

»Ich war meiner Sache nicht mehr ganz sicher«, gab Miss Bulstrode zu, »aber nicht so, wie Miss Chadwick glauben mochte. Ich dachte tatsächlich an jemanden, der jünger ist als Miss Vansittart. Aber dann verwarf ich diesen Gedanken wieder, weil ich die betreffende Person für zu jung hielt… ich entsinne mich, dass ich Chaddy meine Zweifel anvertraute.«

»Aber sie glaubte, als Sie von Miss Vansittart sprachen, dass Sie Miss Vansittart für zu jung hielten«, sagte Poirot. »Natürlich stimmte sie mit Ihnen überein. Sie fand, dass lange Erfahrung wichtiger sei als alles andere… und dann kehrten Sie zu Ihrem ursprünglichen Entschluss zurück; Sie überließen Eleanor Vansittart die Oberaufsicht, als Sie über das Wochenende verreisten. Und so muss sich das Drama dann entwickelt haben: Miss Chadwick konnte am Sonntag nicht einschlafen. Sie stand auf, sah das Licht in der Turnhalle, ging sofort hinunter, nahm aber nicht, wie sie nachher aussagte, einen Golfschläger mit, sondern einen der Sandsäcke aus der Vorhalle. Sie erwartete, einen Einbrecher vorzufinden – und wen fand sie? Sie fand Eleanor Vansittart, die vor einem Schließfach kniete. Miss Chadwick mag gedacht haben: Wenn ich ein Einbrecher wäre, würde ich mich auf Zehenspitzen heranschleichen und sie erschlagen. Und während ihr dieser Gedanke kam, hob sie halb unbewusst den Sandsack und schlug zu. Nun stand ihr Eleanor Vansittart nicht mehr im Wege, aber ich glaube, dass sie die furchtbarsten Gewissensbisse hatte, denn sie ist an sich keine Mörderin. Eifersucht und ihre Liebe zu Meadowbank haben sie zu dieser furchtbaren Tat getrieben. Sie legte jedoch kein Geständnis ab, weil sie nun sicher war, dass sie Ihre Nachfolgerin werden würde. Als sie der Polizei über den Fall berichtete, verschwieg sie nur eine wichtige Tatsache, nämlich, dass sie Miss Vansittart den Todesstoß versetzt hatte. Aber als sie nach dem Golfschläger gefragt wurde, den Miss Vansittart wahrscheinlich zu ihrem Schutz mitgenommen hatte, behauptete Miss Chadwick, sie selbst habe ihn aus dem Haus mitgenommen. Niemand sollte auf den Gedanken kommen, dass sie einen Sandsack bei sich gehabt hatte.«

»Warum hat Ann Shapland ebenfalls einen Sandsack benutzt, um Mademoiselle Blanche zu töten?«, fragte Miss Bulstrode.

»Einerseits konnte sie nicht riskieren, im Schulgebäude einen Schuss abzufeuern, andererseits wollte die gerissene Person den dritten Mord mit dem zweiten in Verbindung bringen, für den sie ein Alibi besaß.«

»Ich kann mir nicht erklären, was Eleanor Vansittart in der Turnhalle zu suchen hatte«, sagte Miss Bulstrode.

»Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich Shandas Verschwinden mehr zu Herzen genommen hatte, als sie zeigte. Sie war ebenso besorgt wie Miss Chadwick, vielleicht noch mehr, denn die Entführung hatte stattgefunden, während sie für die Schule verantwortlich war.«

»Auch hinter ihrem sicheren Auftreten hat sich also eine gewisse Schwäche verborgen«, murmelte Miss Bulstrode.

»Ja, und auch sie konnte nicht schlafen. Ich glaube, dass sie heimlich in die Turnhalle gegangen ist, um Shandas Schließfach zu untersuchen. Wahrscheinlich hoffte sie, dort einen Anhaltspunkt für die Entführung zu entdecken.«

»Sie scheinen für alles eine Erklärung zu haben, Monsieur Poirot.«

»Das ist seine Spezialität«, versetzte Kommissar Kelsey etwas boshaft.

»Und warum musste Eileen Rich Zeichnungen von verschiedenen meiner Lehrerinnen anfertigen?«

»Weil ich feststellen wollte, ob Jennifer ein Gesicht erkennen konnte. Ich überzeugte mich sehr bald davon, dass sie so intensiv mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt war, dass sie sich kaum Zeit nahm, über andere nachzudenken oder sie eingehend zu betrachten. Sie erkannte nicht einmal ein Porträt von Mademoiselle Blanche mit einer anderen Frisur. Sie würde Ann Shapland noch weniger erkannt haben, die sie sowieso nur selten aus der Nähe gesehen hatte.«

»Sie glauben also, dass Ann Shapland die Frau mit dem Tennisschläger war?«

»Ja. Ann war daran gewöhnt, sich im Nu in eine andere Person zu verwandeln. Eine blonde Perücke, anders gezeichnete Augenbrauen, ein elegantes Kleid, ein Hut mit breiter Krempe… Zwanzig Minuten später hätte sie bereits wieder an ihrer Schreibmaschine sitzen können. Ich habe an Miss Richs verblüffenden Zeichnungen erkannt, wie leicht sich eine Frau mit äußeren Hilfsmitteln verändern kann.«

»Ja, Miss Rich…«, sagte Miss Bulstrode nachdenklich.

Poirot warf Kelsey einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Ich muss jetzt gehen«, erklärte Kelsey. »Soll ich Miss Rich bitten hereinzukommen?«

Poirot nickte.

Eileen Rich kam mit bleichem, aber trotzigem Gesicht ins Zimmer.

»Sie wollen wissen, was ich in Ramat zu suchen hatte, Miss Bulstrode?«, fragte sie.

»Ich habe, glaube ich, eine Idee«, erwiderte Miss Bulstrode.

»Ich auch«, sagte Poirot. »Obwohl Kinder heutzutage theoretisch über alles aufgeklärt sind, bleiben ihre Augen manchmal unschuldig.«

Er fügte hinzu, dass auch er sich nun leider verabschieden müsse.

»Das war’s also, nicht wahr?«, fragte Miss Bulstrode mit kühler, sachlicher Stimme. »Jennifer beschrieb die Frau, die sie gesehen hatte, ganz einfach als dick. Sie war sich nicht im Klaren darüber, dass sie schwanger war.«

»Ja, ich erwartete ein Kind«, gestand Eileen Rich. »Aber ich wollte meinen Posten hier nicht aufgeben. Es ging alles gut bis zum Herbst. Dann, als sich mein Zustand nicht länger verbergen ließ, verschaffte ich mir ein ärztliches Attest. Ich fuhr nach Ramat, weil ich hoffte, dort keine Bekannten zu treffen. Später kam ich nach England zurück, wo ich mein Kind gebar – es war tot. Als ich zu Beginn dieses Schuljahrs wieder nach Meadowbank kam, hoffte ich, dass niemand etwas von der Sache erfahren würde… Sie werden jetzt sicher verstehen, warum ich Ihr Angebot einer Partnerschaft unter normalen Umständen nicht hätte annehmen können, nicht wahr? Erst nachdem die Schule einen so schweren Schlag erlitten hatte, glaubte ich, vielleicht doch auf Ihren Vorschlag eingehen zu können.«

Nach einer kurzen Pause fragte sie schlicht:

»Soll ich sofort gehen oder bis zum Ende des Schulhalbjahrs dableiben?«

»Sie bleiben bis zum Ende des Schulhalbjahrs«, erwiderte Miss Bulstrode. »Und ich erwarte, dass Sie nach den Ferien wieder zurückkommen, falls die Schule, wie ich noch immer hoffe, weiterbestehen wird.«

»Sie wollen mich wirklich hier behalten?«, fragte Eileen.

»Selbstverständlich. Sie haben doch keinen Mord verübt oder einen Juwelendiebstahl geplant, oder? Sie haben nichts getan, als dass Sie Ihren natürlichen Instinkten gefolgt sind. Sie haben sich in einen Mann verliebt, Sie haben sein Kind geboren – wahrscheinlich war eine Heirat ausgeschlossen –, das ist kein Verbrechen.«

»Ich wusste von Anfang an, dass er mich nicht heiraten konnte«, erklärte Eileen.

»Also gut. Sie hatten ein Verhältnis«, sagte Miss Bulstrode. »Wollten Sie das Kind haben?«

»Ja, ich wollte es haben«, erwiderte Eileen Rich.

»Ich verstehe… Und jetzt werde ich Ihnen auf den Kopf zusagen, dass Ihre wirkliche Berufung die einer Lehrerin ist, trotz dieser Liebesgeschichte. Ich glaube, dass Ihnen Ihr Beruf mehr bedeutet, als einen Mann und Kinder zu haben, nicht wahr?«

»Zweifellos. Das habe ich schon immer gewusst.«

»Gut, in diesem Fall dürfen Sie mein Angebot nicht ausschlagen«, fuhr Miss Bulstrode fort. »Ich hoffe, dass es uns gemeinsam gelingen wird, Meadowbank während der nächsten beiden Jahre wieder zu einer ausgezeichneten Schule zu machen. Sie haben diesbezüglich sicher andere Ideen als ich, die ich mir anhören und die ich manchmal vielleicht sogar ausführen werde. Sie möchten doch sicher Verschiedenes ändern?«

»Offen gestanden – ja«, entgegnete Eileen. »Ich würde größeren Wert darauf legen, wirklich intelligente Mädchen in die Schule aufzunehmen.«

»Das snobistische Element ist es also, das Sie nicht mögen«, stellte Miss Bulstrode fest.

»Ja. Ich finde, es schadet der wirklichen Aufgabe dieser Schule.«

»Sehen Sie, Eileen, um die Mädchen zu bekommen, die Sie wollen, brauchen Sie eben jenes snobistische Element; ein paar ausländische Prinzessinnen, ein paar berühmte Namen – und all die dummen, snobistischen Eltern, in England wie im Ausland, wollen ihre Töchter nach Meadowbank schicken. Das Resultat? Ellenlange Wartelisten, aus denen ich mir meine Schülerinnen aussuchen kann – und ich suche sehr sorgfältig aus, glauben Sie mir. Ich wähle intelligente, charaktervolle, ernsthafte Mädchen, oft auch ein aufgewecktes Kind unbemittelter Eltern. Sie sind jung und idealistisch, Eileen. Aber Sie müssen lernen, dass zum Erfolg nicht nur Idealismus, sondern auch Geschäftssinn gehört. Wir werden es nicht leicht haben, unsere Schule wieder auf die Beine zu bringen, aber wir werden es schaffen – davon bin ich fest überzeugt.«

»Ich auch. Ich weiß, dass Meadowbank bald wieder die beste Schule Englands sein wird«, erklärte Eileen begeistert.

»Gut – und nun noch eine Kleinigkeit: Lassen Sie sich Ihr Haar schneiden; der Knoten steht Ihnen nicht besonders.«

Nach einer kurzen Pause fuhr Miss Bulstrode mit veränderter Stimme fort: »So, und jetzt muss ich zu Chaddy gehen.«

Miss Chadwick lag bleich und still auf dem Bett. Ihr Gesicht war blutleer, fast leblos. Ein Polizist mit einem Notizbuch saß auf der einen Seite des Bettes, Miss Johnson auf der anderen. Sie blickte Miss Bulstrode an und schüttelte traurig den Kopf.

»Nun, Chaddy«, sagte Miss Bulstrode. Sie ergriff Chaddys Hand. Miss Chadwick öffnete ihre Augen.

»Ich muss dir etwas sagen«, flüsterte sie. »Eleanor – ich bin – ich habe es getan.«

»Ich weiß, meine Liebe.«

»Es war… Eifersucht…«

»Ich weiß, Chaddy«, beruhigte sie Miss Bulstrode.

Langsam rollte eine Träne über Miss Chadwicks fahle Wange.

»Es ist so furchtbar… ich wollte es nicht tun…«

»Du darfst nicht mehr darüber nachdenken«, sagte Miss Bulstrode.

»Aber das ist unmöglich… Du wirst mir nie… ich werde mir selbst nie vergeben…«

Miss Bulstrode drückte ihr die Hand.

»Du hast mir das Leben gerettet, Chaddy. Mein Leben und das Leben von Mrs Upjohn. Das darfst du nicht vergessen.«

»Ich wünschte nur, ich hätte mein Leben für euch beide opfern können; das hätte die Schuld bezahlt…«

Miss Bulstrode sah sie mitleidig an. Miss Chadwick atmete schwer, dann lächelte sie, legte den Kopf zur Seite und starb…

»Du hast dein Leben geopfert«, sagte Miss Bulstrode leise. »Ich hoffe, dass du das jetzt weißt.«



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