11 Eine Spelunke in Maderin

Obwohl an jenem Abend alle spät zu Bett gegangen waren, brach der Zirkus am nächsten Morgen in aller Frühe auf. Mat schleppte sich schlaftrunken aus seinem Zelt, während der Himmel noch dunkel war, um Männer und Frauen vorzufinden, die mit Laternen umhergingen, um alles bereitzumachen, wenn sie nicht sogar liefen, und fast jeder brüllte irgendjemand anderen an, sich schneller zu bewegen. Viele hatten den unsicheren Schritt von Leuten, die nicht geschlafen hatten. Jeder wollte den Ort weit hinter sich lassen, an dem das Dorf vor ihren Augen verschwunden war. Lucas großer grellbunter Wagen rollte auf die Straße, bevor die Sonne über den Horizont gestiegen war, und wieder schlug er ein gutes Tempo an. Zwei Kaufmannskarawanen, die aus etwa zwanzig Wagen bestanden und nach Süden rollten, passierten sie unterwegs, genau wie eine langsame Kesselflickerkarawane, aber niemand fuhr in ihre Richtung. Je weiter, desto besser.

Mat ritt mit Tuon, und Selucia unternahm keine Anstalten, den Falben zwischen sie zu drängen, aber es gab keine Unterhaltung, ganz egal, wie er sich auch bemühte, eine in Gang zu bringen. Bis auf den gelegentlichen unleserlichen Blick, wenn er einen Witz erzählte, sah Tuon stur geradeaus, und die blaue Umhangkapuze verbarg ihr Gesicht. Nicht einmal Jonglieren erregte ihre Aufmerksamkeit. Da war etwas Missmutiges an ihrem Schweigen, und das bereitete ihm Sorgen. Wenn eine Frau einem Schweigen entgegenbrachte, lauerten für gewöhnlich Schwierigkeiten auf einen. Wenn sie missmutig war, dann konnte man das mit dem gew öhn l ic h glatt vergessen. Er bezweifelte, dass das Dorf der Toten der Grund war. Dafür war sie zu zäh. Nein, da lauerte Ärger.

Kaum eine Stunde nach ihrem Aufbruch kam ein Bauernhof in Sicht, mit Dutzenden schwarzköpfiger Ziegen, die auf einer großen Wiese und in einem Olivenhain grasten. Jungen, die zwischen den Reihen dunkelblättriger Olivenbäume Unkraut jäteten, ließen ihre Hacken fallen und eilten zu den Steinmauern, um den vorbeifahrenden Zirkus zu betrachten. Sie wollten aufgeregt wissen, wer sie waren und wo sie hinfuhren und wo sie herkamen. Aus dem großen Bauernhaus und zwei Scheunen kamen Männer und Frauen und beschatteten die Augen, um sich das anzusehen. Mat sah das mit Erleichterung. Die Toten interessierten sich nicht für die Lebenden.

Es gab immer mehr Höfe und Olivenhaine, bis sie nebeneinander standen und zu beiden Seiten den Wald eine Meile weit zurückdrängten, und ungefähr in der Mitte des Vormittags erreichte der Wanderzirkus ein wohlhabendes Dorf, das etwas größer als Jurador war. Ein langer Kaufmannszug aus Planwagen fuhr durch das Haupttor, an dem ein halbes Dutzend Männer mit konischen Helmen und Ledermänteln mit aufgenähten Stahlplättchen aufpassten. Weitere Männer mit Armbrusten standen auf den beiden Wachtürmen auf ihren Posten. Aber wenn der Lord von Maderin, ein gewisser Nathin Sarmain Vendare, Ärger erwartete, waren die Wächter das einzige Anzeichen. Bauernhöfe und Olivenhaine reichten bis zu den Steinmauern von Maderin, eine unkluge Praxis, und ziemlich kostspielig, sollte die Stadt jemals verteidigt werden müssen. Luca musste mit einem Bauern um das Recht schachern, den Zirkus auf einer ungenutzten Wiese aufstellen zu dürfen, und er kam zurück und murmelte etwas davon, dass er dem Schurken gerade eine neue Ziegenherde oder auch zwei beschert hatte. Aber die Zeltplane wurde bald errichtet, während Luca jeden antrieb. Sie sollten noch am heutigen Tag auftreten und am frühen Morgen Weiterreisen. Am sehr frühen Morgen. Niemand beschwerte sich oder sagte auch nur ein unnötiges Wort. Je weiter, desto besser.

»Und erzählt keinem, was ihr gesehen habt«, mahnte Luca sie mehr als einmal zur Vorsicht. »Wir haben nichts Ungewöhnliches gesehen. Wir wollen die Zuschauer nicht verscheuchen.« Die Leute sahen ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Niemand wollte an das versunkene Dorf oder den Hausierer denken, geschweige denn darüber reden.

Mat saß in Hemdsärmeln in seinem Zelt und wartete darauf, dass Thom und Juilin von ihrem Abstecher in die Stadt zurückkamen, um zu erfahren, ob es hier Seanchaner gab. Er spielte gedankenverloren mit einem Satz Würfel, die er auf den Tisch warf. Nachdem er zuerst hohe Augenzahlen geworfen hatte, starrten jetzt schon zehnmal hintereinander fünf einzelne Augen zu ihm hoch; die meisten Männer betrachteten die Augen des Dunklen Königs als einen Wurf, der Pech brachte.

Selucia schlug den Zelteingang zurück und trat ein. Trotz des einfachen braunen Reitrocks und der weißen Bluse schaffte sie es, wie eine Königin auszusehen, die einen Stall betrat. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, einen schmutzigen Stall, obwohl Lopin und Nerim seine Mutter hätten zufrieden stellen können, wenn es ums Saubermachen ging.

»Sie will Euch sehen«, sagte sie gebieterisch und tastete nach ihrem blumengemusterten Kopftuch, um sich zu vergewissern, dass ihr kurzes gelbes Haar bedeckt war. »Kommt.«

»Was will sie denn von mir?«, sagte er und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Er streckte sogar die Beine aus und überkreuzte die Knöchel. Sobald man eine Frau glauben ließ, dass man sprang, sobald sie rief, erholte man sich nie wieder davon.

»Sie wird es Euch sagen. Ihr verschwendet Zeit, Spielzeug.

Sie wird nicht erfreut sein.«

»Wenn mein Juwel erwartet, dass ich angerannt komme, wenn sie bloß den Finger krumm macht, dann sollte sie lieber lernen, daran Gefallen zu finden, nicht erfreut zu sein.«

Selucia verzog das Gesicht — auch wenn ihre Herrin den Namen tolerierte, für sie blieb es eine persönliche Beleidigung — und verschränkte die Arme unter dem eindrucksvollen Busen.

Es war so klar wie gutes Glas, dass sie hier warten wollte, bis er sie begleitete, und er hatte gute Lust, sie lange warten zu lassen. Er würfelte. Die Augen des Dunklen Königs. Erwarteten von ihm, dass er sprang, wenn Tuon Kröte sagte. Hah! Noch ein Wurf, und sie rollten über den Tisch und einer fiel fast herunter. Die Augen des Dunklen Königs. Doch er hatte im Moment nichts Besseres zu tun.

Trotzdem ließ er sich Zeit, den Mantel anzuziehen, gute bronzefarbene Seide. Als er den Hut nahm, konnte er hören, wie sie ungeduldig mit dem Fuß auftappte. »Nun, worauf wartet Ihr?«, fragte er. Sie fauchte ihn an. Sie hielt die Zeltplane zur Seite, aber sie fauchte wie eine Katze.

Setalle und Tuon saßen auf einem der Betten und unterhielten sich, als er den purpurfarbenen Wagen betrat, aber sie verstummten wie abgeschnitten in dem Moment, in dem er durch die Tür kam, und warfen ihm kurze, aber abschätzende Blicke zu. Was ihm verriet, dass Mat Cauthon ihr Thema gewesen war. Ihm sträubten sich die Haare. Es war offensichtlich, was auch immer Tuon wollte, es war etwas, von dem sie glaubten, dass er es missbilligen würde. Und genauso offensichtlich würde sie es trotzdem machen wollen. Der Tisch war zur Decke hochgezogen, und Selucia drängte sich an ihm vorbei und nahm den Platz hinter Tuon ein, während sich die kleine Frau mit ernster Miene auf den Hocker setzte. Hängt sofort alle Gefangenen.

»Ich möchte den Gemeinschaftsraum eines Gasthauses besuchen«, verkündete sie. »Oder eine Schenke. Ich habe beide noch nie von innen gesehen. Ihr werdet mich in dieser Stadt in eines davon ausführen, Spielzeug.«

Er wagte weiterzuatmen. »Das ist nicht schwer. Sobald Thom oder Juilin mich wissen lassen, dass es sicher ist.«

»Es muss ein billiger Laden sein. Die, die man auch Spelunke nennt.«

Ihm blieb der Mund offen stehen. Ein billiger Laden? Spelunken waren das Niedrigste vom Niedrigsten, schmutzig und schlecht beleuchtet, wo das Ale und der Wein billig und trotzdem nicht mal die Hälfte dessen wert waren, was man bezahlt hatte, wo das Essen noch schlechter war und jede Frau, die sich zu einem auf den Schoß setzte, versuchte, einem den Geldbeutel zu stehlen oder ihn aufzuschlitzen oder zwei Männer oben warten hatte, die einem einen Scheitel zogen, sobald man durch die Tür war. Zu jeder Tages- und Nachtstunde konnte man ein Dutzend Würfelspiele finden, manchmal mit überraschend hohen Einsätzen, wenn man die Umgebung in Betracht zog. Kein Gold — nur ein Narr zeigte in einer Spelunke sein Gold —, aber Silber. Nur wenige der Spieler würden auch nur auf halbwegs ehrliche Weise an ihre Münzen gekommen sein, und diese wenigen würden genauso kalte Augen wie die Schläger und Messerstecher haben, die in der Nacht über die Betrunkenen herfielen. Spelunken hatten immer zwei oder drei Rausschmeißer mit Schlagstöcken, um Kämpfe zu beenden, und an den meisten Tagen mussten sie hart für ihren Lohn arbeiten. Für gewöhnlich hielten sie die Gäste davon ab, sich gegenseitig umzubringen, aber wenn sie versagten, schleifte man die Leiche hinten raus und ließ sie irgendwo in einer Gasse liegen oder warf sie auf einen Müllhaufen. Und während sie sie fortschafften, ging das Trinken genauso weiter wie das Spielen. Das war eine Spelunke. Woher hatte sie überhaupt von solchen Orten gehört?

»Habt Ihr ihr diese verrückte Idee in den Kopf gesetzt?«, wollte er von Setalle wissen.

»Wieso beim Licht kommt Ihr darauf?«, erwiderte sie und machte große Augen wie jede Frau, die vorgab, unschuldig zu sein. Oder wenn sie einen glauben machen wollten, dass sie nur so taten, nur um einen zu verwirren. Er begriff nicht, warum sie sich überhaupt die Mühe machten. Frauen verwirrten ihn auch so, da mussten sie sich gar nicht anstrengen.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage, mein Juwel. Wenn ich mit einer Frau wie Euch eine Spelunke betrete, verwickelt man mich innerhalb von einer Stunde in sechs Messerkämpfe, falls ich überhaupt so lange überlebe.«

Tuon zeigte ein erfreutes Lächeln. Es war ganz schnell wieder verschwunden, aber es war definitiv erfreut gewesen.

»Glaubt Ihr wirklich?«

»Das ist eine Tatsache.« Was ein weiteres entzücktes Lächeln hervorrief. Entzückt! Die verdammte Frau wollte ihn bei einem Messerkampf sehen!

»Das mag ja sein, Spielzeug, aber Ihr habt es mir versprochen.«

Sie stritten sich darüber, ob er ein Versprechen gemacht hatte — nun, er stellte in aller Ruhe fest, dass die Worte, etwas sei nicht schwer, aller Logik zufolge keinesfalls ein Versprechen bedeuteten, während Tuon einfach stur darauf beharrte, er habe es versprochen, und Setalle ihren Stickreifen aufnahm und Selucia ihn mit dem amüsierten Ausdruck von jemandem betrachtete, der zusah, wie ein Mann versuchte, eine unhaltbare Position zu verteidigen; und nein, er brüllte nicht, ganz egal, was Tuon sagte. Da klopfte es an der Tür.

Tuon hielt inne. »Seht Ihr, Spielzeug«, sagte sie nach einem Moment, »so macht man das. Man klopft und wartet dann.« Sie gab ihrer Dienerin ein Zeichen.

»Ihr dürft eintreten«, rief Selucia hochheitsvoll. Vermutlich erwartete sie, dass wer auch immer hereinkam, sich auf die Knie werfen würde!

Es war Thom in einem dunkelblauen Mantel und dunkelgrauen Umhang, die ihn in jedem Gemeinschaftsraum oder Schenke unauffällig erscheinen lassen würden, weder gut situiert noch bettelarm. Ein Mann, der es sich leisten konnte, für seinen Becher zu zahlen, während er sich den Tratsch anhörte, oder der einem anderen Mann einen Becher Wein ausgab, um sich anzuhören, welche Neuigkeiten oder Gerüchte er kannte. Er warf sich nicht zu Boden, aber er machte trotz seines schlimmen Beines eine elegante Verbeugung. »Meine Lady«, murmelte er zu Tuon, bevor er die Aufmerksamkeit wieder Mat zuwandte. »Harnan sagte, er hätte dich in den Wagen gehen sehen. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen? Ich habe… Stimmen gehört.«

Mat runzelte die Stirn. Er hatte ni ch t gebrüllt. »Du störst nicht. Was hast du herausgefunden?«

»Von Zeit zu Zeit kommen Seanchaner vorbei. Keine Soldaten, aber es hat den Anschein, als würden sie zwei Meilen nördlich der Straße zwei Bauerndörfer errichten und ein paar Meilen südlich von hier drei weitere. Die Bewohner kommen gelegentlich in die Stadt, um Sachen einzukaufen.«

Mat versuchte sein Lächeln zu unterdrücken, als er über die Schulter sprach. Er schaffte es sogar, ein gewisses Bedauern in die Stimme zu legen. »Ich fürchte, es wird für Euch keinen Abstecher nach Maderin geben, mein Juwel. Zu gefährlich.«

Tuon verschränkte die Arme und betonte dadurch ihren Busen. Sie hatte doch mehr Kurven, als er ursprünglich einmal geglaubt hatte. Nicht so wie Selucia, das nun gewiss nicht, aber dennoch nette Kurven. »Bauern, Spielzeug«, meinte sie geringschätzig. »Kein Bauer hat jemals mein Gesicht gesehen. Ihr habt mir einen Gemeinschaftsraum oder eine Schenke versprochen, und Ihr werdet Euch da nicht mit dieser lächerlichen Entschuldigung herauswinden.«

»Ein Gemeinschaftsraum sollte keine Probleme machen«, sagte Thom. »Schließlich wollen diese Bauern eine Schere oder einen neuen Topf kaufen und nichts trinken. Anscheinend machen sie ihr eigenes Ale und halten nicht viel von dem hiesigen Gebräu.«

»Danke, Thom«, sagte Mat durch die zusammengebissenen Zähne. »Sie will eine Spelunke sehen.«

Der weißhaarige Mann hustete keuchend und strich sich über den Schnurrbart. »Eine Spelunke«, murmelte er.

»Eine Spelunke. Kennst du in dieser Stadt eine Spelunke, in die ich sie mitnehmen könnte, ohne einen Aufruhr zu verursachen?« Eigentlich sollte diese Frage der pure Sarkasmus sein, aber Thom überraschte ihn, indem er nickte.

»Vielleicht kenne ich genau die richtige«, sagte er langsam. »Der W ei ße Ri ng. Ich wollte sowieso dorthin, um zu sehen, was ich dort in Erfahrung bringen kann.«

Mat blinzelte. So unauffällig Thom auch anderswo erscheinen mochte, mit diesem Mantel würde er in einer Spelunke fehl am Platz wirken. Aber richtig. Dort sah man für gewöhnlich nur dreckige Wolle und schmutziges Leinen. Davon abgesehen war es eine todsichere Methode, ein Messer in den Rücken zu bekommen, wenn man in einer Spelunke Fragen stellte. Aber vielleicht meinte Thom ja, dass dieser We iß e Ri ng gar keine Spelunke war. Tuon würde der Unterschied gar nicht auffallen, wenn es in diesem Etablissement nur etwas rauer als gewöhnlich zuging. »Sollte ich Harnan und die anderen mitnehmen?«, fragte er, um das Wasser zu testen.

»Oh, ich glaube, du und ich sollten als Schutz für die Lady ausreichen«, sagte Thom mit der Andeutung eines Lächelns, und in Mats Schultern lösten sich ein paar verkrampfte Muskeln.

Trotzdem bat er die beiden Frauen — natürlich stand außer Frage, dass Selucia zurückblieb; Frau Anan wies Thoms Einladung, sie zu begleiten, ab, sie meinte, sie hätte in ihrem Leben bereits genug Spelunken gesehen —, die ganze Zeit ihre Kapuzen vorsichtshalber oben zu lassen. Tuon mochte ja davon überzeugt sein, dass kein Bauer jemals ihr Gesicht gesehen hatte, aber wenn eine Katze einen König sehen konnte, wie es in dem alten Sprichwort hieß, dann war es möglich, dass auch ein Bauer Tuon bei irgendeiner Gelegenheit zu Gesicht bekommen hatte, und es würde zu ihrem Glück passen, dass einer oder zwei von ihnen genau in Maderin auftauchten. Seiner Erfahrung zufolge schien ta 'v er en zu sein das Muster immer auf die schlimmste Weise zu beeinflussen.

»Spielzeug«, sagte Tuon sanft, als ihr Selucia den blauen Umhang auf ihre schmalen Schultern legte, »ich habe bei Besuchen auf dem Land viele Bauern kennen gelernt, aber selbst wenn ich ihnen gestattete zu stehen, hielten sie den Blick zu Boden gerichtet, wie es der Anstand verlangte. Glaubt mir, sie haben niemals mein Gesicht gesehen.«

Oh. Er ging, um seinen Umhang zu holen. Die Sonne, die fast ihren Mittagsstand erreicht hatte, wurde fast vollständig von weißen Wolken verhüllt, und es war kühl für einen Frühlingstag und ein kalter Wind wehte.

In der Hauptstraße des Zirkus drängten sich Leute aus der Stadt, Männer in grober Wolle oder unauffälligen Mänteln aus besseren Materialien, die nur an den Ärmeln geringe Verzierungen aufwiesen; Frauen in schlichten hochkragigen Kleidern unter langen weißen Schürzen oder hochkragigen Kleidern mit Stickereien auf der Brust, von denen viele Spitzenhauben trugen. Überall schössen Kinder umher, entkamen ihren Eltern und wurden wieder eingefangen. Alle bestaunten Miyoras Leoparden oder Latelles Bären, genau wie die Jongleure oder Balat und Abar, die Feuerschlucker. Mat blieb nicht einmal für einen kurzen Blick auf die Akrobatinnen stehen, sondern bahnte sich mit Tuon am Arm einen Weg durch die Menge. Dafür hatte er gesorgt, indem er einfach ihre Hand auf sein linkes Handgelenk gelegt hatte. Sie hatte kurz gezögert und dann knapp genickt, eine Königin, die einem Bauern die Freiheit gestattete, die er sich herausgenommen hatte. Thom hatte seinen Arm Selucia angeboten, aber sie blieb hinter der linken Schulter ihrer Herrin. Wenigstens versuchte sie nicht, sich dazwischenzudrängen.

Luca stand im scharlachroten Mantel und Umhang am Eingang unter dem großen Banner und sah zu, wie die Münzen in den Glaskrug klirrten und dann noch einmal klirrten, wenn sie in das Kästchen geworfen wurden. Er trug ein Lächeln auf dem Gesicht. Die Warteschlange war fast hundert Schritte lang, und weitere Menschen kamen aus der Stadt und gingen in Richtung Zirkus. »Ich könnte hier in zwei oder drei Tagen ein schönes Sümmchen einnehmen«, sagte er zu Mat.

»Schließlich ist dieser Ort real, und wir sind weit genug weg von…« Sein Lächeln erlosch wie eine ausgepustete Kerze.

»Ihr glaubt doch auch, dass wir weit genug weg sind, oder?«

Mat seufzte. Bei Valan Luca würde Gold immer die Furcht besiegen.

Er konnte den Umhang nicht zuhalten mit Tuon am Arm, also flatterte er in der steifen Brise, aber das war ganz gut so. Die Torwächter, die dort in einer unregelmäßigen Reihe herumlungerten, musterten sie neugierig, und einer machte eine unbeholfene Verbeugung. Seide und Spitze hatte diese Wirkung auf Waffenmänner vom Land, und nichts anderes waren diese Männer, ganz egal, wie sehr sie die Helme auch poliert hatten. Die meisten stützten sich auf ihre Hellebarden wie Bauern auf ihre Schaufeln. Aber nach ein paar Schritten blieb Thom stehen, und Mat war gezwungen, ebenfalls stehen zu bleiben. Schließlich hatte er keine Ahnung, wo sich Der Weiße Ring befand.

»Eine große Wachmannschaft, Hauptmann«, sagte Thom und ließ Sorge aus seiner Stimme heraushören. »Gibt es Gesetzlose in der Gegend?«

»Hier gibt es keine Gesetzlosen«, sagte ein grauhaariger Wachmann schroff. Die wulstige weiße Narbe, die sich schräg durch sein kantiges Gesicht zog, verlieh ihm in Kombination mit den zusammengekniffenen Augen ein schurkisches Aussehen. Er gehörte nicht zu den Aufstützern, und er hielt seine Hellebarde, als wüsste er, wie er damit umgehen musste. »Die Seanchaner haben die wenigen erledigt, die wir nicht fangen konnten. Geh jetzt weiter, alter Bursche. Du blockierst den Weg.« Es waren weder ein Wagen noch ein Karren in Sicht, und die wenigen Leute, die die Stadt zu Fuß verließen, hatten genügend Platz. Der Torbogen war breit genug für zwei Wagen, die nebeneinander herfuhren, auch wenn es etwas eng geworden wäre.

»Die Seanchaner haben gesagt, wir würden nicht genug Wächter aufstellen«, meinte ein stämmiger Kerl in Mats Alter fröhlich, »und Lord Nathin hört genau zu, wenn die Seanchaner etwas sagen.«

Der grauhaarige Mann hieb ihm die gepanzerte Hand hart genug auf den Helm, dass er stolperte. »Du passt bei Fremden auf, was du sagst, Keilar«, knurrte der ältere Mann, »oder du findest dich im Handumdrehen hinter deinem Pflug wieder. Mein Lord«, fügte er an Mat gewandt zu, »Ihr solltet Euren Diener zur Ordnung rufen, bevor er sich Ärger einhandelt.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Hauptmann«, sagte Thom demütig und senkte den Kopf, das Abbild eines gerügten Dieners. »Ich wolle niemandem zu nahe treten. Verzeiht.«

»Er hätte auch dich geschlagen, wenn ich nicht dabei gewesen wäre«, sagte Mat zu ihm, als er sie eingeholt hatte. Thom hinkte sichtbar. Er musste müde sein, wenn er es sich so sehr anmerken ließ. »Beinahe hätte er es trotzdem getan. Und was hast du erfahren, das dieses Risiko wert gewesen wäre?«

»Ich hätte nicht gefragt, wenn du in diesem Mantel nicht dabei gewesen wärst.« Thom kicherte, während sie weiter in die Stadt hineingingen. »Die erste Lektion besteht darin, dass man weiß, welche Fragen man stellen muss. Die zweite, und die ist genauso wichtig, ist, wann und wie man fragt. Ich habe erfahren, dass es keine Straßenräuber gibt, was immer gut zu wissen ist, obwohl ich nur von wenigen Banden gehört habe, die zahlreich genug wären, um etwas so Großes wie den Wanderzirkus anzugreifen. Ich habe erfahren, dass Nathin unter der Fuchtel der Seanchaner steht. Entweder gehorcht er mit diesen zusätzlichen Wächtern ihrem Befehl, oder er hält ihre Vorschläge für Befehle. Und am wichtigsten, ich habe erfahren, dass Nathins Waffenmänner nichts gegen die Seanchaner haben.«

Mat hob eine Braue.

»Sie haben nicht ausgespuckt, als sie den Namen sagten, Mat. Sie haben keine Grimasse geschnitten oder geknurrt. Sie werden nicht gegen die Seanchaner kämpfen, nicht, solange Nathin es ihnen nicht befiehlt, und das wird er nicht tun.« Thom atmete schwer aus. »Es ist sehr seltsam. Mir ist das Gleiche überall aufgefallen, von Ebou Dar bis hier. Diese Fremden kommen, übernehmen die Herrschaft, setzen ihre Gesetze durch, schnappen sich die Frauen, die die Macht lenken können, und auch wenn die Adligen sie verabscheuen, beim Volk scheint das nur sehr selten vorzukommen. Solange sie jedenfalls keine Frau oder Verwandte hatten, denen man den Kragen umgelegt hat. Sehr seltsam, und es lässt Böses ahnen, was ihre Vertreibung angeht. Andererseits, Altara ist Altara. Ich würde darauf wetten, dass sie in Amadicia und Tarabon nicht so warmherzig empfangen werden.« Er schüttelte den Kopf.

»Wir sollten es jedenfalls hoffen, denn sonst…« Er führte den Satz nicht zu Ende, aber man konnte sich leicht vorstellen, was er meinte.

Mat warf Tuon einen Blick zu. Was fühlte sie wohl, wenn sie Thom so über ihr Volk sprechen hörte? Sie sagte nichts, sondern ging nur an seiner Seite und betrachtete aus dem Schutz der Kapuze alles neugierig.

Die breiten gepflasterten Straßen von Maderin wurden von zwei- oder dreistöckigen, größtenteils aus Ziegeln erbauten Gebäuden mit Schindeldächern gesäumt. Läden, deren Schilder im Wind baumelten, waren zwischen Ställe und die Häuser der Reichen mit ihren großen Lampen über den Torbögen sowie die Unterkünfte von Ärmeren — wenn man nach der Wäsche urteilte, die in fast jedem Fenster hing — gequetscht. Pferdekarren und Handkarren beladen mit Ballen oder Kisten oder Fässern schoben sich durch die mäßig dichte Menge aus Männern und Frauen, die flinken Schritts dahineilten. Kinder spielten Fangen.

Tuon studierte alles mit gleichmäßigem Interesse. Ein Bursche, der einen Schleifstein auf Rädern schob und rief, dass er Scheren und Messer so schärfte, dass man damit Wünsche schneiden konnte, erregte genauso sehr ihre Aufmerksamkeit wie eine schlanke, hartgesichtige Frau in Lederhosen, die zwei Schwerter auf den Rücken geschnallt trug. Zweifellos die Leibwächterin eines Kaufmanns oder vielleicht auch eine Jägerin des Horns, auf jeden Fall aber eine Seltenheit. Einer vollbusigen Domani in einem eng anliegenden, fast durchsichtigen roten Kleid, die von zwei kräftigen Leibwächtern in Schuppenrüstungen begleitet wurde, schenkte sie die gleiche Aufmerksamkeit wie einem dürren einäugigem Burschen in zerschlissener Wollkleidung, der aus seinem Bauchladen Nadeln und Schleifen verkaufte. In Jurador war Mat diese Art von Neugier an ihr gar nicht aufgefallen, aber in Jurador hatte sie bloß Seide finden wollen. Hier schien sie alles, was sie sah, ihrem Gedächtnis anzuvertrauen wollen.

Thom führte sie bald in ein Labyrinth aus gewundenen Straßen, von denen die meisten die Bezeichnung nur deshalb verdienten, weil sie mit groben Steinblöcken in der Größe von zwei Männerfäusten gepflastert waren. Häuser in der Größe wie auf der Hauptstraße, von denen einige Läden im Erdgeschoss beherbergten, ragten über ihnen auf und verbargen beinahe den Himmel. Viele der Straßen waren zu schmal für Pferdekarren — in einigen hätte Mat nicht die Arme ganz ausstrecken müssen, um beide Häuserseiten berühren zu können —, und mehr als nur einmal musste er Tuon gegen eine Hauswand drängen, um schwer beladene Handkarren auf den unregelmäßigen Pflastersteinen vorbeipoltern zu lassen; die Karrenmänner riefen Entschuldigungen, ohne aber langsamer zu werden. Träger liefen ebenfalls durch dieses enge Labyrinth, Männer, die die Nase fast auf dem Boden hatten und von denen jeder einen Ballen oder Kisten auf dem Rücken trug, die von einem gepolsterten, um die Hüften geschlungenen Lederriemen gehalten wurden. Allein ihr Anblick bereitete Mat Rückenschmerzen. Sie erinnerten ihn daran, wie sehr er Arbeit hasste.

Er wollte Thom schon fragen, wie weit sie noch gehen mussten — Maderin war keine so große Stadt —, als sie den We iß en R ing in einer gepflasterten Seitengasse erreichten, ein Ziegelgebäude mit zwei Stockwerken gegenüber einem Messerladen. Das Schild über der roten Tür, ein weißer Kreis aus gekräuselter Spitze, ließ seine Schultermuskeln erneut verkrampfen. Man konnte das ja als Ring bezeichnen, aber das war eindeutig das Strumpfband einer Frau. Es mochte keine Spelunke sein, aber Schenken mit derartigen Schildern waren auf ihre Weise sehr ungemütlich. Er lockerte die Messer in seinen Ärmeln und auch die in seinen Stiefelschächten, tastete nach den Klingen unter dem Mantel, zuckte mit den Schultern, bloß um den Stahl zu fühlen, der dort hing. Obwohl, wenn es dazu kam… Tuon nickte anerkennend. Die verdammte Frau konnte es nicht er wart en , dass er in eine Messerstecherei verwickelt wurde! Selucia hatte genug Verstand, um die Stirn zu runzeln.

»Ah, ja«, sagte Thom. »Eine weise Vorsichtsmaßnahme.«

Und er überprüfte die eigenen Messer, was die Knoten in Mats Schultern noch verkrampfter werden ließ. Thom trug fast so viele Klingen wie er auch, in den Ärmeln, unter dem Mantel.

Selucia wandte sich in der Zeichensprache an Tuon, und plötzlich waren sie mit blitzenden Fingern in eine Diskussion vertieft. Natürlich konnte das nicht sein — Tuon besaß Selucia, so wie man einen Hund besaß, und man diskutierte nicht mit seinem Hund —, aber es schien eine Diskussion zu sein, und beide Frauen hatten die Unterkiefer stur nach vorn geschoben. Schließlich faltete Selucia die Hände und beugte fügsam den Kopf. Eine zögernde Unterwerfung.

»Alles wird gut gehen«, sagte Tuon fröhlich zu ihr. »Du wirst sehen. Alles wird gut gehen.«

Mat wünschte sich, er wäre da so sicher gewesen. Er holte tief Luft, hielt ihr erneut das Handgelenk für ihre Hand hin und folgte Thom.

Der geräumige, holzgetäfelte Gemeinschaftsraum des Weißen Rings beherbergte mehr als zwei Dutzend Männer und Frauen, von denen offensichtlich mehr als die Hälfte Fremde waren. Sie saßen an rechteckigen Tischen unter einer mit vielen Balken versehenen Decke. Alle waren ordentlich in feine Wolle mit nur wenig Verzierungen gekleidet; die meisten unterhielten sich größtenteils nur zu zweit leise über ihren Wein gebeugt, die Umhänge über die niedrigen Lehnen der Stühle gehängt. An einem Tisch saßen allerdings drei Männer und eine Frau mit langen, perlengeschmückten Zöpfen und würfelten mit hellroten Würfeln. Aus der Küche kamen angenehme Düfte, einschließlich dem nach bratendem Fleisch. Vermutlich Ziege. Neben dem breiten Steinkamin, in dem ein Feuer loderte und auf dessen Sims eine Messinguhr stand, schwang eine junge Frau die Hüften und sang. Sie war fast so gut ausgestattet wie Selucia — und die beinahe bis zur Taille aufgeschnürte Bluse bewies dies. Sie wurde begleitet von Flöte und Zimbel und sang von einer Frau, die mit ihren vielen Liebhabern jonglierte. Sie sang mit passend schlüpfriger Stimme. Keiner der Gäste schien zuzuhören.

»An ein em schönen Frühlingstage , traf ich den jungen Jac beim Heumachen, sein Haar so schön wie seine Visage .

Ich gab ihm einen Kuss, wie hätte ich nicht?

Wir schmusten und kitzelten uns bis zum Vormittage, und wie er mich zum Seufzen brachte, das verrat' ich nicht .«

Tuon senkte die Kapuze, blieb in der Tür stehen und blickte sich stirnrunzelnd um. »Seid Ihr sicher, dass das auch eine Spelunke ist, Meister Merrilin?«, fragte sie. Dem Licht sei Dank mit leiser Stimme. An einigen Orten konnte eine solche Frage einen wieder hinausbefördern, und zwar auf die grobe Weise, ob man nun Seide trug oder nicht. An anderen verdoppelten sich die Preise einfach.

»Ich versichere Euch, Ihr werdet nirgendwo in Maderin zu dieser Stunde eine größere Ansammlung von Dieben und Schurken finden«, murmelte Thom und strich sich über den Schnurrbart.

»fetzt hat Jac eine Stunde , wenn Himmel ist klar, und Willi die, wenn der Vater ist nicht nah.

Moril treff ich im Heuschober, denn er kennt keine Furcht, und Keilin kommt mittags; er kennt keine Eifersucht!

Lord Brelan kommt abends , wenn die Nacht ist so kalt . Meister Andril den Morgen, denn er ist so alt.

Was soll ein armes Mädchen bloß anderes tun? So viele Liebhaber und am Tag so wenig Stund'.«

Tuon sah wenig überzeugt aus, aber zusammen mit Selucia ging sie zu der Sängerin, die sich einen Moment lang von ihrer intensiven Musterung irritieren ließ, bevor sie mit dem Lied weitermachte. Sie sang über Tuons Kopf hinweg in dem offensichtlichen Versuch, sie zu ignorieren. Anscheinend fügte die Frau bei jeder neuen Strophe ihrer Liste einen weiteren Liebhaber hinzu. Der Musikant, der die Zimbel spielte, lächelte Selucia an und erhielt einen frostigen Blick als Antwort. Die beiden Frauen zogen auch andere Blicke auf sich, war doch die eine so klein und mit ausgesprochen kurzen Haaren versehen, während die andere der Sängerin Konkurrenz machte und ein Kopftuch trug, aber es blieb bei den Blicken. Die Gäste kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten.

»Es ist keine Spelunke«, sagte Mat leise, »aber was ist es dann? Warum sollten mitten am Tag so viele Leute hier sein?« Auf diese Weise füllten sich Gemeinschaftsräume für gewöhnlich nur morgens und abends.

»Die Ortsansässigen verkaufen Olivenöl, Lackarbeiten oder Spitze«, erwiderte Thom genauso leise, »und die Fremden kaufen. Anscheinend ist es hier Brauch, mit ein paar Stunden Unterhaltung bei einem Becher Wein anzufangen. Und wenn man nichts verträgt«, fügte er trocken hinzu, »wird man nach dem Nüchternwerden herausfinden, dass man mit weinschwerem Kopf einen weitaus schlechteren Handel als gedacht abgeschlossen hat.«

»Beim Licht, Thom, sie wird niemals glauben, dass das hier eine Spelunke ist. Ich dachte, du würdest uns irgendwo hinbringen, wo die Kaufmannswächter trinken. Das hätte sie vielleicht überzeugend gefunden.«

»Vertrau mir, Mat. Ich glaube, du wirst noch entdecken, dass sie in vielerlei Hinsicht ein sehr behütetes Leben geführt hat.«

Behütet? Wo ihre eigenen Brüder und Schwestern versucht hatten, sie zu töten? »Darauf würdest du aber keine Krone setzen, oder?«

Thom kicherte. »Dein Geld nehme ich immer gern.«

Tuon und Selucia kamen mit ausdruckslosem Gesicht angerauscht. »Ich hatte damit gerechnet, dass die Gäste viel schlechter gekleidet sind«, sagte Tuon leise, »und es vielleicht zu einem oder zwei Kämpfen kommt, aber das Lied ist zu zotig für eine respektable Schenke. Obwohl sie meiner Meinung nach viel zu dick angezogen ist, um es richtig zu singen. Wofür ist das?«, fügte sie misstrauisch hinzu, als Mat Thom eine Münze gab.

»Ach, das«, sagte Thom und schob die Krone in die Manteltasche, »ich hatte die Befürchtung, Ihr könntet enttäuscht sein, dass hier bloß die erfolgreicheren Schurken verkehren — die sind nicht immer so farbig wie die Versager —, aber Mat hat gesagt, das würde Euch nicht einmal auffallen.«

Sie schaute Mat streng an, der indigniert den Mund öffnete. Und wieder schloss. Was gab es da noch zu sagen? Er saß bereits im Einmachtopf. Da brauchte er das Feuer darunter nicht noch zu schüren.

Als die Wirtin ankam, eine rundliche Frau mit verdächtig schwarzem Haar unter dem weißen Spitzenhäubchen, die sich in ein graues Kleid mit roten und grünen Stickereien auf dem üppigen Busen gezwängt hatte, machte sich Thom mit einer Verbeugung und einem gemurmelten »Mit Eurer Erlaubnis, mein Lord, meine Lady« davon. Gemurmelt, aber laut genug, dass Frau Heilin es hören konnte.

Die Wirtin hatte ein unerbittliches Lächeln, aber sie bemühte es für einen Lord und eine Lady, machte einen so tiefen Knicks, dass sie beim Aufstehen grunzte, und es schien sie kaum zu enttäuschen, dass Mat Wein und vielleicht etwas zu essen wollte, aber kein Zimmer. Ihren besten Wein. Doch als er bezahlte, ließ er sie sehen, dass er außer Silber auch Gold im Geldbeutel hatte. Ein Seidenmantel war ja schön und gut, aber Gold, das Lumpen trug, bekam eine bessere Bewirtung als Kupfer, das Seide trug.

»Ale«, sagte Tuon. »Ich habe noch nie Ale getrunken. Sagt mir, gute Frau, ist damit zu rechnen, dass einer der Gäste bald einen Streit vom Zaun bricht?« Mat verschluckte fast seine Zunge.

Frau Heilin blinzelte und schüttelte knapp den Kopf, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie wirklich das gehört hatte, was sie zu hören geglaubt hatte. »Kein Grund zur Sorge, meine Lady«, sagte sie. »Das passiert schon mal, wenn sie zu tief in ihre Becher geschaut haben, aber ich gehe hart dazwischen, wenn das geschieht.«

»Aber nicht meinetwegen«, sagte Tuon. »Sie sollen ihren Spaß haben.«

Das Lächeln der Wirtin wurde schief und hielt kaum stand, aber sie brachte einen weiteren Knicks zustande, bevor sie mit Mats Geld loseilte und rief: »Jera, Wein für den Lord und die Lady, einen Krug von dem Kiranaille. Und einen Becher Ale.«

»Ihr solltet nicht solche Fragen stellen, mein Juwel«, sagte Mat leise, als er Tuon und Selucia zu einem freien Tisch steuerte. Selucia verweigerte den angebotenen Stuhl, nahm Tuon den Umhang ab und legte ihn über den Stuhl, den sie für ihre Herrin bereithielt, dann baute sie sich dahinter auf.

»Das ist unhöflich. Davon abgesehen senkt ihr damit Euren Blick.« Er dankte dem Licht für diese Unterhaltungen mit Egeanin, mit welchem Namen sie auch immer angesprochen werden wollte. Seanchaner würden alle möglichen Albernheiten tun oder jedes vernünftige Handeln verweigern, nur um den Blick nicht senken zu müssen.

Tuon nickte nachdenklich. »Eure Bräuche sind oft sehr seltsam, Spielzeug. Ihr werdet mich darin unterrichten müssen. Ich habe einige gelernt, aber ich muss alle Bräuche der Menschen kennen, die ich im Namen der Kaiserin, möge sie ewig leben, beherrschen werde.«

»Es wird mir eine Freude sein, Euch beizubringen, was ich kann«, sagte Mat, löste seinen Umhang und warf ihn achtlos über die Stuhllehne. »Es wird Euch gut tun, unsere Bräuche zu kennen, selbst wenn Ihr am Ende weniger beherrschen werdet, als Ihr erwartet.« Er legte den Hut auf den Tisch.

Tuon und Selucia keuchten beide auf; Hände griffen hektisch nach dem Hut. Tuon erreichte ihn zuerst, und sie legte ihn schnell auf den Stuhl neben sich. »Das bringt sc hre ck — li ch es Unglück, Spielzeug. Ihr dürft niemals einen Hut auf den Tisch legen.« Sie machte eine dieser seltsamen Gesten, das Böse abzuwehren, schob zwei Finger unter den Mittelfinger und streckte die anderen steif aus. Selucia tat das Gleiche.

»Ich werde es mir merken«, sagte er trocken. Vielleicht zu trocken. Tuon sah ihn streng an. Sehr streng.

»Ich habe entschieden, dass Ihr Euch nicht zum Pokalträger eignet, Spielzeug. Nicht bis Ihr Demut lernt, obwohl ich bald daran verzweifle, Euch das beizubringen. Vielleicht mache ich Euch stattdessen zum Stallburschenläufer. Ihr könnt gut mit Pferden umgehen. Würde es Euch gefallen, neben meinem Steigbügel zu laufen, wenn ich reite? Das Gewand ist fast das gleiche wie beim Pokalträger, aber ich werde Eures mit Schleifen verzieren lassen. Rosa Schleifen.«

Er schaffte es, seine Miene unbewegt zu halten, aber er fühlte, wie sich seine Wangen röteten. Es gab nur eine Möglichkeit, wie sie erfahren haben konnte, dass rosa Schleifen eine besondere Bedeutung für ihn hatten. Tylin hatte es ihr erzählt. Es musste so sein. Sollte er doch zu Asche verbrennen, Frauen redeten auch über al le sl Die Ankunft der Schankmagd mit ihren Getränken rettete ihn vor einer Erwiderung. Jera war eine lächelnde junge Frau mit fast so üppigen Kurven wie die Sängerin, die zwar nicht so schön zur Schau gestellt waren, die die weiße, eng geschnürte Schürze aber auch nicht verbarg. Auch das dunkle Wollkleid saß ziemlich eng. Nicht, dass er ihr mehr als nur einen flüchtigen Blick zuwarf. Er saß hier mit seiner zukünftigen Frau. Und davon abgesehen, nur ein Volltrottel sah in Gesellschaft einer Frau eine andere näher an.

Jera stellte eine hohe Weinkanne aus Zinn und zwei polierte Zinnbecher auf dem Tisch ab und gab Selucia einen schweren Alekrug, dann blinzelte sie verwirrt, als Selucia den Krug an Tuon weiterreichte und dafür den Weinbecher in Empfang nahm. Er reichte ihr einen Silberpfennig, um ihr Unbehagen zu beschwichtigen, und sie schenkte ihm dafür bei ihrem Knicks ein strahlendes Lächeln, bevor sie nach einem weiteren Ruf der Wirtin davoneilte. Es war unwahrscheinlich, dass sie viel Silber bekam.

»Ihr hättet das Lächeln ruhig erwidern können, Spielzeug«, sagte Tuon, schnüffelte an dem Krug und rümpfte die Nase. »Sie ist sehr hübsch. Ihr habt eine so versteinerte Miene, vermutlich habt Ihr ihr Angst eingejagt.« Sie nahm einen Schluck, und ihre Augen weiteten sich überrascht.

»Das ist ja tatsächlich ganz gut.«

Mat seufzte und nahm einen großen Schluck dunklen Wein, der schwach nach Blumen duftete. Er konnte sich nicht erinnern, Frauen jemals verstanden zu haben, egal, ob es sich nun um seine eigenen Erinnerungen oder die anderer Männer handelte.

Sie schlürfte ihr Ale — er würde ihr nicht sagen, dass man Ale mit Schlucken trank und nicht mit Schlückchen; möglicherweise betrank sie sich absichtlich, nur um die Spelunkenerfahrung auch richtig auszukosten, das traute er ihr heute durchaus zu. Oder auch an jedem anderen Tag, was das anging —, nahm nach jedem Satz ein Schlückchen und befragte ihn über Bräuche. Ihr zu sagen, wie man sich in einer Spelunke benahm, fiel nicht schwer. Bleib für dich, stell keine Fragen, sitz nach Möglichkeit mit dem Rücken zur Wand und neben einer Tür, falls du eventuell schnell verschwinden musst. Besser, sie zu meiden, aber wenn es nicht anders geht… Aber sie ging schnell zu Höfen und Palästen über und erhielt da nur wenig Antworten. Er hätte ihr mehr über die Bräuche an den Höfen von Eharon oder Shiota oder einem Dutzend anderer toter Nationen sagen können als über die existierenden Nationen. Eigentlich kannte er nur ein paar Einzelheiten, wie man sich in Caemlyn und Tear verhielt, und ein paar Bruchstücke über Fal Dara in Schienar. Nun, das und Ebou Dar, aber das wusste sie ja bereits.

»Also seid Ihr weit gereist und habt noch andere Paläste als den Tarsin besucht«, sagte sie schließlich und leerte den Krug. Er hatte nicht einmal die Hälfte seines Weins getrunken; er glaubte nicht, dass Selucia mehr als einen oder zwei Schlucke von dem ihren genommen hatte. »Aber allem Anschein nach seid Ihr nicht von adliger Geburt. Das dachte ich mir schon.«

»Das bin ich nicht«, sagte er fest. »Adlige…« Er verstummte, räusperte sich. Er konnte ihr wohl kaum sagen, dass Adlige alles Narren waren, die ihre Nase so hoch oben trugen, dass sie nicht sehen konnten, wo sie alles drauftraten. Schließlich war sie, was sie war.

Tuon musterte ihn ausdruckslos, während sie den leeren Krug zur Seite schob. Ihn noch immer musternd, hob sie die Linke und schnippte mit zwei Fingern, und Selucia klatschte laut in die Hände. Mehrere Gäste sahen überrascht zu ihnen herüber. »Ihr habt Euch als Spieler bezeichnet«, sagte Tuon, »und Meister Merrilin hat Euch den Mann mit dem meisten Glück auf der Welt genannt.«

Jera kam angerannt, und Selucia gab ihr den Krug. »Noch einen, schnell«, befahl sie, wenn auch durchaus nicht unfreundlich. Aber sie hatte eine majestätische Art an sich. Jera machte hastig einen Knicks und eilte los, als hätte man sie angeschrien.

»Manchmal habe ich Glück«, sagte Mat vorsichtig.

»Lasst uns doch mal sehen, ob das heute der Fall ist, Spielzeug.« Tuon blickte zu dem Tisch hinüber, an dem die Würfel rollten.

Er konnte darin kein Problem erkennen. Er würde mehr gewinnen als verlieren, das war eine Tatsache, und er hielt es für unwahrscheinlich, dass einer der Kaufleute ein Messer zücken würde, ganz egal, wie viel Glück er hatte. Ihm war bei niemandem eines dieser langen Gürtelmesser aufgefallen, die weiter südlich jeder trug. Er erhob sich, bot Tuon den Arm, und sie legte die Hand leicht auf sein Handgelenk. Selucia ließ den Wein auf dem Tisch stehen und blieb dicht hinter ihrer Herrin.

Zwei der Altaraner — der eine war schlank und bis auf einen Haarkranz kahl, der andere hatte ein Mondgesicht über einem Dreifachkinn — runzelten die Stirn, als Mat fragte, ob sich ein Fremder an dem Spiel beteiligen durfte, und der Dritte, ein langsam ergrauender stämmiger Bursche mit einer dicken Unterlippe, wurde so steif wie ein Zaunpfahl. Die tarabonische Frau war nicht so unfreundlich.

»Natürlich, natürlich. Warum nicht?«, sagte sie leicht lallend. Ihr Gesicht war gerötet, und das an ihn gerichtete Lächeln wirkte irgendwie unkontrolliert. Offensichtlich gehörte sie zu jenen, die nicht viel vertragen konnten. Und die Ortsansässigen wollten sie wohl bei guter Laune halten, denn die finsteren Blicke verschwanden, obwohl der Grauhaarige auch weiterhin eine versteinerte Miene zeigte. Mat nahm von einem Nachbartisch zwei Stühle für sich und Tuon. Selucia zog es vor, sich hinter Tuon zu stellen, was auch in Ordnung war. Sechs Leute am Tisch waren mehr als genug.

Jera kam, machte einen Knicks und bot Tuon mit beiden Händen einen nachgefüllten Krug, während sie »Meine Lady« murmelte, und eine andere Schankmagd stellte eine neue Weinkanne auf den Spielertisch. Der Kahlköpfige füllte den Becher der Tarabonerin lächelnd bis zum Rand. Sie wollten sie fröhlich und betrunken halten. Sie leerte den Becher zur Hälfte und wischte sich mit einem spitzenbesetzten Taschentuch geziert die Lippen ab. Sie benötigte zwei Anläufe, um das Tuch wieder im Ärmel zu verstauen. Sie würde heute keine guten Abschlüsse machen.

Mat sah eine Weile beim Spiel zu und erkannte es bald.

Sie nahmen vier Würfel statt zwei, aber es handelte sich ohne jeden Zweifel um eine Version von Pin', ein Spiel, das schon tausend Jahre vor Artur Falkenflügels Aufstieg zur Macht populär gewesen war. Vor jedem Spieler lagen kleine Silberstapel, in denen die eine oder andere Goldmünze funkelte, und Mat warf eine Silbermark in die Tischmitte, um die Würfel zu kaufen, während der stämmige Mann seine Gewinne vom letzten Wurf einsammelte. Er erwartete von den Kaufleuten zwar keinen Ärger, andererseits war es weniger wahrscheinlich, dass es Ärger gab, wenn sie Silber statt Gold verloren.

Der schlanke Mann ging bei dem Einsatz mit, und Mat ließ die scharlachroten Würfel im Zinnbecher kreisen, dann warf er sie auf den Tisch. Vier Fünfen.

»Ist dass ein Siegeswurf?«, wollte Tuon wissen.

»Nicht, wenn ich nicht gleichziehe«, erwiderte Mat und schob die Würfel zurück in den Becher. »Ich darf aber jetzt keine Vierzehn oder die Augen des Dunklen Königs werfen.« Die Würfel ratterten in dem Becher, rollten über den Tisch. Vier Fünfen. Sein Glück hatte Bestand, so viel war sicher. Er schob die Münzen zu sich und ließ eine in der Mitte liegen.

Abrupt schob der Grauhaarige den Stuhl zurück und stand auf. »Mir reicht es«, murmelte er und fing an, das vor ihm liegende Geld in seine Manteltaschen zu packen. Die beiden anderen Altaraner starrten ihn ungläubig an.

»Ihr geht, Vane?«, sagte der Schlanke. »Jetzt schon?«

»Ich sagte, ich habe genug, Camrin«, knurrte der Grauhaarige und stürmte auf die Straße hinaus, gefolgt von Camrins finsterem Blick.

Die Tarabonerin beugte sich unsicher vor, und ihre perlenverzierten Zöpfe schleiften klirrend über die Tischplatte. Sie tätschelte das Handgelenk des Dicken. »Das bedeutet bloß, dass ich meine Lackierware von Euch kaufe, Meister Kostelle«, sagte sie undeutlich. »Von Euch und von Meister Camrin.«

Kostelles Dreifachkinn bebte, als er kicherte. »Das tut es, Frau Aistaing. Das tut es. Tut es das nicht, Camrin?«

»Vermutlich«, erwiderte der Kahlköpfige mürrisch. »Vermutlich.« Er schob eine Mark nach vorn, um mit Mats Einsatz gleichzuziehen.

Wieder rollten die Würfel über den Tisch. Dieses Mal ergaben sie Vierzehn.

»Oh«, sagte Tuon und klang enttäuscht. »Ihr habt verloren.«

»Ich habe gewonnen, mein Juwel. Das ist ein Siegeswurf, wenn es der Erste ist.« Er ließ seinen ursprünglichen Einsatz in der Tischmitte liegen. »Noch einmal?«, fragte er.

Sein Glück war da, keine Frage, so groß wie immer. Die hellroten Würfel rollten über den Tisch, sprangen über den Tisch, prallten manchmal von dem dort liegenden Einsatz ab, und einen Wurf nach dem anderen lagen vierzehn weiße Augen oben. Er warf jedes Mal Vierzehn. Selbst mit nur einer Münze als Einsatz wuchs der Silberstapel vor ihm zu einem netten Sümmchen an. Die Hälfte der Gäste des Gemeinschaftsraumes kamen an ihren Tisch, um zuzusehen. Er grinste Tuon an, die ihm knapp zunickte. Er hatte das vermisst, Würfel in einem Gemeinschaftsraum oder einer Schenke, Münzen auf dem Tisch, die Spannung, wie lange sein Glück andauern würde. Und eine hübsche Frau an seiner Seite, während er spielte. Am liebsten hätte er vor Vergnügen gelacht.

Als er die Würfel wieder im Becher klappern ließ, schaute ihn die Kauffrau aus Tarabon an, und einen Augenblick lang sah sie alles andere als betrunken aus. Plötzlich war seine Lust zu lachen wie weggewischt. Sofort wurde ihr Blick wieder leicht unscharf, aber in diesem Moment hatten ihre Augen stechend wie Dolche gewirkt. Sie konnte den Wein viel besser vertragen, als er geglaubt hatte. Anscheinend würde es Camrin und Kostelle doch nicht gelingen, schlampige Arbeit zu Höchstpreisen zu verkaufen, oder wie auch immer ihr Plan ausgesehen hatte. Ihn beschäftigte jedoch viel mehr, dass die Frau ihn mit Misstrauen betrachtete. Und wenn er so darüber nachdachte, hatte sie nicht eine Münze gegen ihn gesetzt. Die beiden Altaraner sahen ihn auch finster an, aber so kommentierten Männer, die verloren, nun einmal ihr Pech. Sie glaubte, er hätte eine Möglichkeit gefunden, wie er sie betrügen konnte. Ganz egal, dass er ihre Würfel benutzte oder vielmehr die Würfel der Taverne, was wahrscheinlicher war; die Beschuldigung, ein Betrüger zu sein, konnte einem selbst in einer Kaufmannsschenke eine Abreibung einbringen. Männer warteten nur selten ab, bei einer solchen Beschuldigung Beweise präsentiert zu bekommen.

»Ein letzter Wurf«, sagte er, »dann höre ich lieber auf. Frau Heilin?« Die Wirtin stand bei den Zuschauern. Er gab ihr eine kleine Hand voll seiner gewonnenen Silbermünzen.

»Um mein Glück zu feiern gebt jedem der hier Anwesenden zu trinken, was er will, bis das Geld alle ist.« Beifälliges Gemurmel ertönte, und jemand hinter ihm schlug ihm auf die Schulter. Jemand, der seinen Wein trank, war weniger geneigt zu glauben, dass man ihn mit zu Unrecht gewonnenen Münzen bezahlte. Oder sie würden wenigstens lange genug zögern, um ihm die Chance zu geben, Tuon hier rauszuschaffen.

»Er kann das nicht ewig durchhalten«, murmelte Camrin und rieb sich mit der Hand durch das Haar, das er nicht länger hatte. »Was meint Ihr, Kostelle? Die Hälfte?« Er legte den Finger auf die Goldmünze, die neben seinem Münzstapel lag, dann schob er sie neben Mats Silbermark. »Wenn es der letzte Wurf ist, lasst uns einen richtigen Einsatz machen. So viel Glück muss das Pech folgen.« Kostelle zögerte, rieb sich nachdenklich die vielen Kinne, dann nickte er und steuerte eine eigene Goldmünze bei.

Mat seufzte. Er musste bei dem Einsatz nicht mitgehen, aber jetzt wegzugehen würde womöglich Frau Aistaings Anschuldigung auslösen. Genau wie diesen Wurf zu gewinnen. Zögernd schob er genug Silbermünzen nach vorn, um ihrem Gold zu entsprechen. Danach hatte er noch genau zwei Münzen übrig. Er schüttelte den Becher noch einmal kräftig zusätzlich, bevor er die Würfel auf den Tisch warf. Er rechnete nicht damit, so etwas zu ändern. Er machte nur seinen Gefühlen Luft.

Die roten Würfel rollten über die Tischplatte, trafen die aufgetürmten Münzen und prallten ab, drehten sich, bevor sie fielen. Jeder zeigte ein Auge. Die Augen des Dunklen Königs.

Camrin und Kostelle teilten lachend ihren Gewinn auf, so als hätten sie mehr als ihre Einsätze zurückgewonnen. Die Beobachter verzogen sich, gratulierten den beiden Kaufleuten, murmelten Mat ein paar Trostworte zu, einige von ihnen hoben ihre Becher, die er bezahlt hatte, in seine Richtung. Frau Aistaing nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Weinbecher und musterte ihn über den Rand, allem äußeren Anschein nach so betrunken wie eine Gans. Er bezweifelte, dass sie noch immer glaubte, er sei ein Falschspieler, nicht wenn er mit nur einer Mark mehr als zu Anfang vom Tisch ging. Manchmal konnte sich Pech auch als Glück erweisen.

»Also ist Euer Glück nicht endlos, Spielzeug«, sagte Tuon, als er sie zu ihrem Tisch eskortierte. »Oder habt Ihr nur Glück in kleinen Dingen?«

»Niemand hat immer Glück, mein Juwel. Ich persönlich bin der Meinung, dass der letzte Wurf einer der besten war, die ich je gemacht habe.« Er berichtete vom Misstrauen der Tarabonerin, und warum er eine Runde für den Gemeinschaftsraum bestellt hatte.

Am Tisch hielt er ihren Stuhl, aber sie blieb stehen und betrachtete ihn. »Ihr werdet in Seandar bestimmt gut zurechtkommen«, sagte sie schließlich und hielt ihm den fast leeren Krug vor die Nase. »Passt darauf bis zu meiner Rückkehr auf.«

»Wo wollt Ihr hin?«, fragte er alarmiert. Er vertraute darauf, dass sie nicht weglaufen würde, aber nicht, dass sie sich ohne seinen Schutz nicht in Schwierigkeiten bringen würde.

Sie setzte eine gequälte Miene auf. Selbst damit war sie wunderschön. »Wenn Ihr es unbedingt wissen müsst, Spielzeug, auf das Unausweichliche.«

»Oh. Die Wirtin kann Euch sagen, wo das ist. Oder eine der Mägde.«

»Danke, Spielzeug«, sagte sie zuckersüß. »Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, einfach zu fragen.« Sie signalisierte Selucia mit den Fingern, und die beiden gingen kichernd und in eine stumme Unterhaltung vertieft in den hinteren Teil des Gemeinschaftsraums.

Mat seufzte und starrte finster in seinen Wein. Frauen schien es immer Vergnügen zu bereiten, dass man sich wie ein Trottel vorkam. Und mit der hier war er bereits zur Hälfte verheiratet.

»Wo sind die Frauen?«, fragte Thom, ließ sich auf den Stuhl neben ihn sacken und stellte einen fast vollen Weinbecher auf dem Tisch ab. Er grunzte, als Mat es ihm sagte, und sprach mit gedämpfter Stimme, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. »Hinter und vor uns liegt Ärger. Weit genug voraus, dass er uns hier vielleicht nicht betrifft, aber wir sollten gehen, wenn sie wiederkommen.«

Mat setzte sich aufrecht hin. »Was für Ärger?«

»Einige der Kaufmannskarawanen, die uns in den letzten Tagen überholt haben, haben die Neuigkeit von Morden in Jurador mitgebracht. Sie sind ungefähr zur Zeit unseres Aufbruchs geschehen. Vielleicht einen oder zwei Tage später, das lässt sich nicht genau sagen. Ein Mann wurde mit herausgerissener Kehle in seinem Bett aufgefunden, aber es gab kaum Blut.« Er musste nicht mehr sagen.

Mat nahm einen tiefen Schluck. Der verfluchte Gholam verfolgte ihn noch immer. Wie hatte er herausfinden können, dass er mit Lucas Zirkus reiste? Aber bei dem Tempo des Wanderzirkus war er immer noch einen oder zwei Tage hinter ihnen, und vermutlich würde er sie so bald nicht einholen. Mat berührte den Fuchskopf durch seinen Mantel. Wenigstens hatte er eine Möglichkeit, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, falls er auftauchte. Das Ding trug eine Narbe, die er ihm verpasst hatte. »Und der vor uns liegende Ärger?«

»An der Grenze zu Murandy steht ein seanchanisches Heer. Wie sie das zusammengezogen haben, ohne dass ich es erfahren habe…« Er pustete seinen Schnurrbart in die Höhe, verärgert über sein Versagen. »Nun, egal. Sie lassen jeden, der an ihnen vorbei will, eine Tasse mit irgendeinem Kräutertee trinken.«

»Tee?«, wiederholte Mat ungläubig. »Was soll Tee denn für Ärger machen?«

»Gelegentlich macht dieser Tee eine Frau unsicher auf den Beinen, und dann kommen die Sul’dam und legen ihnen den Kragen um. Aber das ist nicht das Schlimmste. Sie suchen angestrengt nach einer kleinen, schwarzen Seanchanerin.«

»Nun, natürlich tun sie das. Hast du geglaubt, sie würden das nicht tun? Das löst mein größtes Problem, Thom. Wenn wir uns ihnen nähern, können wir den Zirkus verlassen, durch den Wald reiten. Tuon und Selucia können mit Luca Weiterreisen. Luca wird der Held sein, der ihnen ihre Tochter der Neun Monde zurückgebracht hat.«

Thom schüttelte ernst den Kopf. »Sie suchen nach einer Betrügerin, Mat. Jemand, der behauptet, die Tochter der Neun Monde zu sein. Aber die Beschreibung passt zu genau auf sie. Sie sprechen nicht offen darüber, aber es gibt immer Männer, die zu viel trinken, und einige reden dann auch zu viel. Sie wollen sie umbringen, wenn sie sie finden. Irgendetwas in der Art, die Schande zu tilgen, die sie verursacht hat.«

»Beim Licht!«, keuchte Mat. »Wie kann das sein, Thom?

Welcher General dieses Heer auch immer befehligt, er muss doch ihr Gesicht kennen, oder? Und vermutlich auch ein paar der Offiziere. Es muss Adlige geben, die sie kennen.«

»Wird ihr nicht viel nützen. Selbst der geringste Soldat wird ihr die Kehle aufschlitzen oder den Schädel einschlagen, sobald man sie findet. Ich habe das von drei verschiedenen Kaufleuten gehört. Selbst wenn sie sich alle irren, bist du bereit, dieses Risiko einzugehen?«

Das war Mat nicht, und sie fingen an, über ihrem Wein einen Plan zu schmieden. Nicht dass sie viel tranken. Trotz seiner vielen Besuche in Gemeinschaftsräumen und Schenken tat Thom das nur noch selten, und Mat wollte einen klaren Kopf behalten.

»Luca wird ein großes Geschrei anstimmen, wenn wir genug Pferde für alle haben wollen, ganz egal, was du ihm zahlst«, sagte Thom irgendwann. »Und wir brauchen Lastpferde für Proviant und Ausrüstung, wenn wir durch den Wald reiten.«

»Dann fange ich eben an, sie zusammenzukaufen, Thom.

Wenn wir aufbrechen müssen, werden wir genug beisammen haben. Ich wette, ich kann hier ein paar gute Tiere finden. Auch Vanin hat ein gutes Auge. Keine Sorge. Ich sorge dafür, dass er sie auch bezahlt.« Thom nickte zweifelnd. Er war nicht so davon überzeugt, dass sich Vanin so sehr verändert hatte.

»Kommt Aludra mit uns?«, fragte der weißhaarige Mann kurze Zeit später. »Sie wird ihre ganzen Sachen mitnehmen wollen. Dafür brauchen wir noch mehr Lastpferde.«

»Wir haben Zeit, Thom. Es ist noch weit bis zur Grenze von Murandy. Ich wollte nach Norden nach Andor oder nach Osten, falls Vanin einen Weg durch die Berge kennt. Osten wäre besser.« Vanin würde nur Schmugglerpfade kennen, der Fluchtweg eines Pferdediebes. Dort würde die Wahrscheinlichkeit viel geringer sein, unliebsame Begegnungen zu erleben. Die Seanchaner konnten in Altara überall sein, und der Weg nach Norden brachte ihn näher an das Heer, als ihm lieb war.

Tuon und Selucia kamen zurück, und er stand auf und nahm Tuons Umhang vom Stuhl. Auch Thom erhob sich und griff nach Selucias Umhang. »Wir gehen«, sagte Mat und versuchte Tuon den Umhang auf die Schultern zu legen. Selucia riss ihn ihm aus den Händen.

»Ich habe aber noch gar keinen Kampf gesehen«, protestierte Tuon viel zu laut. Einige Leute drehten sich um, um sie anzustarren, Kaufleute und Mägde.

»Ich erkläre es draußen«, sagte er leise. »Weitab von neugierigen Ohren.«

Tuon sah ausdruckslos zu ihm hoch. Er wusste, dass sie zäh war, aber sie war so winzig, wie eine hübsche Puppe, dass man leicht auf den Gedanken kommen konnte, sie würde zerbrechen, wenn man sie zu grob anfasste. Er würde tun, was auch immer erforderlich war, um sicherzugehen, dass sie nicht in Gefahr geriet, zerbrochen zu werden. Was auch immer erforderlich war. Schließlich nickte sie und ließ sich von Selucia den blauen Umhang umlegen. Thom wollte das Gleiche für die blonde Frau tun, aber sie nahm ihm den Umhang ab und legte ihn sich selbst um. Mat konnte sich nicht daran erinnern, jemals gesehen zu haben, dass sie sich dabei helfen ließ.

Die gewundene Gasse draußen war menschenleer. Ein brauner Hund betrachtete sie misstrauisch, dann trottete er um die nächste Biegung. Mat wählte genauso schnell die andere Richtung und erklärte dabei alles. Falls er Staunen oder Entsetzen erwartet hätte, wäre er enttäuscht worden.

»Es könnten Ravashi oder Chimal sein«, sagte die kleine Frau nachdenklich, als wäre es bloß eine nette Abwechslung, dass ein ganzes seanchanisches Heer sie töten wollte. »Meine beiden Schwestern, die alt genug sind. Aurana ist dazu vermutlich noch zu jung, sie ist erst acht. Ihr würdet sagen vierzehn. Chimal ist nicht ambitioniert genug, aber Ravashi ist schon immer der Meinung gewesen, man hätte besser sie ernannt, nur weil sie älter ist. Sie könnte jemanden geschickt haben, um Gerüchte in die Welt zu setzen für den Fall, dass ich eine Zeit lang verschwinde. Das ist wirklich ziemlich schlau von ihr. Falls sie es ist.« So kühl, als würden sie sich über das Wetter unterhalten und ob es regnen würde.

»Man könnte diese Verschwörung leicht aus der Welt schaffen, wäre die Hochlady im Tarasin-Palast, wo sie hingehört«, sagte Selucia, und Tuons kühle Blasiertheit verschwand augenblicklich.

Oh, ihre Miene wurde so kalt wie die eines Henkers, aber sie fuhr zu ihrer Dienerin herum, und ihre Finger blitzten so schnell auf, dass sie eigentlich hätten Funken sprühen müssen. Selucia wurde leichenblass; sie sank auf die Knie und senkte den Kopf, blieb zusammengeduckt dort hocken. Ihre Finger bewegten sich nur kurz, und Tuon ließ die Hände sinken und schaute schwer atmend auf den von einem Schal verhüllten Kopf. Einen Moment später beugte sie sich vor und zog ihre Dienerin auf die Füße. Ganz nahe bei ihr stehend sagte sie etwas sehr Knappes in der Fingersprache. Selucia gab eine stumme Antwort, Tuon wiederholte die Gesten, und sie wechselten ein zittriges Lächeln. Tränen funkelten in ihren Augen. Tränen!

»Verratet ihr mir, worum es dabei ging?«, sagte Mat. Sie wandten ihm die Köpfe zu.

»Wie sehen Eure Pläne aus, Spielzeug?«, fragte Tuon schließlich.

»Nicht Ebou Dar, falls Ihr das meint, mein Juwel. Wenn ein Heer Euch töten will, dann wollen es vermutlich alle, und zwischen hier und Ebou Dar gibt es zu viele Soldaten. Aber sorgt Euch nicht; ich werde eine Möglichkeit finden, Euch sicher zurückzubringen.«

»Also denkt Ihr immer…« Ihr Blick glitt an ihm vorbei, ihre Augen weiteten sich, und er schaute über die Schulter und sah sieben oder acht Männer um die letzte Biegung kommen. Jeder Mann hielt ein blankgezogenes Schwert in der Hand. Bei seinem Anblick beschleunigten sich ihre Schritte.

»Tuon, lauf!«, rief er und wirbelte zu seinen Angreifern herum. »Thom, schaff sie hier weg!« Messer glitten aus den Ärmeln in seine Hände, und er warf sie beinahe gleichzeitig. Die Klinge aus der linken Hand traf einen ergrauenden Mann ins Auge, die aus der rechten einen dürren Burschen in den Hals. Sie stürzten, als wären ihre Knochen geschmolzen, aber bevor ihre Schwerter auf das Straßenpflaster klirrten, hatte er bereits zwei neue Messer aus den Stiefelschäften gerissen und rannte auf sie zu.

Sie wurden völlig überrascht, weil sie so schnell zwei der ihren verloren hatten und er die Distanz überbrückte, statt zu fliehen. Aber da er so schnell näher kam und sie sich in der schmalen Straße gegenseitig nur im Weg standen, verloren sie größtenteils den Vorteil, den ihnen ihre Schwerter über seine Messer gaben. Aber leider nur größtenteils. Seine Klingen konnten ein Schwert abwehren, aber er stach nur zu, wenn jemand zu einem Stoß ausholte. In kürzester Zeit hatte er eine prächtige Sammlung von Schrammen, an den Rippen, der linken Hüfte, auf der rechten Wange — ein Schnitt, der ihm den Hals aufgeschlitzt hätte, hätte er ihn nicht gerade noch rechtzeitig zur Seite gerissen. Aber bei einem Fluchtversuch hätten sie ihn von hinten niedergemacht. Am Leben und blutend war besser als tot.

Seine Hände bewegten sich so schnell wie nie, kurze Bewegungen, beinahe zierlich. Angeberei hätte ihn umgebracht. Ein Messer drang in das Herz eines fetten Kerls und wieder hinaus, bevor der Bursche in die Knie sackte. Er schnitt in die Ellenbeuge eines Mannes, der wie ein Schmied gebaut war, der sein Schwert fallen ließ und unbeholfen mit der linken Hand sein Gürtelmesser zog. Mat ignorierte ihn; der Kerl taumelte bereits durch den Blutverlust, bevor seine Klinge aus der Scheide war. Ein Mann mit kantigem Gesicht keuchte auf, als Mat ihm den Hals unter dem Ohr aufschlitzte. Er drückte eine Hand auf die Wunde, schaffte aber nur zwei Schritte zurückzutaumeln, bevor er fiel. Da die Männer starben, gewannen die anderen an Raum, aber Mat bewegte sich noch schneller, tänzelte umher, dass ein stürzender Gegner ihn vor einem Schwerthieb beschützte, während er in den Schlag eines Dritten hineindrängte. Für ihn bestand die Welt nur aus seinen beiden Messern und den Männern, die sich gegenseitig im Weg standen, um ihn zu erwischen, und seine Klingen zielten nach den Stellen, wo man am heftigsten blutete. Einige dieser Erinnerungen stammten von Männern, die alles andere als nett gewesen waren.

Und dann, welch ein Wunder, heftig blutend, aber zu erhitzt, um den Schmerz schon vollständig zu spüren, stand er vor dem letzten Gegner, den er zuvor gar nicht bemerkt hatte. Sie war jung und schlank, trug zerlumpte Kleidung, und man hätte sie als hübsch bezeichnen können, wäre ihr Gesicht sauber und ihre Zähne nicht gebleckt gewesen. Der Dolch, den sie von Hand zu Hand warf, wies eine doppelseitig geschliffene Klinge von der zweifachen Länge seiner Hand auf.

»Du hast keine Chance, das zu Ende zu bringen, worin die anderen zusammen versagt haben«, sagte er zu ihr. »Lauf. Ich lasse dich unbeschadet gehen.«

Mit dem Aufschrei einer Wildkatze stürzte sie sich auf ihn, hieb und stach um sich. Er konnte nur unbeholfen rückwärts tänzeln und versuchen, sie abzuwehren. Sein Stiefel glitt in einer Blutpfütze aus, und als er stolperte, wusste er, dass er sterben würde.

Plötzlich war Tuon da, mit der linken Hand packte sie das Handgelenk der jungen Frau — leider nicht das Gelenk der Dolchhand — und verdrehte es, sodass der Arm gerade ausgestreckt nach hinten gerissen wurde. Das Mädchen war gezwungen, sich nach vorn zu krümmen. Und dann spielte es keine Rolle mehr, in welcher Hand sie den Dolch hielt, denn Tuons rechte Handkante blitzte wie eine Axt auf und traf ihre Kehle so hart, dass er Knorpel brechen hörte. Würgend griff sie nach ihrer zerstörten Kehle, dann sackte sie auf die Knie, kippte zur Seite, noch immer heiser nach Atem ringend.

»Ich habe dir gesagt, du sollst gehen«, sagte Mat, sich nicht sicher, wen der beiden er eigentlich meinte.

»Ihr habt Euch um ein Haar von ihr umbringen lassen, Spielzeug«, sagte Tuon ernst. »Warum?«

»Ich habe mir geschworen, nie wieder eine Frau zu töten«, erwiderte er müde. Sein Blut kühlte wieder ab, und beim Licht, er hatte Schmerzen! »Sieht so aus, als hätte ich diesen Mantel ruiniert«, murmelte er und fummelte an einem der blutbesudelten Schlitze herum. Die Bewegung ließ ihn aufstöhnen. Wann war er am linken Arm getroffen worden?

Ihr Blick schien sich in seinen Schädel zu bohren, und sie nickte, als hätte sie eine Entscheidung getroffen.

Thom und Selucia standen ein Stück weiter die Straße hinunter, vor dem Grund, warum Tuon noch immer hier war, vor mehr als einem halben Dutzend Leichen, die verkrümmt auf dem Pflaster lagen. Thom hielt ein Messer in jeder Hand und gestattete Selucia, durch den Riss in seinem Mantel eine Wunde an seinen Rippen zu untersuchen. Nach den dunkel glitzernden Flecken auf seinem Mantel zu urteilen, schien er seltsamerweise weniger Verletzungen als Mat zu haben. Mat fragte sich, ob Tuon dort ebenfalls an dem Kampf teilgenommen hatte, aber er konnte an ihr keine Blutflecken entdecken. Selucia hatte einen blutigen Schnitt am linken Arm, der sie aber nicht zu behindern schien.

»Ich bin ein alter Mann«, sagte Thom plötzlich, »und manchmal glaube ich Dinge zu sehen, die nicht sein können, aber glücklicherweise vergesse ich sie immer.«

Selucia hielt inne, um ihn kühl anzusehen. Sie mochte eine Dienerin sein, aber Blut schien sie nicht im Mindesten zu stören. »Und was könntet Ihr versuchen zu vergessen?«

»Ich kann mich nicht erinnern«, erwiderte Thom. Selucia nickte und kümmerte sich wieder um seine Wunden.

Mat schüttelte den Kopf. Manchmal war er sich nicht ganz sicher, ob Thom noch immer seinen Verstand richtig beisammen hatte. Aber was das anging, schien auch Selucia gelegentlich nicht alle Tassen im Schrank zu haben.

»Die da wird nicht überleben, um sie der Befragung zu unterziehen«, sagte Tuon und blickte stirnrunzelnd auf die Frau herunter, die zuckend und nach Atem ringend zu ihren Füßen lag. »Und sie kann nicht sprechen, selbst wenn sie es schaffen sollte.« Sie bückte sich geschmeidig, hob den Dolch der Frau auf und trieb ihn ihr hart unterhalb des Brustbeins in den Leib. Der keuchende Kampf nach Luft verstummte; brechende Augen starrten auf den schmalen Streifen Himmel über ihnen. »Eine Gnade, die sie nicht verdient hat, aber ich sehe keinen Sinn in nutzlosem Leiden. Ich habe gewonnen, Spielzeug.«

»Ihr habt gewonnen? Was meint Ihr?«

»Ihr habt mich zuerst mit meinem Namen angesprochen, also habe ich gewonnen.«

Mat pfiff leise durch die Zähne. Wann immer er zu wissen glaubte, wie hart und zäh sie tatsächlich war, fand sie eine Möglichkeit, ihm zu zeigen, dass er nicht einmal die Hälfte wusste. Hätte jemand zufällig aus dem Fenster gesehen, hätte dieser Stich bestimmt Fragen beim örtlichen Magistrat aufgeworfen, vielleicht vor Lord Nathin höchstpersönlich. Aber es gab keine Gesichter in den Fenstern, soweit er sehen konnte. Nach Möglichkeit vermieden es die Leute, in solche Angelegenheiten verwickelt zu werden. Während des Kampfes hätten durchaus Träger oder Karrenfahrer vorbeikommen können. Aber falls das geschehen war, hatten sie so schnell umgedreht, wie sie nur konnten. Ob einer von ihnen Lord Nathins Wächter gerufen hätte, war allerdings eine andere Frage. Aber Mat hatte keine Furcht vor Nathin und dem Magistrat. Zwei Männer, die zwei Frauen eskortierten, griffen nicht mehr als ein Dutzend Schwertträger an. Vermutlich waren diese Burschen und die unglückselige junge Frau den Stadtwachen wohlbekannt.

Er hinkte los, um seine Wurfmesser wieder einzusammeln, hielt aber kurz inne, während er dem Grauhaarigen die Klinge aus dem Auge zog. Er hatte dieses Gesicht vorher nicht genau registriert. Alles war zu schnell gegangen, um sich mehr als nur oberflächlichen Eindrücken bewusst zu werden. Er wischte das Messer sorgfältig am Mantel des Toten ab und schob es zurück in den Ärmel, während er sich aufrichtete. »Unsere Pläne haben sich geändert, Thom. Wir verlassen Maderin so schnell wir können, und wir verlassen den Zirkus so schnell wir können. Luca wird uns so schnell loswerden wollen, dass er uns alle Pferde gibt, die wir brauchen.«

»Das muss angezeigt werden, Spielzeug«, sagte Tuon ernst. »Das zu unterlassen ist genauso gesetzlos wie das, was sie getan haben.«

»Kennst du den Kerl?«, fragte Thom.

Mat nickte. »Er heißt Vane, und ich glaube kaum, dass irgendjemand in dieser Stadt glauben wird, dass ein angesehener Kaufmann uns auf der Straße angreift. Luca wird uns Pferde geben, um uns loszuwerden.« Es war sehr seltsam. Der Mann hatte nicht eine Münze an ihn verloren, hatte nicht einmal eine Münze gesetzt. Also, warum? Sehr seltsam. Und Grund genug, schnell zu verschwinden.

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