24 Honig im Tee

Egwene hatte von Anfang an gewusst, dass ihre seltsame Gefangenschaft schwierig werden würde, aber sie hatte geglaubt, dass der einfachste Teil darin bestehen würde, den Schmerz so zu umarmen, wie es die Aiel taten. Schließlich hatte sie heftige Prügel bekommen, als sie den Weisen Frauen das toh bezahlte, das sie für ihre Lügen auf sich geladen hatte. Sie war von einer nach der anderen mit dem Riemen geschlagen worden, also hatte sie Erfahrung. Aber den Schmerz zu umarmen bedeutete nicht, sich ihm einfach nur zu ergeben, statt dagegen anzukämpfen. Man musste den Schmerz in sich hineinziehen und ihn als Teil seiner selbst willkommen heißen. Aviendha sagte, man müsste lächeln und vor Freude lachen und singen können, während einen der Schmerz noch immer festhielt. Das war nicht so einfach.

Am ersten Morgen vor Sonnenaufgang tat sie in Silvianas Arbeitszimmer ihr Bestes, während die Oberin der Novizin ihren blanken Hintern mit der harten Sohle eines Halbschuhs bearbeitete. Sie gab sich keine Mühe, das Schluchzen zu unterdrücken, als es kam, oder später ihr wortloses Gebrüll. Als ihre Beine treten wollten, ließ sie sie zappeln, bis die Oberin sie unter eines ihrer Beine klemmte — was wegen Silvianas Röcken gar nicht so einfach war —, und dann ließ sie ihre Zehen auf den Boden trommeln, während ihr Kopf wild zuckte. Sie versuchte den Schmerz in sich hineinzuziehen, ihn wie Atemluft aufzusaugen. Schmerz war genauso ein Teil des Lebens wie das Atmen. So sahen die Aiel das Leben. Aber, beim Licht, es tat weh!

Als sie schließlich wieder nach einer scheinbar unendlich langen Zeit aufstehen durfte, zuckte sie zusammen, als Unterhemd und Kleid mit der Haut in Berührung kamen. Die weiße Wolle schien so schwer wie Blei zu sein. Sie versuchte, die lodernde Hitze willkommen zu heißen. Aber es war schwer. So schwer. Doch es kam ihr so vor, als würde das Schluchzen bald von selbst aufhören, und der Tränenstrom trocknete schnell. Weder heulte noch jammerte sie. Sie musterte sich in dem Spiegel an der Wand mit seiner verblassenden Vergoldung. Wie viele Tausende von Frauen hatten im Lauf der Jahre in diesen Spiegel geblickt? Die, die in diesem Raum diszipliniert wurden, mussten danach immer ihr Spiegelbild studieren und darüber nachdenken, warum sie bestraft worden waren, aber aus diesem Grund tat sie es nicht. Ihr Gesicht war noch immer gerötet, und doch erschien es bereits… ruhig. Trotz der qualvollen Hitze auf ihrem Hintern fühlte sie sich tatsächlich ruhig. Sollte sie singen? Vielleicht besser nicht. Sie zog ein weißes Leinentaschentuch aus dem Ärmel und trocknete sich sorgfältig die Wangen.

Silviana musterte sie mit zufriedenem Blick, bevor sie den Halbschuh wieder in dem schmalen Schrank gegenüber dem Spiegel verstaute. »Ich glaube, ich habe von Anfang an Eure Aufmerksamkeit erregt, oder ich hätte fester zugeschlagen«, sagte sie trocken und überprüfte den Haarknoten am Hinterkopf. »Ich bezweifle, dass ich Euch so bald wiedersehe. Vielleicht interessiert Euch, dass ich Fragen gestellt habe, so wie Ihr gewünscht habt. Melare hat sich bereits erkundigt. Die Frau ist Leane Sharif, auch wenn das Licht allein weiß, wie…« Sie verstummte, schüttelte den Kopf, zog den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch zurück und setzte sich. »Sie hat sich große Sorgen um Euch gemacht, mehr als über sich selbst. Ihr dürft sie in Eurer Freizeit besuchen. Falls Ihr Freizeit haben solltet. Ich werde die Anweisung geben. Sie ist in den offenen Zellen. Und jetzt solltet Ihr besser laufen, wenn Ihr vor Eurer ersten Klasse noch etwas essen wollt.«

»Danke«, sagte Egwene und wandte sich der Tür zu.

Silviana seufzte tief. »Keinen Knicks, Kind?« Sie tauchte die Feder in das in der silbernen Fassung steckende Tintenfässchen und notierte etwas ins Bestrafungsbuch, in einer sauberen, präzisen Handschrift. »Ich sehe Euch heute Mittag. So, wie es aussieht, werdet Ihr Eure beiden ersten Mahlzeiten in der Burg stehend essen.«

Egwene hätte es dabei bewenden lassen, aber während sich die Sitzenden in der Nacht im Saal in Tel’aran’rhiod versammelt hatten, hatte sie sich für einen schwierigen Kurs entschieden, den sie einhalten wollte. Sie wollte kämpfen, aber sie musste dabei den Anschein des Gehorsams bieten. Jedenfalls bis zu einem gewissen Maß. Innerhalb der Grenzen, die sie sich selbst setzte. Jeden Befehl zu verweigern würde bloß bedeuten, dass sie halsstarrig erschien — und vielleicht würde sie in einer Zelle landen, wo sie nichts ausrichten konnte —, aber manche Befehle durfte sie nicht befolgen, wenn sie auch nur einen Funken Würde behalten wollte. Und das musste sie tun. Mehr als nur einen Funken. Sie durften nicht verleugnen, wer sie war, wie sehr sie es auch versuchten; das durfte sie nicht zulassen. »Die Amyrlin kniet vor niemandem«, sagte sie ganz ruhig und wusste genau, welche Reaktion erfolgen würde.

Silvianas Züge verhärteten sich, und sie griff wieder nach der Feder. »Ich sehe Euch auch zur Abendbrotzeit. Ich schlage vor, Ihr geht jetzt ohne weiteres Wort, es sei denn, Ihr wollt den ganzen Tag über meinen Knien verbringen.«

Egwene ging wortlos. Und ohne einen Knicks zu machen. Ein schwieriger Kurs, wie auf einem Drahtseil über einem tiefen Abgrund. Aber sie musste darauf gehen.

Zu ihrer Überraschung marschierte Alviarin in dem Korridor vor dem Arbeitszimmer auf und ab, die weißfransige Stola eng um den Leib geschlungen. Sie starrte auf etwas in der Ferne, das nur sie allein sehen konnte. Egwene wusste, dass die Frau nicht länger Elaidas Behüterin der Chroniken war, wenn auch nicht, warum sie so schnell aus dem Amt entfernt worden war. Das Spionieren in Tel’aran’rhiod erlaubte nur kurze Blicke und Eindrücke; es war in so vielerlei Hinsicht eine unsichere Widerspiegelung der Welt. Alviarin musste ihr Gebrüll gehört haben, aber seltsamerweise verspürte Egwene keine Scham. Sie kämpfte eine seltsame Schlacht, und in der Schlacht trug man Wunden davon. Die normalerweise eiskalte Weiße erschien heute alles andere als kühl. Tatsächlich erschien sie sogar ziemlich aufgeregt, ihre Lippen standen geöffnet, und in ihrem Blick loderte es. Egwene machte keinen Knicks vor ihr, aber Alviarin warf ihr nur einen finsteren Blick zu, bevor sie in Silvianas Arbeitszimmer verschwand. Ein Drahtseilakt.

Ein Stück weiter den Korridor hinunter standen zwei Rote auf ihrem Beobachtungsposten, eine mit rundem Gesicht, die andere schlank, beide mit kühlen Blicken und die Stolen so auf den Armen drapiert, dass die langen roten Fransen deutlich zu sehen waren. Nicht das gleiche Paar, das bei ihrem Aufwachen zugegen gewesen war, aber sie waren nicht zufällig da. Sie waren keine Wächter im Sinne des Wortes, aber sie waren sehr wohl auch Wächter. Vor ihnen machte sie auch keinen Knicks. Sie betrachteten sie ausdruckslos.

Egwene hatte noch kein halbes Dutzend Schritte auf den roten und grünen Fliesen gemacht, da hörte sie hinter sich das gequälte Gebrüll einer Frau, das kaum von der schweren Tür zu Silvianas Arbeitszimmer gedämpft wurde. Also erfüllte Alviarin eine Buße, und sie nahm es nicht gut hin, wenn sie so bald schon aus vollem Hals schrie. Es sei denn, sie versuchte, den Schmerz zu umarmen, was aber unwahrscheinlich erschien. Egwene hätte gern gewusst, warum Alviarin eine Buße zu erfüllen hatte, falls es eine auferlegte Buße war. Ein General hatte Späher und Augen-und-Ohren, die ihn über den Feind informierten. Sie hatte nur ihre eigenen Augen und Ohren und das Wenige, das sie in der Unsichtbaren Welt erfahren konnte. Jedes Fitzelchen Wissen konnte sich als nützlich erweisen, also musste sie alles ausgraben, was möglich war.

Frühstück oder nicht, sie kehrte lange genug in ihr winzig es Zimmer in den Novizinnenquartieren zurück, um sich am Waschständer das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen und das Haar zu kämmen. Die Bürste, die sich in ihrer Gürteltasche befunden hatte, gehörte zu den paar persönlichen Dingen, die sie behalten hatte. In der Nacht waren ihre Kleider verschwunden und durch das Novizinnenweiß ersetzt worden, aber die Kleider und Unterhemden, die an der weißen Wand hingen, gehörten ihr. Sie waren nach ihrem Aufstieg zur Aufgenommenen verstaut worden und trugen noch immer die kleinen Schildchen mit ihrem Namen, die man in die Säume genäht hatte. Die Burg war nie verschwenderisch. Man konnte nie wissen, wann einem neuen Mädchen ein alter Satz Kleider passen würde. Aber nichts außer dem Weiß einer Novizin zum Anzuziehen zu haben, das machte sie nicht zu einer Novizin, egal, was Elaida und die anderen auch glaubten.

Sie ging erst, als sie sich sicher war, dass ihr Gesicht nicht länger gerötet war und sie so beherrscht aussah, wie sie sich fühlte. Wenn einem nur wenige Waffen blieben, dann konnte das Erscheinungsbild eine davon sein. Dieselben Roten warteten auf der Galerie, um sie zu beschatten.

Der Speisesaal der Novizinnen lag auf der untersten Ebene der Burg, neben einer der Hauptküchen. Es war ein großer, ganz in Weiß gehaltener Raum, schmucklos, auch wenn die Bodenfliesen die Farben aller Ajahs zeigten, und er war mit Tischen gefüllt, von denen jeder sechs oder acht Frauen auf schmalen Bänken beherbergen konnte. An diesen Tischen saßen ungefähr hundert oder mehr Frauen und plauderten beim Frühstück. Elaida musste sehr mit ihrer Zahl zufrieden sein. Die Burg hatte seit Jahren nicht mehr so viele Novizinnen gehabt. Zweifellos hatte selbst die Nachricht über die Spaltung der Burg in einige Köpfe den Gedanken gepflanzt, nach Tar Valon zu gehen. Egwene war nicht beeindruckt. Diese Frauen füllten kaum die Hälfte des Speisesaals, und eine Etage über ihnen gab es noch einen, der schon seit Jahrhunderten geschlossen war. Sobald sie in der Burg herrschte, würde man die zweite Küche wieder eröffnen, und die Novizinnen würden trotzdem in Schichten essen müssen, was seit den Trolloc-Kriegen nicht mehr geschehen war.

Nicola entdeckte sie, sobald sie eintrat — die Frau schien nach ihr Ausschau gehalten zu haben — und stieß die Novizinnen neben sich an. Schweigen senkte sich in einer Welle über die Tische, und jeder Kopf drehte sich, als Egwene den Mittelgang hinunterrauschte. Sie sah nicht nach rechts oder nach links.

Auf halbem Weg zur Küchentür stieß eine kleine, schlanke Novizin mit langem schwarzen Haar einen Fuß nach vorn und stellte ihr ein Bein. Sie konnte gerade noch das Gleichgewicht bewahren, ohne vornüber aufs Gesicht zu fallen. Sie drehte sich kühl. Ein weiteres Scharmützel. Die junge Frau hatte das blasse Aussehen einer Cairhienerin. Aus dieser Nähe konnte Egwene sicher sein, dass man sie der Prüfung zur Aufgenommenen unterziehen würde, solange sie keine anderen Fehler hatte. Aber die Burg war gut darin, solche Dinge auszumerzen. »Wie ist Euer Name?«

»Alvistere«, erwiderte die junge Frau, und ihr Akzent bestätigte ihr Aussehen. »Warum wollt Ihr das wissen? Damit Ihr Silviana etwas erzählen könnt? Das wird Euch nichts nützen. Jeder hier wird sagen, dass er nichts gesehen hat.«

»Das ist eine Schande, Alvistere. Ihr wollt Aes Sedai werden und die Fähigkeit zum Lügen aufgeben, und doch wollt Ihr, dass andere für Euch lügen. Seht Ihr darin keinen Widerspruch?«

Alvisteres Gesicht rötete sich. »Wer seid Ihr, dass Ihr mich belehren wollt?«

»Ich bin die Amyrlin. Eine Gefangene, aber noch immer die Amyrlin.« Alvisteres große Augen weiteten sich, und Geflüster summte durch den Raum, während Egwene weiter zur Küche ging. Sie hatten nicht geglaubt, dass sie noch immer den Titel beanspruchen würde, obwohl sie das Weiß trug und unter ihnen schlief. Es war gut, ihnen diese Idee schnell auszutreiben.

Die Küche war ein großer Raum mit hoher Decke und grauem Fußboden, wo die Bratspieße in dem langen Kamin reglos hingen, die Eisenöfen jedoch genug Hitze verbreiteten, dass sie sofort in Schweiß ausgebrochen wäre, hätte sie nicht gewusst, wie sie sie ignorieren konnte. Sie hatte oft genug in dieser Küche geschuftet, und es erschien als sicher, dass sie es wieder tun würde. Es gab auf drei Seiten Speisesäle, für die Aufgenommenen, die Aes Sedai und die Novizinnen. Laras, die Herrin der Küchen, watschelte mit schweißbedecktem Gesicht und in einer makellos sauberen weißen Schürze umher, aus der man drei Novizinnengewänder hätte machen können, und schwenkte ihren langen Holzlöffel wie ein Zepter, während sie Köche und Jungköche und Küchenhilfen dirigierte, die für sie so schnell wie für eine Königin eilten. Vielleicht sogar schneller. Eine Königin würde einem kaum einen Hieb mit ihrem Zepter versetzen, nur weil man sich nicht schnell genug bewegte.

Viele Mahlzeiten schienen auf Tabletts zu landen, manchm al aus Silber, manchmal aus Holz, die Frauen durch die Tür zum Hauptspeisesaal der Schwestern trugen. Keine Küchenfrauen mit der weißen Flamme von Tar Valon auf den Busen, sondern würdevolle Frauen in gut geschnittenen Wollgewändern mit dezenten Stickereien, die persönlichen Dienerinnen der Schwestern, die den langen Aufstieg zu den Quartieren der Ajahs machen würden.

Jede Aes Sedai konnte in ihren Gemächern speisen, so sie es wünschte, auch wenn das bedeutete, die Macht zu lenken, um das Essen aufzuwärmen, aber die meisten genossen die Gesellschaft beim Essen. Zumindest hatten sie das in der Vergangenheit. Der ständige Strom von Frauen mit abgedeckten Tabletts war eine Bestätigung, dass die Weiße Burg von einem Spinnennetz aus Rissen durchzogen wurde. Egwene hätte Zufriedenheit verspüren müssen. Elaida stand auf einem Podest, das kurz davorstand, unter ihr zusammenzubrechen. Aber die Burg war ihr Zuhause. Alles, was sie fühlte, war Trauer. Und Wut auf Elaida. Diese Frau verdiente es allein schon für alles, was sie der Burg angetan hatte, seit sie Stab und Stola errungen hatte, aus ihrem Amt gezerrt zu werden!

Laras warf ihr einen langen Blick zu, zog ihr Kinn ein, bis sie nur noch vier davon hatte, dann schwenkte sie wieder den Löffel und schaute einem Jungkoch über die Schulter. Die Frau hatte einst Siuan und Leane bei der Flucht geholfen, also war ihre Loyalität zu Elaida wenig ausgeprägt. Würde sie jetzt jemand anderem helfen? Sie gab sich jedenfalls alle Mühe, nicht noch einmal in Elaidas Richtung zu sehen. Eine Jungköchin, die sicher nicht wusste, wer sie war, eine lächelnde Frau, die an ihrem zweiten Kinn arbeitete, überreichte ihr ein Tablett mit einer großen Tasse dampfendem Tee und einem dicken, weiß glasierten Teller mit Brot, Oliven und bröckeligem weißen Käse, das sie zurück in den Speisesaal brachte.

Wieder kehrte Schweigen ein, und wieder richtete sich jedes Auge auf sie. Natürlich. Sie wussten, dass sie zur Oberin der Novizinnen zitiert worden war. Sie wollten sehen, ob sie im Stehen aß. Sie wollte sich nur zu gern ganz vorsichtig auf der harten Bank niederlassen, aber sie zwang sich dazu, sich ganz normal hinzusetzen. Was die Flammen natürlich wieder hochschießen ließ. Nicht so stark wie zuvor, aber immerhin stark genug, dass sie herumrutschte, bevor sie sich wieder unter Kontrolle brachte. Seltsamerweise verspürte sie kein echtes Verlangen, das Gesicht zu verziehen oder sich zu winden. Sich hinzustellen, ja, das schon, aber nicht das andere. Der Schmerz war ein Teil von ihr. Sie akzeptierte ihn ohne Gegenwehr. Sie versuchte, ihn willkommen zu heißen, aber das schien außerhalb ihrer Fähigkeiten zu liegen.

Sie riss ein Stück Brot ab — anscheinend gab es auch hier Getreidekäfer im Mehl —, und langsam fingen die Unterhaltungen wieder an, aber leise, weil man von Novizinnen erwartete, nicht so viel Lärm zu machen. Auch an ihrem Tisch ging die Unterhaltung weiter, auch wenn keiner Anstrengungen machte, sie mit einzubeziehen. Auch das war gut so. Sie war nicht hier, um unter den Novizinnen Freundschaften zu schließen. Und sie sollten sie auch nicht als eine der ihren betrachten. Nein, sie hatte ein ganz anderes Ziel.

Nachdem sie das Tablett zurückgebracht hatte und zusammen mit den Novizinnen den Speisesaal verließ, warteten bereits zwei andere Rote auf sie. Eine war Katerine Alruddin, fuchsartig in rot geschlitztem Grau; rabenschwarzes Haar wogte in einer Masse bis zu ihrer Taille, und ihre Stola ruhte in ihrer Ellenbeuge.

»Trinkt das«, sagte Katerine herrisch und hielt ihr einen Zinnbecher hin. »Alles.« Die andere Rote, dunkelhäutig und mit kantigem Gesicht, richtete ungeduldig die Stola und verzog den Mund. Anscheinend gefiel es ihr nicht, als Dienerin herhalten zu müssen. Vielleicht war es auch die Abscheu vor dem, was in dem Becher war.

Egwene unterdrücke ein Seufzen und trank. Der schwache Spaltwurzeltee sah aus und schmeckte wie hellbraun gefärbtes Wasser, mit einer Spur Minze. Eher die Erinnerung an Minze als der Geschmack selbst. Ihre erste Tasse hatte sie kurz nach dem Aufwachen erhalten, die diensthabende Rote Schwester hatte es eilig, die Abschirmung zu lösen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Katerine hatte die Stunde etwas überzogen, aber sie bezweifelte, dass sie die Macht hätte lenken können. Jedenfalls nicht mit genug Stärke, dass es ihr irgendwie genutzt hätte.

»Ich will nicht zu spät zu meiner ersten Klasse kommen«, sagte sie und gab die Tasse zurück. Katerine nahm sie, allerdings schien es sie zu überraschen, dass sie sie entgegengenommen hatte. Egwene rauschte hinter den Novizinnen her, bevor die Schwester Einwände erheben konnte. Oder bevor ihr einfiel, sie zu rügen, weil sie keinen Knicks gemacht hatte.

Die erste Klasse, ein einfacher, fensterloser Raum, in dem zehn Novizinnen auf Holzbänken für dreißig oder mehr gedachte Schülerinnen saßen, war genau das Desaster, das sie erwartet hatte. Allerdings kein Desaster für sie, ganz egal, wie es endete. Die Lehrerin war Idrelle Menford, eine Frau mit harten Augen, die bereits Aufgenommene gewesen war, als Egwene das erste Mal die Burg betreten hatte. Sie trug noch immer das weiße Kleid mit den sieben Farbstreifen an Saum und Ärmelaufschlägen. Egwene suchte sich einen Platz am Ende der Bank, wieder ohne an ihre empfindliche Kehrseite zu denken. Es war besser geworden, wenn auch nicht sehr. Trinke den Schmerz.

Idrelle stand auf einem kleinen Podium an der Vorderseite des Raums und sah mit mehr als nur einem Funken Zufriedenheit, dass Egwene wieder Weiß trug. Es schien fast ihr ständiges Stirnrunzeln zu mildern. »Ihr seid alle über die Erschaffung einfacher Feuerbälle hinaus«, sagte sie zu der Klasse, »aber wollen wir doch mal sehen, was unser neues Mädchen kann. Ihr müsst wissen, sie war einst sehr von sich überzeugt.« Ein paar der Novizinnen kicherten. »Macht einen Feuerball, Egwene. Macht schon, Kind.« Ein Feuerball? Das war eines der ersten Dinge, die Novizinnen lernten. Was hatte sie vor?

Egwene öffnete sich der Quelle und umarmte Saidar, ließ es in sich hineinschießen. Die Spaltwurzel erlaubte nur ein Tröpfeln, ein Faden, wo sie an Ströme gewöhnt war, aber es war die Macht, und ob ein Tröpfeln oder nicht, es brachte das ganze Leben und die Freude Saidars, das erhöhte Bewusstsein ihrer selbst und des sie umgebenden Raums. Erhöhtes Bewusstsein ihrer selbst bedeutete, dass ihr brennender Hintern sich sofort frisch verprügelt anfühlte, aber sie rührte sich nicht. Atme den Schmerz ein. Sie konnte den schwachen Duft der Seife von der Morgentoilette der Novizinnen riechen, sah eine kleine Ader auf Idrelles Stirn pochen. Ein Teil von ihr wollte der Frau mit einem Strom Luft eine Ohrfeige geben, aber bei der Menge an Macht, die sie jetzt lenkte, hätte Idrelle es kaum gespürt. Stattdessen lenkte sie Feuer und Luft, um einen kleinen grünen Feuerball zu produzieren, der vor ihr schwebte. Es war ein blasses, armseliges Ding, in der Tat sogar durchsichtig.

»Sehr gut«, sagte Idrelle sarkastisch. Ah ja. Sie hatte damit anfangen wollen, indem sie den Novizinnen zeigte, wie schwach Egwene in der Macht war. »Lasst Saidar los. Also, Klasse…«

Egwene fügte einen blauen Feuerball hinzu, dann noch einen braunen und einen grauen, ließ sie umeinander wirbeln.

»Lasst die Quelle los!«, sagte Idrelle brüsk.

Ein gelber Ball gesellte sich hinzu, ein weißer und schließlich ein roter. Schnell fügte sie miteinander verbundene Feuerringe um die wirbelnden Bälle. Diesmal kam rot zuerst, weil sie es kleiner wollte, grün zuletzt und am größten. Hätte sie eine Ajah auswählen können, wäre es die Grüne gewesen. Sieben Flammenringe rotierten, keine zwei in der gleichen Richtung, um sieben Feuerbälle, die einen komplizierten Tanz aufführten. Sie mochten klein und schwach sein, aber es war eine beeindruckende Zurschaustellung, davon abgesehen, dass sie ihre Ströme vierzehn Mal teilte. Das Jonglieren mit der Macht war nicht viel leichter als mit den Händen.

»Hört auf damit!«, schrie Idrelle. »Aufhören!« Der Schein Saidars hüllte die Lehrerin ein, und ein Hieb Luft traf Egwene hart quer über den Rücken. »Ich sagte aufhören!« Der Schlag traf erneut, dann noch einmal.

Egwene ließ ruhig die Ringe wirbeln, die Bälle tanzen. Nach Silvianas hart geschwungenem Schuh fiel es leicht, den Schmerz von Idrelles Schlägen zu trinken. Wenn nicht sogar, ihn willkommen zu heißen. Würde sie jemals lächeln können, während man sie schlug?

Katerine und die andere Rote erschienen in der Tür. »Was geht hier vor?«, wollte die Schwester mit dem rabenschwarzen Haar wissen. Die Augen ihrer Begleiterin weiteten sich, als sie sah, was Egwene da tat. Es war sehr unwahrscheinlich, dass eine von ihnen ihre Ströme so oft teilen konnte.

Die Novizinnen sprangen natürlich alle auf die Füße und machten einen Knicks, als die Aes Sedai eintraten. Egwene blieb sitzen.

Idrelle spreizte ihre Röcke und sah aufgeregt aus. »Sie will nicht aufhören«, jammerte sie. »Ich habe es ihr befohlen, aber sie hört nicht auf!«

»Egwene, Schluss damit«, befahl Katerine streng.

Egwene hielt ihre Gewebe aufrecht, bis die Frau wieder den Mund öffnete. Erst dann ließ sie Saidar los und stand auf.

Katerine ließ den Mund zuschnappen, und sie holte tief Luft. Ihre Miene behielt die Aes-Sedai-Gelassenheit, aber ihre Augen funkelten. »Ihr werdet zu Silvianas Arbeitszimmer laufen und ihr sagen, dass Ihr Eurer Lehrerin nicht gehorcht und eine Klasse gestört habt. Geht!«

Egwene verharrte lange genug, um die Röcke zu glätten — wenn sie gehorchte, durfte sie dabei nicht den Anschein von Hast oder Eifer erwecken —, dann drückte sie sich an den beiden Aes Sedai vorbei und rauschte den Korridor entlang.

»Ich sagte lauft«, sagte Katerine scharf hinter ihr.

Ein Strom Luft traf ihr noch immer empfindliches Hinterteil. Akzeptiere den Schmerz. Ein weiterer Schlag. Trinke den Schmerz wie Luft. Ein dritter, hart genug, um sie stolpern zu lassen. Heiße den Schmerz willkommen.

»Lasst mich los, Jezrail«, knurrte Katerine.

»Das werde ich nicht tun«, erwiderte die andere Schwester mit einem starken tairenischen Akzent. »Ihr geht zu weit, Katerine. Ein Klaps oder zwei sind erlaubt, aber jede weitere Bestrafung ist Sache der Oberin. Beim Licht, wenn Ihr so weitermacht, wird sie nicht mehr laufen können, bevor sie bei Silviana ankommt.«

Katerine atmete schwer. »Also gut«, sagte sie schließlich.

»Aber sie kann Ungehorsam gegenüber einer Schwester der Liste ihrer Missetaten hinzufügen. Ich werde mich erkundigen, Egwene, also glaubt nicht, Ihr könntet das vergessen.«

Als sie das Arbeitszimmer betrat, hoben sich Silvianas Brauen überrascht. »So bald schon? Holt den Schuh aus dem Schrank, Kind, und dann sagt Ihr mir, was Ihr jetzt angestellt habt.«

Nach zwei weiteren Klassen und zwei weiteren Besuchen bei Silviana — sie weigerte sich, sich verspotten zu lassen, und wenn eine Aufgenommene nicht wollte, dass sie etwas besser tat, als die Aufgenommene selbst dazu in der Lage war, dann sollte die Frau sie eben nicht danach fragen — und dem festgesetzten Mittagstermin entschied die strenggesichtige Frau, dass sie jeden Tag mit einer Heilung beginnen sollte.

»Ansonsten habt Ihr bald zu viele Striemen, um geschlagen werden zu können, ohne dass es blutet. Aber glaubt nicht, dass das bedeutet, dass ich es Euch leicht mache. Wenn Ihr dreimal am Tag Geheilt werden müsst, schlage ich nur härter zu, um das wieder wettzumachen. Falls nötig, gehe ich zum Riemen oder dem Rohrstock über. Weil ich Euch den Kopf geraderücken werde, Kind. Das könnt Ihr mir glauben.«

Diese drei Klassen, die drei in Verlegenheit gebrachte Aufg enommene hinterließen, hatten ein anderes Resultat. Ihr Unterricht wurde geändert, nun gab es Einzelstunden bei Aes Sedai, was normalerweise den Aufgenommenen vorbehalten blieb. Das bedeutete, die langen, mit Wandteppichen gesäumten Spiralkorridore zu den Ajah-Quartieren hinaufzusteigen, wo Schwestern Wächtern gleich an den Eingängen standen. Und sie waren auch Wächter. Besucherinnen von anderen Ajahs waren nicht willkommen, um es höflich auszudrücken. Tatsächlich sah sie nie eine Aes Sedai in der Nähe der Quartiere anderer Ajahs.

Mit Ausnahme von Sitzenden sah sie auch nur selten Schwestern in den Korridoren außerhalb der Quartiere, außer in Gruppen; und dann trugen sie immer ihre Stolen, dicht gefolgt von ihren Behütern, aber das hier war nicht wie die Furcht, die das Lager außerhalb der Mauern ergriffen hatte. Hier waren es immer Schwestern derselben Ajah, die einhergingen, und wenn sich zwei Gruppen begegneten, dann schnitten sie sich, wenn sie sich nicht böse Blicke zuwarfen. Die Burg blieb selbst in der schlimmsten Sommerhitze kühl, aber die Luft schien fiebrig und kalt, wenn sich Schwestern verschiedener Ajahs zu nahe kamen. Selbst die Sitzenden, die sie erkannte, gingen schnell. Die wenigen, die sich bewusst wurden, wer sie war, schenkten ihr lange, musternde Blicke, aber die meisten erschienen in Gedanken versunken. Pevara Tazanovni, eine plumpe, hübsche Sitzende der Roten, lief fast jeden Tag in sie hinein — sie würde nicht zur Seite springen, nicht einmal für Sitzende —, aber Pevara eilte weiter, als würde sie es nicht bemerken. Ein anderes Mal tat Doesine Alwain, jungenhaft schlank, aber elegant gekleidet, das Gleiche, während sie in eine Unterhaltung mit einer anderen Gelben vertieft war. Keine von ihnen schenkte ihr einen zweiten Blick. Sie wünschte, sie hätte gewusst, wer die andere Gelbe war.

Sie kannte die Namen der zehn »Spitzel«, die Sheriam und die anderen in dem Versuch, Elaidas Position zu untergraben, in die Burg geschickt hatten, und sie hätte sehr gern mit ihnen Kontakt aufgenommen, aber sie kannte ihre Gesichter nicht, und nach ihnen zu fragen hätte nur die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Sie hoffte, eine von ihnen würde sie zur Seite nehmen oder ihr eine Nachricht zukommen lassen, aber das tat keine. Sie würde ihre Schlacht allein schlagen müssen, es sei denn, sie hörte etwas, das diesen Namen Gesichtern zuordnete.

Natürlich vernachlässigte sie Leane nicht. In ihrer zweiten Nacht in der Burg ging sie trotz ihrer tiefen Erschöpfung nach dem Essen hinunter zu den offenen Zellen. Dieses halbe Dutzend Räume im ersten Kellergeschoss diente dazu, Frauen festzuhalten, die die Macht lenken konnten, sie aber nicht einzukerkern. Jeder enthielt einen großen Käfig aus Eisenstangen, die von der Decke zum Steinboden ragten, um den herum vier Schritte Platz waren und Eisenkandelaber für Licht sorgten. Vor Leanes Zelle saßen zwei Braune auf Bänken an der Wand, begleitet von einem Behüter, einem breitschultrigen Mann mit attraktivem Gesicht und weißen Schläfen. Er schaute bei Egwenes Eintreten auf, dann konzentrierte er sich wieder darauf, seinen Dolch mit einem Schleifstein zu schärfen.

Eine der Braunen war Felaana Bevaine, eine schlanke Frau mit langem blonden Haar, das aussah, als würde sie es mehrmals am Tag bürsten. Sie schrieb etwas in ein mit Leder eingebundenes Notizbuch, das auf einem Schoßpult lag, und schaute kurz auf, um mit heiserer Stimme zu sagen: »Oh. Ihr seid das, oder? Nun, Silviana hat gesagt, Ihr dürft sie besuchen, Kind, aber gebt ihr nichts, ohne es vorher Dalevien oder mir zu zeigen, und macht keinen Ärger.« Sie senkte den Kopf sofort wieder über das Notizbuch. Dalevien, eine stämmige Frau mit grau durchsetztem, kurzen schwarzen Haar, schaute nicht davon auf, die Texte zweier Bücher zu vergleichen, die beide aufgeschlagen auf ihren Knien lagen. Das Licht Saidars umgab sie, und sie hielt eine Abschirmung um Leane aufrecht, aber es gab für sie keinen Grund, sie im Auge zu behalten, nachdem sie gewebt worden war.

Egwene verlor keine Zeit, zu dem Käfig zu eilen, die Hände durch die Gitterstäbe zu schieben und Leanes zu ergreifen. »Silviana hat mir gesagt, dass sie Euch endlich Eure Identität glauben«, sagte sie lachend, »aber ich habe nicht erwartet, Euch in einem solchen Luxus vorzufinden.«

Es war nur dann luxuriös, wenn man es mit den kleinen, finsteren Zellen verglich, in denen Schwestern festgehalten wurden, auf die ein Prozess wartete, wo es statt einer Matratze Stroh auf dem Boden und eine Decke nur dann gab, wenn man viel Glück hatte, aber Leanes Unterbringung erschien halbwegs komfortabel. Sie hatte ein schmales Bett, das weicher als die in den Novizinnenquartieren war, einen Stuhl mit Sprossenlehne und einem blauen, quastengeschmückten Kissen und einen Tisch, auf dem drei Bücher und ein Tablett mit den Resten ihres Abendessens lagen. Es gab sogar einen Waschständer, allerdings waren sowohl die weiße Wasserkanne wie die Waschschüssel angestoßen, und der Spiegel war blasig. Ein Paravent, durchsichtig genug, dass sie dahinter als Schatten erscheinen würde, verbarg den Nachttopf.

Auch Leane lachte. »Oh, ich bin sehr beliebt«, sagte sie lebhaft. Sogar ihre Pose erschien schmachtend, trotz des schlichten schwarzen Wollkleids bot sie das Bild einer typischen verführerischen Domani, aber die energische Stimme war ein Überbleibsel aus der Zeit, bevor sie sich entschieden hatte, sich auf die Weise neu zu erfinden, die sie wollte. »Ich hatte den ganzen Tag Besuch, von jeder Ajah außer der Roten. Selbst die Grünen wollten mich überzeugen, ihnen doch zu verraten, wie man Reist, und sie wollten mich hauptsächlich in die Finger bekommen, weil ich ›behaupte‹, jetzt eine Grüne zu sein.« Sie schauderte zu übertrieben, als dass es echt gewirkt hätte. »Das wäre genauso schlimm, als wieder bei Melare und Desala zu sein. Eine schreckliche Frau, diese Desala.« Ihr Lächeln verblasste wie Nebel in der Mittagssonne. »Sie haben mir erzählt, dass man Euch in Weiß gesteckt hat. Vermutlich immer noch besser als die Alternative. Sie geben Euch Spaltwurzel? Mir auch.«

Überrascht sah Egwene zu der Schwester, die die Abschirm ung hielt, und Leane schnaubte.

»Der Brauch. Wäre ich nicht abgeschirmt, könnte ich nicht mal eine Fliege zerquetschen, aber der Brauch schreibt vor, dass eine Frau in der offenen Zelle immer abgeschirmt werden muss. Aber Euch lassen sie einfach herumspazieren?«

»Nicht unbedingt«, sagte Egwene trocken. »Draußen wart en zwei Rote, um mich zu meinem Zimmer zu eskortieren und mich im Schlaf abzuschirmen.«

Leane seufzte. »Also. Ich stecke in einer Zelle, Ihr steht unter Beobachtung, und wird sind beide mit Spaltwurzeltee abgefüllt.« Sie warf einen Seitenblick auf die Braunen. Felaana konzentrierte sich noch immer auf ihre Notizen. Dalevien schlug bei beiden Büchern auf ihren Knien Seiten um und murmelte etwas Unverständliches. Der Behüter musste sich mit dem Dolch rasieren wollen, so scharf schliff er ihn. Seine Hauptaufmerksamkeit war jedoch auf die Tür gerichtet. Leane senkte die Stimme. »Und wann fliehen wir?«

»Gar nicht«, erwiderte Egwene und legte fast im Flüstert on ihre Gründe und ihren Plan dar, während sie die Schwestern unauffällig im Auge behielt. Sie erzählte Leane alles, was sie gesehen hatte. Und getan hatte. Es fiel schwer zu sagen, wie oft sie an diesem Tag geschlagen worden war und wie sie sich dabei benommen hatte, aber es war nötig, um die andere Frau davon zu überzeugen, dass man ihren Willen nicht brechen würde.

»Ich kann ja verstehen, dass ein Befreiungskommando nicht in Frage kommt, aber ich hatte gehofft…« In den Behüter kam Bewegung, und Leane verstummte, aber er steckte bloß den Dolch weg. Er verschränkte die Arme über der Brust, streckte die Beine aus und lehnte sich an die Wand, die Augen auf die Tür gerichtet. Er sah aus, als könnte er in einem Wimpernschlag auf den Füßen sein. »Laras hat mir einmal bei der Flucht geholfen«, fuhr sie leise fort, »aber ich weiß nicht, ob sie das noch einmal tun würde.« Sie schauderte, und diesmal lag darin nichts Gespieltes. Sie war gedämpft worden, als Laras ihr und Siuan bei der Flucht half. »Sie hat es sowieso mehr für Min als für Siuan und mich getan. Seid Ihr sicher, was Euren Plan betrifft? Silviana Brehon ist eine harte Frau. Gerecht, wie ich gehört habe, aber hart genug, um Eisen zu brechen. Seid Ihr Euch absolut sicher, Mutter?« Als Egwene es bestätigte, seufzte sie erneut.

»Nun, dann sind wir zwei Würmer, die an der Wurzel nagen, nicht wahr?« Es war keine Frage.

Sie besuchte Leane an jedem Abend, an dem die Erschöpfung sie nicht sofort nach dem Essen ins Bett zerrte, und fand sie überraschend heiter für eine Gefangene in einer Zelle. Leanes Besucherstrom hörte nicht auf, und sie brachte in jede Unterhaltung die Leckerbissen ein, die Egwene vorschlug. Diese Besucher konnten nicht die Bestrafung einer Aes Sedai anordnen, nicht mal einer in einer offenen Zelle, obwohl ein paar wütend genug wurden, um sich zu wünschen, sie könnten es; darüber hinaus trug es deutlich mehr Gewicht, wenn sie solche Dinge von einer Schwester hörten als von jemandem, den sie als Novizin betrachteten. Leane konnte sogar offen heraus debattieren, jedenfalls so lange, bis ihre Besucher einfach gingen. Aber wie sie berichtete, taten viele das nicht. Ein paar stimmten ihr zu. Zögerlich, vorsichtig, vielleicht was einen Punkt betraf und keinen anderen, aber sie stimmten zu. Fast genauso wichtig war — jedenfalls für Leane —, dass einige der Grünen entschieden, dass sie das Recht hatte, bei jeder gewünschten Ajah um Aufnahme zu bitten, sobald sie wieder eine Schwester war, da sie gedämpft worden und darum eine Zeit lang keine Aes Sedai gewesen war. Nicht alle, das keineswegs, aber »ein paar« waren besser als »keine«. Egwene fing langsam an zu glauben, dass Leane in ihrer Zelle mehr ausrichtete als sie, die sich frei bewegen konnte. Nun ja, frei in gewissem Sinne. Sie verspürte keinen Neid, das nicht. Sie taten hier eine wichtige Arbeit, und es spielte keine Rolle, wer von ihnen sie besser machte, solange sie nur erfolgte. Aber es gab Augenblicke, in denen es den Gang zu Silvianas Arbeitszimmer viel schwerer machte. Dennoch konnte sie Erfolge vorweisen. Gewissermaßen.

Da war dieser erste Nachmittag in Bennae Nalsads vollg estopftem Wohnzimmer. Überall stapelten sich Bücher auf den Bodenfliesen, und die Regalbretter waren voller Knochen und Schädel und präparierten Häuten von Tieren, Vögeln und Schlangen sowie ausgestopften Exemplaren von einigen kleineren Spezies; auf einem großen Bärenschädel hockte eine große braune Echse so reglos, dass man sie auch für ausgestopft hielt, bis sie blinzelte. An diesem ersten Nachmittag befahl ihr die Braune aus Schienar, eine erschöpfende Reihe an Geweben nach der anderen zu weben. Bennae saß auf einem hochlehnigen Stuhl an der Seite des braun geäderten Marmorkamins, Egwene mit entschiedenem Unbehagen auf der anderen. Man hatte sie nicht gebeten, sich zu setzen, aber Bennae hatte auch keine Einwände erhoben.

Egwene erschuf jedes gewünschte Gewebe, bis Bennae beil äufig nach dem Gewebe für das Schnelle Reisen fragte, und dann lächelte sie bloß und legte die Hände in den Schoß. Die Schwester lehnte sich zurück und zupfte an den dunkelbraunen Seidenröcken herum. Bennaes Augen waren blau und scharf, das dunkle Haar in dem Silbernetz mit vielen grauen Strähnen durchzogen. Zwei ihrer Finger wiesen Tintenflecken auf, ein weiterer saß auf ihrem Nasenflügel. Sie hielt eine Porz ellantasse mit Tee, aber Egwene hatte sie keinen angeboten.

»Ich glaube, es gibt nur noch wenig in der Macht, das Ihr lernen könnt, Kind, vor allem, wenn man Eure wundervollen Entdeckungen in Betracht zieht.« Egwene neigte den Kopf, akzeptierte das Kompliment. Manche dieser Dinge waren wirklich ihre Entdeckung, davon abgesehen spielte das jetzt wirklich keine Rolle mehr. »Aber das bedeutet nicht, dass es für Euch gar nichts mehr zu lernen gibt. Ihr habt ein paar Novizinnenklassen mitgemacht, bevor Ihr…« Die Braune bedachte Egwenes weißes Kleid mit einem Stirnrunzeln und räusperte sich. »Und weniger Lektionen als… nun, lassen wir das erst mal. Sagt mir, falls Ihr es wisst, welche Fehler hat Shein Chunla gemacht, die den Dritten Krieg vor Garens Wall auslöste? Was waren die Gründe für den Großen Winterkrieg zwischen Andor und Cairhien? Was hat die Weikinrebellion ausgelöst, und wie hat sie geendet? Geschichte scheint größtenteils das Studium von Kriegen zu sein, und unser Interesse richtet sich vornehmlich darauf, warum und wie sie entstanden und warum sie endeten. Viele große Kriege hätten nie stattgefunden, hätten die Leute die Fehler beachtet, die andere vor ihnen begingen. Nun?«

»Shein hat keine Fehler gemacht«, sagte Egwene langsam, »aber Ihr habt Recht, ich muss noch viel lernen. Ich kenne nicht einmal die Namen dieser anderen Kriege.« Sie stand auf und goss sich eine Tasse Tee aus der Silberkanne auf dem Beistelltisch ein. Abgesehen von dem Silbertablett befanden sich noch ein ausgestopfter Luchs und ein Schlangenschädel auf dem Tisch. Und der war so groß wie der Totenschädel eines Mannes!

Bennae runzelte die Stirn, aber nicht wegen des Tees. Das schien sie kaum zu bemerken. »Wie kommt Ihr darauf, dass Shein keine Fehler gemacht hat, Kind? Sie hat die Situation so schlimm verpfuscht, wie es schlimmer nicht ging.«

»Lange vor dem Dritten Krieg an Garens Wall«, sagte Egwene und kehrte zu ihrem Stuhl zurück, »hat Shein genau das getan, was der Saal ihr befohlen hatte, und nichts, was er nicht gesagt hatte.« Auf anderen Gebieten der Geschichte mochte sie ihre Lücken haben, aber Siuan hatte sie ausgiebig in den Fehlern anderer Amyrlins unterrichtet. Und vor allem diese Frage ermöglichte ihr eine Öffnung. Sich ganz normal hinzusetzen kostete eine Anstrengung.

»Wovon redet Ihr da?«

»Sie hat versucht, die Burg mit eiserner Faust zu regieren, hat niemals Kompromisse gemacht, hat jede Opposition rücksichtslos unterdrückt. Der Saal wurde das leid, aber sie konnten sich nicht auf einen Ersatz einigen, und statt sie abzusetzen, taten sie etwas viel Schlimmeres. Sie beließen sie in ihrem Amt und zwangen ihr eine Buße auf für jedes Mal, wenn sie einen Befehl geben wollte. Egal was für einen Befehl.« Ihr war klar, dass sie klang, als wäre sie hier die Lehrerin, aber sie musste es loswerden. Es fiel schwer, nicht das Gewicht auf dem harten Holz des Stuhlsitzes zu verlagern. Den Schmerz willkommen zu heißen. »Der Saal führte Shein und die Burg. Aber er handhabte vieles sehr schlecht, vor allem, weil jede Ajah ihre eigenen Ziele hatte und es keine Hand gab, die sie auf ein Ziel für die Burg hinlenkte. Sheins Amtszeit zeichnete sich durch Kriege auf der ganzen Welt aus. Schließlich waren die Schwestern selbst die Fehler des Saals leid. In einer der sechs Meutereien in der Geschichte der Burg wurden Shein und der Saal gestürzt. Ich weiß, dass sie angeblich eines natürlichen Todes in der Burg starb, aber in Wirklichkeit wurde sie einundfünfzig Jahre später im Exil in ihrem Bett erstickt, nachdem man eine Verschwörung entdeckte, sie wieder auf den Amyrlin-Sitz zu setzen.«

»Meutereien?«, sagte Bennae ungläubig. »Sechs Meuter eien? Ins Exil geschickt und erstickt?«

»Es steht alles in der geheimen Chronik im Dreizehnten Depositorium. Obwohl ich Euch das wohl nicht hätte erzählen dürfen.« Egwene nahm einen Schluck Tee und verzog das Gesicht. Er war fast faul. Kein Wunder, dass Bennae ihren nicht angerührt hatte.

»Geheime Chroniken? Ein Dreizehntes Depositorium? Falls es so etwas geben sollte, und ich glaube, davon wüsste ich, warum hättet Ihr mir das nicht erzählen dürfen?«

»Weil dem Gesetz zufolge nur die Amyrlin, die Behüterin und die Sitzenden von der Existenz der geheimen Chroniken wie auch von ihrem Inhalt wissen dürfen. Sie und die Bibliothekare, die die Unterlagen führen. Selbst das Gesetz ist Teil des Dreizehnten Depositoriums, also hätte ich Euch das wohl auch nicht sagen dürfen. Aber wenn Ihr irgendwie dazu Zugang finden solltet oder jemanden fragt, der Bescheid weiß und es Euch erzählt, dann werdet Ihr sehen, dass ich Recht habe. In der Geschichte der Burg haben sich die Schwestern sechsmal erhoben, wenn die Amyrlin auf gefährliche Weise zersetzend oder erschreckend inkompetent war und der Saal dagegen nichts unternommen hat.« So. Sie hätte die Saat nicht mit einer Schaufel tiefer pflanzen können. Oder sie mit einem Hammer einhämmern können.

Bennae starrte sie einen langen Augenblick an, dann hob sie die Tasse an die Lippen. Sie spuckte, sobald der Tee ihre Zunge berührt hatte, und fing an, die Flecken auf ihrem Kleid mit einem zarten Spitzentaschentuch abzutupfen.

»Der Große Winterkrieg«, sagte sie heiser, nachdem sie die Tasse neben dem Stuhl auf dem Boden abgestellt hatte, »begann Ende sechshunderteinundsiebzig…« Sie erwähnte weder geheime Chroniken noch Meutereien erneut, aber das war auch gar nicht nötig. Mehr als einmal in ihrer Lektion verlor sie den Faden, starrte an Egwene vorbei ins Leere, und Egwene hatte nicht den geringsten Zweifel, worüber sie nachdachte.

Später an diesem Tag sagte Lirene Doirellin: »Ja, da hat Elaida einen entscheidenden Fehler gemacht«, und marschierte vor dem Kamin ihres Wohnzimmers auf und ab. Die cairhienische Schwester war nur ein Stück kleiner als Egwene, aber ihr gehetzter Blick erweckte den Eindruck eines gejagten Tieres, ein Spatz, der Angst vor Katzen hatte und fest davon überzeugt war, dass es in der Nähe viele Katzen gab. Ihre dunk elgrünen Röcke wiesen vier diskrete rote Schlitze auf, obwohl sie einst eine Sitzende gewesen war. »Ihre Proklamation, und dann ihr Versuch, ihn entführen zu lassen, man hätte den jungen al’Thor kaum erfolgreicher dazu bringen können, sich so weit von der Burg fernzuhalten, wie er nur kann. Oh, sie hat Fehler gemacht, das hat Elaida.«

Egwene wollte nach Rand und der Entführung fragen — eine Entführung? —, aber Lirene gab ihr keine Gelegenheit, während sie weiter Elaidas viele Fehler aufzählte und dabei unablässig auf und ab ging, wobei ihre Blicke umherhuschten und sie unbewusst die Hände rang. Egwene war sich nicht sicher, ob man diese Unterrichtsstunde als Erfolg bezeichnen konnte, aber immerhin war es kein Reinfall gewesen. Und sie hatte etwas erfahren.

Natürlich verliefen nicht alle ihre Vorstöße so gut.

»Das hier ist keine Diskussion«, sagte Pritalle Nerbaijan. Ihr Ton war völlig ruhig, aber in ihren schräg stehenden grünen Augen lag ein wildes Funkeln. Ihre Gemächer sahen eher wie die einer Grünen als einer Gelben aus; an den Wänden hingen mehrere blanke Schwerter und ein seidener Wandbehang, auf dem Männer gegen Trollocs kämpften. Sie schloss die Finger um den Dolchgriff in ihrem gewebten Silbergürtel. Es handelte sich nicht um ein schlichtes Gürtelmesser; die Dolchklinge war fast einen Fuß lang, und ein Smaragd krönte den Knauf. Warum sie eingewilligt hatte, Egwene Unterricht zu geben, blieb ein Geheimnis, wo sie das Unterrichten doch so verabscheute. Vielleicht, weil es sich um Egwene handelte. »Ihr seid hier für eine Lektion in den Grenzen der Macht. Eine grundsätzliche Lektion, wie sie für eine Novizin passend ist.«

Egwene wollte auf dem dreibeinigen Hocker herumruts chen, den ihr Pritalle als Sitzgelegenheit gegeben hatte, aber stattdessen konzentrierte sie sich auf das Brennen, um es willkommen zu heißen. An diesem Tag hatte sie Silviana bereits drei Besuche abgestattet, und sie konnte einen vierten herannahen fühlen, dabei dauerte es noch eine Stunde bis zum Mittagessen. »Ich habe lediglich gesagt, wenn Shemerin von einer Aes Sedai zur Aufgenommenen degradiert werden konnte, dann hat Elaidas Macht keine Grenzen. Wenigstens glaubt sie das. Aber wenn Ihr das so akzeptiert, dann hat sie es wirklich nicht.«

Pritalles Griff um den Dolch wurde so fest, dass sich die Knöchel weiß verfärbten, aber sie schien es nicht zu bemerken. »Da Ihr es besser zu wissen vermeint als ich«, sagte sie kühl, »dürft Ihr Silviana besuchen, wenn wir hier fertig sind.« Vielleicht ein Teilerfolg. Egwene glaubte nicht, dass Pritalles Zorn auf sie gerichtet war.

»Ich erwarte von Euch anständiges Benehmen«, sagte Serancha Colvine an einem anderen Tag zu ihr. Das Wort, um die Graue zu beschreiben, lautete »verkniffen«. Ein verkniffener Mund und eine verkniffene Nase, die ständig irgendeinen Gestank zu riechen schien. Selbst ihre hellblauen Augen schienen vor Missbilligung verkniffen zu sein. Sonst hätte man sie als durchaus hübsch bezeichnen können. »Habt Ihr verstanden?«

»Ich verstehe«, sagte Egwene und setzte sich auf den Hocker, der vor Seranchas hochlehnigen Stuhl gestellt worden war. Der Morgen war kühl, im Steinkamin brannte ein kleines Feuer. Trink den Schmerz. Heiße den Schmerz willkommen.

»Eine falsche Antwort«, sagte Serancha. »Die richtige Antwort wären ein Knicks und ein ›Ich verstehe, Serancha Sedai‹ gewesen. Ich habe vor, eine Liste Eurer Fehler zu machen, die Ihr dann zu Silviana tragt, sobald wir fertig sind. Habt Ihr verstanden, Kind?«

»Ich verstehe«, sagte Egwene ohne aufzustehen. Aes-Sedai-Gelassenheit oder nicht, Seranchas Gesicht lief knallrot an. Am Ende umfasste ihre Liste vier eng beschriebene Seiten. Sie verbrachte mehr Zeit mit Schreiben als mit dem Unterricht! Kein Erfolg.

Und dann war da Adelorna Bastine. Die Grüne aus Saldaea schaffte es, erhaben zu wirken, obwohl sie gertenschlank und nicht größer als Egwene war, und sie hatte eine majestätis ehe, befehlsgewohnte Art, die einschüchternd hätte sein können, hätte Egwene das zugelassen. »Wie ich höre, macht Ihr Ärger«, sagte sie und nahm eine mit Elfenbein verstärkte Bürste von einem kleinen Intarsientisch neben ihrem Stuhl.

»Wenn Ihr bei mir Ärger machen wollt, werdet Ihr lernen, dass ich hiermit umgehen kann.«

Egwene lernte es, ohne sich anstrengen zu müssen. Dreimal hing sie über Adelornas Schoß, und die Frau wusste in der Tat, was man mit einer Haarbürste noch tun konnte, außer sich das Haar zu bürsten. Das ließ eine Unterrichtsstunde zu zweien werden.

»Darf ich jetzt gehen?«, fragte Egwene schließlich und trocknete sich so gut sie konnte die Wangen mit einem Taschentuch, das bereits feucht war. Atme den Schmerz ein. Nimm das Feuer in dich auf. »Ich soll Wasser für die Roten noch oben bringen, und ich möchte nicht zu spät kommen.«

Adelorna sah ihre Bürste stirnrunzelnd an, bevor sie sie wieder auf dem Tisch ablegte, den Egwene zweimal mit ihren strampelnden Beinen umgeworfen hatte. Dann betrachtete sie Egwene stirnrunzelnd, musterte sie, als würde sie versuchen, ihr in den Kopf zu sehen. »Ich wünschte, Cadsuane wäre in der Burg«, murmelte sie. »Ich glaube, sie würde Euch als Herausforderung betrachten.« In ihrer Stimme schien ein Hauch von Respekt zu liegen.

Dieser Tag stellte auf gewisse Weise einen Wendepunkt dar. Zum einen entschied Silviana, dass Egwene zweimal täglich Geheilt werden sollte.

»Ihr scheint es darauf anzulegen, geschlagen zu werden, Kind. Das ist die pure Sturheit, und ich werde das nicht dulden. Ihr werdet Euch der Realität stellen. Bei Eurem nächsten Besuch werden wir herausfinden, wie Euch der Riemen gefällt.« Die Oberin faltete Egwenes Unterhemd auf ihrem Rücken zurecht, dann hielt sie inne. »Lächelt Ihr etwa? Habe ich etwas Witziges gesagt?«

»Mir ist gerade etwas Wichtiges eingefallen«, erwiderte Egwene. »Nichts von Bedeutung.« Jedenfalls nicht für Silv iana von Bedeutung. Sie hatte erkannt, wie man den Schmerz willkommen hieß. Sie führte einen Krieg, nicht eine einzelne Schlacht, und jedes Mal, wenn sie geschlagen wurde, jeder Gang zu Silviana war ein Zeichen, dass sie eine weitere Schlacht geschlagen hatte und unnachgiebig geblieben war. Der Schmerz war ein Orden. Sie schrie und strampelte so wild wie immer während der Bestrafung, aber als sie hinterher ihre Wangen trocknete, summte sie leise vor sich hin. Es war leicht, einen Orden in Empfang zu nehmen.

Das Verhalten der Novizinnen begann sich am zweiten Tag ihrer Gefangenschaft zu verändern. Es hatte den Anschein, dass Nicola und Areina — Areina arbeitete in den Ställen und besuchte Nicola oft; sie schienen sich so nahe zu stehen, dass sich Egwene fragte, ob sie wohl zu Kopfkissenfreundinnen geworden waren, so wie sie immer die Köpfe zusammensteckten und sich geheimnisvoll zulächelten — die anderen mit Geschichten über sie erfreut hatten. Sehr übertriebenen Geschichten. Die beiden Frauen hatten sie wie die Verkörperung jeder legendären Schwester aus den Geschichtsbüchern erscheinen lassen, einschließlich Birgitte Silberbogen und Amaresu höchstpersönlich, die das Schwert der Sonne in die Schlacht führte. Die eine Hälfte schien Ehrfurcht vor ihr zu haben, die andere war aus irgendeinem Grund wütend auf sie oder schlichtweg verächtlich. Dummerweise versuchten einige, ihr Verhalten in den Klassen nachzuahmen, aber eine Flut von Besuchen bei Silviana machte dem ein schnelles Ende. Beim Mittagessen des dritten Tages aßen fast zwei Dutzend Novizinnen mit schamroten Gesichtern im Stehen, Nicola unter ihnen. Und überraschenderweise auch Alvistere. Die Zahl fiel beim Abendessen auf sieben, und am vierten Tag waren es nur Nicola und die Cairhienerin. Und das war dann das Ende davon.

Egwene ging davon aus, dass es einige ihr übelnehmen würden, dass sie sich auch weiterhin nicht beugte, während sie so schnell wieder auf den richtigen Weg geführt worden waren, aber ganz im Gegenteil schien es die Zahl zu mind ern, die wütend oder verächtlich waren, und den Respekt zu steigern. Niemand jedoch wollte ihre Freundin werden, und das war auch richtig so. Ob sie nun ein weißes Kleid trug oder nicht, sie war Aes Sedai, und es schickte sich nicht für eine Aes Sedai, sich mit einer Novizin anzufreunden. Das Risiko war viel zu hoch, dass das dem Mädchen zu Kopf stieg und es deswegen Ärger bekam. Aber Novizinnen kamen zu ihr, um sie um Rat zu fragen oder um Hilfe bei ihren Lektionen zu bitten. Zuerst nur eine Hand voll, aber die Zahl wuchs täglich. Sie war bereit, ihnen beim Lernen zu helfen, für gewöhnlich reichte es, das Selbstvertrauen eines Mädchens zu stärken oder eine junge Frau davon zu überzeugen, dass Vorsicht angeraten war, oder sie geduldig durch die Stadien eines schwierigen Gewebes zu führen. Novizinnen war es verboten, ohne Aes Sedai oder Aufgenommene die Macht zu lenken, auch wenn sie es fast alle insgeheim trotzdem taten, aber sie war eine Schwester. Allerdings weigerte sie sich, mehr als einer gleichzeitig zu helfen. Gruppen würden sich herumsprechen, und sie würde nicht die Einzige sein, die man zu Silviana schickte. Sie würde diesen Gang so oft wie nötig machen, aber sie wollte ihn nicht anderen einbrocken. Was den Rat anging… Da die Novizinnen streng von Männern ferngehalten wurden, fiel das leicht. Obwohl durch Kopfkissenfreundinnen verursachte Spannungen genauso schlimm wie alles sein konnten, was Männer je anrichteten.

Als sie eines Abends von einer Sitzung bei Silviana zurückkehrte, bekam sie zufällig mit, wie Nicola zu zwei Novizinnen sprach, die kaum älter als fünfzehn oder sechzehn sein konnten. Egwene konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, einmal so jung gewesen zu sein. Es schien in einem anderen Leben gewesen zu sein. Marah war eine stämmige Murandianerin mit durchtriebenen blauen Augen, Namene eine große, gertenschlanke Domani, die ununterbrochen kicherte.

»Fragt die Mutter«, sagte Nicola. Ein paar der Novizinnen hatten angefangen, Egwene so zu nennen, allerdings nicht in Hörweite von Leuten, die kein Weiß trugen. Sie waren leichtsinnig, aber nicht dumm. »Sie ist immer bereit, einen Rat zu geben.«

Namene kicherte nervös. »Ich will sie nicht belästigen.«

»Außerdem«, sagte Marah, »sagen die anderen, dass sie immer dieselben Ratschläge gibt.«

»Und es sind gute Ratschläge.« Nicola hielt eine Hand hoch, um an den Fingern abzuzählen. »Gehorcht den Aes Sedai. Gehorcht den Aufgenommenen! Arbeitet hart. Und dann arbeitet härter.«

Egwene ging zu ihrem Zimmer weiter und lächelte. Als offizielle Amyrlin hatte sie es nicht geschafft, Nicola ein vernünftiges Benehmen beizubringen, aber in der Maskerade einer Novizin war es ihr anscheinend nun doch gelungen. Bemerkenswert.

Es gab noch etwas, das sie für sie tun konnte: sie trösten.

So unglaublich das zuerst erschienen war, manchmal veränderte sich das Innere der Burg. Leute verliefen sich auf dem Weg zu Räumen, in denen sie dutzende Male gewesen waren. Frauen wurden gesehen, die aus Wänden kamen oder in ihnen verschwanden, oft in altmodischen Kleidern, manchmal in bizarren Aufmachungen, Gewänder, die wie grellbunte Stoffbahnen erschienen, die man um den Körper gewunden hatte, bestickte knöchellange Wappenröcke über weiten Hosen und noch seltsamere Dinge. Beim Licht, wann konnte eine Frau ein Kleid getragen haben wollen, das ihren Busen vollständig entblößte? Egwene konnte solche Dinge in Tel’aran’rhiod mit Siuan besprechen, darum wusste sie, dass dies Zeichen des sich nähernden Tarmon Gai’don waren. Ein unerfreulicher Gedanke, aber daran konnte man nichts ändern. Was war, das war, und es war ja nicht so, als wäre nicht Rand selbst ein Bote der Letzten Schlacht. Auch einige der Schwestern in der Burg mussten gewusst haben, was es bedeutete, aber sie waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie sich nicht die Mühe machten, Novizinnen zu trösten, die vor Angst weinten. Egwene tat es.

»Die Welt ist voller seltsamer Wunder«, sagte sie zu Coride, einem hellblonden Mädchen, das bäuchlings auf dem Bett lag und heulte. Nur ein Jahr jünger als sie selbst, war Coride noch definitiv ein Mädchen, obwohl sie sich schon anderthalb Jahre in der Burg befand. »Warum sollte es so überraschend sein, wenn einige dieser Wunder in der Weißen Burg erscheinen? Was gäbe es denn für einen besseren Ort?« Den Mädchen gegenüber erwähnte sie die Letzte Schlacht nicht. Das würde wohl kaum ein Trost sein.

»Aber sie ist in der Wand verschwunden!«, schluchzte Coride und hob den Kopf. Ihr Gesicht war rot und fleckig, ihre Wangen glitzerten feucht. »Eine Wand! Und dann konnte keine von ihnen das Klassenzimmer finden, und Pedra auch nicht, und sie wurde wütend auf uns. Pedra wird nie wütend. Auch sie hatte Angst!«

»Ich wette, Pedra hat nicht angefangen zu weinen.«

Egwene setzte sich auf den Bettrand und war erfreut, dass sie nicht zusammenzuckte. Novizinnenmatratzen waren nicht bekannt für ihre Weichheit. »Die Toten können den Lebenden nichts antun, Coride. Sie können uns nicht berühren. Sie scheinen uns nicht einmal wahrzunehmen. Davon abgesehen, haben sie hier in der Burg gelebt oder waren Diener. Das war genauso ihr Zuhause, wie es Eures ist. Und wenn die Zimmer oder Korridore nicht dort sind, wo sie sein sollen, dann müsst Ihr nur daran denken, dass die Burg ein Ort der Wunder ist. Denkt daran, und es wird Euch keine Angst machen.«

Egwene kam das schwach vor, aber Coride wischte sich die Augen und schwor, sie würde nie wieder Angst haben. Unglücklicherweise gab es zweihundertundzwei wie sie, die sich nicht alle so einfach beruhigen ließen. Es machte Egwene noch wütender auf die Schwestern in der Burg, als sie ohnehin schon war.

Ihre Tage bestanden nicht nur aus Unterricht, dem Trösten von Novizinnen und von der Oberin bestraft zu werden, auch wenn das Letztere einen unerfreulich großen Bestandteil eines jeden Tages in Anspruch nahm. Silviana hatte Recht behalten, ihr blieb nicht viel Freizeit. Novizinnen mussten immer arbeiten. Oft waren es überflüssige Tätigkeiten, da die Burg über tausend Diener und Dienerinnen hatte, ohne die Tagelöhner mitzuzählen, aber körperliche Arbeit half, den Charakter zu formen; diese Ansicht hatte die Burg schon immer vertreten. Außerdem half es angeblich, die Novizinnen so müde zu halten, dass sie nicht an Männer dachten. Sie bekam allerdings wesentlich mehr Arbeit als andere Novizinnen zugeteilt. Manche von Schwestern, die sie als Ausreißerin betrachteten, andere von Silviana in der Hoffnung, dass die Müdigkeit ihre »rebellische Seite« dämpfte.

Täglich schrubbte sie nach irgendwelchen Mahlzeiten schmutzige Töpfe im Arbeitsraum neben der Hauptküche. Gelegentlich steckte Laras den Kopf durch die Tür, aber sie sagte kein Wort. Und sie gebrauchte auch nie ihren langen Löffel, selbst wenn Egwene ihr Kreuz massierte, das vom Eintauchen in den großen Kessel schmerzte, statt zu scheuern. Laras verteilte großzügig Klapse an Küchenjungen und Jungköche, die Egwene einen Streich spielen wollten, wie es üblich bei Novizinnen war, die man an die Küchenarbeit schickte. Angeblich tat sie das, weil, wie sie lautstark stets verkündete, wenn sie einen Schlag austeilte, sie genug Zeit zum Spielen hatten, wenn sie nicht arbeiten mussten, aber Egwene fiel auf, dass Laras nicht so schnell war, wenn man einer echten Novizin in den Hintern kniff oder ihr eine Tasse kaltes Wasser von hinten in den Kragen goss. Anscheinend hatte sie eine Art Verbündete. Wenn sie bloß gewusst hätte, wie sie sie benutzen könnte.

Sie schleppte Wassereimer an den Enden einer Tragestange über ihren Schultern in die Küche, das Novizinnenquartier, das Aufgenommenenquartier und ganz nach oben in die Quartiere der Ajahs. Sie brachte Mahlzeiten in die Gemächer der Schwestern, harkte Gartenwege, jätete Unkraut, erledigte Botengänge, diente Sitzenden, kehrte Böden, wischte Böden auf, schrubbte Böden auf Händen und Knien, und das war nur ein Teil der Liste. Sie drückte sich nie vor diesen Arbeiten, und das nicht nur, weil sie niemandem Grund zu der Behauptung geben wollte, sie sei faul. Auf gewisse Weise betrachtete sie sie als Buße dafür, dass sie sich nicht vernünftig vorbereitet hatte, bevor sie die Hafenkette in Cuendillar verwandelte. Bußen mussten mit Würde vollzogen werden. Jedenfalls so viel Würde, wie man aufbringen konnte, wenn man auf allen vieren den Boden schrubbte.

Immerhin gaben ihr die Besuche im Quartier der Aufg enommenen die Gelegenheit, in Erfahrung zu bringen, was sie von ihr hielten. In der Burg befanden sich einunddreißig Aufgenommene, aber ständig unterrichteten welche von ihnen Novizinnen und hatten selbst Unterricht, also fand sie selten mehr als zehn oder zwölf in ihren Zimmern um den neunstöckigen Schacht, der einen kleinen Garten umgab. Aber die Nachricht ihrer Ankunft schien sich immer schnell zu verbreiten, und ihr mangelte es nie an Publikum. Zuerst versuchten viele von ihnen, sie mit Befehlen zu überfordern, vor allem Mair, eine pummelige, blauäugige Arafelianerin, und Asseil, eine schlanke Tarabonerin mit blondem Haar und braunen Augen. Sie waren Novizinnen gewesen, als sie damals in die Burg gekommen war, und waren eifersüchtig auf sie, weil sie so schnell zur Aufgenommenen geworden war. Bei ihnen war jeder zweite Satz »holt dies« oder »tragt das«. Für sie alle war sie die »Novizin«, die so viel Ärger gemacht hatte, die »Novizin«, die sich für den Amyrlin-Sitz hielt. Sie trug ohne Widerworte Wassereimer, bis ihr Rücken schmerzte, aber sie weigerte sich, ihre Befehle zu befolgen. Was ihr natürlich mehr Besuche bei der Oberin einbrachte. Aber im Laufe der Zeit zeigten ihre ständigen Besuche in Silvianas Arbeitszimmer keine Wirkung, und diese Flut der Befehle ebbte ab und versiegte dann ganz. Selbst Asseil und Mair hatten nicht gemein sein wollen, sondern wollten sich nur so verhalten, wie sie glaubten, dass es von ihnen unter diesen Umständen erwartet wurde, und sie wussten nicht, wie sie mit Egwene umgehen sollten.

Einige der Aufgenommenen zeigten Furcht wegen der wandelnden Toten und den Veränderungen im Lageplan der Burg, und wann immer Egwene ein bleiches Gesicht oder tränenerfüllte Augen sah, sagte sie das Gleiche wie bei den Novizinnen. Sie sprach die Frau nie direkt an, was möglicherweise nur zu sturen Reaktionen geführt hätte, sondern tat so, als würde sie mit sich selbst sprechen. Es funktionierte bei den Aufgenommenen genauso gut wie bei den Novizinnen. Viele zuckten zusammen, wenn sie anfing, oder öffneten den Mund, als wollten sie ihr befehlen, still zu sein, aber keine tat es, und sie hinterließ stets nachdenkliche Gesichter. Die Aufgenommenen traten auch weiterhin auf die von steinernen Geländern gesäumten Galerien, aber sie sahen ihr stumm zu, als würden sie sich fragen, wer sie war. Irgendwann würde sie ihnen das beibringen, ihnen und den Schwestern.

Wenn man Sitzende und Schwestern bediente, wurde eine Frau in Weiß, die stumm in der Ecke stand, schnell zu einem Teil des Inventars, selbst wenn sie berüchtigt war. Wenn man sie bemerkte, änderten sich die Unterhaltungen, aber sie schnappte vieles auf, oft Pläne, sich für Beleidigungen anderer Ajahs zu rächen. Seltsamerweise schienen die meisten Schwestern die anderen Ajahs in der Burg mehr als ihre Feinde anzusehen als die Schwestern im Lager vor der Stadt, und die Sitzenden waren da nicht viel besser. Es ließ in Egwene das Verlangen aufsteigen, sie zu ohrfeigen. Sicher, es war ein gutes Zeichen für die späteren Beziehungen, wenn die anderen Schwestern wieder in die Burg eingezogen waren, trotzdem…

Sie schnappte auch andere Dinge auf. Das unglaubliche Desaster bei einer Expedition, die man gegen die Schwarze Burg geschickt hatte. Einige der Schwestern schienen es nicht zu glauben, und doch versuchten sie sich anscheinend selbst davon zu überzeugen, dass es nicht geschehen sein konnte. Andere Schwestern, die nach einer großen Schlacht in Gefangenschaft geraten und irgendwie gezwungen worden waren, Rand die Treue zu schwören. Davon hatte sie bereits gerüchteweise zuvor gehört, und es gefiel ihr genauso wenig wie Schwestern, die von Asha’man den Bund aufgezwungen bekommen hatten. Ta’veren oder der Wiedergeborene Drache zu sein war keine Entschuldigung. Noch nie zuvor hatte eine Aes Sedai einem Mann die Treue geschworen. Die Sitzenden und Schwestern stritten sich darum, wer daran schuld war, und Rand und die Asha’man standen ganz oben auf der Liste. Aber ein Name tauchte immer wieder auf. Elaida do Avriny a’Roihan. Sie sprachen auch über Rand, wie man ihn vor Tarmon Gai’don aufspüren sollte. Sie wussten, dass es herannahte, trotz ihres Versagens, die Novizinnen und Aufgenommenen zu beruhigen, und sie wollten ihn, koste es, was es wolle, in ihre Gewalt bekommen.

Manchmal riskierte sie eine Bemerkung, erwähnte, dass man Shemerin gegen alle Bräuche die Stola abgenommen hatte oder dass Elaidas Edikt in Bezug auf Rand die beste Methode auf der ganzen Welt gewesen war, dass er sich vehement wehrte. Sie zeigte Mitgefühl für die von den Asha’man gefangen genommenen Schwestern oder die von den Quellen von Dumai — und ließ Elaidas Namen fallen — oder bedauerte die Schlamperei, die dazu führte, dass auf den einst makellosen Straßen von Tar Valon der Müll verfaulte. Da brauchte man Elaidas Namen nicht zu erwähnen; jeder wusste, wer für Tar Valon verantwortlich war. Manchmal brachten ihr diese Bemerkungen die nächsten Besuche bei Silviana ein und noch mehr Arbeiten, aber überraschend oft auch nicht. Sie merkte sich die Schwestern, die ihr bloß befahlen, den Mund zu halten. Oder, was noch besser war, gar nichts sagten. Manche nickten sogar beipflichtend, bevor sie sich wieder unter Kontrolle brachten.

Manche dieser Arbeiten führten zu interessanten Begegn ungen.

Am Morgen des zweiten Tages ihres Aufenthalts in der Burg fischte sie mit einem langstieligen Rechen Schmutz aus den Teichen des Wassergartens. In der Nacht hatte es stark geregnet, und der Sturmwind hatte Blätter und Gras zu den hellgrünen Seerosen und den sprießenden Schwertlilien in den Teichen geweht, und sogar einen verendeten Spatz, den sie in einem der Blumenbeete begrub. Zwei Rote standen auf einer der bogenförmigen Teichbrücken, lehnten sich auf die Steinbrüstung und beobachteten sie und die Fische, die in roten, goldenen und weißen Schwärmen unter ihnen hindurchflitzten. Ein halbes Dutzend Krähen schössen aus einem Gebüsch und flogen stumm nach Norden. Krähen! Das Burggelände sollte angeblich gegen Krähen und Raben abgeschirmt sein. Die Roten schienen sie nicht gesehen zu haben.

Egwene hockte neben einem Teich auf den Fersen und wusch sich den Schmutz von den Händen, nachdem sie den armen Vogel begraben hatte, als Alviarin auftauchte, die mit weißen Fransen besetzte Stola fest um den Körper gewickelt, als wäre der Morgen noch immer windig, statt hell und freundlich. Das war jetzt das dritte Mal, dass sie Alviarin sah, und jedes Mal war sie allein und nicht in Gesellschaft anderer Weißer gewesen. Dabei hatte sie in den Gängen Gruppen aus Weißen gesehen. War das ein Hinweis? Wenn dem so war, verstand sie ihn nicht, es sei denn, Alviarin würde aus irgendeinem Grund von ihrer eigenen Ajah geschnitten. Sicherlich war die Fäulnis noch nicht so tief eingedrungen.

Alviarin warf den Roten einen Blick zu und ging dann auf dem Kiesweg zwischen den Teichen auf Egwene zu. »Ihr seid tief gefallen«, sagte sie, als sie nahe heran war. »Und Ihr müsst es deutlich spüren.«

Egwene richtete sich auf und trocknete die Hände an den Röcken ab, dann hob sie den Rechen auf. »Da bin ich nicht die Einzige.« Sie hatte vor der Morgendämmerung eine weitere Sitzung bei Silviana gehabt, und beim Verlassen des Arbeitszimmers hatte Alviarin wieder vor der Tür gewartet. Für Alviarin war das ein tägliches Ritual, und es war das Gespräch im Novizinnenquartier, und jeder spekulierte über die Gründe dafür. »Meine Mutter hat immer gesagt, weine nicht über Dinge, die nicht geflickt werden können. Das scheint ein guter Rat unter diesen Umständen.«

Rote Flecken tauchten auf Alviarins Wangen auf. »Aber ihr scheint viel zu weinen. Sogar endlos, wie man so hört. Ihr würdet sicherlich fliehen, wenn Ihr könntet.«

Egwene fing ein weiteres Blatt und schüttelte es über dem Holzeimer voller feuchter Blätter zu ihren Füßen ab. »Eure Loyalität zu Elaida ist nicht sehr stark, oder?«

»Wie kommt Ihr darauf?«, sagte Alviarin misstrauisch. Nach einem Blick auf die Roten, die sich jetzt mehr für die Fische als für Egwene zu interessieren schienen, trat sie noch näher heran und lud zu gesenktem Tonfall ein.

Egwene fischte einen langen Grashalm heraus, der den ganzen weiten Weg von den Ebenen jenseits des Flusses gekommen sein musste. Sollte sie den Brief erwähnen, den diese Frau Rand geschrieben und in dem sie ihm praktisch die Weiße Burg zu Füßen gelegt hatte? Nein, diese Information würde sich vielleicht als nützlich erweisen, aber es schien eines jener Dinge zu sein, die man nur einmal benutzen konnte. »Sie hat Euch die Behüterinnenstola weggenommen und Eure Buße angeordnet. Das fördert kaum die Loyalität.«

Alviarins Gesicht blieb ausdruckslos, aber ihre Schultern entspannten sich sichtlich. Aes Sedai ließen sich nur selten so viel anmerken. Sie musste unter phänomenalem Druck stehen, um sich so wenig unter Kontrolle zu haben. Sie warf den Roten noch einen schnellen Blick zu. »Denkt über Eure Situation nach«, sagte sie beinahe flüsternd. »Wenn Ihr fliehen wollt, nun, vielleicht findet Ihr ja eine Möglichkeit.«

»Ich bin mit meiner Situation zufrieden«, sagte Egwene.

Alviarins Brauen schössen überrascht nach oben, aber nach einem weiteren Blick auf die Roten — von denen jetzt eine herüberschaute — rauschte sie davon, ein sehr schnelles Rauschen am Rande eines Laufschritts.

Sie tauchte alle zwei oder drei Tage auf, während Egwene irgendeine Arbeit verrichtete, und auch wenn sie niemals offen Hilfe bei einer Flucht anbot, benutzte sie dieses Wort doch häufig, und sie fing an, Frustration zu zeigen, weil Egwene nicht nach dem Köder schnappte. Und es konnte nur ein Köder sein. Egwene vertraute ihr nicht. Vielleicht war es der Brief, der bestimmt dazu gedacht gewesen war, Rand in die Burg zu locken und damit in Elaidas Krallen, vielleicht war es auch die Art, in der sie darauf wartete, dass Egwene den ersten Schritt machte, vielleicht bettelte. Sicherlich würde Alviarin versuchen, dann Bedingungen zu stellen. Aber Egwene hatte sowieso nicht die Absicht, die Flucht zu ergreifen, es sei denn, ihr blieb keine andere Wahl, also gab sie immer die gleiche Erwiderung.

»Ich bin mit meiner Situation zufrieden.«

Alviarin fing an, deutlich hörbar mit den Zähnen zu knirs chen, wenn sie das hörte.

Am vierten Tag schrubbte sie auf Händen und Knien blaue und weiße Fliesen, als die Stiefel von drei Männern in Begleitung einer Schwester in aufwändig bestickter, roter Seide an ihr vorbeigingen. Ein paar Schritte weiter blieben die Stiefel stehen.

»Das könnte sie sein«, sagte eine Männerstimme mit illianischem Akzent. »Man hat mich auf sie hingewiesen. Ich glaube, ich werde mit ihr sprechen.«

»Sie ist bloß irgendeine Novizin, Mattin Stepaneos«, sagte die Schwester zu ihm. »Ihr wolltet im Garten spazieren.« Egwene tauchte ihre Bürste in den Eimer mit dem Seifenwasser und kümmerte sich um die nächste Fliesenreihe.

»Glück, stich mich, Cariandre, das hier mag ja die Weiße Burg sein, aber ich bin noch immer der rechtmäßige König von Illian, und wenn ich mit ihr sprechen möchte — mit Euch als Anstandsdame; alles so schicklich, wie es sich gehört —, dann spreche ich auch mit ihr. Man hat mir gesagt, dass sie zusammen mit al’Thor aufgewachsen ist.« Ein auf Hochglanz poliertes Stiefelpaar trat vor Egwene hin.

Erst da stand sie auf, die tropfende Bürste in der Hand.

Mit der anderen strich sie sich das Haar aus dem Gesicht.

Sie nahm davon Abstand, sich das Kreuz zu massieren, sosehr sie es auch wollte.

Mattin Stepaneos war stämmig und fast kahl, mit einem sauber gestutzten weißen Bart nach der illianischen Mode und einem faltigen Gesicht. Seine Augen blickten scharf und ärgerlich. Eine Rüstung hätte ihm besser gestanden als der grüne Seidenmantel mit den aufgestickten goldenen Bienen an Aufschlägen und Manschetten. »Irgendeine Novizin?«, murmelte er. »Ich glaube, Ihr müsst Euch irren, Cariandre.«

Die mollige Rote ließ die beiden Diener mit der Flamme von Tar Valon auf der Brust mit zusammengepressten Lippen stehen und gesellte sich zu dem Mann. Ihr missbilligender Blick verweilte kurz auf Egwene, bevor er sich wieder auf ihn richtete. »Sie ist eine oft bestrafte Novizin, die einen Boden zu putzen hat. Kommt. Im Garten müsste es heute Morgen sehr schön sein.«

»Schön wäre es«, sagte er, »einmal mit jemand anderem als einer Aes Sedai zu sprechen. Und dann auch nur mit einer Roten Ajah, da Ihr es ja immer schafft, mich von den anderen fernzuhalten. Darüber hinaus könnten die Diener, die Ihr mir gegeben habt, genauso gut stumm sein, und ich glaube, die Turmwächter haben auch den Befehl, in meiner Nähe den Mund zu halten.«

Er verstummte, als sich zwei weitere Rote näherten. Nesita, mollig und blauäugig und so gemein wie eine Schlange mit Juckreiz, nickte Cariandre kameradschaftlich zu, während Barasine Egwene den mittlerweile allzu vertrauten Zinnbecher reichte. In gewisser Weise schienen die Roten für sie zuständig zu sein — ihre Beobachter waren immer Rote, und sie ließen nur selten viel mehr als die versprochene Stunde vergehen, bevor jemand mit dem Becher Spaltwurzeltee kam. Sie leerte ihn und gab ihn zurück. Nesita schien enttäuscht zu sein, dass sie weder protestierte noch sich weigerte, ihn zu trinken, aber das schien nicht viel Sinn zu ergeben. Sie hatte es einmal versucht, und Nesita hatte geholfen, ihr das eklige Zeug mit einem Trichter in den Hals zu schütten, den sie immer in der Gürteltasche bereithielt. Das wäre ein schönes, würdevolles Schauspiel vor Mattin Stepaneos gewesen.

Er sah dem stummen Schauspiel mit verblüfftem Inter esse zu, obwohl Cariandre an seinem Ärmel zupfte und ihn erneut zu seinem Spaziergang im Garten drängte. »Schwestern bringen Euch Wasser, wenn Ihr Durst habt?«, fragte er, als Barasine und Nesita davonrauschten.

»Ein Tee, der meine Stimmung verbessern soll«, sagte sie zu ihm. »Ihr seht gut aus, Mattin Stepaneos. Für einen Mann, den Elaida entführen ließ.« Auch diese Geschichte war im Novizinnenquartier das Gesprächsthema.

Cariandre zischte und öffnete den Mund, aber er kam ihr zuvor. »Elaida hat mich davor bewahrt, von al’Thor ermordet zu werden«, sagte er. Die Rote nickte wohlwollend.

»Warum solltet Ihr eine Gefahr für ihn sein?«, fragte Egwene.

Der Mann grunzte. »Er hat Morgase in Caemlyn ermordet und Colavaere in Cairhien. Er hat bei der Gelegenheit den halben Sonnenpalast zerstört, wie ich gehört habe. Und ich habe auch von tairenischen Hochlords gehört, die in Cairhien vergiftet oder erstochen wurden. Wer weiß schon, welche anderen Herrscher er ermordet und ihre Leichen beseitigt hat?« Cariandre nickte wieder lächelnd. Man hätte ihn für einen Schuljungen halten können, der seine Lektionen aufsagte. Verstand die Frau denn gar nichts von Männern? Ihm entging es jedenfalls nicht. Sein Unterkiefer spannte sich noch mehr an, und kurz ballten sich seine Hände zu Fäusten.

»Colavaere hat sich selbst erhängt«, sagte Egwene und achtete darauf, geduldig zu klingen. »Der Sonnenpalast wurde später beschädigt, als jemand den Wiedergeborenen Drachen töten wollte, vielleicht die Verlorenen, und laut Elayne Trakand wurde ihre Mutter von Rahvin getötet. Rand hat ihren Anspruch sowohl auf den Löwenthron wie auch den Sonnenthron unterstützt. Er hat keinen der cairhienischen Adligen getötet, die gegen ihn rebellierten, oder die rebellierenden Hochlords. Tatsächlich hat er einen von ihnen in Tear zu seinem Verwalter gemacht.«

»Ich glaube, das reicht…«, fing Cariandre an und zog die Stola über ihre Schultern, aber Egwene ging einfach über sie hinweg.

»Das alles hätte Euch jede Schwester sagen können. Hätten sie es gewollt. Falls sie miteinander sprechen würden. Denkt mal darüber nach, warum Ihr nur Rote Schwestern seht. Habt Ihr irgendwelche Schwestern zweier verschiedener Ajah gesehen, die miteinander sprechen? Man hat Euch entführt und auf ein sinkendes Schiff gebracht.«

»Das ist mehr als genug«, fauchte Cariandre. »Wenn Ihr mit dem Boden hier fertig seid, werdet Ihr zur Oberin der Novizinnen laufen und sie bitten, Euch wegen Drückebergerei zu bestrafen. Und weil Ihr respektlos zu einer Aes Sedai gewesen seid.«

Egwene begegnete dem wütenden Blick der Frau ruhig.

»Ich habe kaum genug Zeit, um mich nach dem Putzen für meinen Unterricht bei Kiyoshi sauber zu machen. Könnte ich Silviana nach dem Unterricht besuchen?«

Cariandre rückte die Stola zurecht, scheinbar von ihrer Ruhe aus dem Konzept gebracht. »Das ist allein Euer Problem«, sagte sie schließlich. »Kommt, Mattin Stepaneos. Ihr habt diesem Kind lange genug geholfen, sich vor der Arbeit zu drücken.«

Nachdem Egwene Silvianas Arbeitszimmer verließ, blieb ihr nicht genug Zeit, um ihr feuchtes Kleid zu wechseln oder sich gar zu kämmen, nicht, wenn sie pünktlich bei Kiyoshi sein wollte, ohne zu rennen, was sie ablehnte. Also kam sie zu spät, und es stellte sich heraus, dass die schlanke Graue penibel sowohl auf Pünktlichkeit wie auf Ordentlichkeit achtete, sodass sie kaum mehr als eine Stunde später wieder unter Silvianas hart geschwungenem Riemen kreischte und um sich trat. Abgesehen davon, den Schmerz zu umarmen, half ihr noch etwas anderes, das durchzustehen. Die Erinnerung an Mattin Stepaneos’ nachdenklichen Gesichtsausdruck, als Cariandre ihn den Korridor entlangführte, und wie er sich zweimal über die Schulter zu ihr umdrehte. Sie hatte eine weitere Saat gepflanzt. Genug Saat, und vielleicht würde das, was aus ihr erwuchs, die Risse in der Plattform unter Elaida endgültig sprengen. Genügend Saatkörner würden Elaida stürzen.

Am siebten Tag ihrer Gefangenschaft trug sie wieder in aller Frühe Wasser nach oben, diesmal zum Quartier der Weißen Ajah, da blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen und hatte das Gefühl, einen harten Schlag in den Magen bekommen zu haben. Zwei Frauen mit graufransigen Stolen kamen den Spiralkorridor herunter ihr entgegen, gefolgt von zwei Behütern. Die eine war Melavaire Someinellin, eine stämmige Cairhienerin in kostbarer grauer Wolle und mit weißen Strähnen im Haar. Die andere war Beonin!

»Also habt Ihr mich verraten!«, stieß Egwene wütend herv or. Ihr kam ein Gedanke. Wie konnte Beonin sie verraten haben, nachdem sie ihr die Treue geschworen hatte? »Ihr müsst eine Schwarze Ajah sein!«

Melavaire richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, was nicht besonders groß war, da sie kleiner als Egwene war, und stemmte die Fäuste in die üppigen Hüften, bevor sie den Mund öffnete, um ordentlich loszubrüllen. Egwene hatte einmal bei ihr Unterricht gehabt, und obwohl sie für gewöhnlich eine freundliche Frau war, konnte sie furchteinflößend sein, wenn sie wütend wurde.

Beonin legte der Schwester die Hand auf den Arm. »Mel avaire, lasst mich allein mit ihr sprechen.«

»Ich gehe davon aus, dass Ihr streng mit Ihr seid«, sagte Melavaire steif. »Allein auf die Idee zu kommen, eine solche Beschuldigung auszusprechen…! Manche Dinge überhaupt in den Mund zu nehmen…!« Sie schüttelte angewidert den Kopf und entfernte sich ein Stück den Korridor hinauf, gefolgt von ihrem Behüter, der noch breiter als sie war, ein Bär von einem Mann, obwohl er sich mit der erwarteten Behüteranmut bewegte.

Beonin gab ein Zeichen und wartete, bis ihr Behüter, ein schlanker Mann mit einer Narbe im Gesicht, sich ihnen angeschlossen hatte. Sie richtete mehrere Male die Stola.

»Ich, ich habe gar nichts verraten«, sagte sie ruhig. »Niemals hätte ich Euch die Treue geschworen, wenn mich der Saal nicht mit einem Rohrstock hätte prügeln lassen, wenn er die Geheimnisse erfahren hätte, die Ihr kennt. Vielleicht sogar mehr als einmal. Grund genug, um zu schwören, oder? Ich habe nie behauptet, Euch zu lieben, aber ich habe mich an den Eid gehalten, bis man Euch gefangen genommen hat. Aber Ihr seid nicht länger die Amyrlin, richtig? Nicht als Gefangene, nicht, wenn keine Hoffnung bestand, Euch zu retten, wo Ihr doch nicht gerettet werden wolltet. Und Ihr seid wieder Novizin. Was also diesen Eid angeht, es gibt zwei Gründe, warum er nicht länger gilt. Dieses Gerede von Rebellion, es war dummes Gerede. Die Rebellion ist vorbei. Die Weiße Burg wird bald wieder vereint sein, und mir wird das nicht leidtun.«

Egwene nahm die Tragestange von den Schultern, stellte die Wassereimer ab und verschränkte die Arme unter den Brüsten. Sie hatte versucht, seit ihrer Gefangennahme ganz ruhig zu sein — nun ja, außer wenn sie bestraft wurde —, aber diese Begegnung hätte einen Stein auf die Probe gestellt. »Ihr habt viele Erklärungen«, sagte sie trocken. »Wollt Ihr Euch selbst überzeugen? Das wird nicht funktionieren, Beonin. Das wird es nicht. Wenn die Rebellion vorbei ist, wo ist dann die Flut der Schwestern, die kommen, um vor Elaida niederzuknien und ihre Buße auf sich zu nehmen? Beim Licht, was habt Ihr noch verraten? Alles?« Es erschien möglich. Sie hatte Elaidas Arbeitszimmer mehrmals in Tel’aran’rhiod besucht, aber der Korrespondenzkasten der Frau war immer leer gewesen. Jetzt kannte sie den Grund.

Scharfe rote Flecken erschienen auf Beonins Wangen. »Ich sage Euch, ich habe nichts verrat…!« Sie endete mit einem erstickten Grunzen und legte eine Hand an den Hals, als wollte er die Lüge nicht auf ihrer Zunge liegen lassen. Das bewies, dass sie keine Schwarze Ajah war; aber es bewies noch viel mehr.

»Ihr habt die Spione verraten. Sind sie alle unten in den Zellen?«

Beonins Blick huschte den Korridor hinauf. Melavaire sprach mit ihrem Behüter; er neigte den Kopf zu ihr herunter. Stämmig oder nicht, er war größer als sie. Beonins Tervail beobachtete sie mit besorgter Miene. Die Entfernung war zu groß, als dass einer von ihnen hätte lauschen können, aber Beonin trat näher heran und senkte die Stimme. »Elaida, sie lässt sie beobachten, aber ich glaube, die Ajahs behalten ihre Erkenntnisse für sich. Nur wenige Schwestern wollen Elaida mehr sagen, als sie müssen. Es war nötig, das müsst Ihr verstehen. Ich konnte kaum in die Burg zurückkehren und ihre Existenz geheim halten. Man hätte das irgendwann entdeckt.«

»Dann müsst Ihr sie warnen.« Egwene schaffte es nicht, ihre Verachtung aus der Stimme herauszuhalten. Diese Frau spaltete Haare mit einer Rasierklinge! Sie benutzte die fadenscheinigste Entschuldigung, um ihre Entscheidung zu rechtfertigen, dass sie sich nicht länger an ihren Eid halten musste, und dann verriet sie die Frauen, bei deren Auswahl sie geholfen hatte. Blut und verdammte Asche!

Beonin schwieg einen langen Augenblick, fummelte an ihrer Stola herum, aber dann sagte sie überraschenderweise: »Ich habe Meidani und Jennet bereits gewarnt.« Das waren die beiden Grauen unter den Spioninnen. »Ich habe für sie getan, was ich konnte. Die anderen müssen allein schwimmen oder untergehen. Schwestern sind schon angegriffen worden, nur weil sie zu nahe bei den Quartieren anderer Ajahs waren. Ich, ich werde nicht nur mit meiner Stola bekleidet und voller Striemen zu meinen Gemächern zurückschleichen, nur um…«

»Betrachtet es als Buße«, unterbrach Egwene sie. Beim Licht! Man hatte Schwestern angegriffen? Die Dinge standen noch schlimmer, als sie gedacht hätte. Sie musste daran denken, dass ein gut gedüngter Boden ihrer Saat beim Blühen helfen würde.

Beonin schaute erneut in den Korridor hinauf, und Tervail machte einen Schritt auf sie zu, bevor sie den Kopf schüttelte. Trotz ihrer verfärbten Wangen war ihr Gesicht unbewegt, aber im Inneren musste sie aufgewühlt sein. »Ihr wisst, dass ich Euch zur Oberin der Novizinnen schicken könnte?«, sagte sie angespannt. »Wie ich gehört habe, jammert Ihr Silviana den halben Tag etwas vor. Euch würden noch mehr Besuche wohl kaum gefallen, oder?«

Egwene lächelte sie an. Keine zwei Stunden zuvor war es ihr gelungen, in dem Augenblick zu lächeln, in dem Silvianas Riemen nicht mehr fiel. Das hier war viel schwerer. »Wer weiß schon, was ich alles dabei von mir gebe? Vielleicht etwas über Eide?« Die Farbe wich aus Beonins Wangen und machte ihr Gesicht totenblass. Nein, sie konnte nicht wollen, dass das bekannt wurde. »Ihr mögt Euch selbst davon überzeugt haben, dass ich nicht länger die Amyrlin bin, Beonin, aber es ist Zeit, dass Ihr anfangt, Euch davon zu überzeugen, dass ich es noch immer bin. Ihr werdet die anderen warnen, ganz egal, welchen Preis Ihr dafür bezahlen müsst. Sagt Ihnen, sie sollen mich meiden, bis ich ihnen eine Nachricht zukommen lasse. Sie haben bereits mehr als genug Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aber von jetzt an werdet Ihr jeden Tag zu mir kommen, für den Fall, dass ich Anweisungen für sie habe. So wie jetzt.« Schnell listete sie die Dinge auf, die sie in Gespräche einfließen lassen sollten. Shemerin, der man die Stola abnahm. Elaidas Verstrickung in die Katastrophen bei den Quellen von Dumai und der Schwarzen Burg, die Saat, die sie bereits gesät hatte. Aber jetzt würde sie nicht mehr nur eine nach der anderen säen, sondern man würde sie mit vollen Händen ausstreuen.

»Ich, ich kann nicht für die anderen Ajahs sprechen«, sagte Beonin, als sie geendet hatte, »aber bei den Grauen sprechen die Schwestern oft davon. In letzter Zeit sind die Augen-und-Ohren sehr beschäftigt. Geheimnisse, die Elaida bewahren wollte, sie kommen jetzt heraus. Ich bin davon überzeugt, dass es bei den anderen genauso ist. Vielleicht ist es nicht nötig, dass ich…«

»Warnt sie und überbringt meine Befehle, Beonin.«

Egwene hob den Tragestab wieder auf die Schultern und rückte ihn in die bequemste Position, die sie finden konnte. Zwei oder drei der Weißen würden sie mit einer Haarbürste oder einem Halbschuh traktieren und sie zu Silviana schicken, wenn sie auf den Gedanken kamen, sie würde trödeln. Den Schmerz zu umarmen, selbst ihn willkommen zu heißen, hieß nicht, ihn unnötigerweise herauszufordern. »Vergesst nicht. Es ist eine Buße, die ich Euch auferlege.«

»Ich werde tun, was Ihr sagt«, erwiderte Beonin mit offensichtlichem Zögern. Plötzlich trat ein harter Ausdruck in ihre Augen, aber er war nicht für Egwene bestimmt. »Es wäre erfreulich, mit ansehen zu können, wie Elaida gestürzt wird«, sagte sie in einem gehässigen Tonfall, bevor sie zu Melavaire eilte.

Diese schockierende Begegnung, die zu einem unerwartet en Sieg geworden war, bescherte Egwene einen schönen Tag, und es machte ihr nicht einmal etwas aus, dass Ferane tatsächlich der Meinung war, sie hätte getrödelt. Die Weiße Sitzende war mollig, aber ihr Arm war so stark wie Silvianas.

An diesem Abend schleppte sie sich nach dem Essen nach unten in die offenen Zellen, obwohl sie nur noch ins Bett wollte. Abgesehen von dem Unterricht und dem Brüllen unter Silvianas Riemen — das letzte Mal kurz vor dem Abendessen — hatte sie den größten Teil des Tages damit verbracht, Wasser zu schleppen. Rücken und Schultern schmerzten. Sie schwankte vor Müdigkeit. Seltsamerweise hatte sie seit ihrer Gefangennahme keine dieser entsetzlichen Kopfschmerzen mehr und auch keinen dieser schlimmen Träume, die sie immer verstört zurückgelassen hatten, obwohl sie sich nie an ihren Inhalt hatte erinnern können, aber vermutlich würde sie heute Nacht prächtige Kopfschmerzen bekommen. Das würde es erschweren, wahre Träume zu bekommen, und sie hatte in letzter Zeit ein paar schöne gehabt, über Rand, Mat, Perrin, sogar über Gawyn, obwohl es bei Letzterem nur einfache Träume gewesen waren.

Leane wurde von drei Weißen Schwestern bewacht, die sie flüchtig kannte: Nagora, eine schlanke Frau mit hellem Haar, das sie in einer Rolle im Nacken trug, und die immer kerzengerade dasaß, um ihre mangelnde Größe auszugleichen; Norine, die mit ihren großen feuchten Augen sehr hübsch aussah, aber oftmals genauso geistesabwesend wie eine Braune war; und Miyasi, groß und mollig mit eisengrauem Haar, eine strenge Frau, die keinen Unsinn duldete, ihn aber überall sah. Nagora hielt Leonins Abschirmung aufrecht, doch sie diskutierten über irgendein Problem der Logik, und Egwene konnte den wenigen Worten, die sie aufschnappen konnte, nicht entnehmen, um was es ging. Sie konnte nicht einmal sagen, ob es zwei unterschiedliche Meinungen oder gar drei gab. Es gab keine erhobenen Stimmen, keine drohenden Fäuste, die Gesichter blieben Aes-Sedai-Masken, aber die Kälte in ihren Stimmen ließ keinen Zweifel, dass, wären sie keine Aes Sedai gewesen, sie sich angeschrien oder gar geprügelt hätten. Der Aufmerksamkeit nach zu urteilen, die sie ihr beim Eintreten schenkten, hätte sie genauso gut nicht existieren können.

Sie beobachtete die drei aus dem Augenwinkel, ging so nahe an die Gitterstäbe heran, wie sie konnte, und packte sie mit beiden Händen, um sich zu stützen. Beim Licht, war sie müde! »Ich habe heute Beonin gesehen«, sagte sie leise. »Sie ist hier in der Burg. Sie behauptete, ihr Treueid mir gegenüber würde keine Bedeutung mehr haben, weil ich nicht länger der Amyrlin-Sitz sei.«

Leane keuchte auf und trat nahe genug heran, dass sie das Gitter berührte. »Sie hat uns verraten?«

»Die natürliche Unmöglichkeit verborgener Strukturen ist eine Voraussetzung«, sagte Nagora entschieden. Ihre Stimme war ein eisiger Hammer. »Eine Voraussetzung.«

»Sie bestreitet es, und ich glaube ihr«, flüsterte Egwene.

»Aber sie gibt zu, die Spione verraten zu haben. Elaida lässt sie im Augenblick nur beobachten, aber ich habe Beonin befohlen, sie zu warnen, und sie hat gesagt, sie würde es tun. Sie sagt, sie hätte Meidani und Jennet bereits gewarnt, aber warum sollte sie sie verraten und es ihnen danach offenbaren? Und sie sagte, sie würde Elaida gern gestürzt sehen. Warum sollte sie zu Elaida fliehen, wenn sie sie noch immer stürzen will? Sie hat so gut wie zugegeben, dass niemand sonst unsere Sache im Stich gelassen hat. Ich übersehe da etwas, und ich bin zu müde, um zu erkennen, was es ist.« Ein Gähnen, das sie kaum rechtzeitig mit der Hand bedecken konnte, ließ ihren Kiefer knacken.

»Verborgene Strukturen werden von vier der fünf Axiome des sechsten Systems der Rationalität impliziert«, sagte Miyasi genauso energisch. »Stark impliziert.«

»Das sogenannte sechste System der Rationalität ist von jedem vernunftbegabten Menschen als Irrweg verworfen worden«, warf Norine scharf ein. »Aber verborgene Strukturen sind unabdingbar, wenn man je verstehen will, was jeden Tag genau hier in der Burg geschieht. Die Realität selbst verschiebt sich, verändert sich jeden Tag.«

Leane warf den Weißen einen Blick zu. »Manche waren immer der Meinung, dass Elaida Spione unter uns hatte. Falls Beonin dazugehörte, hätte ihr Eid an Euch sie so lange gebunden, bis sie sich selbst davon überzeugen konnte, dass Ihr nicht länger die Amyrlin seid. Aber wenn ihr Empfang hier nicht so war, wie sie erwartet hatte, hätte das möglicherweise ihre Loyalitäten ändern können. Beonin war schon immer ehrgeizig. Falls sie nicht die Anerkennung bekam, die sie für angebracht hielt…« Sie breitete die Hände aus.

»Beonin hat immer ihren gebührenden Lohn und noch mehr erwartet.«

»Logik ist immer auf die reale Welt anwendbar«, sagte Miyasi abwertend, »aber nur eine Novizin würde glauben, dass man die reale Welt auf die Logik anwenden kann. Ideale müssen die ersten Prinzipien sein. Nicht die alltägliche Welt.« Nagora ließ den Mund mit einem finsteren Blick zuschnappen, als würde sie glauben, dass man ihr gerade die Worte aus dem Mund genommen hatte.

Norine errötete leicht, erhob sich und rauschte auf Egwene zu. Die anderen beiden folgten ihr mit Blicken, und sie schien die Blicke zu spüren, zog unbehaglich an ihrer Stola herum.

»Kind, Ihr seht erschöpft aus. Geht jetzt zu Bett.«

Egwene wollte nichts mehr, als ins Bett zu gehen, aber sie hatte eine Frage, die zuerst noch beantwortet werden musste. Aber jetzt musste sie vorsichtig sein. Die drei Weißen hörten nun alle aufmerksam zu. »Leane, stellen die Schwestern, die Euch besuchen, noch immer dieselben Fragen?«

»Ich habe Euch gesagt, Ihr sollt zu Bett gehen«, sagte Norine scharf. Sie klatschte in die Hände, als würde Egwene so besser gehorchen.

»Ja«, sagte Leane. »Ich verstehe, was Ihr meint. Vielleicht kann es da ein gewisses Maß an Vertrauen geben.«

»Ein kleines Maß«, sagte Egwene.

Norine stemmte die Fäuste in die Hüften. Weder in ihrem Gesicht noch in ihrer Stimme lag nun noch Kühle. »Da Ihr Euch weigert, zu Bett zu gehen, könnt Ihr zur Oberin der Novizinnen gehen und ihr sagen, dass Ihr einer Schwester nicht gehorcht habt.«

»Natürlich«, sagte Egwene schnell und wandte sich zum Gehen. Sie hatte ihre Antwort — Beonin hatte das Schnelle Reisen nicht weitergegeben, und das bedeutete, dass sie vermutlich auch sonst nichts weitergegeben hatte; vielleicht konnte man ein kleines bisschen Vertrauen haben — und Nagora und Miyasi kamen auf sie zu. Sie hatte nicht die geringste Lust, zu Silviana gezerrt zu werden, wozu zumindest Miyasi fähig war. Sie hatte noch kräftigere Arme als Ferane.

Am Morgen ihres neunten Tages in der Burg kam Doesine vor Anbruch der Morgendämmerung in Egwenes kleines Zimmer, um das morgendliche Heilen zu vollziehen. Draußen regnete es mit einem dumpfen Rauschen. Die beiden Roten, die ihren Schlaf beobachtet hatten, verabreichten ihr die Spaltwurzel, warfen Doesine einen finsteren Blick zu und eilten fort. Die Gelbe Sitzende schnaubte verächtlich, als sich hinter ihnen die Tür schloss. Sie benutzte die alte Methode des Heilens, die Egwene aufkeuchen ließ, als hätte man sie in eiskaltes Wasser getaucht, und in ihr einen Heißhunger aufs Frühstück entfachte. Und die ihr die Schmerzen in ihrem Hinterteil nahm. Das fühlte sich tatsächlich seltsam an; im Laufe der Zeit konnte man sich an alles gewöhnen, und ein blaues Hinterteil schien bereits völlig normal zu sein. Aber die Benutzung der alten Methode, mit der sie jedes Mal seit ihrer Gefangennahme Geheilt worden war, bestätigte, dass Beonin einige Geheimnisse für sich behalten hatte, auch wenn es noch immer ein Geheimnis war, wie sie das geschafft hatte. Beonin selbst hatte lediglich gesagt, dass die meisten Schwestern die Geschichten über neue Gewebe als Gerüchte abtaten.

»Ihr wollt, verflucht noch mal, einfach nicht nachgeben, was, Kind?«, sagte Doesine, während sich Egwene das Kleid über den Kopf zog. Ihre Ausdrucksweise stand im Widerstreit mit dem eleganten Erscheinungsbild dieser Frau in ihrem goldbestickten Blau mit den Saphiren im Ohr und in den Haaren.

»Sollte die Amyrlin jemals nachgeben?«, fragte Egwene, als ihr Kopf wieder zum Vorschein kam. Sie verdrehte die Arme, um die gebleichten Hornknöpfe auf dem Rücken zu schließen.

Doesine schnaubte wieder, wenn auch diesmal nicht verä chtlich, wie Egwene fand. »Ein mutiger Kurs, Kind. Und doch wette ich, dass Silviana Euch bald auf den richtigen Weg führen wird.« Aber sie ging, ohne Egwene dafür zu bestrafen, weil sie sich als Amyrlin bezeichnet hatte.

Egwene hatte eine weitere Verabredung mit der Oberin vor dem Frühstück — bis jetzt hatte sie noch keinen Tag gefehlt —, und nach dem entschlossenen Versuch, Doesines Arbeit in einer Sitzung ungeschehen zu machen, hörten ihre Tränen in dem Moment auf, in dem Silvianas Riemen nicht mehr zuschlug. Als sie sich vom Ende des Schreibtischs erhob, auf dem eine Lederplatte befestigt war, die dazu diente, dass man sich darüberbeugte — und deren Oberfläche von wer weiß wie vielen Frauen abgenutzt war-, und Unterhemd und Röcke auf ihre brennende Haut fielen, verspürte sie nicht das Bedürfnis zusammenzuzucken. Sie akzeptierte die schmerzhafte Wärme, hieß sie willkommen, wärmte sich daran, so wie sie sich an einem kalten Wintermorgen die Hände am Kamin gewärmt hätte. Im Augenblick gab es eine starke Ähnlichkeit zwischen ihrem Hinterteil und einem lodernden Kamin. Aber der Blick in den Spiegel zeigte ihr ein unberührtes Gesicht. Rotwangig, aber ganz ruhig.

»Wie konnte man Shemerin zu einer Aufgenommenen zurückstufen?«, fragte sie und wischte sich mit dem Taschentuch die Tränen ab. »Ich habe mich erkundigt, und in den Burggesetzen steht nichts darüber.«

»Wie oft hat man Euch wegen dieser ›Erkundigungen‹ zu mir geschickt?«, fragte Silviana und hängte den in der Mitte geteilten Riemen in den schmalen Schrank, neben den Halbschuh und den elastischen Rohrstock. »Ich hätte gedacht, Ihr hättet mittlerweile schon lange aufgegeben.«

»Ich bin neugierig. Wie, wenn es dafür keine Bestimmung gibt?«

»Keine Bestimmung, Kind«, sagte Silviana sanft, als würde sie zu einem kleinen Kind sprechen, »aber auch kein Verbot. Ein Schlupfloch, das… Nun, wir wollen das nicht vertiefen. Ihr würdet Euch nur wieder eine weitere Prügelstrafe einhandeln.« Sie schüttelte den Kopf, nahm ihren Platz hinter dem Schreibtisch ein und legte die Hände auf die Tischoberfläche. »Das Problem war, dass Shemerin es akzeptierte. Andere Schwestern bestürmten sie, das Urteil zu ignorieren, aber sobald sie erkannte, dass Betteln nichts an der Entscheidung der Amyrlin ändern würde, zog sie in das Quartier der Aufgenommenen.«

Egwenes Magen knurrte laut und verlangte nach Frühs tück, aber sie war noch nicht fertig. Sie führte tatsächlich mit Silviana eine Unterhaltung. Eine Unterhaltung, und es spielte keine Rolle, wie merkwürdig das Thema war. »Aber warum sollte sie weglaufen? Sicherlich haben ihre Freundinnen nicht aufgehört, sie zur Vernunft bringen zu wollen.«

»Ein paar hatten etwas Vernünftiges zu sagen«, bemerkte Silviana trocken. »Andere…« Sie bewegte die Hände wie zwei Waagschalen, zuerst war die eine oben, dann die andere.

»Andere wollten sie zwingen, Vernunft anzunehmen. Sie schickten sie fast so oft zu mir wie Euch. Ich behandelte ihre Besuche als private Bußen, aber ihr fehlte Euer . ..« Sie verstummte abrupt, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte Egwene über die aneinander gelegten Finger. »Sieh an. Ihr habt mich tatsächlich zum Plaudern gebracht. Das ist sicherlich nicht verboten, aber unter diesen Umständen schickt es sich wohl kaum. Geht zum Frühstück«, sagte sie, ergriff die Schreibfeder und öffnete das Tintenfässchen. »Ich trage Euch wieder für den Mittag ein, weil ich weiß, dass Ihr keinen Knicks machen werdet.« In ihrer Stimme lag ein leiser Hauch von Resignation.

Als Egwene den Speisesaal der Novizinnen betrat, stand die erste Novizin, die sie erblickte, auf, und plötzlich scharrten laut Bänke über die farbigen Bodenfliesen, als es die anderen auch taten. Sie standen schweigend an ihren Bänken, während Egwene den Mittelgang zur Küche ging. Da schoss Ashelin, ein hübsches, dickes Mädchen aus Altara, in die Küche. Bevor Egwene die Küchentür erreichte, war Ashelin mit einem Tablett zurück, auf dem der übliche dicke Becher mit dampfendem Tee und der Teller mit Brot, Oliven und Käse standen. Egwene griff nach dem Tablett, aber das Mädchen mit dem dunklen Teint eilte zum nächsten Tisch und stellte es vor einer leeren Bank ab, machte die Andeutung eines Knicks, als sie zurücktrat. Zum Glück für sie hatte keiner von Egwenes Begleitung an diesem Morgen diesen Augenblick gewählt, um in den Speisesaal zu schauen. Zum Glück für alle Novizinnen, die aufgestanden waren.

Auf der Bank vor Egwenes Tablett lag ein Kissen. Ein zerlumptes Ding, das aus mehr verschiedenfarbigen Flicken als Originalmaterial bestand, aber immerhin noch ein Kissen. Egwene hob es auf und legte es ans Tischende, bevor sie sich setzte. Den Schmerz willkommen zu heißen fiel leicht. Sie badete in der Wärme ihres eigenen Feuers. Ein leises Zischen wehte durch den Raum, ein kollektives Stöhnen. Erst als sie eine Olive in den Mund schob, setzten sich die Novizinnen.

Um ein Haar hätte sie sie sofort wieder ausgespuckt — sie war so gut wie verdorben —, aber sie war nach der Heilung ausgehungert, also spuckte sie nur den Kern in die Hand und legte ihn auf den Teller, spülte den Geschmack mit einem Schluck Tee fort. Der Tee war mit Honig gesüßt! Novizinnen bekamen Honig nur bei besonderen Gelegenheiten. Sie versuchte, nicht zu lächeln, als sie den Teller leerte, und sie leerte ihn richtig, tupfte selbst die Brot und Käsekrümel mit dem angefeuchteten Finger auf. Aber es fiel schwer, nicht zu lächeln. Zuerst Doesine — eine Sitzende! —, dann Silvianas Resignation, jetzt das. Die beiden Schwestern waren viel wichtiger als die Novizinnen oder der Honig, aber das alles wies auf dasselbe hin. Sie gewann ihren Krieg.

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