25 Dienst bei Elaida

Die goldverzierte Ledermappe unter dem Arm, blieb Tarna im Zentralschacht der Burg, als sie zu Elaidas Gemächern hinaufstieg, auch wenn das bedeutete, eine scheinbar endlose Reihe von Treppen zu benutzen, statt die sanft ansteigenden Spiralkorridore. Zweimal befanden sich diese Treppen nicht mehr da, wo sie sie in Erinnerung hatte, aber solange sie nach oben stieg, würde sie ihr Ziel erreichen. Außer Dienern, die sich verneigten oder knicksten, bevor sie weitereilten, begegnete ihr niemand auf den Stufen. In den Spiralkorridoren musste sie an den Eingängen der Ajah-Quartiere vorbei und würde vielleicht anderen Schwestern begegnen. Ihre Behüterinnenstola erlaubte ihr, jedes Ajah-Quartier zu betreten, aber mit Ausnahme von dem der Roten mied sie sie alle, sofern es die Pflicht nicht verlangte. Unter den Schwestern der anderen Ajahs war sie sich nur zu bewusst, dass ihre schmale Stola rot war, nur zu bewusst, dass die erhitzten Blicke aus eiskalten Gesichtern sie verfolgten. Sie machten sie nicht nervös, das konnte nur wenig, sie nahm selbst das sich verändernde Innere der Burg gelassen hin, aber trotzdem… Zwar glaubte sie nicht, dass sich die Situation so verschlechtert hatte, dass man die Behüterin der Chroniken angreifen würde, aber sie ging keine Risiken ein. Es würde ein langer, harter Kampf sein, diese Situation wieder zu ändern, ganz egal, was Elaida glaubte, und ein Angriff auf die Behüterin würde das möglicherweise endgültig zunichte machen.

Davon abgesehen, nicht ständig über die Schultern blicken zu müssen, verschaffte es ihr Zeit, über Pevaras beunruhig ende Frage nachdenken zu können, eine Frage, die vor dem Vorschlag, mit Asha’man den Bund einzugehen, nicht von Bedeutung gewesen war. Wem von den Roten konnte man eine solche Aufgabe überhaupt anvertrauen? Männer zu jagen, die die Macht lenken konnten, brachte Rote Schwestern dazu, alle Männer mit Misstrauen zu betrachten, und eine große Zahl von ihnen hasste sie. Ein überlebender Bruder oder Vater mochte diesem Hass entkommen, vielleicht auch ein Lieblingscousin oder Onkel, aber sobald alle gestorben waren, verschwand auch die Zuneigung. Und das Vertrauen. Mit irgendeinem Mann den Bund einzugehen verstieß gegen Bräuche, die so bindend wie das Gesetz waren. Selbst mit Tsutamas Segen, wer würde möglicherweise auf der Stelle zu Elaida rennen, wenn man das Thema anschnitt, sich mit einem Asha’man zu verbinden? Als sie den Eingang zu Elaidas Gemächern erreicht hatte, nur zwei Stockwerke unter dem Dach der Burg, hatte sie drei Namen von ihrer geistigen Liste gestrichen. Nach fast zwei Wochen enthielt die Liste derer, denen sie sich sicher sein konnte, lediglich einen einzigen Namen, und der war für diese Aufgabe nicht geeignet.

Elaida befand sich in ihrem Wohnzimmer, wo sämtliche Möbel vergoldet und mit Elfenbeinintarsien verziert waren und der große Teppich einer von Tears kostbarsten Schöpfungen war. Sie saß auf einem Stuhl mit niedriger Lehne vor dem Marmorkamin und trank Wein mit Meidani. Trotz der frühen Stunde war es keine Überraschung, die Graue zu sehen. Meidani aß meistens mit der Amyrlin zu Abend und erhielt oft die Einladung, sie am Tag zu besuchen. Elaidas Stola mit den sechs Farbstreifen war breit genug, um ihre Schultern zu bedecken. Sie musterte die größere Frau über den Rand ihres Kristallpokals, ein dunkeläugiger Adler, der eine Maus mit großen blauen Augen musterte. Meidani schien sich dieses Blickes sehr bewusst zu sein. Ihre vollen Lippen lächelten, aber sie schienen zittern zu wollen. Ihre freie Hand war ständig in Bewegung, berührte den Smar agdkamm über dem linken Ohr, betastete das Haar oder legte sich auf den Busen, der von dem eng sitzenden Oberteil aus silbergrauer Brokatseide größtenteils entblößt wurde. Ihr Busen war nicht unbedingt üppig, aber ihre schlanke Figur ließ ihn so aussehen, und es hatte den Anschein, als würde er gleich aus dem Gewand hüpfen. Die Frau war für einen Ball gekleidet. Oder für eine Verführung.

»Die Morgenberichte sind fertig, Mutter«, sagte Tarna und verbeugte sich leicht. Beim Licht! Sie kam sich vor, als würde sie zwei Geliebte stören!

»Es stört Euch doch nicht, wenn Ihr uns verlasst, Meidani?« Selbst das Lächeln, das Elaida an die blonde Frau richtete, war raubtierhaft.

»Natürlich nicht, Mutter.« Meidani stellte den Pokal auf einem kleinen Beistelltisch neben ihrem Stuhl ab und sprang auf die Füße, machte einen Knicks, der sie beinahe aus dem Kleid schlüpfen ließ. »Natürlich nicht.« Sie eilte schwer atmend und mit weit aufgerissenen Augen aus dem Raum.

Als sich die Tür hinter ihr schloss, lachte Elaida. »Als Novizinnen waren wir Kopfkissenfreundinnen«, sagte sie und stand auf, »und ich glaube, sie will diese Beziehung wieder aufleben lassen. Vielleicht mache ich das. Möglicherweise enthüllt sie zwischen den Kissen mehr, als sie bis jetzt verraten hat. Nämlich nichts, um die Wahrheit zu sagen.« Sie schritt zum nächsten Fenster und starrte nach unten auf die Stelle, an der sich ihr fantastischer Palast erheben würde, der die Burg selbst überragen sollte. Irgendwann. Falls man die Schwestern davon überzeugen konnte, daran weiterzuarbeiten. Der heftige Regen, der während der Nacht eingesetzt hatte, fiel noch immer, und es erschien unwahrscheinlich, dass sie etwas von den Fundamenten sehen konnte, jedenfalls von denen, die es bereits gab. »Nehmt Euch Wein, wenn Ihr wollt.«

Es kostete Tarna Mühe, keine Miene zu verziehen. Kopfk issenfreundinnen waren bei Novizinnen und Aufgenomm enen keine Seltenheit, aber Jugenddinge sollte man mit der Jugend abschließen. Das sahen nicht alle Schwestern so, das nicht. Galina war sehr überrascht gewesen, als Tarna ihre Avancen abgewiesen hatte, nachdem sie die Stola errungen hatte. Sie selbst fand Männer bedeutend attraktiver als Frauen. Die meisten Männer schienen sich von Aes Sedai schwer einschüchtern zu lassen, vor allem sobald sie erfuhren, dass man der Roten Ajah angehörte, aber im Laufe der Jahre war sie auf einige gestoßen, die das nicht taten.

»Das erscheint seltsam, Mutter«, sagte sie und legte die Ledermappe auf den Tisch, auf dem ein goldenes Tablett mit einer Kristallkaraffe und Pokalen stand. »Sie scheint sich vor Euch zu fürchten.« Sie füllte einen Pokal und schnupperte an dem Wein, bevor sie trank. Die Haltbarkeitsgewebe schienen zu halten. Im Augenblick. Elaida hatte schließlich eingewilligt, zumindest dieses Gewebe mit allen zu teilen. »So als wüsste sie, dass Ihr über ihre Rolle als Spionin Bescheid wüsstet.«

»Natürlich hat sie Angst vor mir.« In Elaidas Stimme lag deutlich Sarkasmus, dann verhärtete sie sich zu Stein. »Ich will, dass sie Angst hat. Ich will sie durch die Mangel drehen. Wenn ich sie mit dem Rohrstock prügeln lasse, wird sie sich selbst an das Gerüst fesseln, wenn ich es befehle. Wenn sie wüsste, dass ich es weiß, Tarna, würde sie sofort die Flucht ergreifen, statt sich mir auszuliefern.« Elaida starrte noch immer in den Regensturm hinaus und trank ihren Wein.

»Habt Ihr etwas Neues über die anderen erfahren?«

»Nein, Mutter. Wenn ich die Sitzenden darüber informier en könnte, warum man sie beobachten soll…«

»Nein!«, fauchte Elaida und wirbelte zu ihr herum. Ihr Kleid war so mit aufwändigem roten Stickwerk übersät, dass es beinahe die graue Seide darunter verbarg. Tarna hatte vorgeschlagen, dass eine weniger auffällige Zurschaustellung ihrer ehemaligen Ajah möglicherweise helfen würde, die Ajahs wieder zusammenzubringen. Sie hatte es natürlich diplomatischer ausgedrückt, aber das hatte sie gemeint. Elaidas Wutausbruch hatte gereicht, dass sie dieses Thema seitd em mied. »Was ist, wenn einige der Sitzenden mit ihnen zusammenarbeiten? Ich würde ihnen das zutrauen. Diese lächerlichen Gespräche an der Brücke werden trotz meiner Befehle fortgesetzt. Nein, ich würde ihnen das in der Tat zutrauen.«

Tarna neigte den Kopf über ihrem Pokal, akzeptierte, was sie nicht ändern konnte. Elaida wollte einfach nicht einsehen, dass, wenn die Ajahs schon ihrem Befehl zum Abbruch der Verhandlungen nicht gehorchten, sie bestimmt nicht ohne jede Erklärung nur aufgrund ihres Befehls die eigenen Schwestern ausspionieren würden. Aber das zu erwähnen würde nur eine weitere Tirade herausfordern.

Elaida starrte sie an, wie um sich zu vergewissern, dass sie keine Widerworte geben würde. Die Frau erschien noch härter als sonst. Und noch zerbrechlicher. »Eine Schande, dass die Rebellion in Tarabon gescheitert ist«, sagte sie schließlich. »Aber vermutlich lässt sich daran nichts ändern.« Seit die Nachricht eingetroffen war, dass die Seanchaner das Land wieder weitgehend unter Kontrolle hatten, erwähnte sie das häufig, völlig zusammenhanglos. Sie war nicht so resigniert, wie sie tat. »Ich will ein paar gute Neuigkeiten hören, Tarna. Was ist mit den Siegeln für das Gefängnis des Dunklen Königs? Wir müssen dafür sorgen, dass nicht noch mehr davon gebrochen werden.« Als wüsste Tarna das nicht!

»Davon haben die Ajahs nichts berichtet, Mutter, und ich glaube nicht, dass sie das für sich behalten würden.« Sie hatte die letzten Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als sie sich auch schon wünschte, sie niemals gesagt zu haben.

Elaida grunzte. Die Ajahs gaben nur Bruchstücke dessen weiter, was ihre Augen-und-Ohren erfuhren, und sie hasste es. Ihre eigenen Augen-und-Ohren waren in Andor konzentriert. »Wie geht die Arbeit in den Häfen voran?«

»Langsam, Mutter.« Da der Güterfluss behindert war, bekam die Stadt den ersten Hunger zu spüren. Falls man die Häfen nicht bald wieder würde öffnen können, würde sie bald richtig hungern. Selbst den Teil der Kette des Südhafens wegzuschneiden, der noch aus Eisen bestand, hatte nicht geholfen, genügend Schiffe nach Tar Valon zu lassen, um die Stadt zu versorgen. Nachdem Tarna Elaida von der Notwendigkeit überzeugt hatte, hatte die Amyrlin angeordnet, die Kettentürme abzureißen, damit man die riesigen Stücke aus Cuendillar entfernen konnte. Aber wie die Stadtmauern waren auch die Türme mit Hilfe der Macht gebaut worden, und nur die Macht konnte sie einreißen. Und selbst das war alles andere als leicht. Die damaligen Baumeister hatten gute Arbeit geleistet, und diese Schutzgewebe schienen keinen Deut geschwächt zu sein. »Im Augenblick leisten die Roten die meiste Arbeit. Gelegentlich kommen Schwestern von anderen Ajahs, aber es sind nur wenige. Allerdings erwarte ich, dass sich das bald ändert.« Sie kannten die Bedeutung dieser Arbeit, sosehr sie sie auch verabscheuen mochten — keine Schwester schuftete gern auf diese Weise; die Roten, die den Löwenanteil leisteten, murrten ziemlich laut —, aber der Befehl war von Elaida gekommen, und im Moment bedeutete das, dass man sich zierte.

Elaida atmete tief ein, dann nahm sie einen großen Schluck. Sie schien ihn zu brauchen. Sie hielt den Pokal so fest umschlossen, dass ihre Sehnen auf dem Handrücken hervortraten. Sie schoss über den gemusterten Seidenteppich auf Tarna zu, als wollte sie sie schlagen. »Sie trotzen mir schon wieder. Schon wieder! Sie werden mir gehorchen, Tarna. Das werden sie! Schreibt einen Befehl und hängt ihn in jedem Ajah-Quartier aus, sobald ich ihn unterschrieben habe.« Sie blieb so kurz vor Tarna stehen, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten; ihre dunklen Augen funkelten wie die eines Raben. »Die Sitzenden einer jeden Ajah, die nicht ihre gerechte Anzahl an Schwestern zur Arbeit an den Hafentürmen schicken, werden von Silviana täglich ihre Buße erhalten, bis die Arbeiten erledigt sind. Täglich! Und für die Sitzenden jeder Ajah, die weiterhin Schwestern zu diesen… diesen Gesprächen schicken, gilt das Gleiche. Schreibt das und legt es mir zur Unterschrift vor!«

Tarna holt tief Luft. Bußen konnten funktionieren oder auch nicht, das kam auf die Entschlossenheit der Sitzenden und der Anführerinnen der Ajahs an — sie glaubte nicht, dass die Dinge so schlimm standen, dass sie sich alle weigern würden, die Bußen anzunehmen; das wäre mit Sicherheit Elaidas Ende, vielleicht sogar das Ende der Burg. Aber diesen Befehl öffentlich auszustellen, den Sitzenden keine Möglichkeit zu lassen, ihre Würde zu behalten, war die falsche Methode. Möglicherweise sogar die schlimmste überhaupt.

»Falls ich einen Vorschlag machen darf…«, begann sie so vorsichtig, wie sie konnte. Sie war nie für ihre Vorsicht bekannt gewesen.

»Das dürft Ihr nicht«, unterbrach Elaida sie grob. Sie nahm noch einen großen Schluck, leerte den Pokal und rauschte über den Teppich, um sich nachzuschenken. In letzter Zeit trank sie zu viel. Tarna hatte sie sogar einmal betrunken gesehen! »Wie kommt Silviana mit dem al’Vere-Mädchen voran?«, fragte sie, während sie Wein nachfüllte.

»Egwene verbringt fast die Hälfte des Tages in Silvianas Arbeitszimmer.« Sie gab sich Mühe, ihren Tonfall neutral zu halten. Das war das erste Mal, dass sich Elaida nach der jungen Frau seit ihrer Gefangennahme vor neun Tagen erkundigte.

»So oft? Ich will sie gezähmt haben, nicht ihren Willen gebrochen.«

»Ich… bezweifle, dass ihr Wille gebrochen wird, Mutter.

Silviana wird da schon aufpassen.« Und dann war da noch das Mädchen selbst. Aber das war nicht für Elaidas Ohren bestimmt. Tarna hatte sich bereits genug anbrüllen lassen. Sie hatte es gelernt, Themen zu meiden, die nur in Gebrüll endeten. Unausgesprochene Ratschläge und Vorschläge waren nicht nützlicher als Ratschläge und Vorschläge, die nicht angenommen wurden, und Elaida nahm beides so gut wie nie an. »Egwene ist stur, aber ich rechne damit, dass sie sich bald einsichtig zeigt.« Das Mädchen musste es. Galina, die Tarna ihre Blockade herausgeprügelt hatte, hatte nicht ein Zehntel der Mühe aufbringen müssen, die Silviana in Egwene hineinsteckte. Das Mädchen musste bald nachgeben.

»Ausgezeichnet«, murmelte Elaida. »Ausgezeichnet.« Sie blickte über die Schulter, das Gesicht eine Maske der Ruhe. Aber ihre Augen funkelten noch immer. »Setzt ihren Namen auf meinen Dienerplan. Nein, sie soll mir heute Abend aufwarten. Sie kann mich und Meidani beim Abendessen bedienen.«

»Wie Ihr befehlt, Mutter.« Anscheinend war ein weiterer Besuch bei der Oberin unausweichlich, aber zweifellos würde sich Egwene genauso viele verdienen, wenn sie nicht in Elaidas Nähe kam.

»Und jetzt zu Euren Berichten, Tarna.« Elaida setzte sich wieder und schlug die Beine übereinander.

Tarna stellte den kaum angerührten Pokal zurück auf das Tablett und setzte sich auf den Stuhl, den Meidani benutzt hatte. »Die erneuerten Schutzgewebe scheinen die Ratten aus der Burg fernzuhalten, Mutter…« — für wie lange, war eine andere Frage; sie überprüfte die Gewebe höchstpersönlich jeden Tag — »… aber man hat Raben und Krähen auf dem Burggelände gesehen, also müssen die Schutzgewebe in den Mauern…«

Die mittägliche Sonne warf ihr Licht vorbei an den blätterbewachsenen Ästen der hohen Bäume, größtenteils Eichen und Tupelos, dazwischen Pappeln und stämmige Kiefern. Anscheinend hatte es vor einigen Jahren einen heftigen Sturm gegeben, denn überall lagen Baumstämme, die in derselben Richtung umgestürzt waren und gute Sitzgelegenheiten boten; man musste nur ein paar Äste wegschlagen. Spärliches Unterholz erlaubte einen guten Blick in alle Richtungen, und nicht weit entfernt plätscherte ein kleiner, sauberer Bach über moosbewachsene Steine. Es wäre ein guter Lagerplatz gewesen, hätte Mat nicht an jedem Tag so viele Meilen wie möglich zurücklegen wollen, aber es war auch ein guter Platz, um die Pferde verschnaufen zu lassen und zu essen. Die Damonab erge im Osten waren noch immer mindestens dreihundert Meilen entfernt, und er hatte vor, sie in einer Woche zu erreichen. Vanin kannte einen Schmugglerpass — natürlich war das reines Hörensagen; er hatte zufällig gelauscht, aber er wusste genau, wo er zu finden war-, der sie innerhalb von zwei Tagen nach Murandy bringen würde. Viel sicherer als der Versuch, nach Norden nach Andor vorzustoßen oder nach Süden auf Illian zuzureiten. In jeder Richtung würde der Weg in die Sicherheit länger und die Gefahr, auf Seanchaner zu stoßen, größer sein.

Mat knabberte den letzen Fetzen Fleisch vom Hinterlauf des Hasen und warf den Knochen auf den Boden. Lopin schoss herbei, strich sich konsterniert den Bart, hob ihn auf und ließ ihn in die Grube fallen, die er und Nerim in den mit Mulch bedeckten Waldboden gegraben hatten, obwohl die Grube keine halbe Stunde nach ihrem Aufbruch von Tieren aufgegraben sein würde. Mat wollte sich die Hände an den Reithosen abwischen. Tuon, die auf der anderen Seite des kleinen Feuers an einem Rebhuhnschenkel knabberte, warf ihm mit erhobenen Brauen einen strengen Blick zu, während sie mit den Fingern der freien Hand Selucia, die ein halbes Rebhuhn in sich hineingestopft hatte, etwas übermittelte. Die vollbusige Frau erwiderte nichts, aber sie schnaubte. Laut. Er erwiderte Tuons Blick und wischte sich die Hände ganz langsam an den Reithosen ab. Er hätte zu dem Flüsschen gehen können, wo sich die Aes Sedai die Hände wuschen, aber wenn sie Murandy erreichten, würde niemandes Kleidung mehr makellos sein. Davon abgesehen, wenn einen eine Frau ständig Spielzeug nannte, war es nur natürlich, jede Gelegenheit zu ergreifen, um sie wissen zu lassen, dass man niemandes Spielzeug war. Sie schüttelte den Kopf und fuchtelte wieder mit den Fingern. Diesmal lachte Selucia, und Mat fühlte, wie ihm heiß das Blut in die Wangen stieg. Er konnte sich zwei oder drei Dinge vorstellen, die sie gesagt haben mochte, und nichts davon hätte er gern gehört.

Setalle, die am Ende seines Stammes saß, sorgte dafür, dass er sie trotzdem hörte. Die Übereinkunft mit der ehemaligen Aes Sedai hatte ihr Verhalten nicht um ein Haar geändert. »Sie könnte gesagt haben, dass Männer Schweine sind«, murmelte sie, ohne den Blick von ihrem Stickreifen zu heben, »oder dass bloß Ihr eines seid.« Ihr dunkelgraues Reitgewand wies einen hohen Kragen auf, aber sie trug noch immer die eng sitzende Silberkette mit dem Hochzeitsdolch. »Sie könnte gesagt haben, dass Ihr ein Bauernlümmel mit Dreck in den Ohren und Stroh im Haar seid. Oder sie könnte gesagt haben…«

»Ich glaube, wir verstehen, was Ihr meint«, sagte er durch die zusammengebissenen Zähne zu ihr. Tuon kicherte, obwohl ihr Gesicht im nächsten Augenblick wieder das eines Scharfrichters war, kalt und streng.

Er holte die Pfeife mit dem silbernen Kopfstück und den Tabaksbeutel aus Ziegenleder aus der Manteltasche, füllte den Kopf mit dem Daumen und hob dann den Deckel des Schwefelholzkastens zu seinen Füßen an. Es faszinierte ihn, wie das Feuer aufflammte, wie die Funken in alle Richtungen sprangen, wenn er den unförmigen, rotweißen Kopf des Schwefelholzes über die harte Seite des Kästchens zog. Er wartete, bis die Flamme vom Kopf weggebrannt war, bevor er es dazu benutzte, die Pfeife anzuzünden. Einmal hatte gereicht, den Schwefelgeschmack einzuatmen. Er ließ das brennende Schwefelholz fallen und trat es sorgfältig aus. Der Mulch war noch immer feucht vom letzten Regen, aber er ging im Wald kein Risiko ein. Bei den Zwei Flüssen kamen Männer aus einer Entfernung von Meilen herbei, wenn der Wald brannte. Und trotzdem verbrannten manchmal Hunderte von Quadratmeilen.

»Man sollte die Schwefelhölzer nicht verschwenden«, sagte Aludra und hob den Blick von dem kleinen Steine-Spielbrett, das auf einem Baumstamm in der Nähe jonglierte. Thom strich sich den langen weißen Schnurrbart und musterte das Spielbrett weiterhin nachdenklich. Er verlor nur selten eine Partie Steine, aber sie hatte es seit Verlassen des Zirkus geschafft, zweimal zu gewinnen. Zwei Partien von einem Dutzend oder mehr, aber Thom ging sorgfältig mit jedem um, der ihn auch nur einmal besiegen konnte. Sie streifte die perlenverzierten Zöpfe über die Schultern. »Ich muss zwei Tage lang am selben Ort sein, um neue herzustellen. Männer finden immer Möglichkeiten, um Frauen Arbeit zu machen, oder?«

Mat paffte vor sich hin, wenn auch nicht zufrieden, so doch immerhin mit einem gewissen Grad an Vergnügen. Frauen! Schön anzusehen und schön, in ihrer Gesellschaft zu sein. Wenn sie keine Möglichkeit fanden, einem Mann Salz ins Fell zu reiben.

Die meisten Mitglieder der Gruppe waren fertig mit dem Essen — an den Spießen über dem Feuer waren nur noch die Reste von zwei Rebhühnern und einem Hasen, aber die würde man in Leinentücher eingepackt mitnehmen; die Jagd während des Morgenritts war gut gewesen, aber es war keinesfalls sicher, dass der Nachmittag genauso ergiebig sein würde, und Brot und Bohnen boten eine armselige Mahlzeit. Jene, die fertig gegessen hatten, ruhten sich aus, oder, im Fall der Rotwaffen, kontrollierten die an den Knöcheln gefesselten Lastpferde, mehr als sechzig an vier Leinen. So viele in Maderin zu kaufen war teuer gewesen, aber Luca war in die Stadt geeilt, um sie selbst zu kaufen, sobald er von dem toten Kaufmann auf der Straße gehört hatte. Danach war er beinahe bereit gewesen — aber auch nur beinahe —, ihnen Lastpferde vom Zirkus zu geben, nur um Mat loszuwerden. Viele der Tiere waren mit Aludras Gerätschaften beladen. Am Ende hatte Luca den größten Teil von Mats Gold bekommen. Mat hatte auch Petra und Clarine einen fetten Geldbeutel zugesteckt, aber das war aus Freundschaft geschehen, damit sie sich ihre kleine Schenke etwas früher kaufen konnten. Was jetzt noch in seinen Satteltaschen steckte, reichte allerdings mehr als genug, um bequem nach Murandy zu kommen, und um es aufzufüllen, brauchte er nur einen Gemeinschaftsraum, in dem die Würfel rollten.

Auf einem anderen Stamm in der Nähe plauderten Leilwin, die an dem breiten Ledergürtel quer über der Brust ein Krummschwert trug, und Domon, der an der einen Seite seines Gürtels ein Kurzschwert und an der anderen eine mit Messingnieten beschlagene Keule trug, mit Juilin und Amathera. Leilwin — Mat hatte schließlich akzeptiert, dass das der einzige Name war, den sie ertragen würde — stellte demonstrativ zur Schau, dass sie Tuon und Selucia nicht aus dem Weg ging, und sie senkte auch nicht den Blick, wenn sie sich begegneten, obwohl sie sich sichtlich zusammenreißen musste, um das zu schaffen. Juilin hatte die Ärmel seines schwarzen Mantels umgeschlagen, ein Zeichen, dass er sich unter Freunden glaubte oder zumindest Leuten, denen er vertrauen konnte. Die einstige Panarchin von Tarabon klammerte sich noch immer an den Arm des Diebefängers, aber sie erwiderte Leilwins Blicke ohne großes Zusammenzucken. Tatsächlich schien sie die andere Frau oft mit einem Gefühl anzusehen, das fast schon an Ehrfurcht grenzte.

Noal saß im Schneidersitz auf dem Boden, obwohl es dort feucht war, spielte Schlangen und Füchse mit Olver und gab wilde Geschichten über die Länder jenseits der Aiel-Wüste von sich, über eine große Küstenstadt, die Fremde nur mit dem Schiff verlassen durften und die Einwohner gar nicht. Mat wünschte sich, sie würden ein anderes Spiel finden. Jedes Mal, wenn sie das rote Stück Stoff mit dem Spinnennetz aus schwarzen Linien ausbreiteten, erinnerte es ihn an sein Versprechen Thom gegenüber, erinnerte es ihn daran, dass die verdammten Eelfinn irgendwie in seinem Kopf steckten und die verfluchten Aelfinn vielleicht auch.

Die Aes Sedai kamen von dem Bach zurück, und Joline hörte auf, sich mit Blaeric und Fen zu unterhalten. Bethamin und Seta gingen hinter ihnen her und zögerten, bis eine Geste der Grünen sie hinter den Stamm schickte, auf dem Teslyn und Edesina so weit voneinander entfernt saßen, wie das nur möglich war, mit nicht abgeschlagenen Ästen zwischen sich. Bethamin und Seta stellten sich hinter Edesina und fingen an, in kleinen Büchern mit Ledereinband aus ihren Gürteltaschen zu lesen.

Seta, die blonde ehemalige Sul’dam, hatte sich auf spektakuläre und schmerzliche Weise verändert. Schmerzlich für sie und die Schwestern. Als sie sie am Vorabend beim Essen zögernd gebeten hatte, auch sie zu unterrichten, hatten sie sich geweigert. Sie unterrichteten Bethamin nur, weil sie bereits die Macht gelenkt hatte. Seta war zu alt, um Novizin zu werden, sie hatte nicht die Macht gelenkt, und damit war das Thema erledigt. Also machte sie nach, was auch immer Bethamin getan hatte, und alle drei Schwestern hüpften, eingehüllt von einem Funkenregen, so lange kreischend um das Kochfeuer herum, wie sie die Macht halten konnten. Da erklärten sie sich bereit, sie zu unterrichten. Jedenfalls Joline und Edesina. Teslyn wollte noch immer nichts mit einer Sul’dam zu tun haben, ob es sich nun um ehemalige handelte oder nicht. Allerdings hatten alle drei den Stock geschwungen, und Seta war den ganzen Morgen unbehaglich auf dem Sattel herumgerutscht. Sie sah noch immer aus, als hätte sie Angst vor der Einen Macht und vielleicht auch vor den Aes Sedai, aber seltsamerweise erschien sie auch irgendwie… zufrieden. Mat konnte es nicht nachvollziehen.

Er hätte selbst zufrieden sein müssen. Er war einer Mordanklage entgangen, hatte vermieden, blindlings in eine seanchanische Falle zu reiten, die Tuon das Leben gekostet hätte, und war dem Gholam entgangen, und zwar diesmal für immer. Er würde Lucas Zirkus folgen, und Luca war gewarnt worden, was auch immer das bringen würde. In weniger als zwei Wochen würde er die Berge überquert haben und in Murandy sein. Die Notwendigkeit, sich einen Plan einfallen zu lassen, Tuon sicher nach Ebou Dar zurückzuschaffen, was nun keine einfache Aufgabe mehr war, nicht zuletzt deshalb, weil er sie vor Aes Sedai beschützen musste, die sie verschleppen wollten, würde bedeuten, dass er ihr Gesicht noch viel länger betrachten konnte. Und dass er herausfinden konnte, was hinter diesen großen, wunderschönen Augen vor sich ging. Er hätte so glücklich wie eine Ziege auf der Wiese sein müssen. Er war es nicht. Nicht im mindesten.

Erstens schmerzten die vielen Schwertschnitte, die er in Maderin davongetragen hatte. Einige hatten sich entzündet, allerdings hatte er das bis jetzt vor allen verheimlichen können. Gepflegt zu werden hasste er fast so sehr, wie sich mit der Macht behandeln zu lassen. Lopin und Nerim hatten ihn so gut zusammengeflickt, wie sie konnten, und er hatte das Heilen verweigert, obwohl alle drei Aes Sedai versucht hatten, es ihm aufzudrängen. Es hatte ihn überrascht, dass von allen Leuten ausgerechnet Joline versucht hatte, ihn zu überreden, aber sie tat es, und sie hatte angewidert die Hände in die Luft geworfen, als er nicht nachgegeben hatte. Eine andere Überraschung war Tuon gewesen.

»Nicht albern sein, Spielzeug«, hatte sie mit unter den Brüsten verschränkten Armen in seinem Zelt gesagt, während Lopin und Nerim mit ihren Nadeln herumfuhrwerkten und er die Zähne zusammenbiss. Ihre besitzergreifende Art, die sehr an eine Frau erinnerte, die sich darum kümmerte, dass ihr Besitz ordentlich repariert wurde, hatte gereicht, dass er mit den Zähnen geknirscht hatte, und das nicht nur wegen der Nadeln. Oder dass er nur seine Unterhose trug! Sie war einfach hereingeplatzt und hatte sich geweigert zu gehen, man hätte sie schon heraustragen müssen, und er hatte sich nicht stark genug gefühlt, eine Frau wegzuschleppen, die ihm vermutlich den Arm brechen konnte. »Dieses Heilen ist eine wunderbare Sache. Meine Mylen kann es, und ich habe es auch meinen anderen Damane beigebracht. Natürlich sind viele Leute so dumm und wollen sich nicht von der Macht berühren lassen. Die Hälfte meiner Diener würde schon bei dem Vorschlag in Ohnmacht fallen, und es würde mich nicht überraschen, wenn das auch für die meisten Angehörigen des Blutes gelten würde. Aber von Euch hätte ich das nicht erwartet.« Hätte sie auch nur ein Viertel seiner Erfahrungen mit den Aes Sedai gehabt, hätte sie das doch.

Sie hatten die Straße von Maderin genommen, als wollten sie nach Lugard, dann waren sie in den Wald geritten, sobald die letzten Bauernhöfe außer Sicht waren. In dem Augenblick, in dem sie sich zwischen den Bäumen befanden, fingen wieder die Würfel in seinem Kopf zu rattern an. Das war die andere Sache, die ihm die Laune verdarb, diese verfluchten Würfel, die seit zwei Tagen in seinem Kopf dröhnten. Es erschien kaum wahrscheinlich, dass sie hier im Wald verstummen würden. Was konnte schon im Wald Weltbewegendes geschehen? Dennoch mieden sie die kleinen Dörfer, an denen sie vorbeikamen. Aber früher oder später würden die Würfel anhalten, und er konnte es nur abwarten.

Tuon und Selucia gingen zum Bach, um sich zu waschen, dabei unterhielten sie sich unablässig mit den Fingern. Bestimmt über ihn, da war er sich sicher. Wenn Frauen anfingen, die Köpfe zusammenzustecken, konnte man sicher sein…

Amathera schrie auf, und jeder Kopf fuhr zu ihr herum.

Mat entdeckte den Grund genauso schnell wie Juilin, eine schwarze, sieben Fuß lange Schlange glitt schnell von dem Stamm fort, auf dem Juilin saß. Leilwin fluchte und sprang auf die Füße, wobei sie ihr Schwert zog, aber Juilin war noch schneller, riss das Kurzschwert aus der Scheide und eilte der Schlange so schnell hinterher, dass seine rote Mütze vom Kopf fiel.

»Lass sie gehen, Juilin«, sagte Mat. »Sie schlängelt weg.

Lass sie gehen.« Das Tier hatte vermutlich einen Schlupfwinkel unter dem Stamm und war überrascht gewesen, auf Menschen zu stoßen. Glücklicherweise waren Schwarzlanzen Einzelgänger.

Juilin zögerte, bevor er zu dem Schluss kam, dass es wicht iger war, eine zitternde Amathera zu trösten, als eine Schlange zu verfolgen. »Was ist das überhaupt für eine?«, fragte er und nahm sie in die Arme. Schließlich war er ein Stadtmensch. Mat verriet es ihm, und einen Augenblick lang sah er aus, als wollte er wieder hinter ihr her. Klugerw eise entschied er sich dagegen. Schwarzlanzen waren blitzschnell, und mit einem Kurzschwert hätte er nahe herangemusst. Davon abgesehen klammerte sich Amathera so fest an ihn, dass es einige Zeit gedauert hätte, sich von ihr zu befreien.

Mat nahm seinen Hut vom Schaft seines Ashandarei, der mit der Spitze im Erdreich steckte, und setzte ihn auf. »Das Tageslicht schwindet«, sagte er um den Pfeifenstiel herum.

»Zeit, dass wir weiterkommen. Trödelt nicht herum, Tuon. Eure Hände sind sauber genug.« Er hatte versucht, sie Schatz zu nennen, aber seit sie in Maderin behauptet hatte, gewonnen zu haben, behandelte sie ihn wie Luft, wenn er es tat.

Natürlich beeilte sie sich nicht. Als sie zurückkehrte und sich die kleinen Hände mit einem Handtuch trocknete, das Selucia dann zum Trocknen an ihren Sattelknauf hängen würde, hatten Lopin und Nerim die Abfallgrube aufgefüllt, die Essensreste eingepackt und in Nerims Satteltaschen verstaut und das Feuer mit Wasser aus dem Bach gelöscht. Den Ashandarei in der Hand, war Mat bereit, auf Pips aufzusitzen.

»Ein seltsamer Mann, der eine giftige Schlange davonkomm en lässt«, sagte Tuon. »Nach der Reaktion des Burschen zu urteilen, nehme ich an, dass eine Schwarzlanze giftig ist?«

»Sehr sogar«, erwiderte er. »Aber Schlangen beißen nichts, was sie nicht fressen können, solange sie nicht bedroht werden.« Er schob einen Fuß in den Steigbügel.

»Ihr dürft mich küssen, Spielzeug.«

Er zuckte zusammen. Ihre Worte, die nicht leise ausgesprochen worden waren, hatte sie in aller Blickpunkt gerückt. Selucias Gesicht war so bemüht ausdruckslos, dass ihre Missbilligung nicht deutlicher hätte sein können.

»Jetzt?«, sagte er. »Wenn wir heute Abend lagern, können wir allein spazieren gehen…«

»Bis heute Abend könnte ich meine Meinung geändert haben, Spielzeug. Nennt es eine Laune, für einen Mann, der Giftschlangen gehen lässt.« Hatte sie darin möglicherweise eines ihrer Omen gesehen?

Er steckte den schwarzen Speer zurück in die Erde, setzte den Hut ab, nahm die Pfeife aus dem Mund und drückte einen keuschen Kuss auf ihre vollen Lippen. Ein erster Kuss durfte nicht grob sein. Er wollte nicht, dass sie ihn für aufdringlich oder primitiv hielt. Sie war keine Schankmagd, der ein Klaps auf den Hintern gefallen würde. Außerdem konnte er die Blicke der Zuschauer förmlich spüren. Jemand kicherte. Selucia verdrehte die Augen.

Tuon verschränkte die Arme unter den Brüsten und schaute durch die langen Lider zu ihm hoch. »Erinnere ich Euch an Eure Schwester?«, fragte sie in gefährlichem Tonfall.

»Oder vielleicht an Eure Mutter?« Jemand lachte. Tatsächlich sogar mehr als einer.

Grimmig klopfte Mat den Pfeifenkopf an seinem Stiefelabsatz aus und stopfte die warme Pfeife in die Manteltasche. Er hängte den Hut wieder auf den Asha ndarei. Wenn sie einen richtigen Kuss haben wollte… Hatte er wirklich geglaubt, sie würde seine Arme nicht füllen? Sie war schlank, das auf jeden Fall, und klein, aber sie füllte sie auf eine sehr erfreuliche Weise. Er beugte den Kopf zu ihr herunter. Sie war bei weitem nicht die erste Frau, die er geküsst hatte. Er wusste, was er zu tun hatte. Überraschenderweise — oder vielleicht auch nicht — wusste sie es nicht. Aber sie lernte schnell. Sehr schnell.

Als er schließlich von ihr abließ, stand sie da, schaute zu ihm hoch und versuchte zu Atem zu kommen. Was das anging, atmete er auch etwas schwer. Metwyn pfiff anerkennend. Mat lächelte. Was würde sie wohl von dem denken, was offensichtlich ihr erster richtiger Kuss gewesen war? Aber er versuchte, nicht zu breit zu lächeln. Er wollte nicht, dass sie auf die Idee kam, er würde grinsen.

Sie legte die Finger auf seine Wange. »Das habe ich mir gedacht«, sagte sie in ihrem Akzent, der so dick wie Honig war. »Ihr fiebert. Einige Eurer Wunden müssen entzündet sein.«

Mat blinzelte. Er gab ihr einen Kuss, der ihr bis in die Zehenspitzen gefahren sein musste, und ihr fiel bloß ein, dass sich sein Gesicht heiß anfühlte? Er beugte den Kopf erneut — diesmal würde sie jemand danach verdammt noch mal stützen müssen! —, aber sie stemmte nur eine Hand gegen seine Brust und wehrte ihn ab.

»Selucia, hol den Kasten mit den Salben, den ich von Frau Luca bekommen habe«, befahl sie. Selucia eilte zu Tuons Pferd.

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Mat. »Ich schmiere heute Abend was drauf.« Er hätte sich die Worte sparen können.

»Zieht Euch aus, Spielzeug«, sagte sie in demselben Tonfall, den sie bei ihrer Dienerin benutzt hatte. »Die Salbe wird brennen, aber ich erwarte, dass Ihr tapfer seid.«

»Ich werde nicht…«

»Reiter kommen«, verkündete Harnan. Er saß bereits im Sattel, auf einem dunkelgrauen Wallach mit weißen Vorderläufen, und hielt die Leine von einem Gespann Lastpferde.

»Einer von ihnen ist Vanin.«

Mat schwang sich auf Pips, um besser sehen zu können. Zwei Reiter näherten sich im schnellen Galopp, wichen umgestürzten Bäumen aus, wenn es sein musste. Davon abgesehen, dass Chel Vanins Brauner deutlich zu erkennen war, war auch der Mann selbst unverkennbar. Niemand sonst, der so breit und wie ein Sack Talg im Sattel hockte, hätte diese Haltung so scheinbar mühelos aufrechterhalten können. Der Mann wäre auf einem wilden Eber im Sattel geblieben. Dann erkannte Mat den anderen Reiter, dessen Umhang hinter ihm flatterte, und es war, als hätte ihm jemand einen Schlag in den Magen versetzt. Es hätte ihn nicht im mindesten überrascht, wären die Würfel in genau diesem Augenblick verstummt, aber sie polterten weiter in seinem Kopf herum. Was beim Licht hatte Talmanes verdammt noch mal in Altara zu suchen?

Die beiden Reiter zügelten beim Anblick von Mat die Pferde, und Vanin hielt an, um Talmanes allein weiterreiten zu lassen. Es war keine Schüchternheit. Vanin wusste nicht, was Schüchternheit war. Er stützte sich auf den hohen Sattelknauf und spuckte durch eine Zahnlücke aus. Nein, er wusste, dass Mat nicht erfreut sein würde, und er wollte nichts damit zu tun haben.

»Vanin hat mich auf den neuesten Stand gebracht«, sagte Talmanes. Klein und drahtig, mit zur Hälfte rasiertem Kopf und gepudert, hatte der Cairhiener das Recht, viele Farbstreifen auf der Brust zu tragen, aber die kleine rote Hand auf der Brust seines dunklen Mantels war sein einziger Schmuck, solange man nicht das lange rote Tuch mitzählte, das er um den linken Arm gebunden hatte. Er lachte niemals und lächelte selten, aber er hatte seine Gründe dafür. »Es hat mir leidgetan, das von Nalesean und den anderen zu hören. Nalesean war ein guter Mann. Das waren sie alle.«

»ja, das waren sie«, sagte Mat und zügelte sein Temperam ent. »Ich nehme an, Egwene ist nie zu Euch gekommen, damit Ihr ihr helft, von diesen närrischen Aes Sedai wegzukommen, aber was, beim verdammten Licht, tut Ihr hier?« Nun, vielleicht hatte er sich doch nicht so gut unter Kontrolle.

»Sagt mir nicht, dass Ihr die ganze verdammte Bande dreihund ert verdammte Meilen nach Altara hinein mitgebracht habt.«

»Egwene ist noch immer die Amyrlin«, sagte Talmanes beherrscht und richtete den Umhang. Er zeichnete sich durch eine weitere, größere rote Hand aus. »Ihr habt Euch in ihr geirrt, Mat. Sie ist wirklich der Amyrlin-Sitz, und sie hat die Aes Sedai fest am Kragen gepackt. Auch wenn das ein paar von ihnen vielleicht noch nicht wissen. Als ich sie zuletzt sah, zogen sie und ihr Haufen nach Tar Valon, um es zu belagern. Möglicherweise hat sie es mittlerweile erobert. Sie können Löcher in die Luft machen, so wie es der Wiedergeborene Drache getan hat, um uns in die Nähe von Salidar zu bringen.« Die Farben wirbelten in Mats Kopf, verfestigten sich kurz zu Rand, der mit irgendeiner Frau mit grauem, zu einem Knoten zusammengefassten Haar sprach, vermutlich einer Aes Sedai, aber seine Wut blies das Bild fort.

Das ganze Gerede von Tar Valon und dem Amyrlin-Sitz lockte natürlich die Schwestern an. Sie trieben ihre Pferde neben Mat und versuchten, das Kommando an sich zu reißen. Nun, Edesina blieb ein Stück zurück, wie sie es immer tat, wenn Joline oder Teslyn giftig wurden, aber die anderen beiden…

»Von wem redet Ihr da?«, verlangte Teslyn zu wissen, während Joline noch den Mund aufmachte. »Egwene? Es gab eine Aufgenommene namens Egwene al’Vere, aber sie ist eine Ausreißerin.«

»Von ihr ist die Rede, Aes Sedai«, sagte Talmanes höflich. Der Mann war immer höflich zu Aes Sedai. »Und sie ist keine Ausreißerin. Sie ist der Amyrlin-Sitz, mein Wort drauf.« Edesina gab einen Laut von sich, den man bei jemand anderem als einer Aes Sedai als Quieken bezeichnet hätte.

»Das hat Zeit bis später«, murmelte Mat. Joline öffnete den Mund erneut, diesmal wütend. »Später, habe ich gesagt.« Das reichte nicht, um die schlanke Grüne aufzuhalten, aber Teslyn legte ihr die Hand auf den Arm und murmelte ihr etwas zu, und das reichte dann. Allerdings schaute Joline noch immer finster drein, ein Versprechen, später alles in Erfahrung zu bringen, was sie wissen wollte. »Talmanes, die Bande?«

»Oh. Nein. Ich habe nur drei Banner Pferde und viertaus end berittene Armbrustmänner mitgebracht. In Murandy habe ich drei Banner Pferde und fünf Infanterien zurückgelassen, die jetzt etwas knapp mit Armbrustmännern sind, mit dem Befehl, nach Norden auf Andor zu marschieren. Und natürlich das Banner Maurer. Praktisch, Maurer dabeizuhaben, wenn man eine Brücke oder so etwas braucht.«

Einen Augenblick lang kniff Mat fest die Augen zu. Sechs Banner Pferde und fünf zu Fuß. Und ein Banner Maurer! Als er die Bande in Salidar zurückgelassen hatte, hatte sie nur aus zwei Bannern Pferde und Fußsoldaten bestanden! Er wünschte sich, er könnte die Hälfte des Goldes zurückfordern, das er Luca so freigebig gegeben hatte. »Wie soll ich so viele Männer bezahlen?«, wollte er wissen. »In einem Jahr könnte ich nicht so viele Würfelspiele finden!«

»Nun, was das angeht, ich habe mit König Roedran ein kleines Geschäft gemacht. Wir sind fertig mit ihm, und keinen Augenblick zu früh… ich glaube, er stand kurz davor, sich gegen uns zu wenden; ich erkläre das später. Aber die Schatztruhen der Bande enthalten den Sold für ein Jahr und länger. Davon abgesehen wird der Wiedergeborene Drache Euch früher oder später Güter geben, und zwar großartige. Wie ich gehört habe, hat er Männer zu Herrschern über Nationen gemacht, und Ihr seid zusammen mit ihm aufgewachsen.«

Diesmal kämpfte er nicht gegen die Farben an, als sie sich zu Rand und der Aes Sedai verfestigten. Es war eine Aes Sedai, bestimmt. Sie wirkte wie eine harte Frau. Sollte Rand versuchen, ihm irgendwelche Titel aufzudrängen, würde er sie ihm in den Rachen rammen, genau das würde er tun. Mat Cauthon mochte keine Adligen — nun ja, ein paar wie Talmanes waren schon ganz in Ordnung, und da war Tuon; die durfte man nicht vergessen! —, und er hatte bestimmt nicht das Verlangen, einer zu werden! Trotzdem sagte er: »Kann schon sein.«

Selucia räusperte sich laut. Sie und ihre Herrin lenkten ihre Pferde an Mats Seite, und Tuon saß so gerade im Sattel, so kühl und so majestätisch, dass er erwartete, dass Selucia ihre Titel verkünden würde. Das tat sie jedoch nicht. Stattdessen rutschte sie auf ihrem Braunen herum und schaute ihn finster an, ihre Augen waren wie blaue Kohlen in einem Feuer, dann räusperte sie sich erneut. Sehr laut. Ah.

»Tuon«, sagte Mat, »erlaubt mir, Euch Lord Talmanes Delovinde von Cairhien vorzustellen. Seine Familie ist alt und ehrenhaft, und er hat ihr noch mehr Ehre gemacht.« Die kleine Frau neigte den Kopf. Vielleicht einen ganzen Fingerbreit. »Talmanes, das ist Tuon.« Solange sie ihn Spielzeug nannte, würde sie von ihm keine Titel zu hören bekommen. Selucia starrte wieder, mit noch hitzigerem Blick, so unmöglich das auch erschien.

Talmanes jedoch blinzelte überrascht und verbeugte sich sehr tief auf seinem Sattel. Vanin zog die hängende Krempe seines Hutes noch tiefer und verbarg sein Gesicht zur Hälfte. Er vermied es noch immer, Mat direkt anzusehen. Aha. Also hatte der Mann Talmanes anscheinend schon genau darüber informiert, wer Tuon war.

Mat knurrte kaum hörbar und beugte sich vor, um den Hut vom Speer zu nehmen und den Ashandarei aus dem Boden zu ziehen. Er rammte sich den Hut auf den Kopf.

»Wir wollten weiterreiten, Talmanes. Bringt uns zu Euren Männern, und wir werden sehen, ob wir auf dem Weg aus Altara genauso viel Glück haben werden, die Seanchaner zu meiden, wie Ihr auf dem Weg ins Land.«

»Wir haben viele Seanchaner gesehen«, sagte Talmanes und wendete seinen Braunen, um sich an Pips’ Seite zu setzen.

»Allerdings scheinen die meisten Männer, die wir unterwegs gesehen haben, Altaraner gewesen zu sein. Anscheinend haben sie überall Lager aufgeschlagen. Glücklicherweise haben wir keine dieser fliegenden Kreaturen gesehen, von denen Ihr erzählt habt. Aber es gibt ein Problem, Mat. Da gab es einen Erdrutsch. Ich habe meine Nachhut und einige der Lastpferde verloren. Der Pass ist blockiert, Mat. Ich habe drei Männer losgeschickt, die versuchen sollten, mit Befehlen, die die Bande nach Andor schickten, darüber hinwegzuklettern. Einer hat sich den Hals gebrochen, ein anderer das Bein.«

Mat hielt Pips an. »Ich nehme an, das ist derselbe Pass, von dem Vanin gesprochen hat?«

Talmanes nickte, und Vanin, der sich noch weiter nach hinten verziehen wollte, sagte: »Verdammt richtig, das war er. Pässe wachsen nicht auf Bäumen, nicht in Bergen wie den Damonas.« Er hatte Ränge noch nie respektiert.

»Dann werdet Ihr einen anderen finden müssen«, erwiderte Mat. »Ich habe gehört, dass Ihr auch einen Weg um Mitternacht mit verbundenen Augen findet. Das sollte Euch nicht schwerfallen.« Schmeichelei konnte nie schaden. Davon abgesehen hatte er das tatsächlich über den Mann gehört.

Vanin gab einen Laut von sich, als würde er seine Zunge verschlucken. »Einen anderen Pass finden, sagt der Mann. In Bergen wie den Damonas findet man nicht so einfach einen anderen Pass. Warum, glaubt Ihr, kannte ich nur den einen?« Er musste erschüttert sein, um das zuzugeben. Zuvor hatte er steif und fest behauptet, nur davon gehört zu haben.

»Was meint Ihr?«, wollte Mat wissen, und Vanin erklärte es. Ziemlich ausführlich, soweit es ihn betraf.

»Das hat mir mal eine Aes Sedai erklärt. Versteht Ihr, es gibt alte Berge. Die gab es schon vor der Zerstörung der Welt, vielleicht auf dem Meeresgrund oder so. Die haben viele Pässe, sind breit und sanft. Da kann man hineinreiten, und solange man die Nerven behält und die Richtung kennt und genügend Vorräte hat, kommt man früher oder später auf der anderen Seite an. Und dann gibt es die Berge, die während der Zerstörung der Welt erschaffen wurden.« Der fette Mann wandte den Kopf und spuckte großzügig aus.

»In denen sind die Pässe schmale, gewundene Dinge, und manchmal sind sie auch nicht das, was man als Pass bezeichnen kann. Reitet man in einen von denen hinein, kann man umherwandern, bis der Proviant alle ist, ohne einen Weg auf die andere Seite zu finden. Der Verlust dieses Passes wird einer Menge Leute schaden, die ihn für, sagen wir, unversteuerte Ware benutzen, und Männer werden sterben, bevor sie einen neuen finden, der sie auf die andere Seite bringt. Ziehen wir ohne diesen Pass in die Damonas, werden wir vermutlich auch alle sterben. Die, die nicht rechtzeitig umkehren, die werden auch den Rückweg nicht mehr finden.«

Mat sah sich um, schaute Tuon an, die Aes Sedai, Olver.

Sie alle verließen sich darauf, dass er sie in Sicherheit brachte, aber seine sichere Route aus Altara heraus gab es nicht länger. »Reiten wir«, sagte er. »Ich muss nachdenken.« Er musste verflucht noch mal so angestrengt nachdenken, wie er nur konnte.

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