3 In den Gärten

Aran’gar folgte Moridins Ruf, der in ihren wilden Träumen erfolgt war, aber sie fand ihn bei ihrem Eintreffen noch nicht vor. Das war kaum überraschend: er liebte seinen großen Auftritt. Elf hohe Lehnstühle, mit Schnitzereien übersät und vergoldet, standen auf dem gestreiften Holzfußboden zu einem Kreis angeordnet, aber sie waren leer. Semirhage, wie gewöhnlich ganz in Schwarz, wandte den Kopf, um zu sehen, wer da eintrat, dann führte sie ihre gedämpfte Unterhaltung mit Demandred und Mesaana in der Zimmerecke fort. Demandreds hakennasiges Gesicht zeigte einen wütenden Ausdruck, der ihn nur noch schneidiger machte. Natürlich reichte das nicht, um sie anzuziehen. Dazu war er viel zu gefährlich. Aber der eng sitzende Mantel aus bronzefarbener Seide mit dem üppigen schneeweißen Spitzenbesatz an Hals und Ärmeln stand ihm. Mesaana trug ebenfalls die Mode dieses Zeitalters, ein dunkleres, mit Mustern geschmücktes Bronze. Aus irgendeinem Grund erschien sie blass und zurückhaltend, beinahe so, als wäre sie krank. Nun, das war möglich. In diesem Zeitalter gab es einige widerwärtige Krankheiten, und es erschien unwahrscheinlich, dass selbst sie Semirhage genug vertraute, um sich von ihr einer Heilung zu unterziehen. Graendal, der einzige andere anwesende Mensch, stand in der gegenüberliegenden Ecke und hielt einen feinen Kristallkelch, der mit dunklem Wein gefüllt war, aber sie beobachtete das Trio, statt zu trinken. Nur Narren ignorierten, von Graendal beobachtet zu werden, aber die drei machten mit ihrem heftigen Gemurmel weiter.

Die Stühle passten nicht zum Rest der Umgebung. Der Raum schien Bildwände zu haben, aber der steinerne Bogen einer Tür zerstörte die Illusion. Hier in Tel’aran’rhiod hätten es alle möglichen Stühle sein können, also warum nicht welche, die zu dem Raum passten, und warum elf, wenn das doch zwei mehr als nötig waren? Asmodean und Sammael mussten so tot wie Be’lal und Rahvin sein. Warum nicht die übliche Schwingtür eines Aussichtsraums? Der Aufbau erweckte den Anschein, dass der Saal in den Ansaline-Gärten stand, in denen Cormalindes Masoons gewaltige Skulpturen von stilisierten Menschen und Tieren niedrige Gebäude überragten, die selbst wie zerbrechliche Skulpturen aus gesponnenem Glas aussahen. In den Gärten hatte man nur die besten Weine serviert, die köstlichsten Speisen, und es war eigentlich fast immer möglich gewesen, eine schöne Frau mit großen Gewinnen an den C/n’rz/’e-Rädern zu beeindrucken; obwohl, es war schwierig gewesen, genug zu betrügen, um ständige Gewinne zu machen. Schwierig, aber notwendig für einen Gelehrten, dem das nötige Geld fehlte. Das alles gab es nicht mehr, hatte im dritten Kriegsjahr in Ruinen gelegen.

Ein goldhaariges, stets lächelndes Zomara in einer luftigen weißen Bluse und engen Hosen verbeugte sich geschmeidig und bot Aran’gar auf einem Silbertablett einen Kristallkelch Wein an. Anmutig und wunderschön androgyn, trotz der toten schwarzen Augen scheinbar menschlich, waren diese Kreaturen eine von Aginors weniger inspirierten Schöpfungen gewesen. Doch selbst in ihrem Zeitalter, als man Moridin noch Ishamael genannt hatte — sie hatte nicht mehr den geringsten Zweifel, wer er war —, hatte er diesen Kreaturen mehr als menschlichen Dienern vertraut, obwohl sie für keine andere Aufgabe zu gebrauchen waren. Er musste irgendwo einen Stasiskasten gefunden haben, der mit diesen Dingern voll gestopft war. Er hatte Dutzende davon, auch wenn er sie nur selten rausholte. Aber zehn weitere standen da und warteten, anmutig, obwohl sie still dastanden. Er musste dieses Treffen für wichtiger als die meisten halten.

Sie nahm den Pokal und bedeutete der Zomara zu gehen, obwohl sie sich bereits abwandte, bevor sie eine Bewegung machen konnte. Sie hasste die Fähigkeit der Kreaturen, zu wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Wenigstens konnte sie anderen nicht mitteilen, was sie dort erfuhr. Abgesehen von Befehlen verblassten alle Erinnerungen innerhalb von Minuten. Sogar Aginor hatte genug Verstand, um die Notwendigkeit dafür einzusehen. Würde er heute kommen?

Osan’gar hatte seit dem Misserfolg in Shadar Logoth jedes Treffen versäumt. Die wahre Frage war natürlich, ob er zu den Toten gehörte oder in einem Geheimauftrag unterwegs war, vielleicht auf Anweisung des Dunklen Königs? Was nun auch davon stimmte, seine Abwesenheiten boten köstliche Gelegenheiten, aber das wiederum barg viele Gefahren. In der letzten Zeit hatte sie viel über Gefahren nachgedacht.

Sie schlenderte zu Graendal hinüber. »Was glaubt Ihr, Graendal, wer ist als Erster eingetroffen? Soll mich doch der Schatten holen, aber wer es auch war, er hat eine deprimierende Umgebung gewählt.« Lanfear hatte Zusammenkünfte bevorzugt, die in endloser Nacht schwebten, aber auf seine Weise war das hier schlimmer, so als würde man sich auf einem Friedhof treffen.

Graendal lächelte schmal. Das heißt, sie versuchte es, aber keine Bemühungen konnten diese Lippen schmal erscheinen lassen. Üppig war das Wort, das in jeder Hinsicht auf Graendal zutraf, üppig und reif und wunderschön, und das alles kaum verhüllt von ihrem Gewand aus Streith. Obwohl sie vielleicht nicht so viele Ringe hätte tragen sollen, die mit Ausnahme von einem mit Edelsteinen geschmückt waren. Auch das mit Rubinen übersäte Diadem biss sich mit dem strohblonden Haar.

Mit Aran’gars Smaragdkette war das natürlich etwas ganz anderes; Delana hatte sie ihr gegeben, und sie passte viel besser zu der smaragdgrünen Seide ihres Kleides. Natürlich war diese Seide ein Produkt der Welt der Träume, auch wenn die Smaragde echt waren. Mit einem so tief ausgeschnittenen Kleid hätte sie in der Welt der Wachen zu viel Aufmerksamkeit erregt, falls es überhaupt gehalten hätte und oben geblieben wäre. Und da war der Schlitz, der ihr linkes Bein bis zur Hüfte entblößte. Sie hatte bessere Beine als Graendal. Zuerst hatte sie ja über zwei Schlitze nachgedacht. Im Gegensatz zu anderen von ihnen waren ihre Fähigkeiten hier nicht so groß — sie konnte Egwenes Träume nicht finden, ohne dass sich das Mädchen direkt neben ihr befand —, aber sie konnte die Kleider erschaffen, die sie wollte. Sie genoss es, dass man ihren Körper bewunderte, und je mehr sie ihn zur Schau stellte, desto mehr hielten die anderen sie für unwichtig.

»Ich bin als Erste eingetroffen«, sagte Graendal und runzelte leicht die Stirn. »Ich habe schöne Erinnerungen an die Gärten.«

Aran’gar schaffte es, ein Lachen hervorzubringen. »Ich auch, ich auch.« Die Frau war eine Närrin, genau wie der Rest, sie lebten in der Vergangenheit inmitten der Trümmer dessen, was verloren war. »Wir werden die Gärten nie wiedersehen, aber wir werden Dinge sehen, die ihnen ähnlich sind.« Sie selbst war die Einzige von ihnen, die dazu geschaffen war, in diesem Zeitalter zu herrschen. Sie war die Einzige, die primitive Kulturen verstand. Vor dem Krieg waren sie ihr Spezialfach gewesen. Immerhin hatte Graendal nützliche Fähigkeiten und weitaus mehr Kontakte unter den Freunden der Dunkelheit, als sie sie hatte. Auch wenn sie sicher nicht begeistert sein würde, wie Aran’gar diese benutzen wollte, sollte sie es erfahren. »Ist Euch eigentlich klar, dass all die anderen Allianzen haben, während Ihr und ich ganz allein dastehen?« Und Osan’gar, falls er noch lebte, aber es bestand keine Notwendigkeit, ihn da reinzuziehen.

Graendals Gewand nahm eine dunklere graue Farbe an und verschleierte bedauerlicherweise die Aussicht. Es war echtes Streith. Aran’gar hatte selbst zwei Stasiskästen gefunden, aber die waren größtenteils mit entsetzlichem Müll gefüllt gewesen.

»Ist Euch eigentlich bewusst, dass dieser Raum Ohren haben muss? Die Zomaran waren bei meinem Eintreffen schon hier.«

»Graendal.« Sie schnurrte den Namen. »Wenn Moridin zuhört, wird er annehmen, dass ich versuche, in Euer Bett zu kommen. Er weiß, dass ich niemals eine Allianz mit anderen eingegangen bin.« In Wahrheit war sie viele eingegangen, aber ihre Verbündeten schienen immer tödliche Missgeschicke zu erleiden, sobald ihre Nützlichkeit endete, und sie nahmen ihr ganzes Wissen über diese Verbindungen mit ins Grab. Die, die Gräber bekamen.

Das Streith wurde so dunkel wie die Mitternacht in Larcheen, rote Flecken erschienen auf Graendals cremig weißen Wangen. Ihre Augen erstarrten zu blauem Eis. Aber ihre Worte widersprachen ihrem Gesichtsausdruck, und ihr Gewand verblasste zu fast völliger Transparenz, als sie sprach, ganz langsam, nachdenklich. »Eine interessante Idee. Eine, die ich noch nie in Betracht gezogen habe. Vielleicht tue ich das jetzt. Vielleicht. Aber Ihr werdet mich… überzeugen müssen.« Gut. Graendals Verstand war so schnell wie immer. Es erinnerte sie daran, dass sie vorsichtig sein musste. Sie wollte Graendal benutzen und dann loswerden, und nicht in einer ihrer Fallen gefangen werden.

»Ich bin sehr gut darin, schöne Frauen zu überzeugen.«

Sie streckte die Hand aus, um Graendals Wange zu liebkosen. Es war nie zu früh, damit anzufangen, die anderen zu überzeugen. Davon abgesehen ergab sich daraus vielleicht mehr als bloß eine Allianz. Graendal hatte ihr immer schon gefallen. Sie erinnerte sich nicht mehr richtig daran, ein Mann gewesen zu sein. In ihren Erinnerungen hatte sie den Körper, den sie jetzt besaß, was ein paar Merkwürdigkeiten mit sich brachte, aber der Einfluss dieses Körpers hatte nicht alles verändert. Ihre Gelüste waren nicht völlig anders, sie waren nur umfassender geworden. Sie hätte dieses Streithgewand gern gehabt. Natürlich auch alles andere Nützliche, das Graendal möglicherweise besaß, aber manchmal träumte sie davon, dieses Gewand zu tragen. Sie trug nur deshalb keines, weil sie nicht wollte, dass die andere Frau glaubte, sie würde sie imitieren.

Das Streith blieb kaum durchsichtig, aber Graendal trat von der Liebkosung fort und sah an Aran’gar vorbei, die sich umdrehte und Mesaana herankommen sah, die von Demandred und Semirhage flankiert wurde. Demandred machte noch immer einen ärgerlichen Eindruck, während Semirhage auf kühle Weise amüsiert zu sein schien. Mesaana war noch immer blass, aber erschien nicht länger niedergeschlagen. Nein, ganz und gar nicht. Sie war eine fauchende Coreer und spuckte Gift und Galle.

»Warum habt Ihr sie gehen lassen, Aran’gar? Ihr solltet sie doch kontrollieren! Seid Ihr so damit beschäftigt gewesen, mit ihr Eure kleinen Traum-Spiele zu spielen, dass Ihr vergessen habt, in Erfahrung zu bringen, was sie dachte? Ohne sie als Galionsfigur wird die Rebellion auseinander fallen. Meine ganze sorgfältige Planung ist ruiniert, weil Ihr ein ignorantes Mädchen nicht unter Kontrolle halten konntet!«

Aran’gar beherrschte sich. Sie konnte ihr Temperament im Zaum halten, wenn sie es wollte. Statt zu knurren, lächelte sie. Konnte sich Mesaana tatsächlich in der Weißen Burg aufhalten? Wäre es nicht wunderbar, wenn sie eine Möglichkeit fände, die drei auseinander zu bringen? »Ich habe letzte Nacht eine Sitzung des Rebellensaals belauscht. In der Welt der Träume, damit sie sich in der Weißen Burg treffen konnten, unter Egwenes Vorsitz. Sie ist nicht die Galionsfigur, für die Ihr sie gehalten habt. Ich habe versucht, Euch das klar zu machen, aber ihr wolltet ja nie zuhören.« Das kam zu hart heraus. Mit einer Anstrengung — und es kostete eine Anstrengung — schlug sie einen gemäßigteren Tonfall an. »Egwene hat ihnen alles über die Situation in der Burg berichtet, dass sich die Ajahs gegenseitig an die Kehle gehen. Sie hat sie davon überzeugt, dass die Burg zerbricht, und dass sie das unterstützen kann, dort, wo sie ist. An Eurer Stelle würde ich mir Sorgen machen, ob ich die Burg noch lange genug zusammenhalten kann, um diesen Konflikt weiter am Leben zu halten.«

»Sie sind entschlossen durchzuhalten?«, murmelte Mesaana. Sie nickte. »Gut. Gut. Dann geht alles nach Plan. Ich dachte, ich würde irgendeine ›Rettung‹ in die Wege leiten müssen, aber vielleicht kann ich warten, bis Elaida ihren Willen gebrochen hat. Dann sollte ihre Rückkehr noch mehr Verwirrung hervorrufen. Ihr müsst mehr Unfrieden stiften, Aran’gar. Ich will, dass sich diese so genannten Aes Sedai bis aufs Blut hassen, bevor ich mit ihnen fertig bin.«

Ein Zomara erschien und verbeugte sich anmutig, während es ein Tablett mit drei Pokalen anbot. Mesaana und ihre Gefährten nahmen den Wein, ohne einen Blick an die Kreatur zu verschwenden, und es verneigte sich erneut, bevor es verschwand.

»Sie war schon immer gut darin, Unfrieden zu stiften«, sagte Semirhage. Demandred lachte.

Aran’gar unterdrückte ihren Zorn. Sie trank ihren Wein — er war ziemlich gut, mit einem berauschenden Aroma, auch wenn er den Jahrgängen nicht nahe kam, die in den Gärten serviert worden waren —, legte die freie Hand auf Graendals Schulter und spielte mit einer der sonnenfarbenen Locken. Die Frau verzog keine Miene, das Streith blieb nebelgleich. Entweder genoss sie es, oder sie verfügte über eine bessere Selbstbeherrschung, als möglich erschien. Semirhages Lächeln wurde noch amüsierter. Auch sie holte sich ihr Vergnügen, wo sie es finden konnte, allerdings hatten ihre Vergnügungen Aran’gar noch nie gereizt.

»Wenn ihr euch schon betatschen müsst«, knurrte Demandred, »dann macht das privat.«

»Eifersüchtig?«, murmelte Aran’gar und lachte leise über sein Stirnrunzeln. »Wo hält man das Mädchen fest, Mesaana? Sie hat es nicht gesagt.«

Mesaana kniff die großen blauen Augen zusammen. Sie waren ihr bestes Merkmal, aber wenn sie die Stirn runzelte, wirkten sie nur noch gewöhnlich. »Warum wollt Ihr das wissen? Damit Ihr sie selbst ›retten‹ könnt? Ich werde Euch das nicht verraten.«

Graendal zischte, und Aran’gar wurde sich bewusst, dass sich ihre Hand in Graendals goldenem Haar zu einer Faust verkrampft hatte, die ihren Kopf nach hinten bog. Ihr Gesicht blieb gelassen, aber ihr Gewand hatte sich in roten Nebel verwandelt, der immer dunkler wurde, weniger durchsichtig. Aran’gar löste ihren Griff, ließ die Hand aber dort locker ruhen. Einer der ersten Schritte bestand darin, dein Wild an deine Berührung zu gewöhnen. Sie gab sich allerdings keine Mühe, die Wut aus ihrer Stimme rauszuhalten. Sie bleckte offen die Zähne. »Ich will das Mädchen haben, Mesaana. Ohne sie habe ich viel schwächere Werkzeuge, mit denen ich arbeiten muss.«

Mesaana trank ungerührt einen Schluck Wein, bevor sie antwortete. Ungerührt! »Laut Euren eigenen Worten braucht Ihr sie überhaupt nicht. Es war mein Plan, Aran’gar, von Anfang an. Ich werde ihn den Notwendigkeiten anpassen, aber es ist meiner. Und ich werde entscheiden, wann und wo das Mädchen freigelassen wird.«

»Nein, Mesaana, ich werde das Wo und Wann entscheiden, und ob sie überhaupt befreit wird«, verkündete Moridin und durchschritt den Torbogen. Also hatte er Ohren an diesem Ort. Diesmal kam er ganz in Schwarz gekleidet, ein Schwarz, das noch dunkler war als das, das Semirhage trug. Wie gewöhnlich folgten ihm Moghedien und Cyndane, beide in identisches Rot und Schwarz gekleidet, das keinem von beiden stand. Welche Macht hatte er über sie? Zumindest Moghedien war niemals jemandem freiwillig gefolgt. Was die schöne, vollbusige kleine Puppe Cyndane anging… Aran’gar hatte sich an sie herangemacht, nur um zu sehen, was man in Erfahrung bringen konnte, und das Mädchen hatte eiskalt damit gedroht, ihr das Herz rauszureißen, sollte sie sie noch einmal anfassen. Kaum die Worte von jemandem, der sich leichthin unterwarf.

»Sammael scheint wieder aufgetaucht zu sein«, verkündete Moridin, schritt durch den Raum und setzte sich. Er war ein großer Mann, und er ließ den verzierten hochlehnigen Stuhl wie einen Thron erscheinen. Moghedien und Cyndane setzten sich zu seinen Seiten, aber interessanterweise erst, nachdem er Platz genommen hatte. Zomaran in Schneeweiß waren sofort mit Wein da, aber Moridin erhielt seinen zuerst. Was auch immer dort vor sich ging, die Zomaran spürten es.

»Das erscheint kaum möglich«, sagte Graendal, als alle auf die Stühle zugingen. Ihr Gewand war jetzt dunkelgrau, verbarg alles. »Er muss tot sein.« Aber keiner beeilte sich. Moridin war der Nae’blis, aber außer Moghedien und Cyndane war keiner bereit, auch nur einen Hauch von Unterwürfigkeit zu zeigen. Aran’gar jedenfalls nicht.

Sie wählte einen Stuhl gegenüber von Moridin aus, von wo aus sie ihn unauffällig beobachten konnte. Und Moghedien und Cyndane. Moghedien war so still, dass sie genauso gut Teil des Stuhls hätte sein können. Cyndane war eine Königin, ihr Gesicht wie aus Eis gemeißelt. Der Versuch, den Nae’blis zu stürzen, war gefährlich, doch diese beiden hielten möglicherweise den Schlüssel dazu. Wenn sie nur herausfinden könnte, wie sie ihn drehen musste. Graendal setzte sich neben sie, der Stuhl stand plötzlich näher. Aran’gar hätte ihr die Hand auf das Handgelenk legen können, sah aber davon ab und beschränkte sich auf ein träges Lächeln. Es war besser, sich jetzt zu konzentrieren.

»Er hätte es niemals ertragen können, so lange verborgen zu bleiben«, warf Demandred ein, räkelte sich auf seinem Stuhl zwischen Semirhage und Mesaana, die Beine übereinander geschlagen, als wäre er völlig entspannt. Das erschien zweifelhaft. Er gehörte auch zu denen, die unversöhnlich waren, davon war sie überzeugt. »Sammael musste immer unbedingt im Mittelpunkt stehen.«

»Trotzdem hat Sammael oder jemand, der sich für ihn ausgegeben hat, den Myrddraal Befehle gegeben, also war es einer der Auserwählten.« Moridin sah sie einer nach dem anderen an, als könnte er entdecken, wer es gewesen war. Schwarzes Saa rieselte in einem stetigen Strom durch seine blauen Augen. Sie verspürte kein Bedauern mehr, dass die Wahre Macht allein ihm zur Verfügung stand. Der Preis war viel zu hoch. Ishamael war sicherlich halb verrückt gewesen, und als Moridin war er es immer noch. Wie lange würde es dauern, bis sie ihn entfernen konnte?

»Verratet Ihr uns, wie diese Befehle gelautet haben?« Semirhages Tonfall war kühl, und sie nippte ruhig an ihrem Wein, beobachtete Moridin über den Pokalrand. Sie saß sehr aufrecht da, aber das tat sie immer. Auch sie erschien völlig entspannt, aber das war unwahrscheinlich.

Moridin presste die Lippen zusammen. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich zögernd. Das gefiel ihm nicht.

»Aber sie haben hundert Myrddraal und Tausende von Trollocs in die Wege geschickt.«

»Das hört sich nach Sammael an«, sagte Demandred nachdenklich, drehte seinen Pokal und betrachtete den kreisenden Wein. »Vielleicht habe ich mich geirrt.« Ein erstaunliches Eingeständnis, da es von ihm kam. Oder ein Versuch zu verbergen, dass er derjenige war, der sich als Sammael ausgegeben hatte. Aran’gar hätte nur zu gern gewusst, wer da angefangen hatte, sein eigenes Spiel zu spielen. Oder ob Sammael wirklich noch am Leben war.

Moridin grunzte säuerlich. »Gebt an eure Freunde der Dunkelheit den Befehl weiter. Jeder Bericht von Trollocs oder Myrddraal außerhalb der Fäule geht sofort an mich weiter, sobald ihr ihn erhalten habt. Die Zeit der Rückkehr kommt bald. Keiner darf mehr auf eigene Faust handeln.« Er musterte sie wieder, einen nach dem anderen mit Ausnahme von Moghedien und Cyndane. Aran’gar erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln, das noch träger als Graendals war. Mesaana zuckte vor ihm zurück.

»Wie Ihr zu Eurem Leidwesen erfahren habt«, sagte er zu Mesaana, und so unwahrscheinlich das auch erscheinen mochte, ihr Gesicht verlor noch mehr an Farbe. Sie nahm einen tiefen Schluck aus dem Pokal, ihre Zähne klirrten gegen das Kristall. Semirhage und Demandred vermieden es, sie anzusehen.

Aran’gar wechselte mit Graendal einen Blick. Etwas war geschehen, um Mesaanas Nichterscheinen in Shadar Logoth zu bestrafen, aber was? Einst hätte eine Pflichtverletzung von diesem Ausmaß den Tod bedeutet. Dafür waren sie jetzt zu wenige. Cyndane und Moghedien schienen so neugierig zu sein wie sie, also wussten sie es auch nicht.

»Wir können die Zeichen so deutlich erkennen wie Ihr, Moridin«, sagte Demandred gereizt. »Die Zeit ist nahe. Wir müssen die restlichen Siegel auf dem Kerker des Großen Herrn finden. Ich habe meine Anhänger überall suchen lassen, aber sie haben nichts gefunden.«

»Ah, ja, die Siegel. In der Tat, sie müssen gefunden werden.« Moridins Lächeln erschien beinahe selbstzufrieden.

»Nur drei sind noch übrig, alle in al’Thors Besitz, obwohl ich bezweifle, dass er sie bei sich trägt. Sie könnten jetzt zu schnell brechen. Er wird sie versteckt haben. Führt eure Leute zu den Orten, an denen er war. Sucht sie selbst.«

»Am einfachsten wäre es, Lews Therin zu entführen.«

Cyndanes Stimme bot einen auffälligen Kontrast zu ihrem Auftreten als Eiskönigin; sie war atemlos und schwül, eine Stimme wie dazu geschaffen, sich leicht bekleidet auf weiche Kissen zu legen. In diesen großen blauen Augen lag jetzt eine beträchtliche Leidenschaft. Eine verzehrende Hitze. »Ich kann ihn dazu bringen, dass er verrät, wo die Siegel sind.«

»Nein!«, fauchte Moridin und fixierte sie mit einem starren Blick. »Ihr würdet ihn ›versehentlich‹ umbringen. Den Zeitpunkt und die Art von al’Thors Tod werde ich bestimmen. Niemand sonst.« Seltsamerweise legte er die freie Hand auf die Mantelbrust, und Cyndane zuckte zusammen. Moghedien fröstelte. »Niemand sonst«, wiederholte er in hartem Tonfall.

»Niemand sonst«, sagte Cyndane. Als er die Hand senkte, atmete sie leise aus und trank einen Schluck Wein. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn.

Aran’gar fand den Austausch aufschlussreich. So wie es aussah, würde sie Moghedien und das Mädchen an der Leine haben, sobald sie sich Moridin vom Hals geschafft hatte. Sehr gut, in der Tat.

Moridin nahm die Schultern zurück und richtete den Blick auf den Rest von ihnen. »Das gilt für euch alle. Al’Thor gehört mir. Ihr werdet ihm kein Haar krümmen!« Cyndane beugte den Kopf über den Pokal und trank, aber der Hass in ihren Augen war offensichtlich. Graendal hatte behauptet, dass es sich in Wirklichkeit bei ihr gar nicht um Lanfear handelte, dass sie in der Einen Macht schwächer war, aber sie war offensichtlich auf al’Thor fixiert, und sie nannte ihn bei demselben Namen, den Lanfear immer benutzt hatte.

»Wenn ihr jemanden töten wollt«, fuhr er fort, »dann die beiden!« Plötzlich standen die Abbilder zweier junger Männer in schmuckloser Landkleidung in der Mitte des Kreises, die sich drehten, damit jeder ihre Gesichter gut sehen konnte. Der eine war groß und breit, hatte gelbe Augen, unfassbar, während der andere nicht gerade schlank war und ein freches Grinsen zeigte. Als Schöpfungen von Tel’aran’rhiod bewegten sie sich steif, und ihre Mienen änderten sich nicht.

»Perrin Aybara und Mat Cauthon sind Ta’veren, leicht zu finden. Spürt sie auf und tötet sie.«

Graendal lachte, ein humorloser Laut. »Ta’veren zu finden war nie so einfach, wie Ihr behauptet habt, und jetzt ist es noch schwerer als zuvor. Das ganze Muster ist in Bewegung, voller Veränderungen und Ausschlägen.«

»Perrin Aybara und Mat Cauthon«, murmelte Semirhage und betrachtete die beiden Gestalten. »So sehen sie also aus. Wer weiß, Moridin, hättet Ihr das schon früher mit uns geteilt, wären sie möglicherweise bereits tot.«

Moridins Faust krachte auf die Stuhllehne. »Findet sie! Versichert euch, dass eure Anhänger ihre Gesichter kennen. Findet Aybara und Cauthon und tötet sie! Die Zeit kommt, und sie müssen tot sein!«

Aran’gar nippte an ihrem Wein. Sie hatte nichts dagegen, die beiden zu töten, falls sie ihr zufällig über den Weg liefen, aber was Rand al’Thor betraf, würde Moridin schrecklich enttäuscht werden.

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