21 Im Stein

Die schlammigen Straßen der Vorstadt wichen an der Mauer von Tear Kopfsteinpflaster. Das Erste, was Rand auffiel, war die Abwesenheit von Wachtposten. Trotz der Festungswälle mit ihren Türmen war die Stadt weniger wehrhaft als das Stedding Shangtai, wo man ihm und jedem Menschen im Morgengrauen freundlich, aber bestimmt den Eintritt verweigert hatte. Hier waren die Schützengänge auf den Türmen verwaist. Die Tür des rechteckigen grauen Wachhauses direkt hinter dem breiten Tor stand weit geöffnet; dort saß eine hartgesichtige Frau in einem grauen Wollkleid mit hochgeschobenen Ärmeln an einem Waschzuber und schrubbte Wäsche auf dem Waschbrett. Sie schien dort eingezogen zu sein; zwei kleine, schmutzige Kinder, die an den Daumen lutschten, starrten ihn und seine Gefährten mit großen Augen an. Oder zumindest ihre Pferde.

Tai’daishar bot einen spektakulären Anblick, ein schlanker schwarzer Hengst mit gewaltiger Brust, ein Pferd, das auffiel, trotzdem hatte er sich für dieses Tier entschieden. Wenn ihn die Verlorenen so leicht finden konnten wie in Algarins Herrenhaus, ergab jedes Versteckspiel nicht viel Sinn. Oder zumindest jede größere Anstrengung, unerkannt bleiben zu wollen. Er trug schwarze Reithandschuhe, um die Drachenköpfe auf seinen Handrücken und die Reiher in seinen Handflächen zu verbergen. Sein Mantel bestand aus dunkelgrauer Wolle ohne die geringste Stickerei, die Satteldecke des Hengstes war schlicht, und Schwertgriff und Scheide waren in schmuckloses Eberleder gehüllt, seit sie in seinen Besitz gekommen waren; nichts, was einen zweiten Blick lohnte. Cadsuane trug schlichtes graues Tuch und hatte die Kapuze ihres dunkelgrünen Umhangs hochgeschlagen, um ihr Aes-Sedai-Gesicht zu verhüllen, aber Min, Nynaeve und Alivia mussten sich nicht verstecken. Auch wenn Mins blumenbestickter roter Mantel und die engen Hosen möglicherweise die Blicke auf sich zogen, ganz zu schweigen von ihren hochhackigen roten Stiefeln. Rand hatte in Cairhien Frauen gesehen, die sich ähnlich anzogen und sie nachahmten, aber es erschien unwahrscheinlich, dass ihr Stil auch in Tear populär wurde, da hier großer Wert auf Schicklichkeit gelegt wurde. Jedenfalls in der Öffentlichkeit. Nynaeve trug gelb geschlitzte blaue Seide und all ihren Schmuck, den der blaue Umhang kaum verdeckte, aber in Tear würde es viel blaue Seide geben. Sie hatte ihre Stola anlegen wollen! Allerdings steckte sie in der Satteltasche. Jede größere Anstrengung, unerkannt zu bleiben. In der Tat.

Das Zweite, was ihm auffiel, war das Geräusch, ein rhythm isches Klappern, das in regelmäßigen Abständen von einem durchdringenden Pfeifen begleitet wurde. Zuerst nur leise, schien es sich schnell zu nähern. Trotz der frühen Stunde waren die Straßen bevölkert, soweit er es von den Toren aus sehen konnte. Die Hälfte der sichtbaren Menschen schienen vom Meervolk zu stammen, die Männer mit nacktem Oberkörper, die Frauen in hellen Leinenblusen. Sie alle trugen lange Schärpen, die farbiger waren als jene, die die tairenischen Bürger trugen. Jeder Kopf schien dem Geräusch zugewandt zu sein. Kinder flitzten in der Menge umher, wichen größtenteils von Ochsen gezogenen Karren aus und rasten auf das Geräusch zu. Mehrere gut gekleidete Männer und Frauen waren aus ihren Sänften gestiegen und standen neben den Trägern, um zuzusehen. Ein Kaufmann mit einem Gabelbart und Silberketten auf der Brust lehnte sich zur Hälfte aus dem Fenster einer rot lackierten Kutsche und brüllte seinen Fahrer an, das nervös tänzelnde Gespann zu beruhigen, während er versuchte, besser sehen zu können.

Weiße Tauben stiegen plötzlich von schrägen Schieferdächern auf, aufgeschreckt von einem besonders schrillen Pfeifen. Und zwei große Schwärme kollidierten miteinander und bombardierten die Menschen auf der Straße mit benommenen Vögeln.

Jeder einzelne Vogel stürzte in die Tiefe.

Ein paar Leute hörten tatsächlich auf, in die Richtung des näher kommenden Geräuschs zu starren, und schauten stattdessen in den Himmel. Eine überraschend große Zahl von ihnen rissen abgestürzte Vögel vom Pflaster und drehten ihnen die Hälse um, und es waren nicht nur barfüßige Leute in fadenscheiniger Wolle. Eine Frau in Seide und Spitze neben einer der Sänften sammelte schnell ein halbes Dutzend, bevor sie wieder in Richtung des Geräusches schaute. Vögel baumelten von ihren Händen.

Alivia gab einen überraschten Laut von sich. »Ist das Pech oder Glück?«, fragte sie. »Es muss Pech sein. Es sei denn, die Tauben hier sind anders?« Nynaeve warf ihr einen unwirschen Blick zu, sagte aber kein Wort. Seit Lans Verschwinden am Vortag war sie sehr still gewesen, ein Thema, zu dem sie erst recht eisern schwieg.

»Einige dieser Leute werden verhungern«, sagte Min traurig. Der Bund zitterte vor Trauer. »Bei jedem Einzelnen von ihnen kann ich etwas sehen.«

Wie kann ich mich verstecken! Lews Therin lachte. Ich bin ein Ta’veren!

Du bist tot!, dachte Rand scharf. Menschen vor ihm würden verhungern, und er lachte? Natürlich würde man nichts machen können, nicht, wenn Min es sagte, aber zu lachen war eine andere Sache. Ich bin Ta’veren. Ich!

Was geschah noch in Tear wegen seiner Anwesenheit? Sein Wirken als Ta’veren zeigte nicht immer eine Wirkung, aber wenn es das tat, konnte das Resultat eine ganze Stadt betreffen. Es war besser, das zu erledigen, weswegen er hergekommen war, bevor die falschen Leute herausfanden, was Dinge wie miteinander kollidierende Tauben zu bedeuten hatten. Wenn die Verlorenen Trolloc-Heere gegen ihn losschickten, konnte man davon ausgehen, dass Schattenfreunde jede Gelegenheit ergriffen, ihm einen Pfeil in den Leib zu jagen. Sich wenig Mühe zu geben, sich zu verbergen, war nicht das Gleiche, als sich gar keine Mühe zu geben.

»Ihr hättet genauso gut das Banner des Lichts und eine taus end Mann starke Ehrengarde mitbringen können statt nur sechs Leute«, murmelte Cadsuane trocken und warf einen Blick auf die Töchter, die so taten, als hätten sie nichts mit Rands Gruppe zu tun, während sie einen großen Kreis um ihn bildeten, die Shoufa um die Köpfe geschlungen, die Schleier auf der Brust. Zwei waren Shaido, die immer wild blickten, wenn sie ihn ansahen. Die Speere der Töchter steckten hinter den Riemen ihrer Bogenfutterale auf dem Rücken, aber auch nur, weil Rand angedroht hatte, sie zurückzulassen und andere mitzunehmen. Nandera hatte auf zumindest einigen Töchtern beharrt und ihn mit Augen so hart wie Smaragde angesehen. Er hatte nicht einmal daran gedacht, sich zu weigern. Als das einzige Kind einer Tochter, das die Töchter je kennengelernt hatten, hatte er Verpflichtungen zu erfüllen.

Er nahm Tai’daishars Zügel, und plötzlich kam ein großer Wagen voller Maschinen zischend und klappernd in Sicht, breite, eisenbeschlagene Räder schlugen Funken auf dem grauen Kopfsteinpflaster, während er so schnell wie ein Mann im Dauerlauf auf der Straße fuhr. Die Maschinen schwitzten Dampf; ein schwerer Holzschaft fuhr auf und nieder und bewegte einen weiteren, vertikalen Schaft; grauer Holzrauch quoll aus einem Eisenschornstein, aber vorn war kein Pferd zu sehen, sondern nur eine seltsame Ruderpinne, die die Räder lenkte. Einer der drei Männer, die auf dem Wagen standen, zog an einer langen Schnur, und aus einer Röhre auf einem gewaltigen Eisenzylinder entwich mit einem schrillen Pfeifen Dampf. Die Zuschauer sahen ehrfürchtig zu oder bedeckten sich die Ohren, aber das Gespann des Kaufmanns mit dem Gabelbart hatte daran kein Interesse. Die Pferde wieherten schrill, dann gingen sie durch, ließ en Leute auseinanderspritzen und schleuderten beinahe den Passagier heraus. Flüche folgten ihnen, und mehrere blökende Maultiere galoppierten mit ihren Karren los, während die Fahrer sich gegen die Zügel stemmten. Selbst ein paar Ochsen trotten schneller daher. Mins Erstaunen erfüllte den Bund.

Auch Rand starrte erstaunt — während er den schwarzen Hengst mit einem Schenkeldruck kontrollierte. Tai’daishar war ein ausgebildetes Schlachtross und reagierte augenblicklich, auch wenn er schnaubte. Anscheinend hatte Meister Poel seinen Dampfwagen tatsächlich zum Laufen gebracht.

»Aber wie ist das Ding nach Tear gekommen?«, fragte er laut. Als er es das letzte Mal gesehen hatte, hatte es in der Akademie von Cairhien gestanden und war alle paar Schritte stehen geblieben.

»Man nennt das ein Dampfpferd, mein Lord«, sagte ein barfüßiger Straßenjunge mit schmutzigem Gesicht und zerlumptem Hemd, der auf und ab hüpfte. Selbst die Schärpe, die seine weiten Hosen hielt, schien aus fast so vielen Löchern wie Stoff zu bestehen. »Ich habe es neunmal gesehen! Cam da vorn hat ihn bloß siebenmal gesehen!«

»Ein Dampfwagen, Doni«, warf sein genauso zerlumpter Gefährte ein. »Ein Dämpfungen.« Keiner von ihnen konnte älter als zehn sein, und sie waren eher hager als dürr. Ihre schlammverdreckten Füße, zerrissenen Hemden und löcherigen Hosen bedeuteten, dass sie von außerhalb der Mauern kamen, wo die ärmsten Leute lebten. Rand hatte einige Gesetze Tears geändert, vor allem jene, die besonders die Armen schwer knechteten, aber er hatte nicht alles verändern können. Er hatte nicht einmal gewusst, wo er überhaupt anfangen sollte. Lews Therin fing an, sich über Steuern und Geld, das Arbeitsplätze schaffte, auszulassen, aber er hätte genauso gut Worte aufs Geratewohl von sich geben können, so viel Sinn ergaben sie. Rand dämpfte die Stimme, bis sie bloß ein Summen war, eine Fliege in der anderen Zimmerhälfte.

»Vier von ihnen zusammengebunden, einer hinter dem anderen, haben hundert Wagen den ganzen Weg von Cairhien hergezogen«, fuhr Doni fort und ignorierte den anderen Jungen. »Sie haben fast hundert Meilen am Tag zurückgelegt, mein Lord. Hundert Meilen!«

Com seufzte schwer. »Es waren sechs von ihnen, Doni, und sie haben nur fünfzig Wagen gezogen, aber sie haben jeden Tag mehr als hundert Meilen zurückgelegt. Manchmal hundertzwanzig Meilen, habe ich gehört, und das hat einer der Dampfmänner gesagt.« Doni drehte sich um und starrte ihn finster an, sie ballten die Fäuste.

»Es ist auf jeden Fall eine erstaunliche Leistung«, sagte Rand schnell, bevor sie sich zu prügeln anfingen. »Hier.«

Er griff in die Manteltasche, zog zwei Münzen heraus und warf jedem der Jungen eine zu, ohne auf ihren Wert zu achten. Gold funkelte in der Luft, bevor die Jungen begierig nach den Münzen griffen. Sie tauschten überraschte Blicke aus, dann rannten sie so schnell sie konnten durch das Tor, ohne jeden Zweifel von der Furcht erfüllt, dass er die Münzen zurückverlangen würde. Von so viel Gold konnten ihre Familien monatelang leben.

Min sah ihnen mit einer Trauer nach, die im Bund noch nachhallte, nachdem sie den Kopf geschüttelt und ihre Miene wieder unter Kontrolle gebracht hatte. Was hatte sie gesehen? Vermutlich den Tod. Rand verspürte Wut, aber keine Trauer. Wie viele Zehntausende würden sterben, bevor die Letzte Schlacht vorbei war? Wie viele würden Kinder sein? In ihm war kein Platz für Trauer mehr übrig.

»Sehr großzügig«, sagte Nynaeve mit angespannter Stimme, »aber wollen wir hier den ganzen Tag lang herumstehen?« Der Dampfwagen verschwand schnell aus der Sicht, aber ihre kräftige braune Stute schnaubte noch immer nervös und warf den Kopf hoch, und sie hatte Schwierigkeiten mit dem Tier, so friedlich seine Natur auch sonst war. Sie war bei weitem keine so gute Reiterin, wie sie dachte. Was das anging, Mins Reittier, eine graue Stute aus Algarins Ställ en, tänzelte so sehr, dass nur Mins fester Griff an den Zügeln sie vom Durchgehen abhielt, und Alivias Rotschimmel wollte tänzeln, aber die ehemalige Damane kontrollierte das Tier so leicht wie Cadsuane ihren Braunen. Manchmal zeigte Alivia überraschende Talente. Von Damane wurde erwartet, dass sie gut reiten konnten.

Auf dem Weg in die Stadt warf Rand dem verschwindend en Dampfwagen einen letzten Blick hinterher. Bemerkenswert traf es nicht einmal annähernd. Einhundert Wagen oder nur fünfzig — nur! —, unglaublich kam dem schon näher. Würden Kaufleute anfangen, diese Dinger statt Pferden zu benutzen? Das erschien unwahrscheinlich. Kaufleute waren konservativ, nicht dafür bekannt, sich auf neue Methoden zu stürzen. Aus irgendeinem Grund fing Lews Therin wieder an zu lachen.

Tear war nicht so wunderschön wie Caemlyn oder Tar Valon, und nur wenige seiner Straßen konnte man als breit bezeichnen, aber es war groß und weitläufig, eine der großen Städte der Welt, und wie die meisten großen Städte stellte es ein Durcheinander dar, das zufällig gewachsen war. In den verworrenen Straßen standen schindelgedeckte Gasthäuser und schiefergedeckte Ställe, deren Dachkanten scharfe Winkel aufwiesen, neben Palästen mit weißen Kuppeln und hohen, von Baikonen gesäumten Türmen, die oft spitz zuliefen, und die hohen Kuppeln und Türme funkelten im Licht der Morgensonne. Schmieden und Messerschmieden, Näherinnen und Metzger, Fischhändler und Teppichläden drängten sich an Marmorgebäude mit hohen Bronzetoren hinter massiven weißen Säulen, Gildenhallen und Banken und Kaufmannsbörsen.

Zu dieser Stunde lagen die Straßen noch in tiefe Schatten gehüllt, dennoch wimmelten sie mit jener sprichwörtlichen südlichen Geschäftigkeit. Sänften suchten sich ihren Weg fast genauso schnell durch die Menge wie die spielenden Kinder, während Kutschen mit vier oder sechs Pferden genauso langsam vorankamen wie die Karren und Wagen, die größt enteils von großen Ochsen gezogen wurden. Träger trotteten vorbei, die Lasten an Stangen gehängt, die auf den Schultern von zwei Männern ruhten, und Lehrlinge trugen zusammengerollte Teppiche und Kisten mit der Arbeit ihrer Meister auf dem Rücken. Straßenhändler priesen lautstark ihre Waren auf den Bauchläden oder Schubkarren an, Nadeln und Schleifen, geröstete Nüsse und Fleischpasteten, und an fast jeder Ecke standen Jongleure und Musikanten. Man wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass sich diese Stadt im Belagerungszustand befand.

Aber nicht alles war friedlich. Trotz der frühen Stunde sah Rand lärmende Betrunkene, die aus Schenken und Gasthäusern geworfen wurden, und so viele Männer, die sich auf dem Straßenpflaster balgten, dass es den Anschein hatte, dass das eine Paar noch nicht außer Sicht war, bevor man auf das nächste stieß. In der Menge waren viele Waffenmänner zu sehen, Schwerter an den Hüften und die dicken Ärmel ihrer Wollmäntel mit den Streifen diverser Hausfarben versehen, aber selbst jene mit Brustharnischen und Helmen machten keine Anstalten, die Kämpfe zu beenden. In etliche waren die Waffenmänner selbst verwickelt, sie kämpften gegeneinander, mit dem Meervolk, mit einfach gekleideten Burschen, die möglicherweise Tagelöhner oder Lehrlinge waren. Soldaten, die nichts zu tun hatten, langweilten sich schnell, und gelangweilte Soldaten betranken sich und rauften. Rand war froh, die Waffenmänner der Rebellen gelangweilt zu sehen.

Die Töchter, die sich ihren Weg durch die Menge suchten und noch immer so taten, als würden sie nicht zu Rand gehören, zogen verblüffte Blicke auf sich, vor allem von dem dunkelhäutigen Meervolk. Einige Kinder folgten ihnen sogar und starrten sie an. Die Tairener, von denen viele kaum hellhäutiger als das Meervolk waren, hatten schon Aiel gesehen, und falls sie sich fragten, warum sie wieder in der Stadt waren, beschäftigten sie heute Morgen anscheinend wichtigere Dinge. Niemand schien für Rand oder seine anderen Gefährten einen zweiten Blick übrig zu haben. Auf der Straße waren noch andere Männer und Frauen zu Pferd, die meisten davon Ausländer, hier ein blasser cairhienischer Kaufmann in einem dunklen Mantel, dort ein Arafelianer mit Silberglöckchen an seinen dunklen Zöpfen, hier eine kupferhäutige Domani in einem beinahe durchsichtigen Reitgewand, das kaum von ihrem Umhang verhüllt wurde, begleitet von zwei riesigen Leibwächtern in Ledermänteln mit aufgenähten Stahlscheiben, und dort ein fetter Schienarer mit bis auf einen grauen Haarschopf glatt rasiertem Kopf. Man konnte in Tear keine zehn Schritte gehen, ohne einen Ausländer zu sehen. Der tairenische Handel hatte lange Arme.

Was nicht bedeutete, dass Rand die Stadt ohne jeden Zwis chenfall durchquerte. Vor ihm stolperte ein laufender Bäckerbursche, fiel und schleuderte seinen Korb in die Luft; als sich der Junge aufrappelte, ritt Rand gerade vorbei, und er hielt mitten in der Bewegung mit offen stehendem Mund inne und starrte die langen Brote an, die ganz in der Nähe des Korbes alle aufrecht standen und in etwa einen Kegel bildeten. Ein Bursche in Hemdsärmeln, der im ersten Stock eines Gasthauses am offenen Fenster stand und trank, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem Aufschrei auf die Straße, der verstummte, als er keine zehn Schritte von Tai’daishar entfernt auf den Füßen landete, den Becher noch immer in der Hand. Rand ließ ihn zurück, wie er sich erstaunt und mit noch immer weit aufgerissenen Augen betastete. Wellen veränderter Wahrscheinlichkeiten folgten Rand und breiteten sich in der ganzen Stadt aus.

Nicht jedes Ereignis würde so harmlos wie die Brotlaibe sein oder so nützlich wie der Mann, der auf den Füßen statt auf dem Kopf landete. Diese Wellen konnten eine harmlose Rauferei ohne blaue Flecken in eine mit Knochenbrüchen oder einem gebrochenen Genick verwandeln. Lebenslange Fehden konnten von Männern ausgelöst werden, die Worte sprachen, von denen sie nie geglaubt hätten, dass sie ihnen jemals über die Lippen kommen würden. Frauen konnten sich entscheiden, ihre Ehemänner wegen trivialer Streitereien zu vergiften, die sie jahrlang geduldig ertragen hatten. Oh, möglicherweise entdeckte irgendjemand in seinem Keller einen vergrabenen und verrotteten Sack voller Gold, ohne zu wissen, warum er eigentlich auf die Idee gekommen war, dort zu graben, oder ein Mann bat um die Hand einer Frau, die er zuvor sich niemals getraut hatte anzusprechen, und erhielt sie, aber genauso viele, wie ihr Glück fanden, würden ihren Ruin erleben. Gleichgewicht, hatte Min es genannt. Etwas Gutes, das jedes Schlechte wieder ausglich. Er hingegen sah es als etwas Schlechtes, das jedes Gute wieder ausglich. Er musste seine Geschäfte in Tear erledigen und so schnell wie möglich wieder abreisen. In diesen belebten Straßen zu galoppieren war unmöglich, aber er beschleunigte sein Tempo genug, dass die Töchter in den Laufschritt verfielen.

Sein Ziel war lange vor dem Betreten der Stadt in Sicht gewesen, eine Masse aus Stein, die einem leblosen, steil aufragenden Berg ähnelte, der sich vom Wasser des Erinin bis in das Herz der Stadt erstreckte und mindestens zwei Quadratmeilen oder mehr in Anspruch nahm und die Stadt dominierte. Der Stein von Tear war die älteste Festung der Menschheit, das älteste Bauwerk der Welt, erschaffen in den letzten Tagen der Zerstörung der Welt mit Hilfe der Einen Macht. Er war ein solider Stein, ohne die kleinste Fuge; allerdings hatten mehr als dreitausend Jahre Regen und Wind die Oberfläche verwittert. Die ersten Wehrmauern ragten hundert Schritte über den Boden, jedoch gab es viel tiefer genügend Schießscharten und Pechnasen, die Angreifer mit siedendem Öl oder geschmolzenem Blei übergießen konnten. Kein Belagerer konnte verhindern, dass der Stein durch seine eigenen, gut geschützten Docks versorgt wurde, und es gab in ihm Schmieden und Fabriken, um jede vorstellbare Waffe zu reparieren oder zu ersetzen, sollten sich seine Waffenkammern leeren. Sein höchster Turm, der aus der Mitte des Steins herausragte, hielt das Banner von Tear, je zur Hälfte rot und golden mit silbernen Halbmonden in einer schrägen Reihe, und es war so groß, dass man es deutlich in der starken Brise flattern sehen konnte. Sie musste stark sein, um diese Flagge bewegen zu können. Tiefere Türme wiesen kleinere Exemplare auf, aber auf ihnen gab es auch ein anderes Banner, das uralte Symbol der Aes Sedai. Schwarz und Weiß auf rotem Grund. Das Banner des Lichts. Manche bezeichneten es auch als das Drachenbanner, als gäbe es nicht bereits ein anderes, das diesen Namen trug. Hochlord Darlin stellte seine Untertanenpflicht anscheinend zur Schau. Das war gut so.

Alanna hielt sich dort auf, und ob das gut oder schlecht war, würde sich noch zeigen. Seit Elayne und Aviendha und Min gemeinsam mit ihm den Bund eingegangen waren, war er sich ihr nicht mehr so deutlich bewusst — er glaubte es zumindest; die anderen hatten sie irgendwie zur Seite gedrängt, um sich an die erste Stelle zu setzen, und sie hatte ihm gesagt, sie könnte kaum noch mehr als seine Gegenwart spüren —, aber sie war noch immer in seinem Hinterkopf, ein Bündel aus Gefühlen und körperlichen Empfindungen. Es schien lange her zu sein, dass er nahe genug gewesen war, um sie zu spüren. Wieder fühlte sich der Bund mit ihr wie ein Eindringling an, ein Möchtegern-Usurpator seines Bundes mit Elayne, Aviendha und Min. Alanna war müde, so als hätte sie in letzter Zeit möglicherweise nicht genug Schlaf bekommen, und sie war verbittert, ein Gefühl, das von starker Wut und Trotz durchsetzt war. Liefen die Verhandlungen so schlecht? Er würde es bald wissen. Sie würde sich bewusst sein, dass er in der Stadt war, sich bewusst sein, dass er näher kam, wenn auch kaum mehr. Min hatte versucht, ihm einen Trick beizubringen, den man Maskerade nannte, der ihn angeblich vor dem Bund verbergen konnte, aber er hatte es nie geschafft, ihn durchzuführen. Natürlich hatte sie daraufhin zugegeben, dass ihr das auch nie gelungen war.

Bald fand er sich auf einer Straße wieder, die auf geradem Weg zu dem Platz führte, der den Stein auf drei Seiten umgab, aber er hatte nicht die Absicht, direkt zu ihm zu reiten. Zum einen würde jedes der massiven eisenbeschlagenen Tore fest verriegelt sein. Zum anderen konnte er mehrere hundert Waffenmänner am Ende dieser Straße sehen. Er ging davon aus, dass es vor jedem der Tore das Gleiche sein würde. Sie machten kaum den Eindruck von Männern, die eine Festung belagerten. Sie schienen ohne jede Ordnung herumzulungern — viele hatten die Helme abgenommen und die Hellebarden an die Häuserwände ringsum gelehnt, und Mägde aus nahen Schenken und Gasthäusern liefen geschäftig umher und verkauften Becher mit Ale oder Wein —, aber es war doch sehr unwahrscheinlich, dass sie jemanden einfach so vorbeilassen würden, der in den Stein wollte. Nicht, dass sie ihn hätten aufhalten können. Er konnte ein paar hundert Männer wie Motten zur Seite fegen.

Aber er war nicht nach Tear gekommen, um jemanden zu töten, nicht, wenn er es nicht musste, also ritt er in den Stallhof eines schindelgedeckten Gasthauses mit zwei Stockwerken aus dunkelgrauem Stein, das allem Anschein nach gute Geschäfte machte. Das Schild an der Vorderseite war neu, es zeigte ausgerechnet eine ungefähre Darstellung der Kreaturen, die sich um seine Unterarme schlängelten. Aber der Künstler war anscheinend der Meinung gewesen, dass ihre Beschreibung nicht adäquat gewesen war, denn er hatte lange, scharfe Zähne und ledrige Schwingen hinzugefügt. Schwingen! Sie sahen fast so aus wie die fliegenden Bestien der Seanchaner. Cadsuane betrachtete das Schild und schnaubte. Nynaeve sah es an und kicherte. Min auch!

Selbst nachdem Rand den barfüßigen Stallburschen Silber gegeben hatte, damit sie sich um die Pferde kümmerten, starrten sie die Töchter intensiver als die Münzen an, aber nicht fassungsloser als die Gäste im hohen Gemeinschaftsraum des Drachen. Unterhaltungen verstummten, als die Töchter Rand und den anderen folgten, mit den runden Lederschilden in der Hand und den über ihren Köpfen hinausragenden Speerspitzen. Männer und Frauen, die meisten in einfacher, aber hochwertiger Wolle, drehten sich auf den Stühlen mit den niedrigen Lehnen um und starrten in ihre Richtung. Es schien eine Mischung aus Kaufleuten und Handwerkern zu sein, dennoch starrten sie wie Dörfler, die zum ersten Mal eine richtige Stadt sahen. Die Bedienungen in ihren hochgeschlossenen Kleidern und den weißen Schürzen blieben stehen und starrten über ihre Tabletts. Selbst die Frau, die zwischen den beiden an diesem schönen Morgen kalten Steinkaminen die Zimbel schlug, hörte auf zu spielen.

Ein sehr dunkler Bursche mit dichten Locken, der neben der Tür an einem Tisch saß, schien die Töchter nicht wahrzunehmen. Rand hielt ihn zuerst für jemanden vom Meervolk, auch wenn er einen seltsamen Mantel ohne Kragen oder Aufschläge trug, der einst weiß, nun aber voller Flecken und zerknittert war. »Ich sage Euch, ich habe viele, viele von den… Würmern, die… ja, die auf einem Schiff Seide machen«, sagte er stockend mit einem seltsamen, melodischen Akzent. »Aber ich brauche die… die… Andbeerenblätter… ja, Andbeerenblätter, um sie zu füttern. Wir werden reich.«

Sein Gefährte winkte abschätzig mit einer plumpen Hand, während er die Töchter anstarrte. »Würmer?«, sagte er abgel enkt. »Jeder weiß doch, dass Seide auf Bäumen wächst.«

Rand ging weiter in den Gemeinschaftsraum hinein und schüttelte den Kopf, während der Besitzer auf ihn zukam. Würmer! Die Geschichten, die sich manche Leute einfallen ließen, um anderen ein paar Münzen abzuringen.

»Agardo Saranche zu Euren Diensten, mein Lord, meine Ladys«, sagte der schlanke, langsam kahl werdende Mann mit einer tiefen Verbeugung und breitete die Hände aus. Nicht alle Tairener waren dunkelhäutig, aber er war fast so hell wie ein Cairhiener. »Wie kann ich zu Diensten sein?« Sein Blick wanderte immer wieder zu den Töchtern, und jedes Mal zupfte er an seinem langen blauen Mantel, als säße der plötzlich zu eng.

»Wir wollen ein Zimmer mit einem guten Blick auf den Stein«, sagte Rand.

»Es sind Würmer, die die Seide machen, Freund«, sagte ein Mann hinter ihm mit einem gedehnten Akzent. »Bei meinem Augenlicht.«

Bei dem vertrauten Akzent wirbelte Rand herum und fand Alivia mit totenbleichem Gesicht vor, aus dem jedes Blut gewichen war, wie sie einen Mann in einem dunklen Mantel anstarrte, der gerade auf dem Weg nach draußen war. Mit einem Fluch rannte Rand zur Tür, aber soeben verließen mindestens ein Dutzend Männer in dunklen Mänteln das Gasthaus, und jeder hätte der Sprecher sein können. Es war unmöglich, einen Mann von normaler Größe herauszupicken, den man nur von hinten gesehen hatte. Was tat ein Seanchaner in Tear? Der Spion einer weiteren Invasion? Darum würde er sich bald genug kümmern. Trotzdem wandte er sich mit dem Wunsch von der Tür ab, den Mann in seine Finger bekommen zu haben. Wissen würde besser als Spekulationen sein.

Er fragte Alivia, ob sie einen guten Blick auf den Burschen hatte werfen können, aber sie schüttelte stumm den Kopf. Sie war noch immer blass. Sie war wild, wenn sie davon sprach, was sie mit Sul’dam machen wollte, aber anscheinend brauchte sie bloß den Akzent ihrer Heimat zu hören, um tief erschüttert zu sein. Er hoffte, dass sich das nicht als Schwäche herausstellen würde. Sie würde ihm irgendwie helfen, und er konnte es sich nicht leisten, dass sie schwach war.

»Was wisst Ihr über den Mann, der gerade gegangen ist?«, wollte er von Saranche wissen. »Der mit dem langgezogenen Akzent.«

Der Wirt blinzelte. »Nichts, mein Lord. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Ihr wollt ein Zimmer, mein Lord?« Er musterte Min und die anderen Frauen, und seine Lippen bewegten sich, als würde er zählen.

»Solltet Ihr an etwas Unschickliches denken, Meister Saranche«, sagte Nynaeve indigniert und zog an dem Zopf, der aus ihre Kapuze hing, »dann solltet Ihr das schleunigst lassen. Bevor ich Euch eins auf die Ohren gebe.« Min zischte leise, und eine Hand näherte sich ihrem anderen Handgelenk, bevor sie in der Bewegung innehielt. Beim Licht, sie griff schnell nach ihren Messern!

»Was für eine Unschicklichkeit denn?«, wollte Alivia verb lüfft wissen. Cadsuane schnaubte.

»Ein Zimmer«, sagte Rand geduldig. Frauen finden immer einen Grund, um indigniert zu sein, dachte er. Oder war das Lews Therin gewesen? Er zuckte unbehaglich mit den Schultern. Und da war ein Anflug von Gereiztheit, den er noch gerade eben aus seinem Tonfall halten konnte. »Euer Größtes mit einem Blick auf den Stein. Wir brauchen es nicht lange. Ihr müsstet es heute Abend wieder vermieten können. Möglicherweise müsst Ihr nur unsere Pferde einen oder zwei Tage unterstellen.«

Erleichterung schlich sich in Saranches Miene, allerdings trug seine Stimme einen geübten Tonfall des Bedauerns.

»Ich bedaure, dass mein größtes Zimmer vergeben ist, mein Lord. Tatsächlich sind alle meine großen Zimmer vergeben. Aber ich würde Euch gern über die Straße zu den Drei Monden führen und…«

»Pah!« Cadsuane schob die Kapuze weit genug zurück, um ihr Gesicht und etwas von ihrem goldenen Haarschmuck zu enthüllen. Sie war die personifizierte kühle Selbstbeherrschung, ihr Blick unleserlich. »Ich glaube, Ihr könnt eine Möglichkeit finden, dieses Zimmer zur Verfügung zu stellen, mein Junge. Ich glaube, Ihr solltet besser eine Möglichkeit finden. Bezahlt ihn gut«, fügte sie an Rand gemünzt hinzu, und der Schmuck baumelte an seinen Ketten. »Das war ein Rat, kein Befehl.«

Saranche nahm Rands fette Goldkrone geschickt — es war zu bezweifeln, dass das Gasthaus in einer Woche so viel einnahm —, aber es war Cadsuanes altersloses Gesicht, das ihn die Treppe im hinteren Teil des Gemeinschaftsraums hinauflaufen ließ, nur um wenige Minuten später zurückzukehren und sie zu einem Zimmer mit polierter Holztäfelung und einem zerwühlten Bett im ersten Stock zu führen, das breit genug für drei Leute war. Es wurde von zwei Fenstern flankiert, die von dem über die Dächer ragenden Stein ausgefüllt wurden. Der vorige Bewohner war so schnell ausquartiert worden, dass er einen am Fuß des Betts liegenden zerknüllten Wollstrumpf und einen auf dem Waschstand in der Ecke liegenden Hornkamm vergessen hatte. Der Wirt bot an, ihre Satteltaschen nach oben bringen zu lassen, und auch Wein, und er erschien überrascht, als Rand das ablehnte, aber nach einem Blick auf Cadsuanes Gesicht verschwand er unter vielen Verbeugungen.

Das Zimmer war ziemlich geräumig, was Gasthauszimmer betraf, aber nicht, wenn man es mit den meisten Räumen in Algarins Herrenhaus verglich, geschweige denn mit den Gemächern eines Palasts. Vor allem, wenn es fast ein Dutzend Leute beherbergte. Die Wände schienen Rand einzusperren. Plötzlich kam ihm seine Brust beengt vor. Jeder Atemzug kostete Mühe. Der Bund war mit einem Mal voller Mitgefühl und Sorge.

Die Kiste, hechelte Lews Therin. Muss aus dieser Kiste raus!

Er hielt den Blick fest auf die Fenster gerichtet. Den Stein zu sehen war eine Notwendigkeit, und den freien Platz zwischen dem Gasthaus zum Drachen und dem Stein sowie den offenen Himmel sehen zu können ließ ihn wenigstens etwas leichter atmen. Er hielt den Blick auf den Himmel über dem Stein fixiert und befahl jedem, sich an die Wände zu stellen. Sie gehorchten eilig. Nun ja, Cadsuane warf ihm einen scharfen Blick zu, bevor sie zur Wand rauschte, und Nynaeve schniefte, bevor sie es ihr gleichtat, aber der Rest beeilte sich. Wenn sie glaubten, er wollte den Platz aus Sicherheitsgründen, in gewisser Weise stimmte das. Sie aus dem Sichtfeld zu haben ließ den Raum etwas größer erscheinen. Zwar nur ein bisschen, aber jeder Fingerbreit war eine segensvolle Erleichterung. Im Bund lag Sorge.

Muss raus, jammerte Lews Therin. Muss hier raus.

Er stählte sich gegen das, von dem er wusste, dass es kommen würde, hütete sich vor jedem Versuch Lews Therins, ergriff die männliche Hälfte der Wahren Quelle, und Saidin strömte in ihn hinein. Hatte der Verrückte versucht, es zuerst zu ergreifen? Er hatte es berührt, da gab es keinen Zweifel, aber es gehörte Rand. Flammenberge brachen zu feurigen Lawinen zusammen und wollten ihn verbrennen. Wellen, die Eis warm erscheinen ließen, versuchten ihn in sturmgepeitschten Meeren zu zerschmettern. Er badete darin, plötzlich so lebendig, als wäre er die ganze Zeit zuvor schlaf gewandelt. Er konnte den Atem eines jeden im Raum Anwesenden hören, er konnte das große Banner oben auf dem Stein so deutlich sehen, dass er beinahe die einzelnen Fäden wahrnehmen konnte. Die zweifache Verletzung in seiner Seite pulsierte, als würde sie versuchen, sich aus seinem Körper zu reißen, aber mit der Macht, die ihn erfüllte, konnte er diesen Schmerz ignorieren. Er hätte selbst einen Schwertstoß ignorieren können.

Doch mit Saidin kam die unweigerliche wilde Übelkeit, das beinahe überwältigende Verlangen, sich zusammenzukrümmen und jede Mahlzeit auszuspucken, die er je zu sich genommen hatte. Sie ließ seine Knie zittern. Er kämpfte so hart dagegen an wie gegen die Macht, und Saidin musste immer bekämpft werden. Ein Mann unterwarf Saidin seinem Willen, oder es vernichtete ihn. Einen Augenblick lang stieg in ihm das Gesicht des Mannes aus Shadar Logoth auf. Er sah wütend aus. Und kurz davor, sich zu übergeben. Ohne den geringsten Zweifel war er sich in diesem Augenblick Rand bewusst, so wie Rand sich seiner bewusst war. Nur eine winzige, haardünne Bewegung, und sie würden sich berühren. Weniger.

»Was ist los?«, wollte Nynaeve wissen, kam näher heran und schaute besorgt zu ihm auf. »Du bist ganz grau im Gesicht.« Sie griff nach seinem Kopf, und er bekam überall eine Gänsehaut.

Er schob ihre Hände zurück. »Mir geht es gut. Tritt zurück.« Sie blieb stehen und schenkte ihm einen jener Blicke, die Frauen in den Gürteltaschen bei sich trugen. Dieser hier besagte, dass sie wusste, dass er sie anlog, es aber nicht beweisen konnte. Übte sie diese Blicke vor dem Spiegel?

»Tritt zurück, Nynaeve.«

»Es geht ihm gut, Nynaeve«, sagte Min, obwohl auch ihr Gesicht einen grauen Schimmer aufwies und sie beide rotbehandschuhte Hände gegen den Körper presste. Sie wusste Bescheid.

Nynaeve schnaubte, rümpfte geringschätzig die Nase, aber sie ging ihm endlich aus dem Weg. Vielleicht hatte Lan endgültig genug gehabt und war weggelaufen. Nein, das bestimmt nicht. Lan würde sie nicht verlassen, es sei denn, sie sagte es ihm, und dann auch nur so lange wie nötig. Wo auch immer er steckte, Nynaeve wusste es und hatte ihn vermutlich aus eigenen Beweggründen dort hingeschickt. Aes Sedai und ihre verdammten Geheimnisse.

Er lenkte die Macht, von Feuer berührter Geist, und der bekannte vertikale silbrige Strich erschien am Fuß des Bettes und schien sich zu einem undeutlichen Ausblick auf massive, in Dunkelheit gehüllte Säulen zu dehnen. Licht aus dem Gasthauszimmer sorgte für die einzige Beleuchtung. Die Öffnung stand nur wenige Fingerbreit über dem Boden und war nicht größer als die Zimmertür, doch sobald sie völlig geöffnet stand, warfen sich drei bereits verschleierte Töchter hindurch und zogen dabei die Speere, und Rands Haut kribbelte, als Alivia hinter ihnen hersprang. Ihn zu beschützen war eine selbst auferlegte Pflicht, aber eine, die sie genauso ernst nahm wie die Töchter.

Aber hier würden keine Gefahren warten, kein Hinterhalt, also trat er hindurch und ein Stück tiefer. Am anderen Ende stand das Wegetor mehr als einen Fuß über den großen grauen Steinfliesen, die er nicht mehr hatte beschädigen wollen, als er es ohnehin schon getan hatte. Das war das Herz des Steins, und mit der Macht in ihm und durch das Licht, das durch das Wegetor aus dem Zimmer im Gasthaus zum Drachen quoll, konnte er das schmale Loch in einem der Steine sehen, wo er Callandor in den Boden gerammt hatte. Wer es zieht, soll ihm folgen. Er hatte lange und ausgiebig nachgedacht, bevor er Narishma losgeschickt hatte, um ihm Callandor zu bringen. Aber auch wenn die Prophezeiungen besagten, dass der Mann ihm folgen würde, heute war Narishma an einem anderen Ort beschäftigt. Ein Wald aus gewaltigen Rotsteinsäulen umgab ihn, wuchsen in die Dunkelheit, die nicht entzündete goldene Lampen und die gewölbte Decke und die große Kuppel verbarg. Seine Stiefel verursachten ein hallendes Echo in dem leeren Gemach, das taten selbst die weichen Stiefel der Töchter. In diesem großen Raum verschwand das Gefühl des Eingesperrtseins.

Min sprang direkt hinter ihm nach unten — ein Wurfmesser in jeder Hand, mit Blicken die Dunkelheit durchdringend —, aber Cadsuane stand am Rand des Wegetors und sagte: »Ich springe nicht, wenn ich es nicht unbedingt muss, mein Junge.« Sie streckte eine Hand aus und wartete darauf, dass er sie nahm.

Er hob sie nach unten, und sie nickte. Es hätte ein Dank sein können. Es hätte aber auch genauso gut »Du hast dir verdammt viel Zeit damit gelassen« bedeuten können. Eine Lichtkugel erschien über ihrer nach oben gedrehten Handfläche, und einen Augenblick später balancierte auch Alivia eine Lichtkugel. Die beiden Frauen schufen einen hellen Kreis, der die umgebene Dunkelheit nur noch tiefer erscheinen ließ. Nynaeve verlangte die gleiche Höflichkeit und hatte den Anstand, ein Dankeschön zu murmeln — sie erschuf schnell ihre eigene Lichtkugel —, aber als er einer der Töchter seine Hand bot — er glaubte, es war Sarendhra, eine der Shaido, doch er konnte von ihrem Gesicht nur blaue Augen über dem schwarzen Schleier sehen —, grunzte sie nur verächtlich und sprang hinunter, den Speer in der Hand, gefolgt von den anderen beiden. Er ließ das Wegetor sich schließen, hielt aber trotz des Wühlens in seinem Magen und Kopf Saidin fest. Er rechnete nicht damit, vor Verlassen des Steins noch einmal die Macht lenken zu müssen, aber er wollte Lews Therin auch keine neue Gelegenheit bieten, die Macht zu ergreifen.

Du musst mir vertrauen, knurrte Lews Therin. Wenn wir es bis Tarmon Gai’don schaffen wollen, damit wir sterben können, dann musst du mir vertrauen.

Du hast mir mal gesagt, keinem zu vertrauen, dachte Rand. Dir eingeschlossen.

Nur Verrückte vertrauen niemandem, flüsterte Lews Therin. Plötzlich fing er an zu weinen. Oh, warum habe ich einen Verrückten in meinem Kopf? Rand verdrängte die Stimme.

Als er den hohen Torbogen durchschritt, der aus dem Herzen führte, war er erstaunt, zwei Verteidiger des Steins in Helmen und funkelnden Brustharnischen vorzufinden. Die Pluderärmel ihrer schwarzen Mäntel waren mit schwarzen und goldenen Streifen versehen. Mit gezogenen Schwertern starrten sie auf den Torbogen, auf ihren Gesichtern zeichnete sich mit Verwirrung gepaarte grimmige Entschlossenheit ab. Zweifellos hatte es sie überrascht, in einem Raum mit nur einem Eingang Lichter zu sehen und Schritte zu hören, einen Eingang, den sie bewachten. Die Töchter breiteten sich auf beiden Seiten aus, duckten sich, hoben die Speere, kreisten die beiden langsam ein.

»Beim Stein, er ist es«, sagte einer der Männer und steckte das Schwert schnell weg. Er war stämmig und hatte eine wulstige Narbe, die auf seiner Stirn begann und sich über seinen Nasenrücken bis zum Kiefer hinunterzog. Er machte eine tiefe Verbeugung, breitete die Hände in den stahlverstärkten Handschuhen weit aus. »Mein Lord Drache«, sagte er. »lagin Handar, mein Lord. Der Stein steht. Ich habe das hier an diesem Tag davongetragen.« Er berührte die Narbe.

»Eine ehrenwerte Wunde, Handar, und ein Tag, den man in Erinnerung behalten soll«, sagte Rand zu ihm, während der andere, viel schlankere Mann hastig die Klinge wegsteckte und sich verbeugte. Erst dann senkten die Töchter die Speere, aber ihre Gesichter blieben verschleiert. Ein Tag, den man in Erinnerung behalten sollte? Trollocs und Myrddraals im Inneren des Steins. Das zweite Mal, dass er Callandor wirklich benutzt hatte, Das Schwert, das kein Schwert war, so benutzt hatte, wie es gedacht war. Überall hatten die Toten herumgelegen. Ein totes Mädchen, das er nicht wieder zum Leben erwecken konnte. Wer konnte schon so einen Tag vergessen? »Ich weiß, dass ich den Befehl gegeben habe, dass man das Herz bewacht, solange Callandor dort ist, aber warum steht ihr beide noch immer Wache?«

Beide Männer wechselten verblüffte Blicke. »Ihr habt den Befehl gegeben, Wachtposten aufzustellen, mein Lord Drache«, sagte Handar, »und die Verteidiger gehorchen, aber Ihr habt nie etwas von Callandor gesagt, außer dass sich ihm niemand nähern soll, es sei denn, sie haben Beweise, dass sie von Euch kommen.« Plötzlich zuckte der stämmige Mann zusammen und verbeugte sich erneut, diesmal nur tiefer. »Vergebt mir, mein Lord, wenn ich Eure Anordnungen scheinbar in Frage stelle. Das habe ich nicht vor. Soll ich die Hochlords in Eure Gemächer rufen? Eure Gemächer sind für Eure Rückkehr bereitgehalten worden.«

»Das ist nicht nötig«, sagte Rand. »Darlin wird mich erwarten, und ich weiß, wo ich ihn finde.«

Handar verzog das Gesicht. Der andere Mann fand plötzlich etwas ungeheuer Interessantes auf dem Boden, was es zu studieren galt. »Ihr werdet vielleicht einen Führer brauchen, mein Lord«, sagte Handar langsam. »Die Korridore… Manchmal verändern sich die Korridore.«

Aha. Also löste sich das Muster tatsächlich. Das bedeutete, der Dunkle König berührte die Welt mehr, als er es seit dem Krieg des Schattens getan hatte. Falls es sich vor Tarmon Gai’don zu stark lockerte, konnte sich das Zeitaltergewebe auflösen. Das Ende von Zeit und Realität und Schöpfung. Irgendwie musste es ihm gelingen, die Letzte Schlacht herbeizuführen, bevor das geschah. Aber er wagte es nicht. Noch nicht.

Er versicherte Handar und dem anderen Mann, dass er keinen Führer brauchte, und die beiden verneigten sich erneut, anscheinend davon überzeugt, dass der Wiedergeborene Drache alles tun konnte, was er sagte. In Wahrheit wusste er, dass er Alanna lokalisieren konnte — er hätte direkt auf sie zeigen können —, und sie hatte sich bewegt, seit er sie das erste Mal gefühlt hatte. Sicher um Darlin zu finden und ihn darüber zu informieren, dass Rand al’Thor kam. Min hatte sie als eine von jenen bezeichnet, die er in der Hand hatte, aber Aes Sedai fanden immer eine Möglichkeit, alle gegeneinander auszuspielen. Sie hatten immer eigene Pläne, eigene Ziele. So wie Nynaeve und Verin. So wie sie alle.

»Sie springen, wenn Ihr nur Kröte sagt«, bemerkte Cads uane kühl und schlug die Kapuze zurück, während sie sich vom Herz entfernten. »Das kann schlecht für Euch sein, wenn zu viele Leute springen, wenn Ihr nur den Mund aufmacht.« Sie hatte wirklich Nerven! Das musste ausgerechnet sie sagen! Verfluchte Cadsuane Melaidhrin!

»Ich führe einen Krieg«, erwiderte er grob. Die Übelkeit zerrte an seinen Nerven. Das war teilweise der Grund für seine Schroffheit. »Je weniger Leute gehorchen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ich verlieren werde, und wenn ich verliere, verlieren alle. Wenn ich jeden zum Gehorsam zwingen könnte, dann würde ich das tun!« Es gab schon genügend Leute, die nicht gehorchten oder so gehorchten, wie sie es für richtig hielten. Warum, beim Licht, sollte Min Mitleid verspüren?

Cadsuane nickte. »Wie ich mir gedacht habe«, murmelte sie nachdenklich. Und was sollte das jetzt schon wieder bedeuten?

Der Stein hatte alles, was ein Palast brauchte, von Wandteppichen aus Seide und dicken Läufern aus Tarabon und Altara und Tear selbst auf den Böden bis hin zu goldenen Spiegelkandelabern. Truhen an den Steinwänden dienten zwar als Stauraum für die Putzsachen der Dienerschaft, aber sie waren aus seltenen Hölzern gefertigt, oft aufwändig beschnitzt und immer mit vergoldeten Reifen versehen. In Nischen standen Schüsseln und Vasen aus Meervolkporzellan, dünn wie Blätter und das Vielfache ihres Gewichts in Gold wert, oder massive, edelsteinübersäte Statuen. Ein goldener Leopard mit Rubinaugen versuchte einen Silberhirschen von einem Fuß Größe mit perlenbesetztem Geweih zu reißen, und da war ein goldener Löwe mit Smaragdaugen und Feuertropfen als Krallen, der noch größer war; andere waren so übertrieben mit Edelsteinen besetzt, dass kein Metall mehr zu sehen war. Diener in schwarzgoldener Livree verbeugten sich oder machten einen Knicks, während Rand durch den Stein schritt, und jene, die ihn erkannten, verbeugten sich besonders tief. Ein paar Augen weiteten sich beim Anblick der Töchter, die hinter ihm hergingen, aber ihre Überraschung verlangsamte nie ihre Ehrenbezeugungen.

Alles, was ein Palast brauchte, aber der Stein war sowohl im Inneren wie im Äußeren für den Krieg gebaut worden. Wo immer sich zwei Korridore kreuzten, war die Decke mit Mordlöchern übersät. Hoch oben in den Wänden zeigten sich Schießscharten zwischen Wandteppichen, in einem Winkel, dass der Korridor in beide Richtungen gedeckt war, und keine Treppenflucht, die nicht mit Pfeilen oder Armbrustbolzen überschüttet werden konnte. Nur ein Angreifer hatte es je geschafft, sich den Zugang zum Stein zu erzwingen, die Aiel, und sie hatten die Opposition zu schnell zur Seite gefegt, als dass viele dieser Verteidigungseinrichtungen ins Spiel gekommen wären, aber jeder andere Feind, der in den Stein gelangte, würde für jeden Korridor einen hohen Blutzoll zahlen. Aber das Schnelle Reisen hatte die Kriegsführung für immer verändert. Wegetore und Feuerblüten und so viel mehr. Der Blutzoll würde immer noch gezahlt werden müssen, aber Steinmauern und hohe Türme konnten keinen Angriff mehr abhalten. Die Asha’man hatten den Stein so überflüssig gemacht wie die Bronzeschwerter und Steinäxte, die Männer nach der Zerstörung der Welt so oft gezwungen waren zu benutzen. Die älteste Festung der Menschheit war jetzt ein Relikt.

Der Bund mit Alanna führte ihn hinauf und hinab, bis er zu einer hohen, polierten Flügeltür mit goldenen Leoparden als Türgriffe kam. Sie befand sich auf der anderen Seite. Beim Licht, sein Magen wollte sich entleeren. Er stählte sich, zog eine der Türhälften auf und trat ein, ließ die Töcht er als Wache zurück. Min und die anderen folgten ihm hinein.

Das Wohnzimmer war fast so prächtig wie seine eigenen Gemächer im Stein, die großflächigen Seidenwandteppiche zeigten Jagd und Schlachtszenen, der große tarabonische Teppich auf dem Boden war genug Gold wert, um ein großes Dorf ein Jahr lang ernähren zu können, der schwarze Marmorkamin hoch genug, um einem Mann ungehindert den Zutritt zu erlauben, und breit genug für acht. Jedes der massiven Möbelstücke war mit kunstvollen Schnitzereien versehen, mit Gold verkrustet und mit Edelsteinen übersät, genau wie die hohen Kandelaber, deren durch die Spiegel verstärkten Flammen das Licht unterstützten, das durch die aus Glasscheiben bestehende Deckentäfelung fiel. Auf der einen Seite des Raumes stand ein mehr als einen Schritt großer goldener Bär mit Rubinaugen und silbernen Klauen und Zähnen auf einer vergoldeten Säule, während auf einer identischen Säule ein fast genauso großer Adler mit Smaragdaugen und Rubinkrallen prangte. Für Tear waren das dezente Stücke.

Alanna saß in einem Lehnstuhl und schaute bei seinem Eintreten auf; sie hielt einer der beiden Dienerinnen in Schwarz und Gold einen goldenen Pokal hin, damit sie dunklen Wein aus einem hohen goldenen Krug nachfüllen konnte. Schlank und mit einem grauen Reitgewand mit gelben Schlitzen bekleidet, war Alanna schön genug, dass Lews Therin anfing, leise vor sich hin zu summen. Rand griff sich beinahe nach dem Ohrläppchen, bevor er die Hand nach unten riss, sich plötzlich unsicher, ob es seine Geste oder die des Verrückten war. Sie lächelte, aber es war ein finsteres Lächeln, und als ihr Blick über Min und Nynaeve, Alivia und Cadsuane glitt, übertrug der Bund ihr Misstrauen, ganz zu schweigen von Wut und Trotz. Letzteres erhöhte sich bei Cadsuane. Als ihr Blick auf ihn fiel, war da auch Freude zu spüren, die sich mit all dem anderen vermengte. Nicht, dass es ihrer Stimme anzumerken war. »Nun, wer hätte mit Euch gerechnet, mein Lord Drache«, murmelte sie. In seinem Titel lag ein scharfer Untert on. »Eine echte Überraschung, findet Ihr nicht, Lord Astor il?« Also hatte sie niemand vorgewarnt. Interessant.

»Eine sehr angenehme Überraschung«, sagte ein älterer Mann in einem Mantel mit rot-blau gestreiften Ärmeln, als er aufstand, um sich zu verbeugen. Er strich sich den geölten Bart, der zu einer Spitze geschnitten war. Das Gesicht von Hochlord Astoril Damara war faltig, das Haar, das ihm bis zu den Schultern hing, weiß und dünn. Aber sein Rücken war gerade und der Blick seiner dunklen Augen scharf. »Ich habe mich schon seit einiger Zeit auf diesen Tag gefreut.« Er verbeugte sich erneut, diesmal vor Cadsuane, und nach einem Moment auch vor Nynaeve. »Aes Sedai«, sagte er. Sehr höflich für Tear, wo Machtlenken und sogar die Aes Sedai selbst verboten gewesen waren, bevor Rand das Gesetz geändert hatte.

Darlin Sisnera, Hochlord und Verwalter des Wiedergeborenen Drachen in Tear, war weniger als einen Kopf kleiner als Rand, mit kurz geschnittenem Haar und einem spitzen Bart, einer Hakennase und blauen Augen, die es in Tear selten gab. Er trug einen grünen Seidenmantel mit gelben Streifen am Ärmel und Stiefel mit goldenen Stickereien. Seine Augen weiteten sich, als er sich von seiner Unterhaltung mit Caroline Damodred in der Nähe des Kamins abwandte. Die cairhienische Adlige versetzte Rand einen Stich, obwohl er erwartet hatte, sie hier zu treffen. Die Litanei, die er benutzte, um seine Seele im Feuer zu schmieden, stieg beinahe in seinem Kopf auf, bevor er sie unterdrücken konnte. Sie war klein, schlank und blass, mit großen dunklen Augen und einem kleinen Rubin, der von einer goldenen, in ihr schwarzes, bis auf die Schultern fallendes Haar geflochtenen Kette auf ihrer Stirn baumelte. Sie glich ihrer Cousine Moiraine auf verblüffende Weise. Sie trug ausgerechnet einen langen blauen Mantel, der abgesehen von den roten, grünen und weißen Streifen, die vom Kragen bis zum Saum reichten, mit goldenen Ornamenten bestickt war; dazu gehörten eng sitzende grüne Reithosen und hochhackige blaue Stiefel. Es hatte den Anschein, als hätte sich die Mode doch verbreitet. Sie machte sogar einen Knicks, obwohl das in dieser Aufmachung seltsam aussah. Lews Therin summte noch stärker, was in Rand den Wunsch aufkommen ließ, dass der Mann ein Gesicht hätte, damit er ihn schlagen konnte. Moiraine war eine Erinnerung, damit er seine Seele abhärtete, nicht um sie anzusummen.

»Mein Lord Drache«, sagte Darlin und verbeugte sich steif. Er war kein Mann, der daran gewöhnt war, als Erster eine Ehrenbezeugung zu erweisen. Für Cadsuane hatte er keine Verbeugung übrig, nur einen scharfen Blick, bevor er ihre Anwesenheit zu ignorieren schien. Sie hatte ihn und Caraline einige Zeit als »Gäste« in Cairhien beherbergt. Unwahrscheinlich, dass er das vergessen oder vergeben würde. Nach einer Geste beeilten sich die Dienerinnen, Wein anzubieten. Wie zu erwarten, erhielt Cadsuane mit ihrem alterslosen Gesicht den ersten Pokal, aber überraschenderweise bekam Nynaeve den zweiten. Der Wiedergeborene Drache war eine Sache, eine Frau, die den Großen Schlangenring trug, etwas ganz anderes, selbst in Tear. Cadsuane schlug den Umhang nach hinten und zog sich zur Wand zurück. Es sah ihr nicht ähnlich, sich zurückzuziehen. Aber von dort aus konnte sie alle gleichzeitig beobachten. Alivia nahm einen Platz neben der Tür ein, zweifellos aus dem gleichen Grund.

»Ich sehe mit Freude, dass es Euch besser geht, als ich Euch das letzte Mal gesehen habe«, fuhr Darlin fort. »Ihr habt mir eine große Ehre erwiesen. Obwohl ich deswegen noch immer meinen Kopf verlieren könnte, wenn Eure Aes Sedai nicht bald Fortschritte macht.«

»Schmollt nicht, Darlin«, murmelte Caraline. Ihre kehlige Stimme klang amüsiert. »Männer schmollen, oder nicht, Min?« Aus irgendeinem Grund stieß Min ein Lachen aus.

»Was tut Ihr hier?«, wollte Rand von den beiden Leuten wissen, die er hier nicht erwartet hatte. Er nahm einer der Dienerinnen einen Pokal ab, während die andere zwischen Min und Alivia zögerte. Min trug den Sieg davon, vielleicht weil Alivias blaues Kleid so schlicht war. Den Wein schlürfend, schlenderte Min zu Caraline herüber — nach einem Blick der Cairhienerin bewegte sich Darlin grinsend von ihr fort — und die beiden Frauen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Mit der Macht gefüllt, konnte Rand gelegentlich ein Wort aufschnappen. Seinen Namen. Darlins.

Weiramon Saniago, ebenfalls ein Hochlord aus Tear, war nicht klein, und er stand so gerade wie ein Schwert da, aber er hatte etwas von einem umherstolzierenden Gockel an sich. Sein mit Grau durchsetzter Bart, eingeölt und zu einer Spitze getrimmt, zitterte förmlich vor Stolz. »Heil dem Herrn des Morgens«, sagte er mit einer Verbeugung. Oder intonierte es vielmehr. Weiramon war wie dazu geschaffen, etwas zu intonieren oder deklamieren. »Warum ich hier bin, mein Lord Drache?« Die Frage schien ihn zu verblüffen. »Als ich hörte, dass Darlin im Stein belagert wird, was hätte ich da anderes tun können, als ihm zu Hilfe zu eilen? Soll man meine Seele verbrennen, ich habe versucht, ein paar der anderen dazu zu überreden, mich zu begleiten. Wir hätten Estanda und dem ganzen Haufen ein schnelles Ende bereiten können, das schwöre ich!« Er packte seine Faust, um zu demonstrieren, wie er die Rebellen zerquetscht hätte. »Aber nur Anaiyella hatte den Mut!« Caraline hielt in ihrer Unterhaltung mit Min inne, um ihm einen Blick zuzuwerfen, der ihn nach einer Stichwunde hätte suchen lassen, wäre er ihm aufgefallen. Astoril schürzte die Lippen und fuhr darin fort, seinen Wein zu betrachten.

Hochlady Anaiyella Narencelona trug ebenfalls einen Mantel mit eng sitzenden Reithosen und hochhackigen Stiefeln, allerdings hatte sie weiße Spitze hinzugefügt, und ihr grüner Mantel war mit Perlen bestickt. Auf ihrem dunklen Haar saß eine Perlenhaube. Sie war eine zierliche, hübsche Frau und machte einen anbiedernden Knicks, und irgendwie ließ sie es so aussehen, als wollte sie Rand die Hand küssen. Mut war nicht das Wort, das er mit ihr in Verbindung gebracht hätte. Unverschämtheit, andererseits… »Mein Lord Drache«, säuselte sie. »Ich wünschte, wir könnten völligen Erfolg melden, aber mein Pferdehauptmann starb im Kampf gegen die Seanchaner, und Ihr habt die meisten meiner Waffenmänner in Illian gelassen. Aber wir haben in Eurem Namen einen Schlag austeilen können.«

»Erfolg? Einen Schlag austeilen?« Alannas finsterer Blick umfasste Weiramon und Anaiyella, bevor er sich wieder Rand zuwandte. »Sie sind mit einem Schiff an den Docks des Steins gelandet, aber sie haben die meisten ihrer Waffenmänner und die Söldner, die sie in Cairhien angeheuert haben, flussaufwärts ausgeladen. Mit dem Befehl, die Stadt zu betreten und die Rebellen anzugreifen.« Sie schnaubte verächtlich. »Das einzige Ergebnis war, dass viele Männer tot sind und unsere Verhandlungen mit den Rebellen wieder zum Anfang zurückgeworfen werden.« Anaiyellas einfältiges Lächeln wurde krampfhaft.

»Mein Plan sah einen Ausfall aus dem Stein vor, um sie von beiden Seiten anzugreifen«, protestierte Weiramon.

»Darlin hat sich geweigert. Geweigert!«

Darlin grinste nicht mehr. Er stand mit leicht gespreizten Beinen da und sah aus wie ein Mann, der sich wünschte, ein Schwert in der Hand zu haben statt einen Pokal. »Ich habe es Euch erklärt, Weiramon. Wenn ich die Verteidiger aus dem Stein abgezogen hätte, wären uns die Rebellen immer noch weit überlegen gewesen. Bedeutend überlegen. Sie haben jeden Söldner vom Erinin bis zur Bucht von Remara angeheuert.«

Rand nahm sich einen Stuhl und ließ einen Arm über die Lehne baumeln. Die massiven Armlehnen hatten vorn keine Stützen, also stellte sein Schwert kein Problem dar. Caraline und Min schienen ihre Unterhaltung dem Thema Mode zugewandt zu haben. Jedenfalls fummelten sie sich gegenseitig an den Mänteln herum, und er bekam Worte wie Steppstich und Diagonalschnitt mit, was auch immer sie zu bedeuten hatten. Alannas Blick glitt zwischen ihm und Min hin und her, und er spürte, wie in dem Bund Unglaube mit Misstrauen kämpfte. »Ich habe euch beide in Cairhien gelassen, weil ich euch in Cairhien haben wollte«, sagte er. Er vertraute keinem von ihnen, aber in Cairhien, wo sie Ausländer ohne Macht darstellten, konnten sie nicht viel Schaden anrichten. Von der Übelkeit angeheizte Wut trat in seine Stimme. »Und ihr werdet so schnell wie möglich Pläne zur Rückkehr machen. So schnell wie möglich.«

Anaiyellas einfältiges Lächeln wurde noch krampfhafter; sie zuckte leicht zusammen.

Weiramon war da aus härterem Holz geschnitzt. »Mein Lord Drache, ich werde Euch dort dienen, wo Ihr es befehlt, aber am besten kann ich auf meiner Heimaterde dienen. Ich kenne diese Rebellen, weiß, wo man ihnen vertrauen kann und wo…«

»So schnell wie möglich!«, fauchte Rand und schlug die Faust hart genug auf die Armlehne, dass das Holz laut prot estierte.

»Eins«, sagte Cadsuane ziemlich deutlich und ziemlich unverständlich.

»Ich rate Euch dringend, das zu tun, was er sagt, Lord Weiramon.« Nynaeve sah Weiramon ausdruckslos an, nippte am Wein. »Er ist in letzter Zeit sehr aufbrausend, schlimmer als je zuvor, und Ihr wollt nicht, dass sich sein Unmut auf Euch richtet.«

Cadsuane seufzte lautstark. »Haltet Euch da raus, Mädc hen«, sagte sie scharf. Nynaeve warf ihr einen Blick zu, öffnete den Mund, verzog das Gesicht und schloss ihn wieder. Sie packte ihren Zopf und rauschte über den Teppich, um sich zu Min und Caraline zu gesellen. Sie hatte das durch ein Zimmer Rauschen sehr gut gelernt.

Weiramon musterte Cadsuane einen Augenblick lang, legte den Kopf in den Nacken, sodass er von oben herabblickte. »Wenn der Wiedergeborene Drache befiehlt«, sagte er schließlich, »wird Weiramon Saniago gehorchen. Ich schätze, mein Schiff kann morgen segeln. Reicht das?«

Rand nickte knapp. Es würde reichen müssen. Er würde nicht einen Augenblick verschwenden, um ein Wegetor zu machen, damit er diese beiden Narren noch heute dorthin schaffen konnte, wo sie hingehörten. »In der Stadt herrscht Hunger«, sagte er und betrachtete den goldenen Bären. Wie viele Tage würde er Tear ernähren können? Der Gedanke an Essen ließ seinen Magen verkrampfen. Er wartete auf eine Erwiderung, die auch schnell kam, wenn auch nicht aus der Richtung, die er erwartet hatte.

»Darlin hatte Vieh und Schafe in die Stadt treiben lassen«, sagte Caraline mit beträchtlicher Wärme in der Stimme. Jetzt war es Rand, der den stechenden Blick bekam. »Im Moment…« Sie verstummte einen Augenblick lang, obwohl ihr Blick diese Wildheit nicht verlor. »Im Moment ist das Fleisch zwei Tage nach dem Schlachten ungenießbar, also ließ er die Tiere bringen und Wagen voller Getreide. Estanda und ihre Gefährten haben alles für sich genommen.«

Darlin schenkte ihr ein inniges Lächeln, aber seine Stimme klang entschuldigend. »Ich habe es dreimal versucht, aber anscheinend ist Estanda gierig. Ich fand es sinnlos, meine Feinde weiterhin zu versorgen. Eure Feinde.«

Rand nickte. Immerhin ignorierte der Mann die Situation in der Stadt nicht. »Da gibt es zwei Jungen, die außerhalb der Mauer leben. Doni und Com. Ich weiß nicht, wie sie weiter heißen. Etwa zehn Jahre alt. Sobald die Sache mit den Rebellen geklärt ist und Ihr den Stein verlassen könnt, würde ich es zu schätzen wissen, wenn Ihr sie findet und ein Auge auf sie habt.« Min machte tief in ihrer Kehle einen Laut, und der Bund übertrug eine so ausweglose Traurigkeit, dass sie beinahe die emporschießende Liebe überlagerte, die damit kam. Aha. Also hatte sie den Tod gesehen. Aber bei Moiraine hatte sie sich geirrt. Vielleicht würde diese Sicht von einem Ta’veren verändert werden können.

Nein, knurrte Lews Therin. Ihre Sichten dürfen sich nicht verändern. Wir müssen sterben! Rand ignorierte ihn.

Darlin schien von der Bitte überrascht zu sein, aber er nickte. Was hätte er auch anderes tun können, wenn der Wiedergeborene Drache es verlangte?

Rand wollte den Grund für seinen Besuch ansprechen, als Bera Harkin, eine weitere der Aes Sedai, die er nach Tear geschickt hatte, um sich um die Rebellen zu kümmern, den Raum betrat und einen unwirschen Blick über die Schulter warf, als hätten ihr die Töchter Schwierigkeiten gemacht. Möglicherweise war es auch so. Die Aiel betrachteten die Aes Sedai, die ihm die Treue geschworen hatten, wie Lehrlinge der Weisen Frauen, und Töchter nutzten jede Gelegenheit, um Lehrlinge daran zu erinnern, dass sie noch keine Weisen Frauen waren. Sie war eine stämmige Frau mit kurz geschnittenem braunen Haar und einem kantigen Gesicht, und trotz ihres grünen Seidenkleids hätte sie wie eine Bäuerin ausgesehen, wäre da nicht die Alterslosigkeit einer Aes Sedai gewesen. Allerdings eine Bäuerin, die ihr Haus und ihren Hof mit fester Hand regierte und einem König befehlen würde, keinen Schmutz in ihre Küche hineinzutragen. Schließlich war sie eine Grüne Ajah, mit dem typischen Stolz und Hochmut einer Grünen Ajah. Sie schaute auch Alivia finster an, mit dem ganzen Abscheu, den eine Aes Sedai für Wilde übrig hatte, und der wurde erst durch Selbstbeherrschung ersetzt, als sie Rand sah.

»Nun, ich muss sagen, dass es mich nicht überraschen sollte, dass Ihr hier seid, wenn man bedenkt, was heute Morgen geschehen ist«, sagte sie. Sie öffnete die schlichte Umhangbrosche aus Silber, befestigte sie an ihrer Gürteltasche und legte den Umhang über den Arm. »Allerdings hätte es auch die Nachricht sein können, dass die anderen keinen Tag mehr westlich vom Erinin entfernt sind.«

»Die anderen?«, sagte Rand leise. Leise und so hart wie Stahl.

Bera schien nicht beeindruckt zu sein. Sie fuhr darin fort, ihren Umhang sorgfältig zusammenzulegen. »Natürlich die anderen Hochlords und Hochladys. Sunamon, Tolmeran, sie alle. Anscheinend reisen sie so schnell nach Tear, wie es die Pferde ihrer Waffenmänner können.«

Rand sprang so schnell auf, dass sich sein Schwert einen Augenblick lang unter der Armlehne verhakte. Nur einen Augenblick lang, weil das vergoldete Holz geschwächt von seinem früheren Hieb mit lautem Krachen zerbrach und die Lehne auf den Teppich fiel. Er hatte nicht einmal einen Blick dafür übrig. Diese Narren! Die Seanchaner an der Grenze von Altara, und sie kamen nach Tear zurück? »Weiß keiner mehr, was Gehorsam ist?«, brüllte er. »Ich will, dass sofort Boten zu ihnen geschickt werden! Sie werden schneller nach Illian zurückkehren, als sie aufgebrochen sind, oder ich lasse sie alle hängen!«

»Zwei«, sagte Cadsuane. Was beim Licht zählte sie da?

»Ein kleiner Rat, mein Junge. Fragt sie, was heute Morgen geschehen ist. Ich rieche gute Neuigkeiten.«

Bera zuckte leicht zusammen, als sie bemerkte, dass Cadsuane im Zimmer war. Sie warf ihr einen vorsichtigen Seitenblick zu und hörte auf, an ihrem Umhang herumzufummeln. »Wir haben eine Einigung erzielt«, sagte sie, als wäre die Frage gestellt worden. »Tedosian und Simaan waren wie gewohnt schwankend, aber Hearne war beinahe so unnachgiebig wie Estanda.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Tedosian und Simaan hätten vielleicht früher eingelenkt, aber ein paar Leute mit seltsamem Akzent haben ihnen Gold und Männer versprochen.«

»Seanchaner«, sagte Nynaeve. Alivia öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder wortlos.

»Möglicherweise«, gestand Bera zu. »Sie gehen uns aus dem Weg und sehen uns an, als wären wir tollwütige Hunde, die jeden Augenblick zubeißen würden. Das hört sich nach dem wenigen an, was ich über die Seanchaner weiß. Wie dem auch sei, es ist noch keine Stunde her, dass Estanda plötzlich fragte, ob ihr der Wiedergeborene Drache wohl ihre Titel und Ländereien zurückgeben würde, und sie sind alle eingebrochen. Die Einigung sieht folgendermaßen aus. Darlin wird als Verwalter des Wiedergeborenen Drachen in Tear anerkannt, alle Gesetze, die Ihr erlassen habt, bleiben bestehen, und sie bezahlen als Strafe für die Rebellion ein Jahr lang für die Ernährung der Stadt. Dafür erhalten sie ihre Besitztümer zurück, Darlin wird zum König von Tear gekrönt, und sie schwören ihm die Treue. Merana und Rafela bereiten die Dokumente für die Unterschriften und Siegel vor.«

»König?«, sagte Darlin ungläubig. Caraline trat zu ihm hin und ergriff seinen Arm.

»Die Rückgabe ihres Besitzes?«, knurrte Rand und schleuderte den Pokal zur Seite. Wein spritzte durch die Luft. Der Bund übertrug Vorsicht, eine Warnung von Min, aber er war zu wütend, um darauf zu hören. Die Übelkeit, die seine Eingeweide aufwühlte, fachte auch den Zorn an. »Blut und verfluchte Asche! Ich habe ihnen ihre Ländereien und Titel weggenommen, weil sie gegen mich rebelliert haben. Sie können Bürgerliche bleiben und mir die Treue schwören!«

»Drei«, sagte Cadsuane, und Rand bekam eine Gänsehaut, kurz bevor ihn etwas wie ein hart geschwungener Rohrstock quer über den Hintern traf. Bera öffnete schockiert den Mund, und ihr Umhang rutschte von ihrem Arm zu Boden. Nynaeve lachte. Sie unterdrückte es schnell, aber sie lachte.

»Lasst mich Euch nicht weiter an Eure Manieren erinnern, mein Junge«, fuhr Cadsuane fort. »Alanna hat mir vor ihrer Abreise die Bedingungen mitgeteilt, die Ihr gestellt habt — Darlin als Verwalter, Eure Gesetze bleiben, alles andere wird auf den Tisch gelegt — und anscheinend sind sie erfüllt worden. Natürlich könnt Ihr tun, was Ihr wollt, aber hier kommt noch ein Rat. Wenn Eure Bedingungen akzeptiert werden, haltet Euch daran.«

Sonst wird dir keiner vertrauen, sagte Lews Therin und klang völlig normal. Jedenfalls für den Moment.

Rand sah Cadsuane mit geballten Fäusten an, unmittelbar davor, etwas zu weben, das sie verbrennen würde. Er konnte einen Striemen auf seinem Hinterteil spüren und würde ihn noch stärker im Sattel spüren. Er schien zu pulsieren, und seine Wut pulsierte mit ihm. Sie sah ruhig über ihren Wein zurück. War da eine Spur von Herausforderung in ihrem Blick, forderte sie ihn heraus, die Macht zu lenken? Die Frau verbrachte jeden Augenblick in seiner Gegenwart damit, ihn herauszufordern! Das Problem war nur, ihr Rat war gut. Er hatte Alanna diese Bedingungen aufgetragen. Er hatte von ihnen erwartet, härter zu verhandeln, mehr herauszuholen, aber sie hatten erreicht, was er verlangt hatte. Sogar mehr. Er hatte nicht an Bußgelder gedacht.

»Wie es scheint, ist Euch das Glück hold, König Darlin«, sagte er. Eine der Dienerinnen machte einen Knicks und gab Rand einen neuen Pokal. Ihr Gesicht war so ruhig wie das einer Aes Sedai. Man hätte denken können, dass es für sie alltäglich war, Männer mit Schwestern streiten zu sehen.

»Heil König Darlin«, intonierte Weiramon und klang halb erstickt, und einen Augenblick später machte Anaiyella es ihm nach, so atemlos, als wäre sie gerade eine Meile gerannt. Einst hatte sie selbst die Krone Tears begehrt.

»Aber warum sollten sie mich als König haben wollen?«

Darlin fuhr sich durchs Haar. »Oder überhaupt jemanden. Es hat im Stein seit Moreinas Tod keinen König mehr gegeben, und das war vor tausend Jahren. Oder habt Ihr das verlangt, Bera Sedai?«

Bera richtete sich gerade auf, weil sie den Umhang aufg ehoben hatte, und schüttelte ihn aus. »Es war ihre… ›Bedingung‹ wäre zu viel gesagt… es war ihr Vorschlag. Jeder von ihnen hätte die Chance auf einen Thron mit beiden Händen ergriffen, vor allem Estanda.« Anaiyella gab ein unterdrücktes Keuchen von sich. »Aber natürlich wussten sie, dass das aussichtslos ist. So können sie Euch die Treue schwören statt dem Wiedergeborenen Drachen, was das etwas weniger widerwärtig macht.«

»Und wenn Ihr König seid«, warf Caraline ein, »dann bedeutet das, dass Verwalter des Wiedergeborenen Drachen der geringere Titel ist.« Sie lachte kehlig. »Vielleicht hängen sie noch drei oder vier edel klingende Titel an, damit er noch obskurer ist.« Bera schürzte die Lippen, als hätte sie genau das zur Sprache bringen wollen.

»Würdest du einen König heiraten, Caraline?«, fragte Darlin. »Wenn du es machst, werde ich die Krone annehmen. Obwohl ich eine Krone anfertigen lassen muss.«

Min räusperte sich. »Wenn Ihr wollt, kann ich Euch sagen, wie sie aussehen soll.«

Caraline lachte wieder und ließ Darlins Arm los. »Ich werde dich vorher damit sehen müssen, bevor ich darauf antworte. Lass Mins Krone anfertigen, und wenn du damit hübsch aussiehst…« Sie lächelte. »Dann ziehe ich es vielleicht in Betracht.«

»Ich wünsche euch beiden alles Gute«, sagte Rand kurz angebunden, »aber im Moment gibt es wichtigere Dinge.« Min warf ihm einen scharfen Blick zu, Missbilligung flutete in den Bund. Nynaeve warf ihm einen scharfen Blick zu. Was hatte das denn schon wieder zu bedeuten? »Ihr werdet diese Krone annehmen, Darlin, und sobald diese Dokumente unterzeichnet sind, will ich, dass Ihr diese Seanchaner verhaftet und dann jeden Mann in Tear um Euch schart, der das eine Ende des Schwerts vom anderen unterscheiden kann. Ich sorge dafür, dass Asha’man euch nach Arad Doman bringen.«

»Und ich, mein Lord Drache?«, fragte Weiramon begierig.

Er zitterte fast vor Eifer, schaffte es umherzustolzieren, obwohl er still dastand. »Wenn gekämpft werden muss, kann ich Euch besser dienen, als in Cairhien zu verschmachten.«

Rand musterte den Mann. Und Anaiyella. Weiramon war ein nutzloser Trottel, und er vertraute keinem von ihnen, aber er konnte nicht erkennen, welchen Schaden sie mit ihren wenigen Anhängern anrichten sollten. »Also gut. Ihr beiden dürft den Hochlord… das heißt, König Darlin begleiten.« Anaiyella schluckte, als wäre sie lieber nach Cairhien zurückgekehrt.

»Aber was soll ich in Arad Doman tun?«, wollte Darlin wissen. »Soviel ich weiß, ist dieses Land ein Irrenhaus.« Lews Therin lachte wild in Rands Kopf.

»Tarmon Gai’don kommt bald«, sagte Rand. Mochte das Licht dafür sorgen, dass es nicht zu bald kam. »Ihr geht nach Arad Doman, um alles für Tarmon Gai’don vorzubereiten.«

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