12 Eine Manufaktur

Die amadicianische Mittagssonne brannte warm auf Perrins Kopf, während er unter weißen Wolken Steher auf die Dächer von Almizar zutrieb, einhundert Meilen südwestlich von Amador. Ungeduldig ließ er den Braunen traben. Soweit das Auge reichte, erstreckten sich Bauernhöfe beiderseits der Straße, strohgedeckte Steinhäuser, aus deren Schornsteinen Rauch emporstieg und Hühner vor den Scheunen im Staub scharrten. Schafe mit dicken Schwänzen und schwarzgeflecktes Milchvieh grasten auf von Steinmauern umgebenen Weiden, während Männer und Jungen Felder pflügten oder auf bereits gepflügten säten. Es schien Waschtag zu sein; hinter den Häusern konnte er große Kessel auf Feuern sehen; Frauen und Mädchen hängten auf langen Leinen Hemden und Blusen und Bettleinen zum Trocknen auf. Hier gab es keine Wildnis, bestenfalls weit verstreute Ansammlungen von Unterholz, von denen die meisten sauber beschlagen waren, um Feuerholz zu liefern.

Er griff mit seinem Geist zu, um Wölfe zu finden, und fand nichts. Das war keine Überraschung. Bei so vielen Menschen und so gezähmten Landstrichen hielten sich Wölfe fern. Der Wind frischte auf, und er zog den Umhang enger. Trotz der Notwendigkeit eines großen Auftritts war er aus einfacher brauner Wolle. Sein einziger Seidenumhang war mit Pelz gefüttert und für diesen Tag zu warm. Der grüne Seidenmantel mit den Silberstickereien würde reichen müssen. Das und seine Umhangnadel, zwei Wolfsköpfe in Silber und Gold. Ein Geschenk von Faile. Sie war ihm immer zu prunkvoll erschienen, um sie tragen zu können, aber an diesem Morgen hatte er sie vom Boden einer Truhe geholt. Ein kleines Etwas, um den schlichten Umhang auszugleichen.

Überraschenderweise lagerten Kesselflickerkarawanen auf Feldern um die Stadt herum, fünf davon in seinem Blickfeld. Elyas zufolge gab es immer ein Fest, wenn sich zwei Karawanen begegneten, und die Begegnung von dreien hatte tagelange Festivitäten zur Folge, aber größere Zusammentreffen kamen nur selten vor, ausgenommen im Sommer, am Sonnentag, wenn sie ihre Treffpunkte hatten. Perrin wünschte sich fast, Aram mitgenommen zu haben, trotz des Risikos, dass Masema zu viel erfuhr. Hätte der Mann etwas Zeit bei seinem Volk verbringen können, vielleicht hätte er sich ja entschieden, das Schwert niederzulegen. Das war die beste Lösung, die Perrin für ein schwieriges Problem einfiel, auch wenn es vermutlich nicht funktionieren würde. Aram mochte das Schwert; vielleicht sogar zu sehr. Aber er konnte ihn nicht wegschicken. Er hatte Aram das Schwert so gut wie in die Hand gedrückt, und jetzt waren Aram und das Schwert seine Verantwortung. Allein das Licht wusste, was aus dem Mann werden würde, wenn er tatsächlich zu Masema überlief.

»Ihr betrachtet die Tuatha’an und runzelt die Stirn, mein Lord«, sagte Generalin Khirgan. Er konnte ihren genuschelten Akzent mittlerweile besser verstehen, jetzt, da sie einige Zeit miteinander verbracht hatten. »Hattet Ihr in euren Ländern Probleme mit ihnen? Zu Hause kennen wir so etwas gar nicht, aber soweit ich weiß, besteht der einzige Ärger mit ihnen darin, dass die Ortsansässigen sie immer vertreiben wollen. Angeblich sollen sie große Diebe sein.«

Sie und Mishima waren heute herausgeputzt. Sie trugen blaue, mit Rot und Gelb besetzte Umhänge und rote Mäntel mit blauen Manschetten und mit gelben Rändern versehenen Aufschlägen. Drei kleine vertikale blaue Streifen in der Form dünner Federn seanchanischer Helme auf der linken Brust verrieten ihren Rang; Mishima trug zwei davon. Das Dutzend Soldaten hinter ihnen ritt jedoch in voller gestreifter Rüstung und bemalten Helmen; sie hielten die mit Stahlspitzen versehene Lanzen in exakt gleicher Ausrichtung. Die Gruppe von Failes Anhängern folgte den Seanchanern. Sie bestand ebenfalls aus zwölf Personen, die stolz tairenische Mäntel mit aufgeplusterten, mit Satinstreifen versehenen Ärmeln beziehungsweise dunkle cairhienische Mäntel mit den Streifen der Hausfarben auf der Brust trugen, aber trotz ihrer Schwerter sahen sie nicht mal annähernd so gefährlich wie die Soldaten aus und schienen das auch zu wissen. Wann immer eine Böe von hinten kam, trug sie Spuren von Gereiztheit heran, die garantiert nicht von den Seanchanern stammte. Die Soldaten rochen nach Ruhe, nach Geduld, wie Wölfe, die wussten, dass sie ihre Reißzähne möglicherweise bald einsetzen würden, aber nicht jetzt. Noch nicht.

»Ach, sie stehlen gelegentlich ein Huhn, General«, sagte Neald mit einem Lachen und zog an seinem dünnen, gewachsten Schnurrbart. »Aber ich würde sie nicht als große Diebe bezeichnen.« Er hatte das Erstaunen der Seanchaner über das Wegetor, das sie alle hergebracht hatte, ausgesprochen genossen, und er posierte noch immer hochmütig, brachte es fertig herumzustolzieren, obwohl er doch im Sattel saß. Es fiel schwer, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, dass er noch immer auf dem Hof seines Vaters arbeiten würde und vermutlich in ein, zwei Jahren über die Heirat mit einer Nachbarstochter nachgedacht hätte, hätte er sich nicht den schwarzen Mantel verdient. »Ordentliche Diebstähle erfordern Mut, und so etwas haben Kesselflicker nicht.«

Balwer, der in seinen dunklen Umhang gehüllt zusammengekrümmt auf seinem Pferd saß, zog eine Grimasse; vielleicht sollte es auch ein Lächeln sein. Das war bei dem vertrockneten kleinen Mann schwer zu sagen, solange Perrin nicht seinen Geruch auffing. Die beiden begleiteten ihn beinahe aus dem gleichen Grund, aus dem Khirgan und Mishima von einer grauhaarigen Sul’dam und ihrer Damane begleitet wurden, deren dunkles Haar graue Strähnen aufwies: angeblich um die Anzahl auszugleichen. Für die Seanchaner zählten Sul’dam und Damane als eine Person, wenn sie durch die mehrgliederige Metallleine verbunden wurden. Perrin hätte es gereicht, allein mit Neald zu kommen, oder höchstens mit Neald und Balwer, doch Tallanvor hatte Recht mit den Seanchanern und ihrem Beharren auf dem Protokoll behalten.

Die Gespräche hatten sich drei Tage lang hingezogen, und auch wenn sie einige Zeit mit der Frage verbracht hatten, ob man Perrins Plan folgen oder ihn in das einarbeiten sollte, was sich Tylee einfallen lassen würde — wobei sie am Ende nachgab, weil ihr nichts Besseres einfiel —, hatte man einen guten Teil davon mit der Diskussion darüber verschwendet, wie viele Leute jede Seite mit hierher nehmen sollte. Es hatte bei beiden dieselbe Zahl sein müssen, und die Bannergeneralin hatte einhundert Soldaten und zwei Damane mitnehmen wollen. Um der Ehre willen. Sie war erstaunt gewesen, dass er überhaupt dazu bereit war, mit weniger zu kommen, und hatte es auch erst dann akzeptieren wollen, nachdem er sie darauf hingewiesen hatte, dass jeder von Failes Leuten in seinem oder ihrem Land ein Adliger war. Er hatte das Gefühl, dass sie glaubte, hereingelegt worden zu sein, weil sie die Ränge ihrer Eskorte nicht mit entsprechenden Leuten aufstocken konnte. Diese Seanchaner waren schon ein merkwürdiges Volk. Oh, sie repräsentierten auf jeden Fall verschiedene Seiten, da bestand kein Zweifel. Diese Allianz war auf Zeit begrenzt, ganz zu schweigen davon, dass sie sehr zerbrechlich war, und die Bannergeneralin war sich dessen genauso sehr bewusst wie er.

»Sie haben mir zweimal Unterkunft gewährt, als ich sie brauchte, mir und meinen Freunden, und haben dafür nichts haben wollen«, sagte Perrin bedächtig. »Aber das, woran ich mich im Zusammenhang mit ihnen am deutlichsten erinnere, war, als die Trollocs Emondsfelde umzingelten. Die Tuatha’an standen mit auf den Rücken geschnallten Kindern auf dem Dorfgrün, den wenigen, die von ihren Kindern überlebt hatten und den unseren. Sie wollten nicht kämpfen — das ist nicht ihre Lebensart —, aber sie waren zu dem Versuch bereit, die Kinder in Sicherheit zu bringen, falls uns die Trollocs überrannt hätten. Unsere Kinder zu tragen hätte sie behindert, eine erfolgreiche Flucht noch unwahrscheinlicher gemacht, als sie ohnehin schon war, aber sie haben um diese Aufgabe gebeten.« Neald hustete peinlich berührt und schaute zur Seite. Seine Wangen röteten sich. Was auch immer er bereits alles gesehen und getan hatte, er war noch ung, gerade mal siebzehn. Diesmal war Balwers schmales Lächeln eindeutig.

»Ich glaube, Euer Leben gäbe eine gute Geschichte ab«, sagte die Generalin, und ihre Miene lud ihn ein, noch mehr zu erzählen.

»Ich wünschte mir, mein Leben wäre ganz normal«, sagte er zu ihr. Ein Mann, der nur Frieden wollte, hatte nichts in Geschichten verloren.

»Eines Tages würde ich gern einige dieser Trollocs sehen, von denen ich immer höre«, sagte Mishima, als die Pause zu lange wurde. In seinem Geruch lag ein Hauch Belustigung, aber er strich auch über den Schwertgriff, möglicherweise unbewusst.

»Nein, würdet Ihr nicht«, sagte Perrin zu ihm. »Früher oder später werdet Ihr Eure Chance bekommen, aber es wird Euch nicht gefallen.« Nach einem Moment nickte der narbige Mann ernst, und die Belustigung verschwand. Er musste endlich daran glauben, dass Trollocs und Myrddraal mehr waren als die Spukgeschichten von Reisenden. Falls er noch Zweifel hatte, es näherte sich der Zeitpunkt, der seine Zweifel für immer auslöschen würde.

Sie betraten Almizar, und als sie auf einen schmalen Karrenweg zum nördlichen Stadtende einbogen, verdrückte sich Balwer. Medore begleitete ihn. Sie war eine hochgewachsene Frau, fast so dunkel wie Tylee, aber mit dunkelblauen Augen. Sie trug dunkle Hosen und einen Männermantel mit rot gestreiften Ärmeln, sowie ein Schwert an ihrer Hüfte. Balwer ritt zusammengesunken, ein Vogel, der unsicher auf einem Sattel hockte, Medore hoch aufgerichtet und stolz, jeder Fuß die Tochter eines Hochlords und Anführerin von Failes Anhängern. Allerdings folgte sie Balwer, statt an seiner Seite zu reiten. Anscheinend schienen Failes Anhänger es akzeptiert zu haben, von dem umständlichen kleinen Mann Befehle zu bekommen. Es machte sie zu einem viel kleineren Ärgernis, als sie einst gewesen waren; tatsächlich machte es sie sogar auf mancherlei Weise nützlich, was Perrin für unmöglich gehalten hätte. Die Bannergeneralin hatte nichts gegen ihr Gehen einzuwenden, auch wenn sie ihnen nachdenklich hinterherschaute.

»Nett von der Lady, die Freundin eines Dieners zu besuchen«, meinte sie nachdenklich. Das war die Geschichte, die Balwer verbreitet hatte, dass er eine Frau gekannt hatte, die in Almizar lebte, und Medore wollte sie besuchen, falls sie noch am Leben war.

»Medore ist eine freundliche Frau«, erwiderte Perrin. »So sind unsere Bräuche, nett zu unserer Dienerschaft zu sein.« Tylee warf ihm einen Blick zu, nur einen, aber er rief sich ins Gedächtnis zurück, sie nicht zu unterschätzen. Es war zu schade, dass er nichts über seanchanische Bräuche wusste, oder sie hätten sich eine bessere Geschichte einfallen lassen. Aber Balwer war wild darauf gewesen — soweit er dazu fähig war-, diese Gelegenheit zu nutzen, um Informationen darüber zu sammeln, was in Amadicia unter den Seanchanern vorging. Perrin konnte dafür kaum Interesse aufbringen. Im Moment war nur Faile wichtig. Später konnte er sich dann über andere Dinge Sorgen machen.

Direkt nördlich von Almizar hatte man die Steinmauern, die sieben oder acht Felder aufgeteilt hatten, entfernt, um einen großen Platz zu schaffen, dessen Erde anscheinend gründlich von Eggen gepflügt worden war. Eine große seltsame Kreatur, auf deren Rücken zwei mit Kapuzen verhüllte Leute saßen, rannte dort unbeholfen auf zwei Beinen entlang, die für ihre Größe spindeldürr erschienen. Aber eigentlich traf es »seltsam« nicht einmal annähernd. Lederhäutig und grau war das Ding größer als ein Pferd, wenn man den angen, schlangenhaften Hals und den dünnen, noch längeren Schwanz nicht mitzählte, den sie steif ausgestreckt hatte, m Lauf schlug sie mit Schwingen, die gerippt wie die einer :ledermaus und so lang wie die meisten Flussschiffe waren, ’errin hatte solche Tiere bereits zuvor gesehen, aber nur in der Luft und aus der Ferne. Tylee hatte ihm gesagt, dass man sie Raken nannte. Die Kreatur erhob sich langsam und schwerfällig in die Luft und passierte gerade eben die Wipfel eines beschnittenen Baumbestandes am Ende des Feldes. Er legte den Kopf in den Nacken, um dem Raken nachzusehen, der langsam in den Himmel stieg, während die Unbeholfenheit beim Flug verschwand. Das wäre schon eine tolle Sache, auf einem von ihnen zu fliegen. Er unterdrückte den Gedanken, beschämt und wütend, dass er sich ablenken ließ.

Die Bannergeneralin zügelte ihren Braunen und betrachtete das Feld stirnrunzelnd. Am anderen Ende fütterten Männer vier weitere der seltsamen Tiere, hielten ihnen große Körbe zum Fressen hin, hornige Schnauzen schössen hinein und hornige Mäuler mahlten. Perrin wollte gar nicht wissen, was eine Kreatur, die so aussah, wohl fraß. »Sie müssten hier mehr Raken haben«, murmelte sie. »Wenn das alle sind .. .«

»Wir nehmen, was wir kriegen können, und gehen wieder«, sagte Perrin. »Wir wissen bereits, wo die Shaido sind.«

»Ich würde gern wissen, ob etwas hinter mir aufmarschiert«, sagte sie trocken zu ihm und legte wieder an Tempo zu.

Auf einem nahe gelegenen Bauernhof, der allem Anschein nach von den Seanchanern übernommen worden war, saßen etwa ein Dutzend Soldaten an Tischen, die wahllos vor dem Haus mit dem Strohdach aufgestellt worden waren, und würfelten. Andere gingen in der steinernen Scheune ein und aus, obwohl Perrin keine Spur von Pferden sah. Abgesehen von einem Gespann an einem Wagen, der von zwei Männern in grober Wollkleidung entladen wurde. Zumindest nahm Perrin an, dass es sich bei den anderen um Soldaten handelte. Fast die Hälfte waren Frauen, die Männer größtenteils so klein wie die Frauen, und niemand hatte ein Schwert; alle trugen eng sitzende blaue Mäntel, und jeder hatte zwei Messer in Scheiden, die an ihren eng sitzenden Stiefeln festgenäht waren. Uniformen deuteten auf Soldaten hin.

Mat würde sich bei diesem Haufen sofort wie zu Hause fühlen, dachte er, sah zu, wie sie bei erfolgreichen Würfen lachten und bei schlechten stöhnten. In seinem Kopf wirbelten diese Farben auf, und einen Augenblick lang sah er Mat von einer Straße abbiegen und in einen Wald reiten, gefolgt von einer Reihe Reitern und Lastpferden. Nur einen Augenblick lang, weil er das Bild sofort verdrängte, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, warum Mat in den Wald ritt oder wer seine Begleiter waren. Allein Faile zählte. An diesem Morgen hatte er den einundfünfzigsten Knoten in die Lederschnur geknüpft, die er in der Tasche trug. Seit einundfünfzig Tagen war sie nun eine Gefangene. Er hoffte, dass sie so lange eine Gefangene gewesen war. Es würde bedeuten, dass sie noch am Leben war, um gerettet zu werden. Wenn sie tot war… Seine Faust verkrampfte sich um den Kopf des Hammers, der an seinem Gürtel hing, verkrampfte sich, bis seine Knöchel schmerzten.

Ihm wurde bewusst, dass die Bannergeneralin und Mishima ihn betrachteten, Mishima voller Misstrauen, die Hand in der Nähe des Schwertgriffes, Tylee nachdenklich. Eine zerbrechliche Allianz, mit wenig Vertrauen auf beiden Seiten. »Einen Augenblick lang habe ich geglaubt, Ihr wolltet vielleicht die Flieger töten«, sagte sie ruhig. »Ihr habt mein Wort. Wir werden Eure Frau befreien. Oder sie rächen.«

Perrin holte schaudernd Luft und ließ den Hammer los.

Faile musste noch am Leben sein. Alyse hatte gesagt, sie würde unter ihrem Schutz stehen. Aber für wie viel Schutz konnte die Aes Sedai sorgen, wo sie doch selbst das Weiß der Gai’schain trug? »Bringen wir es hinter uns. Die Zeit vergeht.« Wie viele Knoten würde er noch in die Lederschnur knüpfen müssen? Gebe das Licht, dass es nicht mehr viele sein würden.

Er stieg ab und gab Carlon Belcelona Stehers Zügel, einem glatt rasierten Tairener mit langer Nase und einem unglücklich schmalen Kinn. Carlon hatte die Angewohnheit, an diesem Kinn herumzufingern, so als würde er sich fragen, wo sein Bart geblieben war, oder er fuhr sich über das Haar, als würde er sich fragen, warum es im Nacken zusammengebunden war und der Pferdeschwanz bis zu seinen Schultern reichte. Aber davon abgesehen gab es keine weiteren Anzeichen, dass er das alberne Getue aufgeben würde, die Aielbräuche zu imitieren, genauso wenig wie die anderen. Balwer hatte ihnen ihre Instruktionen gegeben, und immerhin gehorchten sie ihnen. Die meisten von ihnen überließen ihre Pferde bereits anderen und befanden sich auf dem Weg zu den Tischen; einige holten Münzen hervor, andere boten mit Wein gefüllte Feldflaschen an. Die die Soldaten seltsamerweise ablehnten, auch wenn es den Anschein hatte, dass jeder, der Silber hatte, bei ihren Spielen willkommen war.

Perrin warf nur einen flüchtigen Blick in ihre Richtung, steckte seine Panzerhandschuhe in den Gürtel und folgte den beiden Seanchanern ins Haus, schlug den Umhang zurück, damit der Seidenmantel zu sehen war. Wenn er wieder herauskam, würden Failes Anhänger — die vermutlich auch seine Anhänger waren — in der Zwischenzeit viel von dem in Erfahrung gebracht haben, was diese Männer und Frauen wussten. Eines hatte er von Balwer gelernt. Wissen konnte sehr nützlich sein, und man wusste nie, welches aufgeschnappte Bruchstück sich wertvoller als Gold erweisen mochte. Aber im Augenblick würden die einzigen Informationen, an denen er interessiert war, nicht von diesem Ort kommen.

Der Vorderraum des Bauernhauses war mit der Tür zugewandten Tischen gefüllt, an denen Schreiber emsig über Papiere gebeugt saßen. Der einzige Laut war das Kratzen von Federn auf Papier und das hartnäckige Husten eines Mannes. Die Männer trugen dunkelbraune Mäntel und Hosen, die Frauen Kleider in genau demselben Farbton. Ein paar hatten Anstecknadeln aus Silber oder Messing in Form einer Schreibfeder. Anscheinend hatten die Seanchaner Uniformen für alles. Ein pausbäckiger Bursche im hinteren Teil des Raumes mit zwei Silberfedern auf der Brust stand auf und verneigte sich bei Tylees Eintreten tief, und sein Bauch drängte gegen den Stoff. Ihre Stiefel polterten laut auf den Holzdielen, als sie zwischen den Tischen auf ihn zugingen. Er richtete sich erst wieder auf, nachdem sie seinen Tisch erreicht hatten.

»Tylee Khirgan«, sagte sie knapp. »Ich will mit demjenigen reden, der hier das Kommando hat.«

»Wie die Bannergeneralin befiehlt«, erwiderte der Bursche demütig, machte noch eine tiefe Verbeugung und eilte durch eine Tür hinter ihm.

Der Schreiber, der hustete, ein Bursche mit glattem Gesicht, der jünger als Perrin war und seinem Aussehen nach von den Zwei Flüssen hätte stammen können, hustete noch stärker und hielt die Hand vor den Mund. Er räusperte sich laut, aber das raue Husten kehrte zurück.

Mishima sah ihn stirnrunzelnd an. »Der Kerl sollte nicht hier sein, wenn er krank ist«, murmelte er. »Was, wenn es ansteckend ist? Im Moment hört man ständig von allen möglichen seltsamen Krankheiten. Ein Mann ist bei Sonnenaufgang noch gesund und bei Sonnenuntergang eine aufgequollene Leiche, und keiner weiß, woran er gestorben ist. Ich habe von einer Frau gehört, die innerhalb einer Stunde verrückt wurde, und jeder, der sie berührte, wurde ebenfalls verrückt. Nach drei Tagen waren sie und ihr ganzes Dorf tot, jedenfalls jene, die nicht geflohen waren.« Er vollführte eine seltsame Geste, formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, während er die restlichen Finger eng krümmte.

»Ihr wisst es besser, als Gerüchten zu glauben oder sie zu wiederholen«, sagte die Bannergeneralin scharf und machte dieselbe Geste. Sie schien sich dessen gar nicht bewusst zu sein.

Der dicke Schreiber erschien wieder und hielt einem Mann mit hagerem Gesicht und grauen Haaren die Tür auf; dort, wo sein rechtes Auge gewesen war, hing nun eine schwarze Lederklappe. Eine wulstige weiße Narbe lief seine Stirn herunter, verschwand hinter der Klappe und führte dann über die Wange. Er war so klein wie die Männer draußen und trug einen Mantel von einem dunkleren Blau mit zwei kleinen weißen Streifen auf der Brust, obwohl auch er die gleichen Messerscheiden an die Stiefel genäht hatte.

»Blasic Faloun, Bannergeneralin«, sagte er mit einer Verbeugung, während der Schreiber zu seinem Tisch eilte. »Wie kann ich Euch dienen?«

»Hauptmann Faloun, wir müssen unter .. .« Tylee wurde unterbrochen, als der Mann, der gehustet hatte, auf die Füße sprang und sein Hocker krachend umstürzte.

Er hielt sich den Leib, krümmte sich zusammen und erbrach einen schwarzen Strom, der sich am Boden in einen Schwärm winziger schwarzer Käfer aufteilte, die in alle Richtungen schössen. Jemand fluchte, was in der Totenstille schockierend laut klang. Der junge Mann starrte die Käfer entsetzt an, schüttelte den Kopf, als könnte er sie ungeschehen machen. Mit wildem Blick schaute er sich in dem Raum um, schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen.

Stattdessen krümmte er sich wieder und spuckte einen weiteren schwarzen Strom aus, diesmal viel länger, wieder Käfer, die über den Boden eilten. Seine Gesichtshaut geriet in Bewegung, als würden weitere Käfer in seinem Schädel umherkrabbeln.

Eine Frau schrie auf, ein lang gezogener Entsetzensschrei, und plötzlich brüllten die Schreiber durcheinander und sprangen auf, kippten in ihrer Hast Hocker und sogar Tische um, wichen hektisch den krabbelnden schwarzen Insekten aus.

Der Mann erbrach sich immer wieder, sank auf die Knie, kippte dann nach vorn, zuckte wild, während er in einem stetigen Strom immer neue Käfer ausspuckte. Er schien irgendwie .. . flacher zu werden. Sein Körper sackte zusammen. Die Krämpfe hörten auf, aber aus seinem aufklaffenden Mund ergossen sich noch immer schwarze Käfer und breiteten sich auf dem Boden aus. Endlich — es hatte den Anschein, als hätte das alles eine Stunde gedauert, dabei konnte es nicht mehr als eine Minute oder zwei gewesen sein —, endlich wurde der Insektenstrom dünner und hörte dann auf. Von dem Burschen blieb nur ein blasses, flaches Etwas in seinen Kleidern übrig, wie ein Weinschlauch, den man geleert hatte. Das Gebrüll ging natürlich weiter. Die Hälfte der Schreiber stand auf den Tischen, die nicht umgestürzt waren, Männer wie Frauen, fluchten oder beteten oder manchmal abwechselnd auch beides, so laut sie nur konnten. Die andere Hälfte war nach draußen geflohen. Überall krabbelten kleine schwarze Käfer herum. Der Raum stank nach Entsetzen.

»Ich habe ein Gerücht gehört«, sagte Faloun heiser. Seine Stirn war schweißbedeckt. Er roch nach Furcht. Kein Entsetzen, sondern eindeutig Furcht. »Von östlich von hier. Aber da waren es Tausendfüßler. Kleine schwarze Tausendfüßler.« Ein paar Käfer eilten auf ihn zu, und er wich mit einem Fluch zurück, machte dabei die gleiche seltsame Geste wie Tylee und Mishima zuvor.

Perrin zertrat die Käfer. Seine Nackenhaare wollten sich sträuben, aber nur Faile war wichtig. Nur sie! »Das sind bloß Bohrerkäfer. Man findet sie in fast jedem verrottetem Holz.«

Der Mann zuckte zusammen, hob den Blick und zuckte erneut zusammen, als er Perrins Augen bemerkte. Ihm fiel der Hammer an Perrins Gürtel auf, und er warf der Bannergeneralin einen schnellen, überraschten Blick zu. »Diese Käfer kamen aus keinem Holz. Sie sind das Werk des Seelenbinders!«

»Das mag schon sein«, erwiderte Perrin ruhig. Vermutlich war Seelenbinder ein Name für den Dunklen König. »Es macht keinen Unterschied.« Er hob den Fuß und zeigte die zerquetschten Panzer von sieben oder acht Insekten. »Sie können getötet werden. Und ich kann meine Zeit nicht mit Käfern verschwenden, die ich zertreten kann.«

»Wir müssen unter vier Augen reden, Hauptmann«, fügte Tylee hinzu. Auch ihr Geruch war voller Furcht, aber sie hatte sie fest unter Kontrolle. Mishimas Hand war zu der seltsamen Geste erstarrt. Seine Furcht war fast so kontrolliert wie die ihre.

Faloun riss sich sichtlich zusammen, der Angstgeruch verwehte. Er ging nicht weg, aber er hatte sich jetzt wieder unter Kontrolle. Allerdings vermied er es, die Käfer anzusehen.

»Wie Ihr befehlt, Bannergeneralin. Atal, kommt vom Tisch herunter und lasst diese… diese Dinger hier rausfegen. Und sorgt dafür, dass Mehtan den Riten entsprechend begraben wird.« Der dicke Schreiber verbeugte sich, bevor er vom Tisch kletterte, und dann noch einmal, als er wieder auf dem Boden stand, aber der Hauptmann hatte sich bereits abgewandt. »Wenn Ihr mir folgen möchtet, Bannergeneralin?«

Sein Arbeitszimmer war vermutlich einst ein Schlafzimmer gewesen, aber jetzt stand hier ein Schreibtisch mit flachen Kästen voller Papier sowie ein weiterer, größerer Tisch, auf dem mit Tintenfässchen, Steinen und kleinen Messingfiguren beschwerte Karten ausgebreitet lagen. Ein Regal an der einen Wand enthielt Papierrollen, die vermutlich ebenfalls Karten waren. Der graue Steinkamin war kalt. Faloun deutete auf ein halbes Dutzend nicht zueinander passender Stühle, die vor dem Schreibtisch auf dem nackten Boden standen, und bot an, Wein holen zu lassen. Es schien ihn zu enttäuschen, dass Tylee beides ablehnte. Vielleicht wollte er etwas zu trinken, um seine Nerven zu beruhigen. Noch immer haftete ein kleiner Hauch von Angst an ihm.

Tylee fing an. »Ich muss sechs Raken ersetzen, Hauptmann, und achtzehn Morat’raken. Und eine volle Kompanie Bodenlinge. Jene, die ich hatte, sind irgendwo in Amadicia und bewegen sich nach Westen und sind unauffindbar.«

Faloun zog eine Grimasse. »Bannergeneralin, wenn Ihr Raken verloren habt, dann wisst Ihr, dass alles bis auf die Knochen abgenagt wurde, weil…« Sein Auge sah in Perrins Richtung, und er räusperte sich, bevor er fortfuhr. »Ihr bittet mich um drei Viertel der Tiere, die ich noch habe. Könnt Ihr Euch möglicherweise nicht mit weniger begnügen, vielleicht eines oder zwei?«

»Vier«, sagte Tylee fest, »und zwölf Flieger. Ich gebe mich damit zufrieden.« Sie konnte den lang gezogenen seanchanischen Akzent energisch klingen lassen, wenn sie wollte.

»Soviel ich gehört habe, ist diese Region so befriedet wie Seandar, aber ich lasse euch vier.«

»Wie Ihr wünscht, Bannergeneralin.« Faloun seufzte.

»Dürfte ich bitte den Befehl sehen? Alles muss niedergeschrieben werden. Seit ich selbst nicht mehr fliegen kann, verbringe ich meine ganze Zeit damit, wie ein Schreibstubenhengst Papiere hin und her zu schieben.«

»Lord Perrin?«, sagte Tylee, und er zog das Dokument aus der Manteltasche, das Suroth unterschrieben hatte.

Falouns Brauen hoben sich immer mehr, während er las, und er befingerte vorsichtig das Wachssiegel, aber er stellte es genauso wenig in Frage wie zuvor die Bannergeneralin. Anscheinend waren Seanchaner an solche Dinge gewöhnt. Er schien erleichtert zu sein, es wieder zurückgeben zu dürfen, und wischte sich unbewusst die Hände am Mantel ab. Daran gewöhnt, aber es bereitete ihnen Unbehagen. Er musterte Perrin, versuchte unauffällig zu sein, und Perrin konnte aus seiner Miene förmlich die Frage herauslesen, die die Bannergeneralin gestellt hatte. Wer war er, dass er so etwas bei sich trug?

»Ich brauche eine Karte von Altara, Hauptmann, wenn Ihr eine habt«, sagte Tylee. »Ich komme auch ohne aus, wenn nicht, aber es wäre besser, wenn Ihr eine hättet. Ich interessiere mich für das Nordwestliche Viertel des Landes.«

»Das Licht ist Euch gewogen, Bannergeneralin«, sagte er und bückte sich, um eine Rolle vom untersten Regalfach zu holen. »Ich habe genau das, was Ihr braucht. Zufällig war sie bei den Karten von Amadicia, die man mir zuteilte. Ich hatte vergessen, dass ich sie habe, bis Ihr sie erwähnt habt.« Perrin schüttelte leicht den Kopf. Ein Zufall, nicht das Werk von ta’veren. Nicht einmal Rand war ein so starker Ta’veren, um das geschehen zu lassen. Die Farben wirbelten, aber er vertrieb sie, bevor sie sich zu einem Bild verfestigen konnten.

Sobald Faloun die Karte auf dem Kartentisch ausgebreitet und die Ecken mit Messinggewichten in Form von Raken beschwert hatte, studierte die Bannergeneralin sie, bis sie ihre Landmarken gefunden hatte. Sie war groß genug, um den Tisch auszufüllen, und zeigte genau das, was sie hatte wissen wollen, zusammen mit schmalen Streifen von Amadicia und Ghealdan. Das Terrain war detailliert aufgezeichnet, mit den in winzigen Buchstaben verzeichneten Namen von Städten und Dörfern, Flüssen und Bächen. Perrin wusste, dass das ein prächtiges Beispiel für die Kunst eines Kartenmachers war, viel besser als die meisten Karten. Konnte es das Werk von ta’veren sein? Nein. Nein, das war unmöglich.

»Sie werden meine Soldaten hier finden«, sagte sie und markierte einen Punkt mit dem Finger. »Sie sollen sofort aufbrechen. Ein Flieger pro Raken, und keine persönlichen Gegenstände. Sie fliegen ohne großes Gepäck, und so schnell wie möglich. Ich will, dass sie vor morgen Abend da sind. Die anderen Morat’raken reisen mit den Bodenlingen. Ich hoffe, in wenigen Stunden aufbrechen zu können. Lasst sie bis dahin antreten.«

»Karren«, sagte Perrin. Neald konnte kein Wegetor machen, das groß genug für Wagen war. »Was auch immer sie mitnehmen, es muss auf Karren geladen sein, nicht auf Wagen.« Faloun formte das Wort lautlos und ungläubig nach.

»Karren«, willigte Tylee ein. »Kümmert Euch darum, Hauptmann.«

Perrin konnte bei dem Mann ein Verlangen riechen, das er als den Wunsch Fragen zu stellen interpretierte, aber Faloun sagte lediglich mit einer Verbeugung: »Wie Ihr befehlt, Bannergeneralin, so wird es geschehen.«

Als sie den Hauptmann verließen, herrschte im Vorzimmer eine andere Art Aufregung. Überall liefen Schreiber herum und schlugen wild mit ihren Besen auf die Käfer ein oder wischten sie beiseite. Einige der Frauen weinten, während sie die Besen schwangen, einige der Männer sahen so aus, als hätten sie es gern getan, und das Zimmer stank noch immer nach Entsetzen. Von dem Toten war keine Spur mehr zu entdecken, aber Perrin fiel auf, dass die Schreiber die Stelle mieden, an der er gestorben war, nicht einen Fuß dort hinsetzten. Sie versuchten auch, nicht auf die Käfer zu treten, was für ein beträchtliches Herumgetanze sorgte. Als sich Perrin seinen Weg zur Haustür knackend bahnte, hielten sie inne und starrten ihn an.

Draußen war die Stimmung weniger aufgeregt, wenn auch nicht sehr. Tylees Soldaten standen in einer Reihe bei ihren Pferden, und Neald tat so, als ginge ihn das alles nichts an, gähnte sogar und hielt sich die Hand vor den Mund, aber die Sul’dam tätschelte die zitternde Damane und murmelte beruhigend, und die in blaue Mäntel gekleideten Soldaten — es waren viel mehr als zuvor — standen in einer großen Gruppe zusammen und unterhielten sich beunruhigt. Die Cairhiener und Tairener eilten auf Perrin zu und scharten sich um ihn, führten ihre Pferde und redeten alle gleichzeitig.

»Stimmt es, mein Lord?«, fragte Camaille, das blasse Gesicht besorgt, und ihr Bruder Barmanes sagte: »Vier Männer haben etwas in einer Decke herausgetragen, aber sie haben den Blick von dem abgewendet, was es war.«

Alle eng beieinander, alle so gut wie panisch riechend. »Sie sagen, er hat Käfer gespuckt« und »Sie sagen, die Käfer haben sich einen Weg aus ihm herausgefressen« und »Das Licht helfe uns, sie fegen Käfer aus der Tür; wir werden alle sterben« und »Möge meine Seele zu Asche verbrennen, der Dunkle König bricht aus« und noch mehr, das noch weniger Sinn ergab.

»Ruhe«, befahl Perrin, und überraschenderweise verstummten alle. Für gewöhnlich benahmen sie sich ihm gegenüber widerspenstig, bestanden darauf, dass sie Faile dienten und nicht ihm. Jetzt standen sie da und starrten ihn an, warteten darauf, dass er ihnen die Furcht nahm. »Ein Mann hat Käfer gespuckt und ist gestorben, aber es waren ganz gewöhnliche Käfer, die man in jedem abgestorbenen Holz findet. Gibt einen hässlichen Stich, wenn man sich auf sie setzt, aber das ist es auch schon. Vermutlich war es das Werk des Dunklen Königs, das ist wahr, aber es hat nichts mit der Befreiung von Lady Faile zu tun, und das bedeutet, es hat nichts mit uns zu tun. Also beruhigt euch, dann kümmern wir uns wieder um unsere Angelegenheiten.«

Seltsamerweise funktionierte es. Mehr als eine Wange rötete sich, und der Geruch von Angst wurde ersetzt — oder zumindest unterdrückt — vom Duft nach Scham, weil sie zugelassen hatten, beinahe in Panik geraten zu sein. Sie sahen verlegen aus. Aber als sie in die Sättel stiegen, kamen ihre wahren Naturen wieder zum Vorschein. Einer nach dem anderen fing an, mit den mutigen Taten zu prahlen, die sie begehen würden, um Faile zu retten, und jeder übertrieb es noch mehr als der andere. Sie wussten, dass es Prahlereien waren, weil jede Ankündigung bei den anderen bloß Gelächter hervorrief, und dennoch versuchten sie sich dabei zu übertreffen.

Die Bannergeneralin beobachtete ihn wieder, wie er sich bewusst wurde, als er von Carlon Stehers Zügel entgegennahm. Was sah sie da bloß? Was glaubte sie zu erfahren?

»Was hat die ganzen Raken fortgeschickt?«, fragte er.

»Wir hätten diesen Ort als zweiten oder dritten Haltepunkt aufsuchen sollen«, erwiderte sie und schwang sich in den Sattel. »Ich muss noch immer A’dam besorgen. Ich wollte einfach so lange wie möglich glauben, dass ich eine Chance habe, aber wir können genauso gut zum Kern des Problems vorstoßen. Dieser Wisch wird jetzt richtig auf die Probe gestellt, und wenn er versagt, ist es sinnlos, sich auf die Suche nach A’dam zu begeben.« Eine zerbrechliche Allianz, wenig Vertrauen.

»Warum sollte er versagen? Hier hat er seinen Zweck erfüllt.«

»Faloun ist ein Soldat, mein Lord. Jetzt müssen wir mit einem kaiserlichen Beamten sprechen.« Sie legte eine gehörige Verachtung in die Bezeichnung. Sie drehte ihren Braunen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als aufzusteigen und ihr zu folgen.

Almizar war eine große Stadt, ein blühendes Gemeinwesen mit sechs hohen Wachtürmen an den Außenbezirken, aber ohne Mauer. Elyas hatte behauptet, dass das amadicianische Gesetz Stadtmauern verbot — die Ausnahme war Amador —, ein Gesetz, das auf Betreiben der Weißmäntel zustande gekommen war und von ihnen genauso hartnäckig durchgesetzt wurde wie von demjenigen, der gerade auf dem Thron saß. Balwer dürfte mittlerweile bestimmt in Erfahrung gebracht haben, wer das im Augenblick war; immerhin war Ailron ja tot.

Die Straßen waren mit Granit gepflastert und wurden von stabilen Gebäuden aus Ziegeln oder Stein gesäumt; einige waren grau, andere schwarz, viele wiesen zwei oder drei Stockwerke auf und hatten überwiegend Schieferdächer, der Rest war strohgedeckt. Die Straßen waren voller Menschen, die sich zwischen Wagen und Pferdekarren und Handkarren ihre Wege bahnten; Straßenhändler boten lautstark ihre Ware feil, Frauen mit großen Hauben, die ihre Gesichter verbargen, trugen Einkaufskörbe, Männer in knielangen Mänteln stolzierten umher, Lehrlinge mit Schürzen oder Westen besorgten im Laufschritt Botengänge. Es waren mindestens genauso viele Soldaten wie Einwohner unterwegs, Männer und Frauen, deren Hautfarbe so dunkel wie die von Tairenern war oder die Farbe von Honig aufwies, aber auch Männer, die so bleich wie Cairhiener waren, aber mit hellem Haar und hochgewachsen, und sie alle trugen bunte seanchanische Uniformen. Die meisten hatten nur Gürtelmesser oder Dolche dabei, aber Perrin entdeckte einige mit Schwertern. Sie gingen paarweise, musterten die Umgebung aufmerksam, und an ihren Gürteln baumelten auch Knüppel. Vermutlich eine Stadtwache, aber für einen Ort von der Größe Almizars waren es recht viele. Perrin sah nie weniger als zwei Paar von ihnen.

Aus einem großen Gasthaus mit Schieferdach traten zwei Männer und eine Frau heraus und bestiegen von Stallbursehen gehaltene Pferde. Perrin erkannte die Frau nur an der Weise, wie sich der lange Mantel mit den beiden Schößen an ihren Busen schmiegte, denn ihr Haar war noch kürzer als das der Männer; außerdem trug sie wie die anderen beiden Männerkleidung und ein Schwert. Ihr Gesicht war genauso hart wie das ihrer Begleiter. Als die drei nach Westen ritten, grunzte Mishima säuerlich.

»Jäger des Horns«, murmelte er. »Ich gebe meine Augen, wenn sie es nicht sind. Diese tollen Kerle machen überall nur Ärger, werden in Kämpfe verwickelt, stecken ihre Nase in alles, was sie nichts angeht. Ich habe gehört, dass man das Horn von Valere schon längst gefunden hat. Was glaubt Ihr, mein Lord?«

»Ich habe ebenfalls gehört, dass es gefunden wurde«, erwiderte Perrin vorsichtig. »Da sind alle möglichen Gerüchte im Umlauf.«

Niemand warf ihm auch nur einen Blick zu, und im Gewühl der bevölkerten Straße war es so gut wie unmöglich, ihren Geruch aufzufangen, aber aus irgendeinem Grund hatte er den Eindruck, dass sie über seine Antworten nachdachten, als lägen verborgene Wahrheiten darin. Beim Licht, glaubten sie etwa, er hätte etwas mit dem Horn zu tun? Er wusste, wo es war. Moiraine hatte es in die Weiße Burg gebracht. Aber das würde er ihnen nicht sagen. Geringes Vertrauen beruhte auf Gegenseitigkeit.

Die Ortsansässigen schenkten den Soldaten nicht mehr Aufmerksamkeit als einander, genauso wenig wie der Bannergeneralin und ihrem gepanzerten Gefolge, aber Perrin war da eine andere Sache. Jedenfalls wenn sie seine goldenen Augen bemerkten. Er konnte immer sofort sagen, wann das der Fall war. Das schnelle Zucken eines Frauenkopfs, der offen stehende Mund, mit dem sie ihn anstarrte. Der Mann, der förmlich erstarrte und in seine Richtung glotzte. Ein Kerl stolperte doch tatsächlich über die eigenen Füße und fiel auf die Knie. Er starrte weiter, dann kam er wieder hoch und rannte los, stieß alle Leute aus dem Weg, als hätte er Angst, Perrin könnte ihn verfolgen.

»Ich vermute, sie haben noch nie einen Mann mit gelben Augen gesehen«, sagte Perrin trocken.

»Sind sie da, wo Ihr herkommt, weit verbreitet?«, fragte die Bannergeneralin.

»Weit verbreitet, nein, das würde ich so nicht sagen, aber ich werde Euch einem weiteren Mann vorstellen, der sie hat.«

Sie wechselte einen Blick mit Mishima. Beim Licht, er hoffte, dass in den Prophezeiungen bloß nichts über zwei Männer mit gelben Augen stand. Die Farben wirbelten auf, und er verscheuchte sie.

Die Bannergeneralin wusste genau, wo sie hinwollte, ein gemauerter Stall am südlichen Stadtrand, aber als sie in dem verwaisten Hof abstieg, kam kein Stallbursche angerannt. Neben dem Stall stand eine von einer Mauer umringte Koppel, aber nirgends waren Pferde zu sehen. Sie übergab die Zügel einem ihrer Soldaten und blieb dann stehen, den Blick auf das Stalltor gerichtet, von dem nur ein Flügel geöffnet war. Ihrem Geruch nach zu urteilen fand Perrin, dass sie sich innerlich stählte.

»Haltet Euch an das, was ich tue, mein Lord«, sagte sie schließlich, »und sagt nichts, was Ihr nicht sagen müsst. Es könnte das Falsche sein. Wenn Ihr sprechen müsst, dann sprecht mich an. Macht deutlich, dass Ihr zu mir sprecht.«

Das klang unheilvoll, aber er nickte. Und fing an zu planen, wie er die Spaltwurzel stehlen würde, wenn das hier schief ging. Er würde herausfinden müssen, ob dieser Ort nachts bewacht wurde. Möglicherweise hatte Balwer das bereits in Erfahrung gebracht. Der kleine Mann schien solche Informationen mühelos aufzuschnappen. Als er ihr nach drinnen folgte, blieb Mishima bei den Pferden zurück, und er schien erleichtert zu sein, sie nicht begleiten zu müssen. Was hatte das zu bedeuten? Bedeutete das überhaupt etwas? Seanchaner. In nur wenigen Tagen ließen sie ihn in allem verborgene Bedeutungen sehen.

Es war einst ein Stall gewesen, offensichtlich, aber jetzt war es etwas anderes. Der Steinboden war so sauber gefegt, dass eine Bauersfrau zufrieden gewesen wäre, es gab keine Pferde, und ein überwältigender Geruch nach Minze hätte für jede Nase außer der seinen und Elyas‹ den bleibenden Duft nach Tieren und Heu unkenntlich gemacht. In den vorderen Boxen stapelten sich Holzkisten, und die weiter hinten waren bis auf jene, die den Heuboden stützten, entfernt worden. Dort arbeiteten jetzt Männer und Frauen Rücken an Rücken; sie standen an Tischen und benutzten Mörser und Stößel oder Siebe, während andere sich konzentriert um flache Pfannen kümmerten, die auf Eisenbeinen über Kohlenpfannen standen, und allem Anschein nach Wurzeln mit Zangen drehten.

Ein schlanker junger Mann in Hemdsärmeln legte einen groben Jutesack in eine der Kisten, dann verbeugte er sich genauso tief wie der Schreiber vor Tylee, den Oberkörper parallel zum Boden. Er richtete sich erst wieder auf, als sie sprach.

»Bannergeneralin Khirgan. Ich möchte mit der Person sprechen, die hier den Befehl hat, wenn ich darf.« Ihr Tonfall war ganz anders als bei dem Schreiber, nicht im Mindesten bestimmend.

»Wie Ihr befehlt«, erwiderte der Bursche mit einem Akzent, der amadicianisch klang. Oder falls er doch Seanchaner war, sprach er zumindest mit der richtigen Geschwindigkeit und ohne die Worte zu zerkauen.

Er verneigte sich erneut, genauso tief wie zuvor, eilte zu einer Stelle, an der sechs Boxen mit einer Wand versehen worden waren, auf halber Höhe der linken Reihe, und klopfte zaghaft an einer Tür, dann wartete er auf die Erlaubnis, bevor er eintrat. Als er wieder herauskam, begab er sich ohne den geringsten Blick auf Perrin und Tylee in den hinteren Teil des Gebäudes. Nach ein paar Minuten öffnete Perrin den Mund, aber Tylee schnitt nur eine Grimasse und schüttelte den Kopf, also machte er ihn wieder zu und wartete. Er wartete eine gute Viertelstunde, und mit jedem Herzschlag wuchs seine Ungeduld. Die Bannergeneralin roch unerschütterlich nach Geduld.

Endlich kam eine mollige Frau in einem knallgelben Kleid von seltsamem Schnitt aus dem kleinen Raum, aber sie blieb stehen, um die Arbeit im hinteren Teil des Gebäudes zu kontrollieren, und ignorierte Tylee und ihn. Ihr halber Kopf war kahl rasiert! Ihr restliches Haar war zu einem dicken, langsam grau werdenden Zopf geflochten, der ihr über der Schulter hing. Schließlich nickte sie zufrieden und kam ohne jede Eile auf sie zu. Ein blaues Oval auf ihrer Brust war mit drei goldenen Händen bestickt. Tylee verbeugte sich so tief, wie Faloun sich vor ihr verbeugt hatte, und Perrin erinnerte sich an ihre Anweisung und tat es ihr gleich. Die wohlgenährte Frau senkte leicht den Kopf. Sie roch nach Stolz.

»Ihr wünscht mich zu sprechen, Bannergeneralin?« Sie hatte eine glatte Stimme, so aalglatt wie sie selbst. Nicht im Mindesten willkommend. Sie war eine beschäftigte Frau, die gestört wurde. Eine beschäftigte Frau, die sich ihrer Bedeutung nur allzu bewusst war.

»Jawohl, Ehrenwerte«, sagte Tylee respektvoll. Kurz trat der scharfe Duft von Gereiztheit in den Geruch ihrer Geduld, wurde dann aber wieder heruntergeschluckt. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. »Würdet Ihr mir sagen, wie viel fertige Spaltwurzel Ihr da habt?«

»Eine seltsame Bitte«, sagte die Frau so, als müsste sie erst darüber nachdenken, ob sie sie erfüllen sollte oder nicht. Sie legte nachdenklich den Kopf schief. »Nun gut«, sagte sie nach einem Augenblick. »Den Vormittag mit eingerechnet, habe ich viertausendachthundertdreiundsiebzig Pfund und neun Unzen. Eine erstaunliche Leistung, wenn ich das bemerken darf, zieht man in Betracht, wie viel ich verschifft habe und wie schwer es doch ist, die Pflanze in der Wildnis zu finden, ohne die Graber absurde Entfernungen weit schicken zu müssen.« So unmöglich es erschien, wurde der Stolz in ihrem Geruch noch ausgeprägter. »Ich habe dieses Problern jedoch gelöst, indem ich die hiesigen Bauern dazu bewegt habe, einige ihrer Felder mit Spaltwurzel zu bepflanzen. Im Sommer werde ich etwas Größeres bauen müssen, um diese Manufaktur unterbringen zu können. Unter uns gesagt, es würde mich nicht überraschen, wenn man mir dafür einen neuen Namen anbietet. Obwohl ich das natürlich möglicherweise nicht annehmen werde.« Sie lächelte ein kleines Lächeln und berührte das Oval auf der Brust; es war fast schon eine Liebkosung.

»Das Licht wird Euch sicherlich gewogen sein, Ehrenwerte«, murmelte Tylee. »Mein Lord, würdet Ihr mir den Gefallen tun, der Ehrenwerten Euer Dokument zu zeigen?« Das sagte sie mit einer Verbeugung Perrin gegenüber, die entschieden tiefer als jene war, die sie der Ehrenwerten erwiesen hatte. Die Augenbrauen der molligen Frau zuckten.

Sie streckte die Hand aus, um das Blatt Papier von ihm entgegenzunehmen, und erstarrte. Ihr waren endlich seine Augen aufgefallen. Sie schüttelte sich leicht, las ohne jedes äußere Anzeichen von Überraschung, faltete das Papier wieder zusammen und tippte sich damit gegen die freie Hand.

»Anscheinend wandelt Ihr in großer Höhe, Bannergeneralin.

Und mit einem sehr seltsamen Gefährten. Um was bittet Ihr- oder er — mich?«

»Spaltwurzel, Ehrenwerte«, sagte Tylee sanft. »Alles, was Ihr habt. So schnell wie möglich auf Karren verladen. Und ich fürchte, Ihr müsst auch für die Karren und die Kutscher sorgen.«

»Unmöglich!«, fauchte die Frau und richtete sich hochmütig zu ihrer vollen Größe auf. »Ich habe strikte Pläne erstellt, wie viele Pfund fertige Spaltwurzel jede Woche verschifft werden, die ich streng eingehalten habe, und ich lasse nicht zu, dass diese Erfolgsbilanz besudelt wird. Das wäre ein immenser Schaden für das Kaiserreich. Die Sul'dam legen mit beiden Händen Marath'damane an die Leine.«

»Vergebt mir, Ehrenwerte«, sagte Tylee und verneigte sich erneut. »Falls Ihr eine Möglichkeit seht, uns…«

»Bannergeneralin«, unterbrach Perrin sie. Offensichtlich war das eine heikle Begegnung, und er versuchte eine unberührte Miene beizubehalten, aber er konnte ein Stirnrunzeln nicht unterdrücken. Es war fraglich, ob selbst fünf Tonnen von dem Zeug ausreichten, und sie wollte um noch weniger verhandeln! Seine Gedanken rasten auf der Suche nach einer Lösung. Seiner Meinung nach waren schnelle Gedanken schlampige Gedanken — sie führten zu Fehlern und Unfällen —, aber er hatte keine andere Wahl. »Das wird die Ehrenwerte vermutlich nicht interessieren, aber Suroth hat jedem den Tod und Schlimmeres versprochen, falls ihre Pläne behindert werden sollten. Ich glaube zwar nicht, dass ihre Wut über Euch und mich hinausgehen wird, aber sie hat gesagt, dass wir alles nehmen sollen.«

»Natürlich wird der Zorn der Hochlady nicht die Ehrenwerte treffen.« Aber Tylee klang, als wäre sie sich da nicht so sicher.

Die mollige Frau atmete schwer, das blaue Oval mit den goldenen Händen hob und senkte sich. Sie verneigte sich genauso tief vor Perrin wie Tylee. »Ich werde den größten Teil des Tages benötigen, um genügend Karren zu besorgen und zu beladen. Wird das ausreichen, mein Lord?«

»Das wird es wohl müssen, oder?«, sagte Perrin und zupfte ihr das Papier aus der Hand. Sie ließ es zögernd los und sah voller Verlangen zu, wie er es in die Manteltasche steckte.

Draußen schüttelte die Bannergeneralin den Kopf, als sie sich in den Sattel schwang. »Es ist immer schwierig, mit den Niederen Händen umzugehen. Keine von ihnen hält ihren Rang für weniger bedeutend. Ich hatte angenommen, dass hier jemand vom Vierten oder Fünften Rang das Kommando hat, und das wäre schon schwer genug gewesen. Als ich sah, dass sie den Dritten Rang innehält — das ist nur zwei Schritte unter einer Hand der Kaiserin, möge sie ewig leben —, war ich überzeugt, dass wir höchstens ein paar Hundert Pfund bekommen. Aber Ihr habt das wunderbar gemacht. Ein Risiko, sicher, aber trotzdem wunderbar gemacht.«

»Nun, niemand will den Tod riskieren«, sagte Perrin, als sie den Hof verließen und sich alle ihnen anschlossen. Jetzt mussten sie auf die Karren warten, vielleicht ein Gasthaus finden. In ihm brannte die Ungeduld. Mochte das Licht dafür sorgen, dass sie hier nicht die Nacht verbringen mussten.

»Ihr konntet das nicht wissen«, sagte die dunkelhäutige Frau leise. »Diese Frau wusste, dass sie im Schatten des Todes stand, sobald sie Suroths Worte las, aber sie war bereit, ihn wegen ihrer Pflicht dem Imperium gegenüber zu riskieren. Eine Niedere Hand des Dritten Ranges bekleidet eine Stellung, die hoch genug ist, um durch Pflichterfüllung dem Tod zu entkommen. Aber Ihr habt Suroths Namen erwähnt. Das geht meistens in Ordnung, ausgenommen natürlich, Ihr sprecht die Hochlady selbst an, aber ihren Namen vor einer Niederen Hand ohne ihren Titel auszusprechen bedeutete entweder, dass Ihr ein ignoranter Einheimischer oder einer von Suroths Vertrauten seid. Das Licht hat Euch beigestanden, und sie hat sich für den Vertrauten entschieden.«

Perrin stieß ein humorloses Lachen aus. Seanchaner. Und vielleicht auch ta'veren.

»Verratet mir, falls Euch die Frage nicht beleidigt, hat Euch Eure Lady mit einflussreichen Verbindungen oder vielleicht großem Landbesitz versorgt?«

Die Frage überraschte ihn so sehr, dass er sich im Sattel umdrehte, um sie anzustarren. Etwas schlug hart gegen seine Brust, schlitzte eine feurige Linie und drang in seinen Arm. Hinter ihm wieherte ein Pferd schmerzerfüllt auf. Verblüfft starrte er auf den Pfeil, der seinen linken Arm durchbohrte.

»Mishima«, fauchte die Bannergeneralin und deutete mit der Hand. »Das dreistöckige Gebäude mit dem Strohdach zwischen zwei Schieferdächern. Ich habe auf dem Dach Bewegungen gesehen.«

Mishima brüllte einen Befehl, dass man ihm folgen sollte, dann galoppierte er mit sechs seiner Lanzenträger die bevölkerte Straße entlang, und die Hufe klirrten auf dem Pflaster.

Leute sprangen aus dem Weg. Andere starrten. Auf der Straße schien niemand zu begreifen, was passiert war. Zwei Lanzenreiter waren abgestiegen und kümmerten sich um ein zitterndes Reittier eines ihres Kameraden, aus dessen Schulter ein Pfeil ragte. Perrin befühlte einen zerbrochenen Knopf, der nur noch an einem Faden hing. Die Seide des Mantels war ab dem Knopf aufgeschlitzt. Blut quoll hervor, tränkte sein Hemd, tröpfelte seinen Arm herunter. Hätte er sich in genau diesem Augenblick nicht umgedreht, hätte der Pfeil sein Herz durchbohrt statt seinen Arm. Vielleicht hätte ihn der andere auch getroffen, aber der eine hätte seine Aufgabe erfüllt. Ein Pfeil aus den Zwei Flüssen wäre nicht so leicht abgelenkt worden.

Cairhiener und Tairener scharten sich um ihn, als er abstieg, sie alle wollten ihm helfen, was aber unnötig war. Er zog das Gürtelmesser, aber Camaille nahm es ihm ab und schnitt energisch in den Pfeilschaft, sodass sie ihn sauber direkt oberhalb der Haut abbrechen konnte. Das schickte einen durchdringenden Schmerz durch den Arm. Es schien sie nicht zu stören, dass sie sich die Finger blutig machte; sie zog bloß ein Taschentuch mit Spitzenbesatz aus dem Ärmel, das ein helleres Grün aufwies, als für Cairhiener üblich war, wischte sie ab und begutachtete das Ende des Schafts, der aus seinem Arm ragte, um sich zu vergewissern, dass da keine Splitter herausragten.

Auch die Bannergeneralin war von ihrem Braunen gestiegen und blickte finster. »Mein Blick wurde gesenkt, weil Ihr verletzt wurdet, mein Lord. Ich habe gehört, dass die Verbrechensrate in letzter Zeit gestiegen ist, Brandstiftung, Räuber, die töten, obwohl es unnötig ist, Morde, die grundlos verübt werden. Ich hätte Euch besser beschützen sollen.«

»Beißt die Zähne zusammen, mein Lord«, sagte Barmanes und band einen Lederriemen direkt über der Pfeilspitze fest.

»Seid Ihr bereit, mein Lord?« Perrin biss die Zähne zusammen und nickte. Barmanes riss den blutverschmierten Schaft heraus. Perrin unterdrückte ein Aufstöhnen.

»Euer Blick ist nicht gesenkt worden«, sagte er heiser. Was auch immer sie damit meinte. So, wie sie es gesagt hatte, konnte es nichts Gutes sein. »Niemand hat Euch gebeten, mich in Watte zu packen. Ich für meinen Teil jedenfalls nicht.« Neald drängte sich durch die Menge um Perrin, die Hände bereits erhoben, aber Perrin winkte ihn fort. »Nicht hier, Mann. Die Leute schauen zu.« Die Passanten hatten es endlich mitbekommen und sammelten sich, um zuzusehen, während sie aufgeregt miteinander tuschelten. »Er kann das hier Heilen, als wäre ich niemals verletzt worden«, erklärte er und spannte den Arm probeweise an. Und zuckte zusammen. Das war eine blöde Idee gewesen.

»Ihr lasst ihn mit der Einen Macht an Euch heran?«, sagte Tylee ungläubig.

»Um ein Loch im Arm und eine aufgeschlitzte Brust loszuwerden? Sobald wir an einer Stelle sind, an der uns nicht die halbe Stadt anstarrt. Würdet Ihr das nicht tun?«

Sie erschauderte und machte wieder die seltsame Geste. Er würde sie doch fragen müssen, was sie zu bedeuten hatte.

Mishima gesellte sich zu ihnen; er führte sein Pferd am Zügel und sah ernst aus. »Zwei Männer stürzten mit Bogen und Köchern von diesem Dach«, berichtete er leise, »aber nicht der Sturz hat sie getötet. Sie sind hart auf dem Pflaster aufgeschlagen, aber es gab kaum Blut zu sehen. Ich glaube, sie haben Gift geschluckt, als sie gesehen haben, dass sie Euch nicht töten konnten.«

»Das ergibt doch keinen Sinn«, murmelte Perrin.

»Wenn Männer sich lieber umbringen, als von ihrem Versagen zu berichten«, sagte Tylee ernst, »dann bedeutet das, dass Ihr einen mächtigen Feind habt.«

Einen mächtigen Feind? Sicherlich würde Masema ihn gern tot sehen, aber sein Einfluss konnte unmöglich so weit reichen. »Meine Feinde sind weit weg und wissen nicht, wo ich bin.« Tylee und Mishima stimmten ihm zu, dass er das wissen musste, aber sie schienen zu zweifeln. Natürlich gab es da immer die Verlorenen. Ein paar von ihnen hatten schon zuvor versucht, ihn zu töten. Andere hatten versucht, ihn zu benutzen. Er hielt es nicht für klug, die Verlorenen zu erwähnen. Sein Arm pochte. Der Schnitt auf der Brust auch.

»Lasst uns ein Gasthaus finden, wo ich ein Zimmer mieten kann.« Einundfünfzig Knoten. Wie viele wohl noch? Beim Licht, wie viele denn noch?

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