32 Der Handel wird eingehalten

Birgitte lehnte an der Steinwand des zweistöckigen Gebäudes und dachte traurig an Gaidal, als das Bündel aus Gefühlen und körperlichen Empfindungen in ihrem Hinterkopf, ihr Bewusstsein von Elayne, sich plötzlich verkrampfte. Das war das einzige passende Wort. Was auch immer es war, es dauerte nur einen Augenblick lang, aber danach war der Bund voller… Schlaffheit. Elayne war bei Bewusstsein, schwankte, verspürte jedoch keine Angst. Trotzdem warf Birgitte den Umhang zurück und ging zur Ecke, um in die Vollmondstraße hineinzuschauen. Elayne konnte mutiger sein, als ihr gut tat. Das Schwerste daran, Elaynes Behüterin zu sein, bestand in der Aufgabe, sie davon abzuhalten, sich übermäßig in Gefahr zu bringen. Niemand war unverletzlich, aber die verdammte Frau hielt sich dafür. Ihr Wappen hätte ein eiserner Löwe und keine goldene Lilie sein sollen. Hinter dem Fenster brannte das Licht, warf einen blassen Schimmer auf die schmale Straße, und außer einer kreischenden Katze irgendwo in der Nacht gab es keinen Laut.

»Sareitha fühlt sich… schwindelig«, murmelte Ned Yarm an neben ihr. Das jungenhafte Gesicht des Behüters in der Kapuze seines Umhangs war eine grimmige Schattenmaske.

»Sie fühlte sich schwach.«

Birgitte wurde sich bewusst, dass sich die anderen Behüter dicht um sie scharten, mit versteinerten Gesichtern und harten Blicken. Das war selbst im Mondlicht deutlich zu sehen. Etwas war mit den Aes Sedai geschehen, aber was? »Lady Elayne hat gesagt, sie würde rufen, wenn sie uns braucht«, sagte sie zu ihnen, sowohl um sich selbst zu beruhigen wie auch sie. Selbst wenn Careane und Sareitha beide Schattenfreunde waren, in der Verknüpfung wären sie hilflos gewesen, und anscheinend war das, was passiert war, auch ihnen passiert. Sollte man sie doch zu Asche verbrennen, sie hätte darauf bestehen sollen, zusammen mit den anderen Behütern.

»Careane wird nicht erfreut sein, wenn wir unnötigerweise eingreifen«, sagte Venr Kosaan leise. So schlank wie eine Klinge und dunkelhäutig, mit weißen Strähnen in seinem lockigen schwarzen Haar und dem kurzen Bart, schien er völlig entspannt zu sein. »Ich sage, wir warten. Sie fühlt sich zuversichtlich, was auch immer da geschieht.«

»Jedenfalls mehr als noch beim Betreten des Hauses«, warf Cieryl Arjuna ein, was ihm einen scharfen Blick von Venr einbrachte. Obwohl Cieryl, ein Mann mittleren Alters, breite Schultern hatte, schien er nur aus Knochen zu bestehen.

Birgitte nickte. Auch Elayne war zuversichtlich. Anderers eits würde Elayne auch dann zuversichtlich sein, wenn sie über einem sich auflösenden Seil über eine Grube mit angespitzten Pfählen balancieren müsste. In der Ferne fing ein Hund an zu bellen, und die kreischende Katze verstummte, aber andere Hunde antworteten dem ersten in einem sich ausbreitenden Radius, der so plötzlich verstummte, wie er begonnen hatte.

Sie warteten, und Birgitte sorgte sich stumm. Plötzlich knurrte Venr einen Fluch und warf den Umhang ab. Im nächsten Augenblick hielt er die Klinge in der Hand und rannte die Straße entlang, gefolgt von Cieryl und Tavan, die ebenfalls die Klingen hielten und mit wehenden Umhängen liefen. Bevor sie zwei Schritte weit gekommen waren, stieß Jaem einen wilden Schrei aus. Er zog das Schwert, warf den Umhang zu Boden und rannte in einem Tempo hinter den anderen her, das sein Alter vergessen ließ. Mit einem Wutschrei auf den Lippen rannte auch Ned, der Stahl in seiner Faust funkelte im Mondlicht. Zorn fuhr wie ein Stich durch den Bund; er ähnelte der Berserkerwut, die manche Männer überwältigte. Und da war auch Trauer, aber noch immer keine Furcht.

Birgitte hörte hinter sich das leise Schaben von Schwert ern, die gezogen wurden, und wirbelte mit wehendem Umhang herum. »Weg damit! Die nutzen hier nichts.«

»Ich weiß genauso gut wie Ihr, was es zu bedeuten hat, wenn die Behüter losrennen, meine Lady«, sagte Yurith in ihrem höfischen Akzent und gehorchte. Mit sichtlichem Zögern. So hochgewachsen wie die meisten Männer, bestritt die Saldaeanerin, von adliger Geburt zu sein, aber wann immer die Sprache auf ihre Tätigkeiten vor dem Schwur zur Jägerin des Horns kam, zeigte sie bloß eines ihrer seltenen Lächeln und wechselte das Thema. Aber sie konnte sehr geschickt mit diesem Schwert umgehen. »Wenn die Aes Sedai sterben…«

»Elayne lebt«, unterbrach Birgitte sie. Sie lebte und war in Schwierigkeiten. »Um sie müssen wir uns jetzt kümmern, aber wir brauchen viele Schwerter mehr, um sie zu retten.« Und noch mehr als nur Schwerter. »Jemand schnappt sich den Mann!« Zwei Gardistinnen ergriffen Harks Mantel, bevor er sich in der Dunkelheit verdrücken konnte. Anscheinend wollte er nicht bleiben, wo Aes Sedai gestorben waren. Genauso wenig wie sie. »Sammelt die… die frei gewordenen Pferde und folgt mir«, sagte sie und schwang sich in Pfeils Sattel. »Und reitet wie der Wind!« Sie setzte ihre Worte in Taten um, grub die Fersen in die Flanken des sehnigen grauen Wallachs, ohne auf sie zu warten.

Es war ein wilder Galopp durch die dunklen, gewundenen Straßen, in denen gerade die ersten Fußgänger erschienen. Sie lenkte Pfeil um ein paar Karren und Wagen herum, die zu dieser frühen Stunde schon draußen waren, aber Männer und Frauen mussten ihr aus dem Weg springen, schüttelten oft die Fäuste und brüllten Flüche. Sie trieb den Wallach nur zu größerer Geschwindigkeit an, der Umhang wehte hinter ihr her. Sie hatte das Mondeltor noch nicht erreicht, da war Elayne bereits in Bewegung. Zuerst war sie sich nicht sicher gewesen, aber jetzt war es unmissverständlich. Elayne bewegte sich in Schrittgeschwindigkeit nach Nordosten. Der Bund verriet, dass sie zu weiche Knie hatte, um weit gehen zu können, möglicherweise konnte sie auch gar nicht gehen, aber ein Wagen würde die gleiche Geschwindigkeit haben. Der Himmel verfärbte sich grau. Wie lange würde sie brauchen, um alles beisammen zu haben, was nötig war? In der Innenstadt führten die Straßen spiralenförmig auf einen Mittelpunkt zu, führten vorbei an Türmen, die in Hunderten Farben funkelten, hoch zu den goldenen Kuppeln und den bleichen Turmspitzen des Königlichen Palasts auf dem höchsten von Caemlyns Hügeln. Als sie am Rand des Königinnenplatzes vorbeigaloppierte, starrten die Soldaten sie an. Sie bekamen ihr Frühstück aus schwarzen Töpfen auf Schubkarren, Köche löffelten irgendeinen braunen Eintopf auf Zinnteller, und jeder sichtbare Mann trug seinen Harnisch und hatte den Helm am Schwertgriff aufgehängt. Gut. Jeder eingesparte Augenblick war ein Augenblick, der zu Elaynes Rettung führte.

Zwei Reihen Gardistinnen übten auf dem Stallhof den Schwertkampf, als sie herangaloppierte, aber die Übungsklingen verstummten, als sie aus dem Sattel schnellte, Pfeils Zügel fallen ließ und auf den Säulengang zurannte. »Hadora, lauft und sagt den Windsucherinnen, sie sollen mich sofort im Kartenzimmer treffen!«, rief sie, ohne langsamer zu werden. »Sie alle! Sanetre, Ihr holt Hauptmann Guybon! Und lasst mir ein anderes Pferd satteln!« Pfeil war für heute erschöpft. Da war sie schon an den Säulen vorbei, aber sie schaute nicht zurück, um zu sehen, ob sie gehorchten. Das würden sie.

Sie rannte durch mit Wandteppiche geschmückte Korridore und weit ausladende Marmortreppen hinauf, verirrte sich und brüllte Flüche, als sie wieder zurücklief. Schließlich erreichte sie die mit den Löwen verzierten Türen des Kartenzimmers, wo sie nur lange genug stehen blieb, um den stämm igen Gardisten auf Posten zu befehlen, die Windsucherinnen auf der Stelle hereinzuführen, dann trat sie ein. Guybon war bereits da, in seinem funkelnden Harnisch mit den drei goldenen Knoten auf den Schultern. Aber auch Dyelin war da und hielt beim Gehen geziert die blauen Seidenröcke hoch; die beiden betrachteten stirnrunzelnd den gewaltigen Mosaikstadtplan, auf dem über ein Dutzend roter Scheiben die Nordmauer der Stadt markierten. Nie zuvor hatte es so viele Angriffe zur gleichen Zeit gegeben, nicht einmal zehn, aber Birgitte hatte kaum einen Blick für die Scheiben übrig.

»Guybon, ich brauche jedes Pferd und jede Hellebarde, die Ihr zusammenholen könnt«, sagte sie, öffnete die Umhangspange und warf den Mantel auf ihren langen Schreibtisch.

»Die Armbrustmänner und Bogenschützen werden eine Zeit lang allein mit allem fertig werden müssen. Elayne ist von Aes-Sedai-Schattenfreunden gefangen genommen worden, und sie wollen sie aus der Stadt bringen.« Ein paar der Schreiber und Boten fingen an zu murmeln, aber Frau Anford brachte sie mit einem scharfen Befehl zum Schweigen. Birgitte betrachtete die bunte Karte auf dem Boden, berechnete Entfernungen. Elayne schien sich auf das Sonnenaufgangstor und die Straße zum Fluss Erinin zuzubewegen, aber selbst wenn sie eines der kleineren Tore benutzen wollten, waren sie schon zu weit gegangen, um auf etwas anderes als die Ostmauer zuzuhalten. »Vermutlich haben sie sie durch die Tore geschafft, bis wir so weit sind. Wir Reisen zu dem Hügel östlich von der Stadt.« Und die Dinge, die da kommen würden, würden sie auf der Straße ausfechten, abseits von bewohnten Häusern. Offenes Gelände würde auf jeden Fall besser sein. In dem Straßengewirr, wo die Reiter und Hellebardenmänner zusammengedrängt stehen würden, würden viel zu viele Menschen im Weg sein, konnte zu viel schiefgehen.

Guybon nickte, gab bereits knappe Befehle, die braun gekleidete Schreiber hastig niederschrieben und ihm zur Unterschrift vorhielten, bevor sie sie an in Rot und Weiß gekleidete Boten weiterreichten, die losliefen, sobald sie das Papier in der Hand hielten. Die Gesichter der Jungen waren ängstlich. Birgitte hatte keine Zeit für ihre eigene Angst. Elayne verspürte keine, und sie war eine Gefangene. Trauer, ja, aber keine Furcht.

»Wir müssen Elayne auf jeden Fall retten«, sagte Dyelin ruhig, »aber sie wird es Euch kaum danken, wenn Ihr auf diese Weise Arymilla Caemlyn in die Hände spielt. Ohne die Männer in den Türmen und an den Toren mitzuzählen, sind fast die Hälfte der ausgebildeten Soldaten und Waffenmänner in der Stadt auf der Nordmauer. Zieht Ihr den Rest ab, wird der nächste Angriff einen Teil der Mauer erobern. Armbrüste und Bogen allein werden sie nicht aufhalten. Sobald sie sie erobert haben, werden Arymillas Streitkräfte in die Stadt strömen, genug, um jene zu überwältigen, die wir Eurer Meinung nach zurücklassen sollen. Ihr werdet unsere Positionen sauber und ordentlich umgekehrt und die Eure verschlechtert haben. Arymilla wird Caemlyn haben und Elayne draußen sein, ohne genügend Waffenmänner, um wieder hereinkommen zu können. Sollten diese Schattenfreunde nicht irgendwie ein Heer nach Caemlyn eingeschmuggelt haben, werden ein paar hundert Männer genauso viel ausrichten wie Tausende.«

Birgitte sah sie finster an. Sie hatte Dyelin noch nie leiden können. Sie konnte nicht einmal genau sagen, warum das so war, aber es war Abneigung auf den ersten Blick gewesen. Sie war sich ziemlich sicher, dass die andere Frau das Gleiche für sie empfand. Sie konnte nie »oben« sagen, ohne dass Dyelin sofort »unten« sagte. »Ihr wollt Elayne auf den Thron setzen, Dyelin. Ich will sie am Leben erhalten, damit sie diesen Thron besteigen kann. Oder auch nicht, solange sie nur am Leben bleibt. Ich schulde ihr mein Leben, und ich werde das ihre nicht in den Händen eines Schattenfreundes verrinnen lassen.« Dyelin schnaubte und konzentrierte sich wieder auf die roten Scheiben, als könnte sie die Soldaten kämpfen sehen; ihr Stirnrunzeln ließ die Falten um ihre Augen sich vertiefen.

Birgitte verschränkte die Hände hinter dem Rücken und zwang sich dazu, still dazustehen. Sie wollte vor Ungeduld auf und ab gehen. Elayne rollte noch immer auf das Sonnenaufgangstor zu. »Da gibt es etwas, das Ihr wissen müsst, Guybon. Uns stehen mindestens zwei Aes Sedai gegenüber, vermutlich mehr, und sie haben vielleicht eine Waffe, ein Ter’angreal, das Baalsfeuer macht. Habt Ihr je davon gehört?«

»Nein. Aber es klingt gefährlich.«

»Oh, das ist es. Gefährlich genug, dass es für Aes Sedai verboten ist. Im Krieg des Schattens haben selbst Schattenfreunde aufgehört, es zu benutzen.« Sie stieß ein bitteres Lachen aus. Sie wusste von Baalsfeuer nur noch, was Elayne ihr erzählt hatte. Und das hatte sie Elayne zuvor gesagt, aber das machte alles nur noch schlimmer. Würden sämtliche ihrer Erinnerungen verschwinden? Sie glaubte nicht, in letzter Zeit welche verloren zu haben, aber wie sollte sie wissen, ob es passiert war? Sie konnte sich an Bruchstücke über die Gründung der Weißen Burg erinnern, Bruchstücke daran, wie sie und Gaidal dabei geholfen hatten, aber nichts mehr an die Zeit davor. Sämtliche ihrer frühesten Erinnerungen hatten sich in Rauch aufgelöst.

»Nun, immerhin haben wir unsere eigenen Aes Sedai«, sagte Guybon und unterschrieb einen weiteren Befehl.

»Bis auf Elayne sind alle tot«, sagte sie ihm tonlos. Keine Möglichkeit, das jemandem schonend beizubringen. Dyelin keuchte auf, sie wurde kreidebleich. Eine der Schreiberinnen schlug die Hände vor den Mund, ein anderer warf sein Tintenfässchen um. Die Tinte breitete sich in einem schwarzen Strom über die Tischplatte aus und fing an, auf den Boden zu tropfen. Statt den Mann zu tadeln, stützte sich Frau Anford auf den Schreibtisch eines anderen Schreibers. »Ich hoffe, das ausgleichen zu können«, fuhr Birgitte fort, »aber ich kann nichts versprechen, außer, dass wir heute Männer verlieren werden. Vielleicht viele Männer.«

Guybon straffte sich. Seine Miene war nachdenklich, der Blick seiner haselnussbraunen Augen war ganz ruhig. »Das wird ein interessanter Tag«, sagte er schließlich. »Aber wir werden die Tochter-Erbin zurückbekommen, koste es, was es wolle.« Ein verlässlicher Mann, dieser Charlz Guybon, und tapfer. Das hatte er auf der Mauer oft genug gezeigt. Für ihren Geschmack natürlich zu gut aussehend.

Birgitte wurde sich bewusst, dass sie angefangen hatte, auf dem Mosaik auf und ab zu gehen, und blieb stehen. Sie hatte keine Ahnung, was ein General zu tun hatte, ganz egal, was Elayne dachte, aber sie wusste, dass man andere damit anstecken konnte, wenn man Nerven zeigte. Elayne lebte. Allein das war wichtig. Am Leben und entfernte sich jeden Augenblick weiter. Der linke Türflügel öffnete sich, und einer der kräftigen Gardisten verkündete, dass Julanya Fote und Keraille Surtovni zurückgekehrt waren. Guybon zögerte, sah sie an, aber als sie nichts sagte, befahl er ihm, sie einzulassen.

Sie waren sehr unterschiedliche Frauen, jedenfalls in ihrem Erscheinungsbild, obwohl jede einen Wanderstab trug. Julanya war mollig und hübsch, mit weißen Strähnen im schwarzen Haar, während Keraille klein und schlank war, mit schräg stehenden grünen Augen und wilden roten Locken. Birgitte fragte sich, ob das ihre richtigen Namen waren. Diese Kusinen wechselten die Namen so oft wie andere Frauen die Strümpfe. Sie trugen einfache Wollkleider, wie sie zu Landhausierern passten, was jede von ihnen in der Vergangenheit gewesen war, und jede war eine scharfe Beobachterin und konnte auf sich aufpassen. Sie konnten sich aus den meisten Situationen herausreden, aber ihre einfachen Gürtelmesser waren nicht die einzigen Klingen, die sie trugen, und sie konnten starke Männer mit dem überraschen, was sie mit diesen Wanderstäben zustande brachten. Beide knicksten. Julanyas Röcke und ihr Umhang waren feucht und am Saum schlammbespritzt.

»Ellorien, Luan und Abelle haben früh am Morgen damit angefangen, das Lager abzubrechen, meine Lady«, sagte sie.

»Ich bin nur lange genug geblieben, um mich zu vergewissern, dass sie nach Norden ziehen, bevor ich zu meinem Bericht aufgebrochen bin.«

»Das Gleiche gilt für Aemlyn, Arathelle und Pelivar, meine Lady«, fügte Keraille hinzu. »Sie kommen nach Caemlyn.«

Birgitte brauchte nicht die große Karte mit den Standfiguren konsultieren, die auf dem Tisch ausgebreitet lag. Je nachdem, wie schlammig die Straßen waren und wie stark es regnen würde, konnten sie die Stadt gegen Nachmittag erreichen.

»Das habt ihr gut gemacht, ihr beide. Nehmt ein heißes Bad.

Glaubt Ihr, sie haben es sich anders überlegt?«, fragte sie Dyel in, nachdem die beiden Frauen gegangen waren.

»Nein«, erwiderte die Frau ohne zu zögern, dann seufzte sie und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, vermutlich hat Ellorien die anderen überzeugt, ihren Anspruch auf den Löwenthron zu unterstützen. Vielleicht glauben sie, Arymilla besiegen und die Belagerung übernehmen zu können. Ihnen stehen noch einmal halb so viele Leute mehr als ihr zur Verfügung, und doppelt so viel wie uns.« Sie sprach nicht weiter. Das war auch unnötig. Selbst wenn die Kusinen Männer von einer Stelle zur anderen brachten, würden sie kaum die Mauern halten können.

»Zuerst holen wir Elayne zurück, dann können wir uns um diesen Haufen Sorgen machen«, sagte Birgitte. Wo blieb en die verfluchten Windsucherinnen?

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, da kamen sie hinter Chanelle auf bloßen Füßen in den Raum, ein bunter Regenbogen aus Farben. Ausgenommen Renaile, die in ihrer Leinenkleidung die Letzte in der Reihe war, aber auch sie war bunt genug in der roten Bluse, den grünen Hosen und der dunkelgelben Schärpe. Allerdings ließ selbst Rainyn, eine junge Frau mit nur einem halben Dutzend goldenen Medaillons auf der Wange, Renailes Ehrenkette armselig aussehen. Renailes Gesicht trug einen Ausdruck stoischen Duldens.

»Ich schätze es nicht, bedroht zu werden!«, sagte Chanelle wütend und schnüffelte an dem goldenen Duftkästchen an der Goldkette um ihren Hals. Ihre dunklen Wangen waren gerötet. »Diese Gardistin sagte, wenn wir nicht laufen, würde sie uns in den…! Egal, was sie genau gesagt hat. Es war eine Drohung, und ich werde nicht…!«

»Elayne ist von Aes Sedai-Schattenfreunden gefangen genommen worden«, unterbrach Birgitte sie. »Ich brauche euch, um ein Wegetor für die Männer zu machen, die sie retten werden.« Unter den anderen Windsucherinnen ertönte Gemurmel. Chanelle machte eine scharfe Geste, aber nur Renaile verstummte. Die anderen senkten zu ihrem offensichtlichen Missfallen nur die Stimmen und flüsterten weiter. Den vielen Medaillons an ihren Ehrenketten nach zu urteilen, nahmen einige von ihnen Chanelles Rang ein.

»Warum habt Ihr uns alle für ein Wegetor geholt?«, wollte sie wissen. »Ich halte den Handel ein, wie Ihr seht. Ich habe jede mitgebracht, wie Ihr befohlen habt. Aber warum braucht Ihr mehr als nur eine?«

»Weil ihr alle einen Zirkel bilden und ein Tor erschaffen werdet, das groß genug ist, um Tausende von Männern und Pferde durchzubringen.« Das war einer der Gründe.

Chanelle erstarrte, und sie war nicht die Einzige. Kurin, deren Gesicht wie schwarzer Stein war, zitterte förmlich vor Wut, und Rysael, normalerweise eine sehr zurückhaltende Frau, zitterte ebenfalls. Senine mit ihrem wettergegerbten Gesicht und den alten Narben, die zeigten, dass sie einst mehr als sechs Ohrringe getragen hatte, berührte den juwelengeschmückten Dolch, der in ihrer grünen Schärpe steckte.

»Soldaten?«, sagte Chanelle indigniert. »Das ist verboten!

Unser Vertrag besagt, dass wir nicht an eurem Krieg teilnehmen werden. Zaida din Parede Schwarze Schwinge hat es so befohlen, und jetzt, da sie die Herrin der Schiffe ist, hat ihr Befehl noch mehr Gewicht. Nehmt die Kusinen. Nehmt die Aes Sedai.«

Birgitte trat nahe an die schwarze Frau heran, schaute ihr direkt in die Augen. Die Kusinen waren dafür nicht zu gebrauchen. Keine von ihnen hatte die Macht jemals als Waffe benutzt. Möglicherweise wussten sie nicht einmal, wie das ging. »Die anderen Aes Sedai sind tot«, sagte sie leis e. Jemand hinter ihr keuchte auf, einer der Schreiber. »Was ist Euer Handel wert, wenn Elayne verschwindet? Arymilla wird ihn bestimmt nicht einhalten.« Ihre Stimme ruhig zu halten kostete eine Anstrengung. Sie wollte vor Wut zittern, vor Furcht zittern. Sie brauchte diese Frau, aber sie konnte ihnen den Grund dafür nicht nennen, oder Elayne würde verloren sein. »Was wird Zaida sagen, wenn Ihr das Abkommen mit Elayne ruiniert?«

Chanelles tätowierte Hand hob das Duftkästchen wieder, dann ließ sie es zwischen ihre vielen Juwelenketten zurückfallen. Nach dem zu urteilen, was Birgitte von Zaida din Parede wusste, würde sie mehr als nur verärgert über jemanden sein, der diesen Handel zugrunde richtete, und es war unvorstellbar, dass sich Chanelle der Wut dieser Frau stellen wollte, aber sie sah bloß nachdenklich aus. »Also gut«, sagte sie schließlich. »Aber nur Transport. Einverstanden?« Sie küsste die Fingerspitzen ihrer rechten Hand, bereit, den Handel zu besiegeln.

»Ihr müsst nur das tun, was Ihr wollt«;, sagte Birgitte und wandte sich ab. »Guybon, es ist Zeit. Sie müssen sie mittlerw eile am Tor haben.«

Guybon schnallte das Schwert um, nahm den Helm und die Panzerhandschuhe und folgte ihr und Dyelin aus dem Kartenzimmer, gefolgt von den Windsucherinnen, wobei Chanelle vehement darauf bestand, dass sie lediglich für ein Wegetor sorgen würden. Birgitte flüsterte Guybon Befehle zu, bevor er zur Vorderseite des Palasts eilte, während sie zum Stallhof der Königin lief, wo bereits ein hammernasiger Wallach, ein Falbe, mit ihrem Sattel wartete, dessen Zügel von einer jungen Stallfrau gehalten wurde; sie trug das Haar zu einem Zopf geflochten, der Birgittes ähnelte. Sie fand auch alle einhunderteinundzwanzig Gardistinnen aufgesessen und gerüstet vor. Sie stieg in den Sattel des Falben und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Die Sonne war eine goldene Scheibe ein Stück über dem Horizont an einem Himmel mit wenigen, in der Höhe treibenden weißen Wolken.

Wenigstens würden sie sich nicht mit Regen abplagen müssen. Bei einigen der schweren Stürme, die Caemlyn in letzter Zeit heimgesucht hatten, hätte selbst ein Wagen sich davonstehlen können.

Eine dichte Kolonne aus Männern, zehn oder zwölf nebeneinander, zog sich über den Königinnenplatz, ohne dass ihr Ende sichtbar gewesen wäre, Reiter mit Helmen und Harnischen wechselten sich mit Männern mit allen vorstellbaren Helmen ab, die Hellebarden geschultert trugen; die meisten von ihnen besaßen Kettenhemden oder mit Stahlplatten benähte Wämser, nur vereinzelt sah man Harnische. Jede kleine oder große Gruppe wurde vom Banner ihres Hauses angeführt. Oder dem Banner einer Söldnertruppe. Heute würde es für die Söldner zu viele Beobachter geben, um sich zu drücken. Rechnete man die Armbrustmänner und Bogenschützen ab, umfasste die Kolonne etwa zwölftausend Mann, zwei Drittel davon beritten. Wie viele davon würden noch vor dem Mittag tot sein? Birgitte verdrängte den Gedanken. Sie brauchte jeden Einzelnen von ihnen, um das Meervolk zu überzeugen. Jeder Mann, der heute starb, konnte genauso gut morgen auf der Mauer sterben. Jeder von ihnen war mit der Bereitschaft nach Caemlyn gekommen, für Elayne zu sterben.

An der Spitze der Kolonne waren mehr als tausend Gard isten, deren Helme und Harnische in der Sonne funkelten, die Lanzen mit den Stahlspitzen präzise schräg ausgerichtet; die ersten warteten am Rand eines Parks hinter dem Banner von Andor, dem Weißen Löwen auf scharlachrotem Feld, und Elaynes Banner, der Goldenen Lilie auf blauem Grund. Jedenfalls war es einst ein Park gewesen, aber Hunderte von uralten Eichen waren gefällt und zusammen mit den anderen Bäumen und blühenden Büschen weggeschafft worden, ihre Wurzeln waren ausgegraben worden, um einen hundert Schritte breiten, ebenen Platz zu schaffen. Die Kieswege und der Rasen waren schon vor langem von Hufen und Stiefeln zu Schlamm zertrampelt worden. Drei andere Parks in Palastnähe hatten die gleiche Behandlung erfahren, um Orte für das Weben von Wegetoren zu schaffen.

Guybon und Dyelin waren bereits da, zusammen mit all den Lords und Ladys, die Elaynes Ruf gefolgt waren, vom jungen Perival Mantear bis zu Brannin Martan und seiner Gemahlin, und sie alle saßen im Sattel. Perival trug wie jeder der anwesenden Männer Helm und Harnisch. Brannins waren schlicht und stumpf und leicht eingebeult, wo der Hammer des Waffenschmieds nicht gut gearbeitet hatte. Perivals waren so vergoldet wie Conails und Branlets, bei ihm hatte man den Silbernen Amboss von Mantear eingearbeitet, während die ihren mit Northans Schwarzen Adlern und Gilyards Roten Leoparden bemalt waren. Hübsche Rüstungen, die repräsentierten. Birgitte hoffte, dass die Frauen genug Verstand hatten, diese Jungen aus den Kampfhandlungen herauszuhalten. Sie schaute in einige der grimmigen und entschlossenen Gesichter der Frauen und hoffte, dass sie genug Verstand hatten, sich selbst herauszuhalten. Wenigstens trug keine ein Schwert. Es war nun einmal so, eine Frau musste geschickter als ein Mann sein, um ihm mit dem Schwert gegenüberzutreten. Sonst machten kräftigere Arme zu viel Unterschied. Viel besser, einen Bogen zu benutzen.

Die Windsucherinnen verzogen das Gesicht, als sie mit nackten Füßen auf dem Boden standen, der von dem gestrigen Schauer noch schlammig war. An Nässe waren sie mehr als gewohnt, aber nicht an Schlamm.

»Dieser Mann sagt mir nicht, wo das Wegetor hinführen soll«, sagte Chanelle wütend und zeigte auf Guybon, als Birgitte vom Pferd stieg. »Ich will es hinter mich bringen, damit ich meine Füße waschen kann.«

»Meine Lady!«, ertönte da eine Frauenstimme aus dem hinteren Teil der Straße. »Meine Lady Birgitte!« Reene Harfor rannte die Reihe der Gardisten entlang, die roten Röcke geschürzt, die bestrumpften Beine bis zu den Knien entblößt. Birgitte glaubte nicht, die Frau jemals auch nur im Laufschritt gesehen zu haben. Frau Harfor gehörte zu jenen Frauen, die alles perfekt machten. Bei jeder Begegnung rief sie Birgitte sämtliche Fehler ins Gedächtnis, die sie je begangen hatte. Zwei Männer in roten und weißen Livreen rannten hinter ihr her und schleppten eine Trage. Als sie näher kamen, sah Birgitte, dass darauf ein schlaksiger, helmloser Gardist lag, dessen rechter Arm von einem Pfeil durchbohrt wurde, während in seinem rechten Oberschenkel ein weiterer steckte. Blut tropfte beide Schäfte herab; er hinterließ eine dünne rote Spur auf dem Pflaster. »Er bestand darauf, sofort zu Euch oder Hauptmann Guybon gebracht zu werden, meine Lady«, sagte Frau Harfor atemlos und fächelte sich Luft zu.

Der junge Gardist kämpfte darum, sich aufzusetzen, bis Birgitte ihn wieder nach unten drückte. »Drei oder vier Söldnerkompanien greifen das Far-Madding-Tor an, meine Lady.« Schmerz ließ ihn das Gesicht verzerren. »Aus dem Stadtinneren, meine ich. Sie haben Bogenschützen aufgestellt, um jeden zu erschießen, der mit Signalflaggen Hilfe herbeiholen will, aber ich schaffte es davonzukommen, und mein Pferd hielt lange genug durch.«

Birgitte stieß einen Fluch hervor. Cordwyn, Gomaisen und Bakuvun würden dabei sein, darauf ging sie jede Wette ein. Sie hätte Elayne drängen sollen, sie aus der Stadt zu werfen, nachdem sie ihre Forderungen erhoben hatten. Ihr war nicht bewusst, dass sie laut gesprochen hatte, bis der verwundete Gardist sprach.

»Nein, meine Lady. Jedenfalls nicht Bakuvun. Er und ein Dutzend seiner Männer kamen vorbei, um ein paar Würfel… äh, um sich die Zeit zu vertreiben, und der Leutnant schätzt, dass es allein ihnen zu verdanken ist, dass wir ausharren konnten. Falls sie noch ausharren. Als ich zurückschaute, rannten sie mit Sturmböcken gegen die Turmtüren an. Aber da ist noch mehr, meine Lady. Vor den Toren sammeln sich Männer in Niedercaemlyn. Zehntausend, vielleicht doppelt so viel. Schwer zu sagen, bei den krummen Straßen.«

Birgitte zuckte zusammen. Zehntausend Mann würden für einen Angriff von draußen reichen, ob man die Söldner aufhalten konnte oder nicht — es sei denn, sie schickte alle hin, und das konnte sie nicht. Was beim Licht sollte sie nur tun? Sollte man sie doch zu Asche verbrennen, sie konnte einen Angriff planen, um jemanden aus einer Festung zu retten, oder in Feindesland Spähtrupps durchführen und wissen, was sie da tat, aber das hier war eine Schlacht, und das Schicksal Caemlyns und vielleicht sogar des Throns stand auf dem Spiel. Trotzdem, sie musste es tun. »Frau Harfor, bringt diesen Mann in den Palast und kümmert Euch um seine Wunden.« Sinnlos, die Windsucherinnen um eine Heilung zu bitten. Sie hatten bereits klargemacht, dass das ihrer Ansicht nach eine Teilnahme am Krieg bedeutete. »Dyelin, überlasst mir alle Pferde und tausend Hellebardisten. Ihr nehmt den Rest und alle Bogenschützen und Armbrustmänner. Und alle Männer, die ein Schwert halten können. Wenn das Tor noch steht, sobald euch die Kusinen dort hingebracht haben, sorgt Ihr dafür, dass es auch weiterhin hält. Ist es gefallen, erobert es zurück. Und haltet diese verdammte Mauer, bis ich es schaffe, dorthin zu kommen.«

»Jawohl«, erwiderte Dyelin, als wäre es die leichteste Sache der Welt, diese Befehle auszuführen. »Conail, Catalyn, Branlet, Perival, ihr kommt mit mir. Eure Fußsoldaten werden besser kämpfen, wenn ihr dabei seid.« Conail sah enttäuscht aus, zweifellos hatte er sich selbst schon bei einem ehrenvollen Sturmangriff gesehen, aber er nahm die Zügel und flüsterte etwas zu den beiden jüngeren Jungen, das sie kichern ließ.

»Ich will dabei helfen, Elayne zu retten«, protestierte Catal yn.

»Ihr seid gekommen, um ihr dabei zu helfen, den Thron zu besteigen«, sagte Dyelin scharf, »und Ihr werdet dorthin gehen, wo Ihr gebraucht werdet, um dafür zu sorgen, oder wir werden uns später noch einmal unterhalten.« Was auch immer das zu bedeuten hatte, Catalyns Gesicht rötete sich, aber sie folgte Dyelin und den anderen mürrisch, als sie losritten.

Guybon sah Birgitte an, sagte aber nichts, obwohl er sich vermutlich fragte, warum sie nicht mehr schickte. Er würde ihre Autorität nicht öffentlich in Frage stellen. Das Problem war nur, dass sie nicht wusste, wie viele Schwarze Schwestern bei Elayne sein würden. Sie brauchte jede Windsucherin, sie mussten ihr glauben, dass sie alle erforderlich waren. Wäre Zeit gewesen, hätte sie die Wachtposten von den Außentürmen abgezogen, sie hätte sie selbst von den Toren abgezogen.

»Macht das Wegetor«, sagte sie zu Chanelle. »Genau auf dem Abhang dieses Hügels östlich von der Stadt, direkt auf der Erininstraße und in der entgegengesetzten Richtung zur Stadt.«

Die Windsucherinnen stellten sich zu einem Kreis auf, taten, was auch immer sie tun mussten, um sich zu verknüpfen, und ließen sich verflucht viel Zeit dabei. Plötzlich erschien der blausilberne, vertikale Strich eines Wegetors und verbreiterte sich zu einer fünf Schritte hohen Öffnung, die sich über den gerodeten Boden erstreckte und eine breite Lehmstraße zeigte, die die sanfte Steigung des zehn Spannen hohen Hügels auf seinem Weg zum Fluss Erinin zeigte. Arymilla hatte Lager jenseits dieses Hügels. Nach diesen Neuigkeiten zu urteilen, waren sie möglicherweise verlassen — mit etwas Glück waren sie es tatsächlich —, aber damit konnte sie sich jetzt nicht belasten.

»Vorwärts und wie befohlen formieren!«, rief Guybon und trieb seinen großen Braunen hindurch, gefolgt von den versammelten Adligen und den Gardisten, die zu zehnt nebeneinander standen. Die Gardisten bogen links ab und verschwanden aus der Sicht, während die Adligen ein Stück den Hügel hinauf Aufstellung nahmen. Ein paar fingen an, mit Ferngläsern in Richtung Stadt zu schauen. Guybon stieg ab und rannte geduckt zur Hügelkuppe, um durch sein Fernglas zu spähen. Birgitte konnte förmlich die Ungeduld der Gardistinnen hinter ihr spüren.

»Ihr habt kein so großes Tor gebraucht«, sagte Chanelle und schaute stirnrunzelnd den Reitern nach, die in das Wegetor strömten. »Warum…?«

»Kommt mit«, sagte Birgitte und nahm die Windsucherin beim Arm. »Ich möchte Euch etwas zeigen.« Sie nahm den Falben am Zügel und zog die Frau auf das Wegetor zu. »Ihr könnt zurückgehen, sobald Ihr es gesehen habt.« Wenn sie eines über Chanelle wusste, dann, dass sie es war, die den Zirkel leitete. Was den Rest anging, da verließ sie sich auf die menschliche Natur. Sie schaute nicht zurück, hätte aber beinahe vor Erleichterung geseufzt, als sie die anderen Windsucherinnen untereinander tuscheln hörte. Und wie sie ihnen folgten.

Was auch immer Guybon gesehen hatte, es bedeutete gute Neuigkeiten, denn er richtete sich auf, bevor er zurück zu seinem Pferd rannte. Arymilla musste ihre Lager fast völlig geräumt haben. Dann waren es zwanzigtausend vor dem Far-Madding-Tor, wenn nicht sogar mehr. Mochte das Licht dafür sorgen, dass es standhielt. Aber zuerst Elayne. Zuerst und vor allem anderen.

Als sie Guybon erreichte, der wieder auf seinem Braunen saß, nahmen die Gardistinnen an der Seite hinter Caseille in drei Reihen Aufstellung. Die ganze hundert Schritte umfassende Breite des Wegetors war nun voller Männer und Pferde, die im Laufschritt nach links und rechts eilten, um sich zu den anderen zu gesellen, die sich bereits an beiden Straßenseiten zu drei Rängen formierten. Gut. Die Windsucherinnen würden eine Weile lang nicht so einfach zurückkönnen. Direkt hinter den letzten Häusern von Niedercaemlyn, vielleicht eine Meile entfernt, stand ein von vier Pferden gezogener Planwagen, der von einer kleinen Gruppe Berittener umgeben wurde. Hinter ihm wimmelte es vor Leuten auf den offenen Ziegelmärkten, die die Straßen säumten, die ihr Leben lebten, so gut sie konnten, aber sie hätten genauso gut nicht existieren können. Elayne war in dem Wagen. Birgitte hob die Hand, ohne den Blick von dem Wagen zu nehmen, und Guybon legte ihr die Messingröhre des Fernglases auf die Handfläche. Wagen und Reiter sprangen näher heran, als sie das Glas ans Auge hob.

»Was sollte ich sehen?«, verlangte Chanelle zu wissen.

»Einen Moment«, erwiderte Birgitte. Da waren vier Männer, drei von ihnen zu Pferde, aber wichtiger waren die sieben Frauen, die im Sattel saßen. Es war ein gutes Fernglas, aber nicht gut genug, um auf diese Entfernung ein altersloses Gesicht erkennen zu können. Dennoch musste sie davon ausgehen, dass alle sieben Aes Sedai waren. Acht gegen sieben mochte vielleicht als ausgeglichene Chance erscheinen, aber nicht, wenn die acht verknüpft waren. Nicht, wenn sie die acht dazu bringen konnte, ihr zu helfen. Was dachten die Schattenfreunde wohl, die Tausende von Soldaten und Waffenmännern hinter etwas auftauchen sahen, das wie ein Hitzeflimmern in der Luft erschien? Sie senkte das Fernglas. Adlige ritten den Hügel herab, als ihre Waffenmänner erschienen und sich zu den Reihen gesellten.

So überrascht die Schattenfreunde auch sein mochten, sie zögerten nicht lange. Aus dem klaren Himmel zuckten Blitze herab, silbrig blaue Blitze, die krachend in den Boden einschlugen und Männer und Pferde wie aufspritzenden Schlamm umherwirbelten. Pferde stiegen auf die Hinterbeine und wieherten kreischend, aber Männer kämpften darum, ihre Tiere unter Kontrolle zu bringen, ihre Plätze einzuhalten. Niemand ergriff die Flucht. Der krachende Donner, der diese Blitze begleitete, traf Birgitte wie körperliche Schläge, ließ sie taumeln. Sie fühlte, wie sich ihr Haar aufrichtete, wie es sich aus ihrem Zopf lösen wollte. Die Luft roch… scharf. Sie schien zu kribbeln. Wieder regneten Blitze auf die Ränge herab. In Niedercaemlyn rannten die Leute. Viele flohen, aber manche Narren rannten tatsächlich auf Standorte zu, wo sie bessere Sicht haben würden. Die Enden der schmalen Straßen, die ins offene Land hineinführten, füllten sich mit Zuschauern.

»Wenn wir uns dem entgegenstellen müssen, können wir genauso gut in Bewegung sein und es ihren schwerer machen«, sagte Guybon und nahm die Zügel. »Mit Eurer Erlaubnis, meine Lady?«

»Wir werden geringere Verluste haben, wenn wir in Bewegung sind«, stimmte Birgitte zu, und er galoppierte den Hügel hinunter.

Caseille hielt ihr Pferd vor Birgitte an und salutierte. Ihr schmales Gesicht hinter den Visierstangen ihres lackierten Helms war grimmig. »Bitte um die Erlaubnis für die Leibwache, sich in die Linie einzureihen, meine Lady.« Man konnte den Stolz in ihrer Stimme hören. Sie waren nicht bloß irgendeine Leibwache, sie waren die Leibwache der Tochter-Erbin, und sie würden die Leibwache der Königin sein.

»Gewährt«, sagte Birgitte. Wenn jemand das Recht dazu hatte, dann diese Frauen.

Die Arafelianerin riss ihr Pferd herum und galoppierte den Hügel hinunter, gefolgt vom Rest der Leibwache, um ihre Plätze in den von den Blitzen zerrissenen Rängen einzunehmen. Eine Kompanie Söldner, vielleicht zweihundert Männer mit schwarz bemalten Helmen und Harnischen, die hinter einem roten Banner mit einem rennenden schwarzen Wolf ritten, hielten an, als sie sahen, worein sie da ritten, aber Männer hinter den Bannern von vielleicht einem halben Dutzend Häusern drängten an ihnen vorbei, und sie hatten keine andere Wahl, als weiterzureiten. Mehr Adlige ritten nach unten, um ihre Männer anzuführen, Brannin und Kelwin, Laerid und Barel. Niemand zögerte, sobald er sein Banner auftauchen sah. Sergase war nicht die einzige Frau, die ihr Pferd ein paar Schritte zur Seite lenkte, als wollte auch sie sich zu ihren Waffenmännern begeben, sobald ihr Banner aus dem Tor kam.

»Im Schritttempo!«, rief Guybon, um über dem Explosionslärm gehört werden zu können. Entlang der Linie gaben andere Stimmen den Befehl weiter. »Vorwärts!« Er ritt langsam auf die Aes-Sedai-Schattenfreunde zu, während Blitze krachend herabzuckten und Männer und Pferde inmitten von Erdfontänen umhergewirbelt wurden.

»Was sollte ich mir denn ansehen?«, verlangte Chanelle erneut zu wissen. »Ich will hier weg.« Daran war im Augenblick kaum zu denken. Noch immer kamen Männer aus dem Wegetor, galoppierten oder liefen einfach, um zu den anderen aufzuschließen. Jetzt landeten auch Feuerbälle inmitten der Ränge, sorgten für zusätzliche Explosionen aus Dreck, Leibern und Gliedmaßen. Ein Pferdekopf wirbelte sich überschlagend durch die Luft.

»Das da«, sagte Birgitte und zeigte auf das Bild, das sich ihnen bot. Guybon war in den Trab verfallen und zog die anderen mit sich, die drei Reihen rückten stetig vor, weitere Männer beeilten sich nach allen Kräften, zu ihnen zu stoßen. Plötzlich schoss von einer der Frauen neben dem Wagen ein beindicker Strahl aus scheinbar flüssigem weißen Feuer. Er schnitt buchstäblich eine fünfzehn Schritte breite Schneise in die Reihen. Einen Herzschlag lang schwebten Funken in der Luft, die Umrisse getroffener Männer und Pferde, und wurden dann verschlungen. Der Strahl zuckte auf einmal in die Luft, schoss immer höher, um schließlich zu verblassen und matt schimmernde purpurne Linien auf Birgittes Sicht zu hinterlassen. Baalsfeuer, das Menschen aus dem Muster brannte, sodass sie bereits tot waren, bevor sie davon getroffen wurden. Sie riss das Fernglas lange genug ans Auge, um zu sehen, dass die Frau einen schlanken schwarzen Stab hielt, der anscheinend einen Schritt lang war.

Guybon setzte zum Sturmangriff an. Es war zu früh, aber seine einzige Hoffnung lag darin, an sein Ziel heranzukommen, solange ihm noch Männer zur Verfügung standen. Seine einzige Hoffnung, abgesehen von einer anderen Möglichkeit. Zwischen den donnernden Explosionen der Feuerbälle und Blitze stieg der abgehackte Ruf »Für Elayne und Andor!« empor. Abgehackt, aber aus vollem Halse. Alle Banner flatterten. Ein tapferes Bild, wenn man ignorieren konnte, wie viele Männer fielen. Ein Pferd und sein Reiter wurden frontal von einem Feuerball getroffen und lösten sich einfach in nichts auf; Männer und Pferde um sie herum stürzten ebenfalls. Ein paar schafften es, sich wieder zu erheben. Ein reiterloses Pferd stand auf drei Beinen da, wollte davonlaufen und krachte zuckend zu Boden.

»Das?«, fragte Chanelle ungläubig. »Ich verspüre nicht den Wunsch, Männern beim Sterben zuzusehen.« Ein weiterer Streifen Baalsfeuer schnitt eine fast zwanzig Schritte breite Bresche in die angreifenden Ränge, bevor er sich in den Boden grub und einen Graben zurück zum Wagen fräste, um sich nach der halben Distanz aufzulösen. Es gab viele Tote, wenn auch nicht so viele, wie man eigentlich hätte annehmen sollen. Birgitte hatte das Gleiche in den Schlachten der Trolloc-Kriege gesehen, in denen man die Macht angewendet hatte. Für jeden reglos daliegenden Mann erhoben sich zwei oder drei andere taumelnd wieder auf die Füße oder versuchten Blutströme zu stillen. Für jedes tote Pferd mit steif ausgestreckten Beinen standen zwei andere wieder zitternd auf. Der Feuer und Blitzhagel ging ununterbrochen weiter.

»Dann macht ihm ein Ende«, sagte Birgitte. »Wenn sie alle Soldaten töten oder auch nur genug, dass der Rest die Flucht ergreift, dann ist Elayne verloren.« Nicht für immer. Sollte man sie doch zu Asche verbrennen, sie würde sie für den Rest ihres Lebens verfolgen, um sie zu befreien, aber allein das Licht wusste, was sie ihr in der Zwischenzeit antun würden. »Zaidas Handel ist dann zunichte. Ihr werdet ihn zunichte gemacht haben.«

Der Morgen war noch nicht warm, und doch standen Schweißperlen auf Chanelles Stirn. Feuerbälle und Blitze explodierten zwischen den Reitern, die Guybon folgten. Die Frau mit dem Stab hob wieder den Arm. Selbst ohne Fernglas war sich Birgitte sicher, dass er direkt auf Guybon zielte. Er musste es sehen, aber er kam keinen Augenblick lang ins Schwanken.

Plötzlich zuckte ein weiterer Blitz in die Tiefe. Und traf die Frau mit dem Stab. Sie flog in die eine Richtung, ihr Pferd in die andere. Ein Tier des Kutschengespanns sackte zu Boden, während die anderen tänzelten und auf die Hinterhand stieg en. Auch die anderen Pferde um den Wagen herum bäumten sich auf. Der Feuerregen hörte auf, als die Aes Sedai darum kämpften, ihre Reittiere unter Kontrolle zu bringen, sich in den Sätteln zu halten. Statt zu versuchen, sein Gespann zu beruhigen, sprang der Mann auf dem Kutschbock herunter und zog das Schwert, während er auf die angreifenden Reiter zurannte. Die Zuschauer in Niedercaemlyn rannten auch, diesmal aber weg.

»Fangt die anderen lebend!«, rief Birgitte. Ihr war zieml ich egal, ob sie überlebten — sie würden ohnehin bald sterben, weil sie Schattenfreunde und Mörder waren —, aber Elayne saß in dem verdammten Wagen!

Chanelle nickte steif, und im Umkreis des Wagens stürzt en Reiterinnen von ihren unruhigen Tieren zu Boden und wanden sich, als wären sie an Händen und Füßen gefesselt. Was sie natürlich auch waren. Der laufende Mann fiel aufs Gesicht und blieb sich windend dort liegen. »Ich habe die Frauen auch abgeschirmt«, sagte Chanelle. Selbst mit der Macht hätten sie nichts gegen einen Zirkel aus acht Frauen ausrichten können.

Guybon hob die Hand und verlangsamte die Attacke zum Schritttempo. Es war erstaunlich, wie wenig Zeit vergangen war. Noch immer strömten Männer auf Pferden und zu Fuß aus dem Wegetor. Birgitte schwang sich in den Sattel des Falben und galoppierte auf Elayne zu. Verdammte Frau, dachte sie. Der Bund hatte nicht einmal das geringste Zeichen von Furcht übermittelt.

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