27 Ein einfacher Holzkasten

Die altaranische Mittagssonne war warm, allerdings wehte ein böiger Wind, der manchmal an Rands Umhang riss. Sie befanden sich jetzt seit zwei Stunden auf dem Hügelkamm. Eine große dunkle Wolkenmasse kroch über einem blaugrauen Schimmer aus dem Norden heran und versprach Regen und Abkühlung. Andor lag nur wenige Meilen in dieser Richtung entfernt, hinter niedrigen, bewaldeten Hügeln voller Eichen und Kiefern. Diese Grenze hatte zahllose Generationen von Viehdieben gesehen. Schaute Elayne in Caemlyn dem Regen zu? Das lag gute sechshundert Meilen weiter östlich, zu weit weg, als dass sie mehr als eine schwache Präsenz in seinem Hinterkopf war. Aviendha in Arad Doman fühlte sich noch schwächer an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Weisen Frauen sie mitnahmen. Immerhin würde sie unter Zehntausenden Aiel sicher sein, so sicher wie Elayne hinter Caemlyns Mauern. Tai'daishar stampfte mit dem Huf und warf den Kopf zurück, begierig, sich zu bewegen. Rand klopfte dem großen schwarzen Schlachtross auf den Hals. Der Hengst konnte die Grenze in weniger als einer Stunde erreichen, aber ihr Weg lag heute im Westen. Ein kurzer Weg in einer kleinen Weile.

Er musste bei der heutigen Begegnung beeindrucken, und er hatte seine Aufmachung sorgfältig ausgesucht. Allerdings saß die Krone der Schwerter nicht nur auf seinem Kopf, um Eindruck zu schinden. Die Hälfte der kleinen Schwerter zwischen den Lorbeerblättern des breiten Reifs wies nach unten und machte das Tragen unangenehm, sie erinnerten ständig an ihr Gewicht, sowohl was das Gold wie auch die Verantwortung anging. Eine kleine Kante in einem der Lorbeerblätter bohrte sich in seine Schläfe, um ihn an die Schlacht mit den Seanchanern zu erinnern, wo sie entstanden war. Eine verlorene Schlacht, wo er sich keine Niederlage leisten konnte. Sein dunkelgrüner Seidenmantel war auf Ärmeln, Schultern und dem hohen Kragen golden bestickt, der Schwertgürtel wurde von einer goldenen Schnalle in Form eines Drachens gehalten, und er hielt das Drachenzepter in der Hand, eine zwei Fuß lange Speerspitze mit einer grünen und weißen Quaste unter der polierten Stahlspitze. Falls die Tochter der Neun Monde sie als den Teil eines seanchanischen Speers erkannte, dann musste sie auch die Drachen sehen, die die Töchter in den Rest des Schafts geschnitzt hatten. Heute trug er keine Handschuhe. Die goldenmähnigen Drachenköpfe auf seinen Handrücken funkelten metallisch in der Sonne. Wie hoch ihre Stellung unter den Seanchanern auch war, sie würde wissen, wem sie gegenübertrat.

Einem Na rren. Lews Therins wildes Gelächter hallte durch seinen Kopf. Einem Narren, der in eine Fall e läuf t. Rand ignorierte den Verrückten. Es mochte eine Falle sein, aber er war bereit, sie auszulösen, wenn es denn eine war. Es war das Risiko wert. Er konnte die Seanchaner zerschmettern, aber was würde das an Blut kosten? Und an Zeit, die er möglicherweise nicht hatte? Er sah wieder nach Norden. Abgesehen von ein paar weißen Wolken in großer Höhe war der Himmel über Andor frei. Die Letzte Schlacht stand bevor. Er musste das Risiko eingehen.

Min spielte in der Nähe mit den Zügeln ihrer grauen Stute und war mit sich zufrieden, und das ärgerte ihn. In einem schwachen Augenblick hatte sie ihm ein Versprechen abgerungen und weigerte sich, ihn daraus zu entlassen. Er konnte es einfach brechen. Er sollte es brechen. Sie sah ihn an, als könnte sie seine Gedanken lesen. Ihr von dunklen, schulterlangen Locken umrahmtes Gesicht war ausdruckslos, aber der Bund übermittelte plötzlich Misstrauen und die erst en Anflüge von Wut. Anscheinend versuchte sie beides zu unterdrücken, und doch richtete sie die Manschetten ihres kunstvoll bestickten roten Mantels, so wie sie es immer tat, wenn sie ihre Messer überprüfte. Natürlich würde sie keine der Klingen bei ihm benutzen. Natürlich nicht.

Die Liebe einer Frau kann gewalttätig sein, murmelte Lews Therin. Manchmal verletzen sie einen Mann schlimmer, als ihnen bewusst ist, schlimmer, als sie wollten. Manchmal tut es ihnen hinterher sogar leid. In diesem Augenblick klang er normal, aber Rand verdrängte die Stimme.

»Ihr solltet uns weiter spähen lassen, Rand al'Thor«, sagte Nandera. Sie und die zwei Dutzend Töchter auf dem spärlich bewaldeten Hügel hatten die schwarzen Schleier hochgezogen. Einige hatten den Bogen in der Hand und einen Pfeil eingelegt. Der Rest der Töchter war zwischen den Bäumen unterhalb des Kamms, um unliebsamen Überraschungen vorzubeugen. »Das Land ist den ganzen Weg bis zum Herrenhaus frei, aber für mich riecht das immer noch nach einer Falle.« Es hatte eine Zeit gegeben, in der sich ein Wort wie ›Herrenhaus‹ aus ihrem Mund falsch angehört hatte. Aber sie war jetzt schon lange Zeit in den Feuchtländern.

»Nandera sagt die Wahrheit«, murmelte Alivia mürrisch und trieb ihren Wallach mit den Hacken näher heran. Anscheinend störte die blonde Frau noch immer die Tatsache, dass sie ihn nicht begleiten würde, aber ihre Reaktion in Tear, als sie ihren heimatlichen Akzent gehört hatte, machte das unmöglich. Sie hatte zugegeben, erschüttert gewesen zu sein, aber behauptet, die Überraschung sei daran schuld gewesen. Aber er konnte das Risiko nicht eingehen. »Ihr könnt keinem Angehörigen des Hohen Blutes trauen, vor allem keiner Tochter der Kaiserin, möge sie…« Ihr Mund schnappte zu, und sie glättete überflüssigerweise die dunkelblauen Röcke und verzog das Gesicht dessentwegen, was sie beinahe gesagt hätte. Er vertraute ihr, buchstäblich mit seinem Leben, aber sie hatte zu viele tief verwurzelte Instinkte, um zu riskieren, sie der Frau gegenüberzustellen, die er treff en würde. Jetzt trug der Bund Wut, die nicht zu verschleiern versucht wurde. Min mochte es nicht, Alivia in seiner unmittelbaren Nähe zu sehen.

»Für mich riecht das auch nach einer Falle«, sagte Bashere und lockerte sein gekrümmtes Schwert in der Scheide. Er war einfach gekleidet, mit glänzendem Helm und Brustharnisch; allein der graue Seidenmantel unterschied ihn von den einundachtzig saldaeanischen Lanzenreitern, die auf dem Hügel verteilt standen. Sein dichter, nach unten gebogener Schnurrbart sträubte sich beinahe hinter den Gesichtsstangen seines Helms. »Ich würde zehntausend Kronen geben, um zu wissen, wie viele Soldaten sie hier draußen hat. Und wie viele Damarie. Diese Tochter der Neun Monde ist ihre Thronerbin, Mann.« Er war schockiert gewesen, als Alivia das enthüllt hatte. In Ebou Dar hatte das ihm gegenüber niemand erwähnt, als wäre das nicht wichtig. »Sie behaupten vielleicht, dass ihre Kontrolle viel weiter südlich endet, aber Ihr könnt darauf wetten, dass sie zu ihrer Sicherheit mindestens eine kleine Armee dabeihat.«

»Und wenn unsere Späher diese Armee aufspüren«, erwiderte Rand ruhig, »können wir sicher sein, dass sie nicht gesehen werden?« Nandera gab einen verächtlichen Laut von sich.

»Besser davon auszugehen, dass man nicht der Einzige ist, der Augen hat«, sagte er zu ihr. »Wenn sie glauben, dass wir sie angreifen oder die Frau entführen wollen, fällt alles zusammen.« Vielleicht hatten sie es darum geheim gehalten. Die Erbin des Kaiserreichs würde ein viel interessanteres Ziel für eine Entführung sein als eine hochgestellte Adlige. »Ihr passt bloß auf, dass sie nicht uns überraschen. Wenn alles schiefgeht, Bashere, dann wisst Ihr, was zu tun ist. Davon abgesehen, sie mag eine Armee haben, aber die habe ich auch, und sie ist nicht klein.« Da musste Bashere nicken.

Abgesehen von den Saldaeanern und den Töchtern drängt en sich auf dem Hügel Asha'man und Aes Sedai und Behüter, zusammen mehr als fünfundzwanzig, und eine genauso schlagkräftige Gruppe wie ein kleines Heer. Sie vermengten sich mit überraschendem Gleichmut und nur wenigen äußeren Anzeichen für Spannungen. Oh, Toveine, eine kleine, kupferhäutige Rote, starrte Logain finster an, aber Gabrelle, eine Braune mit lodernden grünen Augen, plauderte ziemlich kameradschaftlich mit ihm, vielleicht sogar auf kokette Weise. Möglicherweise war das der Grund für Toveines finsteren Blick, obwohl Missbilligung wahrscheinlicher erschien als Eifersucht. Adrielle und Kurin hatten einen Arm um die Taille des anderen gelegt, obwohl sie groß genug war, den Domani-Asha'man zu überragen, und wunderschön, wo er durchschnittlich aussah und graue Schläfen hatte. Ganz zu schweigen davon, dass er sich gegen ihren Willen mit der Grauen verbunden hatte. Beldeine, die die Stola so kurze Zeit hatte, dass sie einfach wie eine junge Saldaeanerin mit leicht schräg gestellten braunen Augen aussah, streckte gelegentlich die Hand aus, um Manfor zu berühren, und er lächelte jedes Mal. Dass sie sich mit ihm verbunden hatte, war ein Schock gewesen, aber anscheinend war der blonde Mann mehr als willig gewesen. Keiner hatte Rand vor dem Bund um seine Meinung gefragt.

Am seltsamsten von allen waren vielleicht Jenare und Kajima — sie war blass und stämmig in einem grauen Reitgewand, dessen Röcke mit roten Stickereien besetzt waren, er ein Bursche mit dem Aussehen eines Schreibers in seinen mittleren Jahren, der sein Haar wie Narishma in zwei Zöpfen mit Silberglöckchen geteilt trug. Sie lachte über etwas, das er sagte, und murmelte etwas, das ihn wiederum lachen ließ. Eine Rote scherzte mit einem Mann, der die Macht lenken konnte! Vielleicht hatte Taim etwas Gutes bewirkt, ganz egal, wie seine Absichten auch gewesen waren. Und vielleicht lebte auch Rand al'Thor in einem Traum. Aes Sedai waren berühmt dafür, ihre Gefühle zu verbergen. Aber konnte sich eine Rote so sehr verstellen?

Nicht jeder fühlte sich heute friedfertig. Ayakos Augen erschienen beinahe schwarz, wie sie Rand anstarrte, aber wenn man in Betracht zog, was mit einem Behüter passierte, wenn seine Aes Sedai starb, hatte die kleine Weiße Grund zur Furcht, dass sich Sandomere in eine mögliche Gefahr begab. Der Asha'man-Bund unterschied sich auf mancherlei Weise von dem Behüter-Bund, aber in vielen Dingen war er identisch, und noch wusste niemand, welche Auswirkungen der Tod eines Asha'man auf die Frau hatte, mit der er verbunden gewesen war. Auch Elza sah Rand finster an, eine Hand auf der Schulter ihres hochgewachsenen, schlanken Behüters Fearil, als würde sie das Halsband eines Wachhundes halten und überlegen, ihn loszulassen. Nicht auf Rand, das mit Sicherheit nicht, aber er machte sich Sorgen um jeden, von dem sie glaubte, er könnte eine Bedrohung für ihn sein. Er hatte ihr deswegen Befehle gegeben, und ihr Eid müsste dafür sorgen, dass sie sie auch befolgte, aber Aes Sedai konnten fast immer Schlupflöcher finden.

Merise redete energisch auf Narishma ein, während ihre anderen beiden Behüter ein Stück entfernt auf ihren Pferden saßen. Die Art und Weise, wie die Frau mit dem strengen Gesicht gestikulierte, während sie sprach, und sich nahe zu ihm lehnte, damit sie leise sprechen konnte, war unmissverständlich. Sie gab ihm Anweisungen. Unter diesen Umständen gefiel das Rand gar nicht, aber es schien nur wenig zu geben, das er dagegen tun konnte. Merise hatte keinen Eid geleistet, und sie würde es ignorieren, wenn es um einen ihrer Behüter ging. Oder um andere Dinge, was das anging.

Auch Cadsuane beobachtete Rand. Sie und Nynaeve trug en ihren sämtlichen Ter'angreaZ-Schmuck. Nynaeve gelang es, die Aes-Sedai-Gelassenheit gut zu imitieren. Sie schien das oft zu üben, seit sie Lan weggeschickt hatte, wo auch immer sie ihn hingeschickt hatte. Natürlich trennte der halbe Hügel ihre kräftige braune Stute von Cadsuanes Braunem. Nynaeve würde das niemals zugeben, aber Cadsuane schüchterte sie ein.

Logain ritt zwischen Rand und Bashere heran, sein schwarzer Wallach stolzierte. Das Pferd hatte fast genau die gleiche Farbe wie sein Umhang und Mantel. »Die Sonne hat fast ihren höchsten Stand erreicht«, sagte er. »Zeit zum Aufbruch?« Da lag nur die Andeutung einer Frage darin. Der Mann hatte Probleme, Befehle zu befolgen. Er wartete nicht auf eine Erwiderung. »Sandomere!«, rief er laut. »Narishma.«

Merise hielt Narishma noch einen Augenblick lang am Ärmel fest für ein paar letzte Instruktionen, bevor sie ihn losreiten ließ, woraufhin Logain die Stirn runzelte. Der sonnenverbrannte Narishma mit seinen dunklen, glöckchengeschmückten Zöpfen sah Jahre jünger als Rand aus, obwohl er in Wahrheit ein paar Jahre älter war. Er saß so gerade wie ein Schwert auf seinem Falben und nickte Logain wie einem Gleichgestellten zu, was ein erneutes Stirnrunzeln zur Folge hatte. Sandomere sagte etwas zu Ayako, bevor er auf seinen Schecken stieg, und sie berührte kurz seinen Schenkel, sobald er im Sattel saß. Mit seinen Falten, dem zurückweichenden Haar und dem grau gesprenkelten, spitz zugeschnittenen und geölten Bart ließ er sie eher jugendlich als alterslos aussehen. Er trug jetzt den goldenen und roten Drachen an seinem hohen schwarzen Kragen, wie auch das Silberschwert. Das tat jeder Asha'man auf dem Hügel, selbst Manfor. Er war erst kürzlich zum Geweihten erhoben worden, aber er war einer der ersten Männer der Schwarzen Burg gewesen, bevor es überhaupt eine Schwarze Burg gegeben hatte. Die meisten der Männer, die mit ihm zusammen angefangen hatten, waren tot. Selbst Logain hatte nicht bestritten, dass er es verdient hatte.

Logain hatte genug Verstand, Cadsuane oder Nynaeve nicht herbeizuzitieren, aber sie ritten ohnehin zu Rand und nahmen ihre Plätze zu seinen beiden Seiten ein; jede sah ihn kurz an, die Mienen so reglos, dass sie alles Mögliche hätten denken können. Ihre Blicke trafen sich, und Nynaeve schaute schnell zur Seite. Cadsuane schnaubte leise. Und auch Min kam. Seine »eine mehr«, um die Ehre auszugleichen. Ein Mann sollte im Bett keine Versprechungen machen. Er öffnete den Mund, und sie hob eine Braue und sah ihm ins Gesicht. Der Bund war mit etwas gefüllt… etwas Gefährlichem.

»Sobald wir da sind, bleibst du hinter mir«, sagte er zu ihr, und das war bestimmt nicht das, was er zu ihr hatte sagen wollen.

Die Gefahr zerschmolz zu etwas, das er gelernt hatte, als Liebe zu erkennen. Aus irgendeinem Grund floss auch trockene Belustigung in dem Bund. »Das werde ich, wenn ich es will, du wollköpfiger Schafhirte«, sagte sie mit etwas mehr als nur einer Spur Strenge, so als würde ihm der Bund nicht ihre wahren Gefühle übermitteln. So schwer sie auch zu entziffern sein mochten.

»Wenn wir diese idiotische Angelegenheit durchführen wollen, dann sollten wir sie hinter uns bringen«, sagte Cadsuane energisch und lenkte ihren Braunen den Hügel hinunter.

Ein kurzes Stück von dem Hügel entfernt gab es die ersten Bauernhöfe, die den gewundenen Weg durch den Wald säumten; lange Jahre der Benutzung hatten den Untergrund hart zusammengebacken, trotzdem war die Oberfläche vom letzten Regen noch immer schlammig. Aus den Schornsteinen der strohgedeckten Steinhäuser quoll der Rauch der Mittagsmahlzubereitung. Manchmal saßen Mädchen und Frauen draußen in der Sonne an ihren Spinnrädern. Männer in groben Wollmänteln überprüften auf ihren von Steinmauern eingegrenzten Feldern das sprießende Getreide, während Jungen Unkraut jäteten. Auf den Wiesen standen braunweißes Vieh oder schwarzschwänzige Schafe, die für gewöhnlich von einem oder zwei Jungen mit Bogen oder Schleuder gehütet wurden. Es gab Wölfe in den Wäldern und Leoparden und andere Wesen, denen Rind und Lamm schmeckte. So mancher beschattete die Augen, um die Vorbeireitenden zu betrachten; sicherlich fragten sie sich, wer diese gut gekleideten Leute waren, die Lady Deirdru besuchten. Sicherlich konnte es keinen anderen Grund für ihre Anwesenheit geben, da sie in Richtung Herrenhaus ritten und so weit von irgendetwas Wichtigem entfernt waren. Aber niemand erschien aufgeregt oder ängstlich, alle kümmerten sich um ihr Tagewerk. Gerüchte über ein Heer in der Nähe hätten mit Sicherheit für Aufregung gesorgt, und Gerüchte dieser Art verbreiteten sich wie ein Buschfeuer. Seltsam. Die Seanchaner beherrschten nicht das Schnelle Reisen und konnten nicht ankommen, ohne dass sich diese Neuigkeit in Windeseile verbreitet hätte. Es war sehr seltsam.

Rand fühlte, wie Logain und die anderen beiden Männer Saidin ergriffen und sich damit vollstopften. Logain hielt beinahe so viel, wie er gekonnt hätte, Narishma und Sandomere etwas weniger. Und sie waren die stärksten Asha'man, und beide waren bei den Quellen von Dumai dabei gewesen. Logain hatte an anderen Orten, bei anderen Schlachten bewiesen, dass er sich behaupten konnte. Falls das eine Falle war, würden sie bereit sein, und die andere Seite würde das erst merken, wenn es zu spät war. Rand griff nicht nach der Quelle. Er konnte Lews Therin in seinem Kopf lauern fühlen. Es war keine Zeit da, dem Verrückten eine Chance zu geben, die Macht an sich zu reißen.

»Cadsuane, Nynaeve, ihr solltet besser jetzt die Quelle umarmen«, sagte er. »Wir sind gleich da.«

»Ich habe schon oben auf dem Hügel Saidar gehalten«, sagte Nynaeve. Cadsuane schnaubte und schenkte ihm einen Blick, der ihn als Narr bezeichnete.

Rand unterdrückte eine Grimasse, bevor sie sich bilden konnte. Seine Haut hatte nicht gekribbelt, es hatte keine Gänsehaut gegeben. Sie hatten ihre Fähigkeiten maskiert und so verhindert, dass er die Macht in ihnen spüren konnte. Was das Machtlenken betraf, hatten Männer Frauen gegenüber nur wenige Vorteile, aber die wenigen hatten sie jetzt verloren, während Frauen alle behielten. Ein paar Asha'man bemühten sich nach Kräften, herauszufinden, wie sie Nacelles Schöpfung kopieren konnten, ein Gewebe, das Männern erlaubte, Gewebe von Frauen zu entdecken, aber bis jetzt waren sie erfolglos geblieben. Nun, da würde sich jemand anderes drum kümmern müssen. Im Augenblick hatte er mehr als genug zu tun.

Sie kamen weiterhin an Höfen vorbei, einige standen allein auf Lichtungen, andere drängten sich zu viert oder fünft aneinander. Wären sie dem Weg lange genug gefolgt, hätten sie nach wenigen Meilen die Stadt Königsbrücke erreicht, wo eine Holzbrücke einen schmalen Fluss namens Reshalle überquerte, aber ein ganzes Stück davor passierte die Straße eine große Lichtung, die von zwei hohen Steinpfosten markiert wurde, obwohl es weder Zaun noch Tor gab. Hundert Schritte dahinter lag Lady Deirdrus Herrenhaus am Ende eines Lehmpfades, zwei Stockwerke aus grauem Stein und Strohdach, und nur die Torpfosten und die hohe Flügeltür des Eingangs verhinderten, dass es wie ein großes Bauernhaus aussah. Ställe und Außengebäude hatten das gleiche Erscheinungsbild, alles war stabil und praktisch. Es war niemand zu sehen, kein Stallbursche, keine Dienerin auf dem Weg, Eier zu holen, keine Männer auf den Feldern, die den Weg flankierten. Aus den hohen Schornsteinen des Hauses kam kein Rauch. Es roch tatsächlich nach einer Falle. Aber die Umgebung war friedlich, die Bauern ganz normal. Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.

Rand lenkte Tai'daishar an den Torpfosten vorbei, und die anderen folgten ihm. Min ignorierte seine Warnung. Sie drängte ihren Grauen zwischen Tai'daishar und Nynaeves Stute und grinste ihn an. Im Bund lag Nervosität, aber die Frau grinste!

Als Rand den halben Weg zum Haus zurückgelegt hatte, schwangen die Türen auf, und zwei Frauen traten nach draußen, eine in Dunkelgrau, die andere in Blau mit roten Stoffrechtecken auf der Brust und knöchellangen Röcken. Sonnenlicht funkelte auf der silbrigen Leine, die sie verband. Zwei weitere erschienen, dann noch mehr, bis zu beiden Seiten der Tür drei Paare in einer Reihe standen. Als er drei Viertel des Weges zurückgelegt hatte, trat eine andere Frau aus der Tür, sie war sehr dunkelhäutig und sehr klein, in Weiß gekleidet, mit einem durchsichtigen Schleier, der Kopf und Gesicht verhüllte. Die Tochter der Neun Monde. Man hatte sie Bashere beschrieben, bis hin zu ihrem rasierten Schädel. Eine Spannung zwischen seinen Schultern verschwand, der er sich gar nicht bewusst gewesen war. Dass sie tatsächlich hier war, schloss die Möglichkeit einer Falle aus. Die Seanchaner würden ihre Thronerbin nicht dem Risiko eines so gefährlichen Unternehmens aussetzen. Er zog an den Zügeln und stieg ab.

»Eine von ihnen lenkt die Macht«, sagte Nynaeve gerade laut genug, dass er es hören konnte, während sie vom Pferd stieg. »Ich kann nichts sehen, also muss sie ihre Fähigkeiten maskiert und das Gewebe umgedreht haben, und mich würde wirklich interessieren, wo die Seanchaner das gelernt haben, aber sie lenkt die Macht. Nur eine von ihnen. Da ist nicht genug, als dass es zwei sein könnten.« Ihr Ter'angreal konnte nicht feststellen, ob Saidin oder Saidar gelenkt wurde, aber es war unwahrscheinlich, dass es sich um einen Mann handelte.

Ich habe dir gesagt, es ist eine Falle, stöhnte Lews Therin.

Ich habe es dir gesagt!

Rand tat so, als würde er den Sattelgurt überprüfen.

»Kannst du sagen, wer es ist?« Er griff noch immer nicht nach Saidin. Unmöglich zu sagen, was Lews Therin anstellen würde, wenn es ihm unter diesen Umständen wieder gelang, die Kontrolle an sich zu reißen. Auch Logain fummelte an seinem Sattelgurt herum, und Narishma sah zu, wie Sandomere einen der Hufe des Schecken überprüfte. Sie hatten es mitbekommen. Die kleine Frau wartete in der Tür, reglos, aber sicherlich ungeduldig und aller Wahrscheinlichkeit nach von ihrem vorgetäuschten Interesse an ihren Pferden beleidigt.

»Nein«, erwiderte Cadsuane grimmig. »Aber ich kann etwas dagegen unternehmen. Sobald wir näher heran sind.« Ihr goldener Haarschmuck baumelte, als sie den Umhang zurückwarf, als würde sie ein Schwert enthüllen.

»Bleib hinter mir«, sagte er zu Min, und zu seiner Erleichterung nickte sie. Ein leichtes Stirnrunzeln lag auf ihrem Gesicht, und der Bund trug Besorgnis. Aber keine Furcht. Sie wusste, dass er sie beschützen würde.

Er ließ die Pferde hinter sich zurück und ging zusammen mit Cadsuane und Nynaeve, die ein Stück Abstand zu ihm hielten, auf die Sul'dam und Damane zu. Logain hatte die Hand auf den Schwertgriff gelegt, als wäre das seine wahre Waffe, und ging ein Stück abseits von Cadsuane; Narishma und Sandomere hielten sich hinter Nynaeve. Die kleine dunkelhäutige Frau setzte sich langsam in Bewegung, auf sie zu, lüpfte die Faltenröcke von dem feuchten Boden.

Plötzlich flackerte sie, keine zehn Schritte mehr von ihnen entfernt. Einen Augenblick lang war sie größer als die meisten Männer, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem Ausdruck der Überraschung auf dem Gesicht, und obwohl sie noch immer den Schleier trug, wuchsen schwarze Locken auf ihrem Kopf. Nur einen winzigen Augenblick lang, dann war die kleine Frau wieder da, deren Schritt stockte, als sie die weißen Röcke losließ, aber dann trat das Flackern wieder auf, und die hochgewachsene Frau stand dort, das Gesicht hinter dem Schleier wutverzerrt. Rand erkannte das Gesicht, obwohl er es nie zuvor gesehen hatte. Aber Lews Therin hatte es, und das reichte.

»Semirhage«, sagte er entsetzt, bevor er das Wort zurückhalten konnte, und plötzlich schien alles auf einmal zu passieren.

Er griff nach der Quelle und stieß auf Lews Therin, der auch danach krallte, und jeder versuchte den anderen daran zu hindern, sie zu erreichen. Semirhages Hand schnellte nach vorn, und ein Feuerball schoss aus ihren Fingerspitzen auf ihn zu. Möglicherweise schrie sie auch etwas, einen Befehl. Er konnte nicht zur Seite springen; Min stand direkt hinter ihm. Hektisch versuchte er nach der Quelle zu greifen, verzweifelt riss er schützend die Hand mit dem Drachenzepter nach oben. Die Welt schien in Flammen zu explodieren.

Ihm wurde bewusst, dass seine Wange auf dem feuchten Boden lag. Schwarze Flecken tanzten durch sein Blickfeld, und alles erschien leicht verschwommen, als würde man es durch Wasser sehen. Wo war er? Was war passiert? Sein Kopf fühlte sich wie mit Wolle ausgestopft an. Etwas stieß in seine Rippen. Sein Schwertgriff. Die alten Wunden darüber waren ein harter Knoten aus purem Schmerz. Langsam wurde ihm klar, dass er das Drachenzepter ansah, oder vielmehr das, was davon noch übrig war. Drei Schritte entfernt lagen die Speerspitze und ein Stück des angekokelten Schaftes. Kleine, flackernde Flammen verzehrten die lange Quaste. Die Schwertkrone lag daneben.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass in der Nähe Saidin gelenkt wurde. Genau wie Saidar, das verriet ihm die Gänsehaut am ganzen Körper. Das Herrenhaus. Semirhage! Er wollte sich hochstemmen und brach mit einem Aufschrei wieder zusammen. Langsam drehte er den linken Arm, der von der Stelle an schmerzte, wo er seine Hand sehen konnte. Sehen konnte, wo seine Hand gewesen war. Es war nur ein zerfetzter, verkohlter Stumpf übrig. Ein Stumpf, der aus einem Ärmel ragte, von dem dünne Rauchwolken emporstiegen. Aber um ihn herum wurde noch immer die Macht gelenkt. Seine Leute kämpften um ihr Leben. Sie konnten sterben. Min! Er wollte sich erneut aufrappeln und sackte wieder zusammen.

Als hätte sie der Gedanke an sie herbeigeholt, lag Min plötzlich über ihm. Versuchte, ihn mit dem Körper zu decken. Der Bund pulsierte vor Mitgefühl und Schmerz. Keinem körperlichen Schmerz. Er hätte gewusst, hätte sie auch nur die kleinste Verletzung davongetragen. Sie verspürte Qualen wegen ihm. »Bleib still liegen«, sagte sie. »Du bist… du bist verletzt worden.«

»Ich weiß«, erwiderte er heiser. Wieder griff er nach Saidin, und wunderbarerweise versuchte Lews Therin dieses Mal nicht, sich einzumischen. Die Macht erfüllte ihn, und das verlieh ihm die Kraft, sich mit einer Hand hochzustemmen und dabei ein paar sehr hässliche Gewebe vorzubereiten. Trotz seines schlammbeschmutzten Mantels ergriff Min seinen unverletzten Arm, als wollte sie versuchen, ihn aufrechtzuerhalten. Aber der Kampf war vorüber.

Semirhage stand steif da, die Arme an den Körper gepresst, die Röcke gegen die Beine gedrückt, zweifellos in Ströme aus Luft gehüllt. Aus ihrer Schulter ragte der Griff von Mins Messer, und sie musste auch abgeschirmt sein, aber ihr dunkelhäutiges, wunderschönes Gesicht zeigte nichts als Verachtung. Sie war schon einmal Gefangene gewesen, für kurze Zeit, im Krieg des Schattens. Sie war aus einem Kerker entkommen, indem sie ihren Wächtern eine solche Angst eingejagt hatte, dass sie sie doch tatsächlich in die Freiheit geschmuggelt hatten.

Andere hatten schlimmere Verletzungen davongetragen. Eine kleine schwarze Sul'dam und eine große blonde Damane lagen verbunden durch ein A'dam auf dem Boden und starrten mit bereits starr werdenden Augen in die Sonne, ein anderes Paar lag aneinander geklammert auf den Knien; Blut lief ihnen ins Gesicht und verklebte das Haar. Die anderen Paare standen so steif wie Semirhage da, und er konnte die Abschirmungen um drei der Damane sehen. Sie sahen wie betäubt aus. Eine der Sul'dam, eine schlanke, dunkelhaarige junge Frau, schluchzte leise.

Auch Narishmas Gesicht war blutverschmiert, sein Mantel erschien angesengt. Genau wie bei Sandomere; ein Knochen durchstieß seinen linken Ärmel, rot verschmiertes Weiß, bis Nynaeve den Arm mit festem Ruck richtete. Er verzog gequält das Gesicht und stieß ein gutturales Stöhnen aus. Sie legte die Hände über den Bruch, und Augenblicke später spannte er den Arm an und bewegte die Finger und murmelte einen Dank. Logain erschien unversehrt, genau wie Nynaeve und Cadsuane, die Semirhage musterte, so wie eine Braune ein zuvor noch nie gesehenes exotisches Tier studieren würde.

Da klafften überall um das Herrenhaus herum Wegetore auf und spuckten berittene Asha'man und Aes Sedai und Behüter aus, desgleichen verschleierte Töchter. Bashere ritt an der Spitze seiner Reiter. Ein Asha'man und eine Aes Sedai, die sich zu einem Zirkel verknüpften, konnten ein beträchtlich größeres Tor erschaffen, als Rand allein imstande gewesen wäre. Also musste es jemand geschafft haben, das Signal zu geben, eine rote, zerplatzende Flammenkugel am Himmel. Jeder Asha'man war mit Saidin gefüllt, und Rand vermutete, dass die Aes Sedai gleichermaßen viel Saidar hielten. Die Töchter schwärmten zwischen den Bäumen aus.

»Aghan, Hamad, durchsucht das Haus!«, rief Bashere.

»Matoun, formiert die Lanzenreiter! Sie werden sich auf uns stürzen, so schnell sie können!« Zwei Soldaten rammten ihre Lanzen in die Erde, sprangen aus den Sätteln und stürmten mit gezogenen Schwertern ins Haus, während der Rest in zwei Reihen Aufstellung bezog.

Ayako warf sich förmlich aus dem Sattel und eilte zu Sand omere; dabei achtete sie nicht einmal auf ihre Röcke, die durch den Schlamm schleiften. Merise ritt zu Narishma, bevor sie direkt vor ihm zu Boden glitt und wortlos seinen Kopf zwischen die Hände nahm. Er bäumte sich auf und hätte fast den Kopf losgerissen, während sie ihn Heilte. Sie kannte sich kaum in Nynaeves Heilungsmethode aus.

Nynaeve ignorierte die Aufregung, raffte die Röcke mit blutverschmierten Händen und eilte zu Rand. »Oh, Rand«, sagte sie, als sie den Arm erblickte, »es tut mir so leid. Ich… ich werde tun, was ich kann, aber ich werde ihn nicht wieder so hinbekommen, wie er war.« In ihren Augen lag Qual.

Wortlos streckte er den linken Arm aus. In ihm pulsierte der Schmerz. Seltsamerweise konnte er noch immer seine Hand spüren. Er schien Finger, die nicht länger da waren, zu einer Faust formen zu können. Seine Gänsehaut wurde intensiver, als sie viel mehr Saidar schöpfte, und der Qualm verschwand von seinem Ärmel. Sie ergriff den Arm oberhalb des Handgelenks. Der ganze Arm fing an zu kribbeln, und der Schmerz verschwand. Langsam wich geschwärzte Haut glatter Haut, die nach unten zu quellen schien, bis sie den kleinen Höcker umgab, der sein Handballen gewesen war. Ein wunderbarer Anblick. Auch der Drache mit den scharlachroten und goldenen Schuppen wuchs wieder, soweit das möglich war, und endete in einem Stück goldener Mähne. Rand konnte noch immer die ganze Hand fühlen.

»Es tut mir so leid«, sagte Nynaeve erneut. »Lass mich nach anderen Verletzungen Ausschau halten.« Sie fragte, aber natürlich wartete sie keine Antwort ab. Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände, und ein Schauder durchfuhr ihn.

»Da stimmt etwas nicht mit deinen Augen«, sagte sie stirnrunzelnd. »Ich habe Angst, das zu Heilen, ohne es vorher zu studieren. Der kleinste Fehler könnte dich erblinden lassen. Wie gut kannst du sehen? Wie viele Finger halte ich hoch?«

»Zwei. Ich kann gut sehen«, log er. Die schwarzen Flecken waren verschwunden, aber alles schien immer noch unter Wasser zu liegen, und er wollte die Augen zusammenkneifen, um sie vor einer Sonne zu schützen, die scheinbar zehnmal heller als zuvor zu sein schien. Die alten Wunden in seiner Seite verkrampften sich vor Schmerz.

Bashere stieg vor ihm von seinem stämmigen Braunen und betrachtete den linken Armstumpf stirnrunzelnd. Er löste den Helmriemen, nahm ihn ab und hielt ihn unter dem Arm. »Wenigstens seid Ihr noch am Leben«, sagte er rau. »Ich habe schon schlimmer verletzte Männer gesehen.«

»Ich auch«, erwiderte Rand. »Aber ich werde den Schwertkampf noch einmal erlernen müssen.« Bashere nickte. Für die meisten Formen brauchte man zwei Hände. Rand beugte sich vor, um die Krone von Illian aufzuheben, aber Min ließ seinen Arm los und gab ihm hastig die Krone. Er setzte sie sich auf. »Ich werde alles neu lernen müssen.«

»Du musst einen Schock haben«, sagte Nynaeve langsam.

»Du hast gerade eine ernsthafte Verletzung erlitten. Vielleicht solltest du dich hinlegen. Lord Davram, einer Eurer Männer soll einen Sattel bringen, auf dem er die Füße hochlegen kann.«

»Er hat keinen Schock«, sagte Min traurig. Der Bund war erfüllt von Niedergeschlagenheit. Sie hielt wieder seinen Arm, als wollte sie ihn stützen. »Er hat eine Hand verloren, aber da kann man nichts machen, also hat er das bereits hinter sich gelassen.«

»Wollköpfiger Narr«, murmelte Nynaeve. Ihre noch mit Sandomeres Blut beschmierte Hand griff unwillkürlich nach dem dicken Zopf, der über ihrer Schulter hing, aber sie riss sie zurück. »Du bist schlimm verletzt worden. Zu trauern ist völlig in Ordnung. Sich betäubt zu fühlen ist völlig in Ordnung. Das ist normal!«

»Dazu habe ich keine Zeit«, sagte er zu ihr. Mins Niederg eschlagenheit drohte alles im Bund zu übertönen. Beim Licht, er war in Ordnung! Warum war sie bloß so traurig?

Nynaeve murmelte etwas wie »Wollschädel« und »Narr« und »stur wie ein Mann«, aber sie war noch nicht fertig.

»Diese alten Wunden in deiner Seite sind wieder aufgebrochen«, knurrte sie beinahe. »Du blutest zwar nicht schlimm, aber du blutest. Vielleicht kann ich endlich etwas dagegen unternehmen.«

Aber sosehr sie sich auch bemühte — und sie versuchte es drei Mal —, es funktionierte nicht. Er spürte den langsamen Blutstrom seine Rippen hinuntertröpfeln. Die Wunden waren noch immer ein pulsierender Knoten des Schmerzes. Schließlich drängte er sanft ihre Hand zur Seite.

»Du hast getan, was du konntest, Nynaeve. Es reicht.«

»Narr.« Diesmal knurrte sie tatsächlich. »Wie kann es reichen, wenn du noch immer blutest?«

»Wer ist die große Frau?«, fragte Bashere. Wenigstens er verstand es. Man verschwendete keine Zeit mit Sachen, die man nicht reparieren konnte. »Sie haben doch wohl nicht versucht, sie als die Tochter der Neun Monde auszugeben, oder? Nicht nachdem sie mir gesagt hatten, sie sei recht klein.«

»Das haben sie«, erwiderte Rand und erklärte schnell alles.

»Semirhage?«, murmelte Bashere ungläubig. »Wie könnt Ihr da so sicher sein?«

»Sie ist Anath Dorje, nicht… nicht jene, die Ihr behauptet«, sagte da eine blonde Sul'dam mit schleppendem Akzent. Ihre dunklen Augen waren schräg, und ihr Haar war mit grauen Strähnen durchsetzt. Sie sah wie die älteste der Sul'dam aus und die am wenigsten verängstigte. Es war nicht so, dass sie keine Angst zu haben schien, aber sie hatte sie gut unter Kontrolle. »Sie ist die Wahrheitssprecherin der Hochlady.«

»Falendre, sei still«, sagte Semirhage kalt und blickte über die Schulter. Ihr Blick versprach Schmerzen. Die Herrin des Schmerzes war gut darin, ihre Versprechen zu halten. Gefangene hatten sich umgebracht, nachdem sie erfahren hatten, wer sie da gefangen hielt, Männer und Frauen, die es geschafft hatten, mit Zähnen oder Fingernägeln Adern zu öffnen.

Falendre schien ihn aber nicht zu bemerken. »Ihr habt mir nichts zu befehlen«, sagte sie verächtlich. »Ihr seid nicht einmal So'jhin.«

»Wie könnt Ihr so sicher sein?«, wollte Cadsuane wissen. Die goldenen Monde und Sterne, Fische und Vögel baumelten, als sie ihren durchdringenden Blick von Rand zu Semirhage und zurück schweifen ließ.

Semirhage ersparte ihm die Mühe, sich eine Lüge einfall en lassen zu müssen. »Er ist wahnsinnig«, sagte sie kühl. Wie sie da so stand, steif wie eine Statue, mit Mins Messergriff, der noch immer neben ihrem Schlüsselbein herausragte, und der blutverschmierten Kleiderbrust, hätte sie genauso gut eine Königin auf ihrem Thron sein können. »Graendal könnte es besser erklären als ich. Wahnsinn war ihre Spezialität. Aber ich werde es versuchen. Ihr habt von Leuten gehört, die Stimmen hören? Manchmal, ganz selten, sind die Stimmen, die sie hören, die Stimmen früherer Leben. Lanfear behauptete, er wüsste Dinge aus unserem Zeitalter, Dinge, die nur Lews Therin Telamon wissen konnte. Er hört eindeutig Lews Therins Stimme. Es macht aber keinen Unterschied, dass seine Stimme real ist. Tatsächlich verschlimmert das seine Situation noch. Selbst Graendal ist meistens darin gescheitert, eine Reintegration bei jemandem zu erreichen, der eine echte Stimme hörte. Soviel ich weiß, kann der Sturz in den echten Wahnsinn… ganz plötzlich erfolgen.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das die schwarzen Augen nie erreichte.

Sahen sie ihn jetzt mit anderen Augen? Logains Gesicht war eine starre Maske, unleserlich. Bashere sah aus, als könnte er das alles trotzdem nicht glauben. Nynaeves Mund stand offen, ihre Augen waren weit aufgerissen. Der Bund… Einen langen Augenblick war der Bund wie… betäubt. Wenn sich Min von ihm abwandte, dann wusste er nicht, ob er das ertragen konnte. Aber die Betäubung wurde durch Mitgefühl und Entschlossenheit so unverrückbar wie ein Berg ersetzt, und einer Liebe, die hell strahlte, dass er sich daran die Hände hätte wärmen können. Ihr Griff um seinen Arm wurde fester, und er versuchte seine Hand auf die ihre zu legen. Die Erinnerung kam zu spät, und er riss den Stumpf zurück, aber nicht, bevor er sie berührt hatte. In ihrem Bund schwankte nichts, auch nicht um Haaresbreite.

Cadsuane trat einen Schritt auf die größere Frau zu und schaute zu ihr hoch. Einer der Verlorenen gegenüberzustehen schien ihr nicht mehr auszumachen, als dem Wiedergeborenen Drachen gegenüberzustehen. »Ihr seid sehr ruhig für eine Gefangene. Statt die Anschuldigung zu bestreiten, belastet Ihr Euch selbst.«

Semirhage lenkte das kalte Lächeln von Rand auf Cadsuane. »Warum sollte ich mich selbst verleugnen?« Jedes einzelne ihrer Worte troff vor Stolz. »Ich bin Semirhage.« Jemand keuchte auf, und einige der Sul'dam und Damane fingen an zu zittern und zu weinen. Eine Sul'dam, eine hübsche blonde Frau, erbrach sich plötzlich über die Brust, und eine andere, stämmig und dunkelhäutig, sah aus, als würde sie es ihr gleich nachmachen.

Cadsuane nickte bloß. »Ich bin Cadsuane Melaidhrin. Ich freue mich auf lange Gespräche mit Euch.« Semirhage grinste verächtlich. An Mut hatte es ihr noch nie gemangelt.

»Wir hielten sie für die Hochlady«, beeilte sich Falendre zu sagen und klang zugleich zögernd. Sie schien kurz davor, mit den Zähnen zu klappern, aber sie zwang die Worte heraus. »Wir dachten, wir würden geehrt. Sie brachte uns im Tarasin-Palast in ein Zimmer, in dem… in dem ein Loch in der Luft war, und wir traten hindurch und befanden uns an diesem Ort. Ich schwöre es bei meinem Augenlicht! Wir hielten sie für die Hochlady.«

»Also kommt kein Heer auf uns zu«, sagte Logain. Seinem Ton war nicht anzumerken, ob er erleichtert oder enttäuscht war. Er zog das Schwert einen Fingerbreit und stieß es zurück in die Scheide. »Was machen wir mit ihnen?« Er deutete ruckartig mit dem Kopf auf die Sul'dam und Damane. »Schicken wir sie wie die anderen nach Caemlyn?«

»Wie schicken sie zurück nach Ebou Dar«, sagte Rand.

Cadsuane drehte sich um und starrte ihn an. Ihr Gesicht war eine perfekte Maske der Aes-Sedai-Gelassenheit, doch er bezweifelte, dass sie innerlich tatsächlich gelassen war. Das Anleinen von Damane war eine Abscheulichkeit, die Aes Sedai persönlich nahmen. Nynaeve war alles andere als gelassen. In ihrem Blick funkelte der Zorn, sie hielt ihren Zopf so fest mit der Faust umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten; sie öffnete den Mund, aber er kam ihr zuvor. »Ich brauche diesen Waffenstillstand, Nynaeve, und diese Frauen gefangen zu nehmen wird mir dabei nicht helfen. Streite nicht mit mir. So würden sie es bezeichnen, und die Damane auch, und du weißt das genauso so gut wie ich. Sie können die Nachricht überbringen, dass ich die Tochter der Neun Monde treffen will. Die Thronerbin allein kann einem Waffenstillstand Bestand verleihen.«

»Es gefällt mir trotzdem nicht«, sagte sie entschieden.

»Wir könnten die Damane befreien. Die anderen können genauso gut Botschaften übermitteln.« Die Damane, die zuvor nicht geweint hatte, brach jetzt in Tränen aus. Ein paar von ihnen flehten die Sul'dam an, sie zu retten. Nynaeve sah aus, als würde ihr jetzt übel, aber sie warf nur die Hände nach oben und beendete die Diskussion.

Die beiden Soldaten, die Bashere ins Haus geschickt hatte, kamen wieder heraus, junge Männer, die mit einem rollenden Gang daherschritten, mehr an Sättel als an ihre eigenen Füße gewöhnt waren. Hamad hatte einen prächtigen schwarz en Bart, der unter dem Helmrand herausragte, und eine Narbe im Gesicht. Aghan trug einen dichten Schnurrbart wie Bashere; unter dem Arm hielt er einen schlichten Holzkasten ohne Deckel. Sie verbeugten sich vor Bashere, mit der freien Hand schwangen sie die Schwerter nach hinten.

»Das Haus ist leer, mein Lord«, sagte Aghan, »aber in mehreren Zimmern sind die Teppiche blutverschmiert. Sieht aus wie in einem Schlachthaus, mein Lord. Ich glaube, die Bewohner sind alle tot. Das hier stand am Eingang. Es sah nicht so aus, als würde es hierher gehören, also habe ich es mitgebracht.« Er hielt ihnen den Kasten hin. Darin lagen zusammengerollte A'dam und eine Anzahl von Armbändern aus schwarzen Metallsegmenten, einige groß, andere klein.

Rand wollte mit seiner linken Hand danach greifen, bevor er daran dachte. Min fiel die Bewegung auf und ließ seinen rechten Arm los, damit er ein paar der schwarzen Metallarmbänder herausnehmen konnte. Nynaeve keuchte auf.

»Weißt du, was das ist?«, fragte er.

»Das sind A'dam für Männer«, sagte sie wütend. »Egeanin hatte versprochen, sie würde das Ding ins Meer werfen! Wir haben ihr vertraut, und sie hat es jemandem gegeben, um Kopien zu machen!«

Rand warf die Dinger zurück in den Kasten. Von den größeren Armbändern gab es sechs Stück, und fünf von den silbrigen Leinen. Semirhage war vorbereitet gewesen, ganz egal, wen er mitgebracht hätte. »Sie glaubte wirklich, uns alle gefangen nehmen zu können.« Diese Vorstellung hätte ihn wirklich schaudern lassen sollen. Er vermeinte fühlen zu können, wie Lews Therin erzitterte. Niemand wollte Semirhage in die Hände fallen.

»Sie hat ihnen zugerufen, uns abzuschirmen«, sagte Nynaeve, »aber sie konnten es nicht, weil wir alle bereits die Macht hielten. Hätten wir das nicht getan, hätten Cadsuane und ich nicht unsere Ter'angreale, dann weiß ich nicht, was passiert wäre.« Sie zitterte tatsächlich.

Er sah die hochgewachsene Verlorene an, und sie starrte völlig unbewegt zurück. Eiskalt. Ihre Grausamkeit war so berüchtigt, dass man leicht vergessen konnte, wie gefährlich sie sonst war. »Verknote die Abschirmungen der anderen, sodass sie sich in ein paar Stunden auflösen, dann schicke sie irgendwo in die Nähe von Ebou Dar.« Einen Augenblick lang glaubte er, Nynaeve würde erneut protestieren, aber sie beschränkte sich darauf, kräftig an ihrem Zopf zu ziehen und sich abzuwenden.

»Wer seid Ihr, dass Ihr es wagt, um ein Treffen mit der Hochlady zu bitten?«, verlangte Falendre zu wissen. Aus irgendeinem Grund betonte sie den Titel.

»Mein Name ist Rand al'Thor. Ich bin der Wiedergebor ene Drache.« Hatten sie geweint, als sie Semirhages Namen gehört hatten, verfielen sie in schrilles Wehklagen, als sie den seinen hörten.

Den Ashandarei quer über dem Sattel, saß Mat auf Pips in der Dunkelheit zwischen den Bäumen und wartete, umgeben von zweitausend berittenen Armbrustmännern. Die Sonne war noch nicht lange untergegangen, und die Geschehnisse sollten im Gange sein. In dieser Nacht würden die Seanchaner an einem halben Dutzend Orten harte Schläge erhalten. Das Mondlicht, das durch das Laubwerk fiel, verbreitete gerade genug Helligkeit, dass er Tuons im Schatten befindliches Gesicht ausmachen konnte. Sie hatte darauf bestanden, bei ihm zu bleiben, was bedeutete, dass Selucia natürlich auf ihrem Falben an ihrer Seite war und ihn wie gewöhnlich finster anstarrte. Leider gab es nicht genug Mondschatten, um das zu verbergen. Tuon konnte nicht gefallen, was heute Nacht passieren würde, aber sie ließ sich nichts anmerken. Was dachte sie? Ihr Ausdruck war ganz der strenge Magistrat.

»Euer Plan verlässt sich auf eine Menge Glück«, sagte Teslyn nicht zum ersten Mal. Selbst in den Schatten sah ihr Gesicht hart aus. Sie rutschte auf ihrem Sattel herum, richtete den Umhang. »Es ist zu spät, um alles zu verändern, aber dieser Teil ist auf jeden Fall unnötig.« Er hätte es vorg ezogen, Bethamin oder Seta dabeizuhaben, die nicht an die Drei Eide gebunden waren und beide wussten, welche Gewebe die Damane als Waffen benutzten, etwas, das die Aes Sedai entsetzte. Nicht die Gewebe, nur dass Bethamin und Seta sie kannten. Zumindest glaubte er, dass sie ihm lieber gewesen wären. Leilwin hatte sich schlicht geweigert, außer in Selbstverteidigung gegen Seanchaner zu kämpfen. Bethamin und Seta hätten möglicherweise das Gleiche getan oder in letzter Minute herausgefunden, dass sie nicht gegen ihre Landsmänner vorgehen konnten. Aber wie dem auch sei, die Aes Sedai hatten nicht erlaubt, dass die beiden Frauen darin verwickelt wurden, und keine von ihnen hatte auch nur einen Ton gesagt, nachdem das verkündet worden war. Die beiden waren in Anwesenheit von Aes Sedai zu eingeschüchtert, um auch nur einen Mucks zu machen.

»Verzeiht, Teslyn Sedai, aber Lord Mat hat Glück«, sagte Hauptmann Mandevwin. Der stämmige, einäugige Mann war seit den ersten Tagen der Bande in Cairhien dabei, und er hatte sich die grauen Strähnen im Haar verdient, das jetzt unter dem grün lackierten Helm verborgen lag, einem einfachen, offenen Infanteristenhelm, und zwar in Schlachten gegen Tear und Andor. »Ich erinnere mich an Zeiten, in denen wir in der Minderzahl waren, und er hat die Bande um sie herumtanzen lassen. Nicht um sich zu verdrücken, nein, sondern um sie zu schlagen. Wunderbare Schlachten.«

»Eine wunderbare Schlacht ist eine, die man nicht schlag en muss«, sagte Mat schärfer als beabsichtigt. Er mochte Schlachten nicht. In einer Schlacht konnte es passieren, dass jemand Löcher in einen hineinstach. Er wurde nur immer wieder darin verwickelt, das war alles. Die meisten dieser Tänze waren der Versuch gewesen, sich zu verdrücken. Aber das würde es heute Nacht nicht geben, und auch nicht in den kommenden Tagen. »Unsere Aufgabe ist wichtig, Teslyn.« Was hielt Aludra bloß auf, sollte sie doch zu Asche verbrennen! Der Angriff auf das Nachschublager musste bereits im Gange sein, gerade heftig genug, dass die Verteidigung der Meinung war, durchhalten zu können, bis Hilfe eintraf, heftig genug, dass sie zu dem Schluss kamen, Hilfe zu benötigen. Die anderen würden von Anfang an mit voller Kraft durchgeführt werden, um die Verteidiger zu überwältigen, bevor sie überhaupt wussten, wie ihnen geschah. »Ich will die Seanchaner bluten lassen, sie so hart und schnell und oft bluten lassen, dass sie auf unsere Aktionen reagieren, statt ihre eigenen Pläne zu machen.« Sobald die Worte aus seinem Mund waren, wünschte er, er hätte das anders ausgedrückt.

Tuon beugte sich zu Selucia herüber, und die hochgewachsene Frau senkte ihr mit einem Kopftuch verhülltes Haupt, um ein Flüstern austauschen zu können. Es war zu dunkel für ihre verfluchte Fingersprache, aber er konnte kein Wort von dem verstehen, was sie sagten. Er konnte es sich vorstellen. Sie hatte versprochen, ihn nicht zu verraten, und damit war auch gemeint gewesen, nicht zu versuchen, seine Pläne zu verraten, aber sie musste sich wünschen, von diesem Versprechen entbunden zu werden. Er hätte sie bei Reimon oder einem der anderen lassen sollen. Das wäre sicherer gewesen, als sie mitzunehmen. Das wäre auch machbar gewesen, er hätte sie bloß fesseln müssen, sie und Selucia. Und vermutlich auch Setalle. Die verdammte Frau schlug sich jedes Mal auf Tuons Seite.

Mandevwins Brauner stampfte mit dem Huf auf, und er tätschelte den Hals des Tieres mit seiner in einem Panzerhandschuh steckenden Hand. »Ihr könnt nicht abstreiten, dass es so etwas wie Schlachtenglück gibt, wenn man eine Schwäche in den gegnerischen Reihen findet, mit der man nie gerechnet hat, wenn man den Gegner gegen einen Angriff aus dem Norden aufgestellt findet, man aber aus dem Süden kommt. Das Schlachtenglück reitet auf Eurer Schulter, mein Lord. Ich habe es erlebt.«

Mat grunzte und rückte gereizt den Hut zurecht.

»Eine grüne Nachtblume«, rief ein Mann aus der Höhe.

»Zwei! Beide grün!« Ein Schaben verriet ihm, dass jemand schnell nach unten kletterte.

Mat stieß einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus. Der Raken war weg und in südlicher Richtung unterwegs. Er hatte sich darauf verlassen — die nächste große Abteilung Soldaten, die treu zu den Seanchanern standen, befand sich im Westen — und sogar gemogelt, indem er so weit nach Westen geritten war, wie er es wagte. Nur weil man davon überzeugt war, dass der Gegner auf eine gewisse Weise reagierte, bedeutete das nicht, dass er es auch tat. Reimon würde jede Minute das Nachschublager überrennen und die Verteidiger mit zehnfacher Übermacht erdrücken und dringend benötigten Proviant sicherstellen.

»Geht, Vanin«, sagte er, und der Dicke trieb seinen Falben an und ritt im Galopp in die Nacht hinein. Er konnte nicht schneller als der Raken sein, aber solange er die Botschaft rechtzeitig überbrachte… »Es ist Zeit, Mandevwin.«

Ein schlanker Bursche sprang das letzte Stück von einem niedrigen Ast herunter und hielt sorgfältig ein Fernglas fest, das er zu dem Cairhiener hochhielt.

»Aufsitzen, Londraed«, sagte Mandevwin und stopfte das Fernglas in den an seinem Sattel festgebundenen Lederzylinder. »Connl, die Männer in Viererreihen antreten lassen.«

Ein kurzer Ritt brachte sie zu einer schmalen Straße, die sich durch niedrige Hügel schlängelte und die Mat zuvor gemieden hatte. In dieser Gegend gab es nur wenige Bauernhöfe und noch weniger Dörfer, aber er wollte nicht, dass sich Gerüchte über große Gruppen bewaffneter Männer verbreiteten. Jedenfalls nicht, bevor er wollte, dass sie sich verbreiteten. Jetzt brauchte er Schnelligkeit, und heute Nacht konnten ihn die Gerüchte nicht mehr überholen. Die meisten der Bauernhäuser, an denen sie vorbeikamen, waren dunkle Umrisse im Mondlicht, wo Kerzen und Lampen bereits gelöscht waren. Das Dröhnen der Hufe und das Ächzen des Sattelleders waren abgesehen vom gelegentlichen Ruf eines Nachtvogels oder einer Eule die einzigen Laute, aber ungefähr zweitausend Pferde machten schon einen gewissen Lärm. Sie kamen durch ein kleines Dorf, in dem bloß in einer Hand voll strohgedeckter Häuser und einer winzigen Schenke Licht brannte, aber Leute steckten die Köpfe aus Türen und Fenstern und starrten in die Nacht. Zweifellos glaubten sie Soldaten zu sehen, die loyal zu den Seanchanern standen. In Altara schien es nicht mehr viele andere zu geben. Jemand jubelte, aber niemand stimmte ein.

Mat ritt an Mandevwins Seite, und Tuon und die anderen Frauen dahinter, und gelegentlich warf er einen Blick über die Schulter. Nicht um sicherzugehen, dass sie noch da war. So seltsam das auch war, er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie ihr Wort halten und nicht fliehen würde, nicht einmal jetzt. Und auch nicht, um sich zu vergewissern, dass sie mitkam. Die Rasierklinge lief mühelos, und sie war eine gute Reiterin. Pips hätte Akein nicht überholen können. Nein, er sah sie einfach nur gern an, selbst im Mondlicht. In der Nacht zuvor hatte er versucht, sie noch einmal zu küssen, und sie hatte ihn so hart in die Seite geschlagen, dass er zuerst glaubte, sie hätte ihm eine Rippe gebrochen. Aber an diesem Abend hatte sie ihn kurz vor ihrem Aufbruch erneut geküsst. Nur einmal, und als er versucht hatte, einen zweiten Kuss zu bekommen, hatte sie ihm bloß befohlen, nicht gierig zu sein. Die Frau schmolz in seinen Armen dahin, wenn er sie küsste, und verwandelte sich in dem Augenblick zurück in Eis, in dem sie zurücktrat. Was sollte er nur von ihr halten? Eine große Eule flog über ihnen hinweg, ihre Schwingen schlugen lautlos. Würde sie darin ein Omen sehen? Vermutlich.

Er hätte nicht so viel Zeit damit verbringen sollen, über sie nachzudenken, nicht heute Nacht. In Wahrheit verließ er sich bis zu einem gewissen Ausmaß auf sein Glück. Bei den dreitausend Lanzenreitern, die Vanin aufgespürt hatte, größtenteils Altaraner und ein paar Seanchaner, mochte es sich um jene handeln, die Meister Roidelle auf seiner Karte markiert hatte, oder auch nicht, obwohl sie nicht weit von der Stelle entfernt waren, die er markiert hatte, aber man konnte unmöglich mit Sicherheit sagen, in welche Richtung sie seitdem marschiert waren. Mit an Sicherheit grenzender Wahrs cheinlichkeit nach Nordosten, auf den Malvidedurchgang und die dahinter liegende Molvainekluft zu. Es hatte den Anschein, als hätten die Seanchaner die Lugardstraße nicht für Truppenbewegungen benutzt — einmal abgesehen von ihrem letzten Stück —, zweifellos, um ihre Zahl und Ziele auf den Landstraßen zu verbergen. Aber mit ziemlicher Sicherheit bedeutete nicht mit absoluter Sicherheit. Wenn sie nicht zu weit marschiert waren, war das die Straße, die sie benutzen würden, um das Nachschublager zu erreichen. Wenn. Aber falls sie weiter marschiert waren, als er erwartet hatte, benutzten sie möglicherweise eine andere Straße. Darin lag keine Gefahr; es wäre bloß eine verschwendete Nacht gewesen. Aber ihr Befehlshaber konnte sich möglicherweise auch entscheiden, den direkten Weg durch die Hügel zu nehmen. Das konnte dann hässlich werden, falls er an der falschen Stelle auf diese Straße abbog.

Etwa vier Meilen hinter dem Dorf kamen sie zu einer Stelle, an der die Straße von zwei sanft ansteigenden Hügeln gesäumt wurde, und er ließ anhalten. Meister Roidelles Karten waren gut, aber die, die er von anderen Männern hatte, waren auch das Werk von Meistern. Roidelle kaufte nur die besten. Mat erkannte die Stelle wieder, als hätte er sie schon zuvor gesehen.

Mandevwin riss das Pferd herum. »Admar, Eyndel, bringt eure Männer auf den Nordhügel. Madwin, Dongal, der Südhügel. Jeder vierte Mann hält die Pferde.«

»Bindet ihnen die Vorderbeine zusammen«, sagte Mat, »und stülpt ihnen die Futtersäcke über, damit sie nicht wiehern.« Sie traten Lanzenreitern gegenüber. Wenn alles schiefging und sie die Flucht ergreifen sollten, würden diese Lanzenreiter sie niederreiten, als würden sie Wildschweine jagen. Eine Armbrust taugte nichts auf einem Pferderücken, vor allem nicht, wenn man wegkommen wollte. Sie mussten hier an dieser Stelle siegen.

Der Cairhiener starrte ihn an, die Gesichtsstangen seines Helmes verbargen jeden Ausdruck, aber er zögerte nicht.

»Bindet ihnen die Vorderbeine zusammen und nehmt die Futtersäcke«, befahl er. »Jeder Mann in die Reihe.«

»Kommandiert ein paar dazu ab, den Norden und Süden im Auge zu behalten«, sagte Mat zu ihm. »Schlachtenglück kann sich genauso schnell gegen einen wenden.« Mandevwin nickte und gab die Befehle.

Die Armbrustmänner teilten sich in zwei Gruppen und ritten die spärlich bewaldeten Hügel hinauf; ihre dunklen Mäntel und die in mattem Grün bemalten Rüstungen verschmolzen mit den Schatten. Glänzende Rüstungen waren ja ganz nett für Paraden, aber sie konnten genauso gut das Mondlicht wie den Sonnenschein reflektieren. Talmanes zufolge hatte die Schwierigkeit darin bestanden, die Lanzenreiter davon zu überzeugen, ihre funkelnden Harnische aufzugeben, und die Adligen ihre vergoldeten. Die Fußsoldaten hatten es sofort eingesehen. Eine Zeit lang raschelte es, als Männer und Pferde sich einen Weg durch Unterholz und Büsche bahnten, aber schließlich kehrte Stille ein. Von der Straße aus hätte Mat nicht sagen können, ob sich jemand auf den Hügeln aufhielt oder nicht. Jetzt brauchte er nur noch zu warten.

Tuon und Selucia leisteten ihm Gesellschaft, genau wie Teslyn. Aus dem Westen kam plötzlich ein böiger Wind auf, der an den Umhängen zerrte, aber natürlich konnten Aes Sedai solche Dinge ignorieren. Allerdings hielt Teslyn ihren geschlossen. Selucia überließ seltsamerweise ihren Umhang der Laune des Windes, aber Tuon hielt ihren mit einer Hand fest geschlossen.

»Möglicherweise ist es zwischen den Bäumen bequemer für Euch«, sagte er zu ihr. »Sie werden den Wind abhalten.«

Einen Augenblick lang schüttelte sie sich vor lautlosem Lachen. »Ich genieße es zuzusehen, wie Ihr gemütlich auf Eurem hohen Hügel sitzt.«

Mat blinzelte. Hügel? Er saß mitten auf der verdammten Straße auf Pips, während eiskalte Böen an seinem Mantel zerrten, als würde der Winter zurückkehren. Wovon redete sie da, welcher Hügel?

»Habt Geduld mit Joline«, sagte Teslyn unvermittelt. »Sie ist in manchen Dingen… kindisch, und Ihr fasziniert sie, so wie ein Kind von einem funkelnden neuen Spielzeug fasziniert ist. Sie wird mit Euch den Bund eingehen, sobald sie sich entscheiden kann, wie sie Euch davon überzeugen kann, darin einzuwilligen. Vielleicht sogar, wenn Euch gar nicht klar wird, dass Ihr eingewilligt habt.«

Er öffnete den Mund, um ihr zu sagen, dass es da verflucht noch mal nicht die geringste Chance geben würde, aber Tuon kam ihm zuvor.

»Sie kann ihn nicht haben«, sagte sie scharf. Sie holte tief Luft und fuhr dann in amüsiertem Tonfall fort. »Spielzeug gehört mir. Bis ich keine Lust mehr habe, mit ihm zu spielen. Aber selbst dann würde ich ihn keiner Marath'damane geben. Hast du verstanden, Tessi? Sag es Rosi. Das ist der Name, den ich ihr geben werde. Das kannst du ihr auch sagen.«

Der schneidende Wind hatte Teslyn anscheinend nichts ausgemacht, aber ihren Damane-Namen zu hören ließ sie zittern. Die Aes-Sedai-Gelassenheit verschwand, als Wut ihr Gesicht verzerrte. »Was ich verstanden habe…«

»Schluss damit!«, mischte sich Mat ein. »Ihr beide. Ich habe keine Lust, mir anhören zu müssen, wie ihr euch zankt.« Teslyn starrte ihn an, ihre Entrüstung war selbst im Mondlicht deutlich zu erkennen.

»Aber Spielzeug«, sagte Tuon fröhlich. »Ihr seid ja wieder herrisch.« Sie beugte sich zu Selucia herüber und flüsterte etwas, das die vollbusige Frau laut losprusten ließ.

Er zog den Umhang enger, stützte sich auf den hohen Sattelknauf und suchte die Nacht nach Vanin ab. Frauen! Er würde auf sein ganzes Glück verzichten — na gut, das halbe —, hätte er dafür Frauen verstanden.

»Was glaubt Ihr eigentlich mit Überfällen erreichen zu können?«, fragte Teslyn, und das nicht zum ersten Mal.

»Die Seanchaner werden bloß genug Soldaten entsenden, um Euch zu jagen und zur Strecke zu bringen.« Sie und Joline hatten versucht, sich in seine Planung einzumischen, genau wie in geringerem Maße auch Edesina, bis er sie weggejagt hatte. Aes Sedai glaubten alles zu wissen, und auch wenn zumindest Joline etwas über Kriegführung Bescheid wusste, hatte er doch keine Ratschläge gebraucht. Ratschläge von Aes Sedai klangen immer verdächtig danach, dass man gesagt bekam, was man zu tun hatte. Diesmal entschied er sich dazu, ihr eine Antwort zu geben.

»Ich zähle darauf, dass sie mehr Soldaten schicken, Teslyn«, sagte er und hielt noch immer nach Vanin Ausschau.

»Tatsächlich sogar das ganze Heer, das sie in der Molvainekluft haben. Jedenfalls genug davon. Sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach eher das entsenden als ein anderes. Alles, was Thom und Juilin aufgeschnappt haben, deutet darauf hin, dass ihr großer Vorstoß auf Illian gerichtet ist. Ich glaube, das Heer in der Kluft soll ein Schutz gegen alles sein, das aus Murandy oder Andor gegen sie ziehen könnte. Aber sie sind auch für uns der Korken in der Flasche. Ich will diesen Korken herausziehen, damit wir durchkönnen.«

Nach mehreren Minuten Stille schaute er über die Schulter. Die drei Frauen saßen bloß auf ihren Pferden und betrachteten ihn. Er wünschte sich, genug Licht gehabt zu haben, um ihre Mienen sehen zu können. Warum starrten sie ihn verflucht noch mal so an? Er konzentrierte sich wieder auf die Suche nach Vanin, und doch schien er ihre Blicke im Rücken spüren zu können.

Dem Vorrücken der fetten Mondsichel nach zu urteilen vergingen ungefähr zwei Stunden, in denen der Wind langsam an Stärke zunahm. Es reichte, um aus der kühlen Nacht eine kalte zu machen. In regelmäßigen Abständen versuchte er die Frauen dazu zu bringen, zwischen den Bäumen Schutz zu suchen, aber sie weigerten sich beharrlich. Er musste bleiben, um Vanin abzupassen, ohne zu rufen — die Lanzenreiter würden dicht hinter dem Mann sein; vielleicht sogar sehr nah, wenn ihr Befehlshaber ein Narr war-, aber sie mussten das nicht. Er hatte die Vermutung, dass sich Teslyn weigerte, weil Tuon und Selucia es taten. Das machte zwar keinen Sinn, aber so war das nun einmal. Und warum sich Tuon weigerte, nun, das hätte er nicht sagen können, es sei denn, weil sie gern zuhörte, wie er sich heiser redete.

Schließlich trug der Wind die Laute eines galoppierenden Pferdes heran, und er richtete sich in seinem Sattel auf. Vanins Falbe kam aus der Nacht heraus, und wie immer bot der dicke Mann im Sattel einen seltsamen Anblick.

Vanin zügelte das Pferd und spuckte durch eine Lücke in den Zähnen. »Sie sind ungefähr eine Meile hinter mir, aber es sind etwa tausend mehr als heute Morgen. Wer auch da den Befehl hat, er kennt sich aus. Sie rücken mit aller Eile vor, ohne die Pferde zuschanden zu reiten.«

»Wenn Ihr zwei zu eins in der Minderzahl seid«, sagte Teslyn, »dann überlegt Ihr es Euch vielleicht noch…«

»Ich habe nicht die Absicht, eine Feldschlacht gegen sie zu führen«, unterbrach Mat sie. »Und ich kann es mir nicht leisten, viertausend Lanzenreiter unbehelligt zu lassen, damit sie mir später Ärger machen. Lasst uns zu Mandevwin gehen.«

Die knienden Armbrustmänner auf dem Abhang des Nordhügels machten keinen Laut, als er mit den Frauen und Vanin durch ihre Reihe ritt; sie rückten bloß zur Seite, um sie durchzulassen. Er hätte mindestens zwei Reihen bevorzugt, aber er musste eine lange Front abdecken. Die wenigen Bäume schirmten den Wind nicht besonders erfolgreich ab, und die meisten Männer hatten sich in ihre Umhänge gekauert. Dennoch war jede Armbrust, die er sehen konnte, gespannt und ein Bolzen eingelegt. Mandevwin hatte Vanin eintreffen gesehen und gewusst, was das zu bedeuten hatte.

Der Cairhiener schritt direkt hinter der Reihe auf und ab, bis Mat sich von Pips schwang. Mandevwin hörte mit Erleichterung, dass er auf der Rückseite keine Wache mehr aufstellen musste. Er nickte bloß nachdenklich, als er hörte, dass es tausend mehr Lanzenreiter gab als erwartet, und schickte einen Mann los, der die Wachtposten vom Hügelkamm holte, damit sie ihre Plätze in der Reihe einnehmen konnten. Wenn sich Mat Cauthon schon nichts deswegen anmerken ließ, dann würde er das auch nicht. Mat hatte das vergessen. Die Bande vertraute ihm bedingungslos. Einst hätte ihn das beinahe die Flucht ergreifen lassen. In dieser Nacht war er froh darüber.

Eine Eule rief zweimal, irgendwo hinter ihm, und Tuon seufzte.

»Ist das ein Omen?«, fragte er, bloß um etwas zu sagen.

»Ich bin froh, dass Ihr endlich dafür Interesse zeigt, Spielzeug. Vielleicht werde ich Euch ja doch noch etwas beibringen können.« Ihre Augen schimmerten im Mondlicht. »Eine Eule, die zweimal ruft, bedeutet, dass bald jemand stirbt.« Nun, das beendete die Unterhaltung abrupt.

Kurz darauf erschienen die Seanchaner, in Viererreihe führten sie die Pferde im Laufschritt an den Zügeln, die Lanzen in der Hand. Vanin hatte Recht gehabt, ihr Anführer verstand etwas von seiner Arbeit. Wenn man Pferde galoppieren ließ und sie dann ein Stück führte, konnten sie schnell große Distanzen zurücklegen. Narren versuchten, sie große Distanzen galoppieren zu lassen, und hatten am Ende tote oder verkrüppelte Pferde. Nur ungefähr die ersten vierzig trugen die Segmentrüstungen und seltsamen Helme der Seanchaner. Eine Schande. Mat hatte keine Ahnung, wie die Seanchaner Verluste ihrer altaranischen Verbündeten aufnehmen würden. Verluste bei den eigenen Männern würde allerdings Aufmerksamkeit erringen.

Als die Mitte der Kolonne direkt vor ihm war, brüllte eine tiefe Stimme auf der Straße plötzlich: »Banner! Halt!« Die beiden Worte hatten den vertrauten Akzent der Seanchaner. Die Männer in den Segmentrüstungen hielten zackig an. Die anderen waren da etwas weniger diszipliniert.

Mat holte tief Luft. Nun, das konnte nur das Werk von ta'veren sein. Sie hätten kaum besser Aufstellung nehmen können, hätte er den Befehl selbst gegeben. Er legte Teslyn eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte leicht zusammen, aber er musste ihre Aufmerksamkeit lautlos erlangen.

»Banner!«, rief die tiefe Stimme. »Aufsitzen!«

»Jetzt«, sagte Mat leise.

Der Fuchskopf auf seiner Brust wurde kalt, und plötzlich schwebte eine rote Lichtkugel hoch über der Straße und tauchte die Soldaten in ein unirdisches Licht. Ihnen blieben nur wenige Herzschläge, um zu starren. Ein Stück weit unter Mat schwirrten tausend Armbrustsehnen, und es klang wie ein einziges lautes Schnappen. Tausend Bolzen schössen in die Formation, durchschlugen Harnische auf diese kurze Distanz, rissen Männer von ihren Beinen, ließen Pferde sich wiehernd aufbäumen, während tausend weitere von der anderen Seite trafen. Nicht jeder Schuss traf richtig, aber das spielte bei einer schweren Armbrust kaum eine Rolle. Männer stürzten mit zerschmetterten Beinen, mit zur Hälfte abgerissenen Beinen. Männer umklammerten Armstümpfe und versuchten, das herausschießende Blut zu stoppen. Männer schrien so laut wie die Pferde.

Mat sah zu, wie ein Armbrustmann in seiner Nähe sich bückte, um die Doppelkralle der klobigen, kastenähnlichen Winde, die vorn an seinem Gürtel hing, an der Armbrustsehne zu befestigen. Als sich der Mann aufrichtete, spulte sich das Kabel aus der Winde; sobald er aufrecht stand, steckte er die Winde auf den Kolben der Armbrust, legte einen kleinen Hebel an der Seite des Kastens um und fing an, die Handgriffe zu drehen. Drei schnelle Drehungen mit einem schwirrenden Laut, und die Sehne schnappte ein.

»In die Bäume!«, rief die tiefe Stimme. »Schnappt sie euch, bevor sie nachladen können! Bewegt euch!«

Einige versuchten aufzusteigen, um reitend anzugreifen, andere ließen Zügel und Lanzen fallen, um Schwerter zu ziehen. Keiner schaffte es bis zu den Bäumen. Zweitausend weitere Bolzen regneten auf sie herab, schnitten Männer nieder, durchschlugen Männer, um hinter ihnen stehende Männer zu töten oder Pferde umstürzen zu lassen. Auf den Hügelseiten bearbeiteten Männer wie wild ihre Winden, aber das war unnötig. Auf der Straße trat hier und da noch ein Pferd mit erlahmender Kraft um sich. Die einzigen Männer, die sich noch bewegten, versuchten hektisch alles anzulegen, was sich als Aderpresse benutzen ließ, um nicht zu verbluten. Der Wind trug die Laute galoppierender Pferde heran. Einige mochten sogar Reiter haben. Die tiefe Stimme war verstummt.

»Mandevwin«, rief Mat, »wir sind hier fertig. Lasst die Männer aufsitzen. Wir haben noch an anderen Orten zu tun.«

»Ihr müsst bleiben und Hilfe anbieten«, sagte Teslyn energisch. »Das verlangen die Regeln des Krieges.«

»Das ist eine neue Art von Krieg«, sagte er grob zu ihr. Beim Licht, auf der Straße ertönte kein Laut, aber er konnte noch immer die Schreie hören. »Sie werden auf ihre eigenen Leute warten müssen, wenn sie Hilfe wollen.«

Tuon murmelte etwas. Er glaubte »Ein Löwe kann kein Mitleid haben« zu verstehen, aber das konnte nicht sein.

Er sammelte die Männer und führte sie die Nordseite des Hügels hinunter. Es bestand keine Notwendigkeit, die Uberlebenden ihre Zahl sehen zu lassen. In ein paar Stunden würden sie sich wieder mit den Männern von dem anderen Hügel vereinen, und noch ein paar Stunden später mit Carlomin. Vor Sonnenaufgang würden sie die Seanchaner erneut treffen. Er würde dafür sorgen, dass sie rannten, damit sie für ihn diesen verdammten Korken herauszogen.

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