29 Der letzte Knoten

Perrin stand direkt unterhalb des Hügelkamms, am Rand des Nebels, und musterte das Lager und die von der Mauer eingeschlossene Stadt in der Tiefe. Zweihundert Schritte den ziemlich steilen Abhang hinunter, der bis zur Ebene spärlich mit niedrigen Büschen bewachsen war, vielleicht siebenhundert weitere Schritte gerodeten Bodens bis zu den ersten Zelten, dann etwas mehr als eine Meile bis zur Stadt. Sie erschien jetzt so nahe. Er benutzte das Fernglas nicht. Ein Lichtreflex durch die Sonne, die gerade über den Horizont spähte, ein fingernagelgroßer goldenroter Schimmer, das konnte alles ruinieren. Die graue Masse um ihn herum war in Bewegung, bewegte sich aber dennoch nicht mit dem Wind, obwohl er wehte und mit seinem Umhang spielte. Der dichte Nebel auf dem anderen Hügel, der die Windmühle unkenntlich machte, schien ebenfalls unbeweglich zu sein, wenn man ihn eine Weile musterte. Wie lange würde es dauern, bevor das jemandem bei den Zelten auffiel? Man konnte nichts daran ändern. Der Nebel fühlte sich wie ganz normaler Nebel an, feucht und leicht kühl, aber irgendwie hatte Neald diese Nebelbänke an Ort und Stelle verankert, bevor er sich um seine anderen Aufgaben kümmerte. Die Sonne würde sie nicht einmal zur Mittagszeit fortbrennen, das hatte der Asha'man zumindest behauptet. Am Mittag würde alles erledigt sein, so oder so, aber Perrin hoffte, dass der Mann Recht behielt. Der Himmel war klar. Für den Frühlingsanfang schien es ein warmer Tag zu werden.

Nur wenige Shaido schienen sich außerhalb des Lagers aufzuhalten, relativ gesehen, aber zwischen den Zelten eilten Tausende weiß gekleideter Gestalten umher. Zehntausende. Seine Augen schmerzten, weil er Faile unter ihnen finden wollte, sein Herz schmerzte, so sehr wollte er sie wiedersehen, aber genauso gut hätte er versuchen können, in auf dem Boden verschütteter Gerste ein bestimmtes Korn zu finden. Stattdessen starrte er auf die Stadttore, die weit offen standen, so wie immer, wenn er sie betrachtet hatte. Einladend offen. Sie riefen ihn. Bald würden Faile und ihre Gefährtinnen wissen, dass die Zeit gekommen war, zu diesen Toren zu eilen und weiter zu der turmbewehrten Festung, die sich am Nordende der Stadt erhob. Möglicherweise ging sie ihren Pflichten nach, aber wenn die Töchter Recht hatten, wie man die Gefangenen als Gai'schain behandeln würde, würde sie schon wissen, wie sie sich verdrücken konnte, und in die Festung gehen. Sie und ihre Freunde und Alyse vermutlich auch. Was auch immer sie bei den Shaido für einen Plan verfolgte, die Aes Sedai würde nicht auf einem Schlachtfeld bleiben wollen. Eine zweite Schwester in der Festung würde möglicherweise ganz nützlich sein. Sollte das Licht dafür sorgen, dass es nicht so weit kam.

Er hatte sorgfältig für jede Eventualität geplant, die ihm eingefallen war, einschließlich einem völligen Fehlschlag, aber das hier war kein Rätselspiel, sosehr er sich das auch wünschte. Die in sich verdrehten Stücke eines schmiedeeisernen Geschicklichkeitsspiels konnte man nur auf eine bestimmte Weise bewegen. Tat man es auf die richtige Weise, lösten sich die Teile voneinander. Menschen konnten auf tausend verschiedene Arten reagieren, manchmal auf eine Weise, die man für unmöglich hielt, bis sie es taten. Würden seine Pläne standhalten, wenn die Shaido etwas Unerwartetes taten? Das würden sie tun, bestimmt sogar, und er konnte nur hoffen, dass es nicht in diese Katastrophe führte. Mit einem letzten, verlangenden Blick auf Maldens Tore wandte er sich ab und schritt den Hügel wieder hinauf.

Im Nebel konnte er keine zehn Schritte weit sehen, aber bald fand er Dannil Lewin zwischen den Bäumen auf dem Kamm. So schlank, dass man ihn fast schon als dürr bezeichnen konnte, mit einer Nase wie eine Spitzhacke und einem dicken Schnurrbart nach tarabonischer Mode, stach Dannil unter anderen auch dann hervor, wenn man sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte. Die anderen Männer von den Zwei Flüssen waren nur Umrisse hinter ihm und wurden mit wachsender Entfernung undeutlicher. Die meisten hockten auf den Fersen oder saßen auf dem Boden, ruhten sich aus, solange noch Gelegenheit dazu war. Jori Congar versuchte ein paar der anderen zu einer Würfelpartie zu überreden, aber er tat es leise, also ignorierte Perrin es. Es ging sowieso niemand auf den Vorschlag ein. Jori hatte mit seinen Würfeln ungewöhnlich viel Glück.

Dannil machte einen Kratzfuß, als er Perrin sah, und murm elte: »Mein Lord.« Der Mann hatte zu viel Zeit mit Failes Gefolge verbracht. Er nannte es ›den letzten Schliff bekommene, was auch immer das bedeuten sollte. Ein Mann war doch kein Messer.

»Sorgt dafür, dass niemand etwas so Dummes tut, wie ich es gerade getan habe, Dannil. Scharfe Augen unten könnten Bewegungen am Rand des Nebels entdecken und einen Spähtrupp ausschicken.«

Dannil hustete diskret in die Hand. Beim Licht, er wurde noch so schlimm wie diese Cairhiener und Tairener. »Wie Ihr befehlt, mein Lord. Ich halte jeden zurück.«

»Mein Lord?«, sagte Balwers trockene Stimme aus dem Nebel. »Ah, da seid Ihr ja, mein Lord.« Der dürre Mann erschien, gefolgt von zwei größeren Umrissen, obwohl der eine davon nicht viel größer war. Sie blieben nach einem Zeichen von ihm stehen, unkenntliche Gestalten im Nebel, und er ging allein weiter. »Masema ist unten aufgetaucht, mein Lord«, sagte er leise und faltete die Hände. »Ich hielt es unter diesen Umständen für das Beste, Haviar und Nerion außer seiner und der Sicht seiner Männer zu halten. Ich glaube nicht, dass er ihnen misstraut. Ich glaube, er hat jeden umbringen lassen, dem er misstraut. Aber aus den Augen, aus dem Sinn, das ist hier das Beste.«

Perrin biss die Zähne zusammen. Masema sollte mit seinem Heer jenseits des Osthügels sein — wenn man es so bezeichnen wollte. Er hatte diese Männer und die paar Frauen gezählt, während sie voller Unbehagen durch die von den beiden Asha'man erzeugten Wegetore geschlurft waren, und er war auf zwanzigtausend gekommen. Masema war immer vage geblieben, was ihre Zahl anging, und Perrin hatte erst vergangene Nacht eine genaue Zählung erhalten. Zerlumpt und dreckig trugen nur einige wenige einen Helm oder gar einen Brustharnisch, aber jede Hand hatte Schwert oder Speer oder Axt gehalten, Hellebarde oder Armbrust, die Frauen eingeschlossen. Die Frauen unter Masemas Anhängern waren viel schlimmer als die Männer, und das sagte schon etwas aus. Sie waren größtenteils nur dazu zu gebrauchen, Leute solange einzuschüchtern, bis sie dem Wiedergeborenen Drachen die Treue schworen — die Farben wirbelten in Perrins Kopf und wurden von seinem Zorn zerfetzt —, und sie zu erschlagen, wenn sie sich weigerten. Heute dienten sie einem besseren Zweck. »Vielleicht ist für Haviar und Nerion der Zeitpunkt gekommen, sich für immer von Masemas Leuten fernzuhalten«, sagte er.

»Wenn Ihr das wünscht, mein Lord, aber meiner Einschätzung nach sind sie dort noch immer so sicher, wie es ein Mann sein kann, der das tut, was sie tun, und sie sind eifrig.« Balwer legte den Kopf schief, ein neugieriger Spatz auf dem Ast. »Sie sind nicht korrumpiert worden, wenn es das ist, was Ihr fürchtet, mein Lord. Die Gefahr besteht immer, wenn man einen Mann losschickt, der etwas vorgeben soll, was er nicht ist, aber ich habe eine empfindliche Nase für so etwas.«

»Haltet sie in der Nähe, Balwer.« Mit etwas Glück würde nach dem heutigen Tag nicht mehr viel von Masemas Heer übrig sein, was sich auszuspionieren lohnte. Möglicherweise würde es nicht einmal mehr einen Masema geben, um den man sich sorgen musste.

Perrin eilte den bewachsenen Abhang auf der anderen Seite hinunter, vorbei an den Mayenern und Ghealdanern, die dort im dichten Nebel neben ihren Pferden warteten, die wimpelbewehrten Lanzen auf die Schultern gelegt oder ihre Stahlspitzen in den Boden gerammt. Die rot lackierten Helme und Harnische der Geflügelten Wachen hätten auf dem Hügelkamm vermutlich keine Gefahr dargestellt, aber das galt nicht für die glänzenden Rüstungen der Ghealdaner, und da sich sowohl bei Gallenne wie auch Arganda die Nackenhaare sträubten, wenn einer von ihnen vorgezogen wurde, warteten beide hier. Der Nebel erstreckte sich über eine weite Strecke — Neald hatte behauptet, dies sei Absicht, aber er hatte überrascht gerochen und erfreut, als ihm klar geworden war, was er da geschafft hatte —, also schritt Perrin noch immer durch das Grau, als er den Ansatz des Hügels erreichte, wo sämtliche der hochrädrigen Karren mit angeschirrten Pferden in einer Reihe standen. Zwischen ihnen bewegten sich undeutlich die cairhienischen Kutscher, überprüften Geschirre, zogen die Schnüre fester, die die Segeltuchplanen hielten.

Masema wartete, und Perrin hätte nichts lieber getan, als dem Mann den Arm abzubeißen, aber er entdeckte die stämmige Gestalt von Basel Gill neben einem der Karren und ging in die Richtung. Lini war bei ihm, in einen dunklen Umhang gehüllt, und Breane, die einen Arm um Lamgwins Taille gelegt hatte, Perrins riesigen Leibdiener. Meister Gill riss den breitkrempigen Hut herunter, um sein dünnes, ergrauendes Haar zu enthüllen, das er über eine kahle Stelle gekämmt hatte, die es aber nicht verbergen konnte. Lini schnaubte bloß und mied es ostentativ, in Perrins Richtung zu sehen, während sie so tat, als würde sie ihre Kapuze richten. Sie roch nach Wut und Angst. Meister Gill roch nur nach Angst.

»Meister Gill, es ist Zeit, dass Ihr nach Norden aufbrecht«, sagte Perrin. »Wenn Ihr die Berge erreicht, folgt Ihr ihrem Verlauf bis zur Jehannahstraße. Mit Glück holen wir Euch ein, bevor Ihr die Berge erreicht, aber wenn nicht, schickt Ihr Alliandres Dienerschaft nach Jehannah, dann fahrt Ihr nach Osten durch den Pass und dann wieder nach Norden. Wir werden so nahe hinter Euch sein, wie es geht.« Wenn sein Plan nicht zu sehr scheiterte. Beim Licht, er war Schmied, kein Soldat. Aber selbst Tylee hatte schließlich zugegeben, dass es ein guter Plan war.

»Ich werde diesen Platz nicht verlassen, bevor ich weiß, dass Maighdin in Sicherheit ist«, sagte Lini dem Nebel; ihre dünne Stimme war wie ein Schilfrohr, aber eines aus Stahl.

»Und natürlich die Lady Faile.«

Meister Gill rieb sich über den Kopf. »Mein Lord, Lamgwin und ich, wir dachten daran, dass wir vielleicht helfen könnten. Die Lady Faile bedeutet uns sehr viel, und Maighdin… Maighdin ist eine von uns. Ich kann das eine Ende eines Schwerts vom anderen unterscheiden, und Lamgwin auch.« Er hatte eine Klinge um seine Massen geschnallt, doch Perrin würde den ganzen Gürtel fressen, wenn er sie in den vergangenen zwanzig Jahren geschwungen hatte. Breanes Griff um Lamgwin wurde fester, aber der große Mann tätschelte ihre Schulter und legte die andere Hand auf den Griff eines Kurzschwerts. Nebelschwaden verhüllten kurz sein narbiges Gesicht und die wulstigen Fingerknöchel. Er war ein Schenkenschläger, wenn auch trotzdem ein guter Mann, aber er war kein Schwertkämpfer.

»Ihr seid mein Shambayan, Meister Gill«, sagte Perrin fest. »Es ist Eure Pflicht, die Kutscher und Pferdeknechte und Diener in Sicherheit zu bringen. Eure und Lamgwins. Jetzt geht und kümmert Euch darum.« Der stämmige Mann nickte zögerlich. Breane stieß einen verhaltenen Seufzer der Erleichterung aus, als Lamgwin gehorsam die Knöchel an die Stirn führte. Perrin bezweifelte, dass der Mann den Seufzer gehört hatte, allerdings legte er den Arm um sie und murmelte tröstende Worte.

Lini war nicht so gehorsam. Den Rücken so steif wie ein Stock, sprach sie wieder den Nebel an. »Ich werde diesen Platz nicht verlassen, bevor ich weiß…«

Perrin klatschte laut in die Hände, und sie zuckte zusammen und sah ihn überrascht an. »Hier werdet Ihr Euch nur einen Schüttelfrost holen, weil Ihr im Feuchten steht. Das und sterben, falls die Shaido unsere Linien durchbrechen. Ich werde Faile dort rausholen. Ich werde Maighdin und die anderen dort rausholen.« Das würde er oder bei dem Versuch sterben. Aber es gab keinen Grund, das zu sagen. Sie mussten bis ins Mark daran glauben, dass er mit Faile und dem Rest nachkam. »Und Ihr geht nach Norden, Lini. Faile wird böse auf mich sein, wenn ich zulasse, dass Euch etwas zustößt. Meister Gill, sorgt dafür, dass sie mit Euch fährt, und wenn Ihr sie fesseln und hinten auf den Wagen laden müsst.«

Meister Gill zuckte zusammen, zerknautschte den Hut zwischen den Händen. Plötzlich roch er alarmiert, und Lini empört. In Lamgwins Geruch trat Heiterkeit, und er rieb sich die Nase, als wollte er ein Lächeln verbergen, aber seltsamerweise war auch Breane empört. Nun, er hatte noch nie behauptet, Frauen zu verstehen. Wenn er nicht einmal die Frau verstehen konnte, die er geheiratet hatte — was die Hälfte der Zeit so war-, dann war es unwahrscheinlich, dass er den Rest von ihnen jemals verstehen würde.

Am Ende stieg Lini neben den Kutscher, ohne gezwungen werden zu müssen, auch wenn sie Meister Gills Hand wegschlug, als er ihr helfen wollte, und die Karrenreihe setzte sich langsam nach Norden in Bewegung. Hinter einem der Karren marschierte eine mit den Zelten und Besitztümern der Weisen Frauen beladene Gruppe Gai'schain, die selbst jetzt sanftmütig waren, Frauen und Männer, die mit hochgeschlagenen Kapuzen und gesenkten Blicken daherschritten. Es waren vor Cairhien gefangene Shaido, und in wenigen Monaten würden sie das Weiß ausziehen und zu ihrem Clan zurückkehren. Perrin ließ sie trotz der Versicherungen der Weisen Frauen, dass sie sich an das Ji'e'toh halten würden, diskret überwachen, aber anscheinend behielten die Weisen Frauen Recht. Es waren noch immer siebzehn. Kein er hatte versucht wegzulaufen und die Shaido jenseits des Hügels zu warnen. Die Karrenachsen waren großzügig geschmiert worden, aber für seine Ohren quietschten sie immer noch. Mit etwas Glück würden er und Faile sie kurz vor den Bergen einholen.

Als ihn die Reihen der Ersatzpferde passierten, geführt von berittenen Pferdeknechten, erschien eine Tochter aus dem Nebel zwischen den Karren. Langsam schälten sich die Konturen von Sulin heraus, die die Shoufa um den Hals trug, um ihr kurzes weißes Haar zu enthüllen, und deren schwarzer Schleier auf ihrer Brust hing. Ein frischer Kratzer auf der linken Wange würde ihrem Gesicht eine weitere Narbe hinzufügen, solange sie nicht von einer der Schwestern das Angebot zum Heilen annehmen würde. Vermutlich würde sie es nicht tun. Die Töchter schienen den Lehrlingen der Weisen Frauen eine merkwürdige Einstellung entgegenzubringen, vielleicht lag es auch einfach daran, dass die Lehrlinge Aes Sedai waren. Sie betrachteten selbst Annoura als Lehrling, obwohl sie keiner war.

»Die Shaido-Wachtposten im Norden sind tot, Perrin Aybara«, sagte sie. »Und die Männer, die sie ablösen sollten. Für Shaido haben sie gut getanzt.«

»Verluste?«, fragte er leise.

»Elienda und Briain sind aus dem Traum erwacht.« Sie hätte genauso gut vom Wetter sprechen können statt vom Tod zweier Frauen, die sie kannte. »Wir alle müssen irgendwann aufwachen. Wir mussten Aviellin die letzten beiden Meilen tragen. Sie wird eine Heilung brauchen.« Aha. Sie würde es also akzeptieren.

»Ich werde Euch eine der Aes Sedai überlassen«, sagte er und schaute sich um. Abgesehen von der Reihe aus Pferden, die ihn passierte, konnte er nichts sehen. »Sobald ich eine finden kann.«

Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da hatten sie ihn auch schon gefunden. Annoura und Masuri traten aus dem Nebel und führten ihre Pferde mit Berelain und Masema, dessen kahl geschorener Kopf feucht funkelte. Selbst im Nebel konnte man den abgetragenen Mantel des Mannes nicht übersehen, genauso wenig wie die schäbigen Flicken auf den Schultern. Von dem Gold, das seine Anhänger plünderten, blieb nichts bei ihm hängen. Das ging alles an die Armen. Das war das einzige Gute, das sich über Masema sagen ließ. Andererseits waren einige der Armen, die das Gold ernährte, nur verarmt, weil Masemas Leute ihre Besitztümer gestohlen und ihre Läden oder Höfe niedergebrannt hatten. Aus irgendeinem Grund trug Berelain heute Morgen das Diadem der Ersten von Mayene, den goldenen fliegenden Falken, obwohl ihr Reitgewand und Umhang einfach dunkelgrau waren. Der Geruch unter dem schlichten blumigen Parfüm kündete von Geduld und Nervosität, eine seltsame Mischung. Die sechs Weisen Frauen begleiteten sie; die dunklen Schultertücher über die Arme drapiert, hielten die zusammengefalteten Tücher um ihre Schläfen das lange Haar zurück. Mit all den Ketten und Armreifen aus Gold und Elfenbein ließen sie Berelain ausnahmsweise schlicht gekleidet aussehen. Auch Aram war bei ihnen, der Wolfskopfknauf seines Schwerts ragte über die rot gestreifte Schulter, und der Nebel konnte nicht die Abwesenheit seiner üblichen finsteren Miene verbergen. Der Mann schien fast in einem Licht zu baden, das Masema ausstrahlte. Perrin fragte sich, ob er Aram nicht besser zusammen mit den Karren hätte wegschicken sollen. Aber selbst wenn, bestimmt hätte sich Aram zurückgeschlichen, sobald er außer Sichtweite war. Davon war Perrin überzeugt.

Er erklärte den beiden Aes Sedai die Sache mit Aviellin, aber als Masuri sagte, sie würde sich darum kümmern, hielt die hellblonde Edarra eine Hand hoch, was die schlanke Braune wie angewurzelt stehen bleiben ließ. Annoura bewegte sich unbehaglich. Sie war kein Lehrling, und Seonids und Masuris Beziehung zu den Weisen Frauen gefiel ihr nicht. Sie versuchten sie ebenfalls mit einzubeziehen, und manchmal hatten sie Erfolg damit.

»Janina wird sich darum kümmern«, sagte Edarra. »Sie ist darin geschickter als Ihr, Masuri Sokawa.«

Masuri presste die Lippen zusammen, schwieg aber. Die Weisen Frauen waren durchaus dazu fähig, eine Schülerin zu prügeln, weil sie zum falschen Zeitpunkt den Mund aufmachte, selbst wenn sie Aes Sedai war. Sulin führte Janina, eine flachshaarige Frau, die anscheinend durch nichts zu erschüttern war, in den Nebel. Janina schritt trotz ihrer ausladenden Röcke genauso schnell wie Sulin aus. Also hatten die Weisen Frauen das Heilen gelernt, oder? Das konnte später vielleicht noch nützlich sein; mochte das Licht dafür sorgen, dass es nicht oft benötigt wurde.

Masema sah zu, wie die beiden im Nebel verschwanden, und grunzte. Die dichten Schwaden verbargen den verzehrenden Blick seiner tief liegenden Augen und machten die dreieckige Narbe auf seiner Wange so gut wie unkenntlich, aber sein Geruch stach hart und scharf wie eine frisch abgezogene Rasierklinge und zugleich vor Wahnsinn zuckend in Perrins Nase. Manchmal glaubte er, der Gestank des Irrsinns müsste seine Nase bluten lassen.

»Schlimm genug, dass Ihr diese blasphemischen Frauen benutzt, die das tun, was allein der Lord Drache, gesegnet sei sein Name, tun darf«, sagte Masema. In seiner Stimme lag die Leidenschaft, die der Nebel in seinen Augen verbarg.

Die in Perrins Kopf wirbelnden Farben verwandelten sich in das kurze Bild von Rand und Min und einem hochgewachsenen Mann im schwarzen Mantel, einem Asha'man, und ein Schock durchzuckte ihn. Rands linke Hand war verschwunden! Egal. Was geschehen war, war geschehen. Und heute musste er sich um andere Dinge kümmern.

»… aber wenn sie sich im Heilen auskennen«, fuhr Masema fort, »wird es viel schwerer sein, die Wilden zu töten. Eine Schande, dass Ihr die Seanchaner nicht alle von ihnen an die Leine legen lasst.«

Sein Seitenblick zu Annoura und Masuri besagte, dass er sie mit einschloss, obwohl beide ihn mehr als nur einmal insg eheim besucht hatten. Sie betrachteten ihn mit der Ruhe von Aes Sedai, aber Masuris schlanke Hände bewegten sich einmal, um ihre braunen Röcke zu glätten. Sie hatte behauptet, ihre Meinung geändert zu haben und nun zu glauben, dass der Mann getötet werden musste, aber warum traf sie sich dann mit ihm? Warum tat es Annoura? Warum empfing Masema sie? Er hasste Aes Sedai. Vermutlich konnte man jetzt, da Haviar und Nerion keinen Schutz mehr brauchten, Antworten finden.

Die Weisen Frauen hinter Masema regten sich. Die flammenhaarige Carelle, die aussah, als wäre sie aufbrausend, obwohl sie es nicht war, strich tatsächlich über den Messergriff, und Nevarin, die Nynaeve Unterricht im Aufbrausen hätte geben können, schloss die Finger um den ihren. Masema hätte die Blicke spüren müssen, die sich in seinen Rücken bohrten, aber sein Geruch veränderte sich nicht. Er mochte verrückt sein, aber feige war er nicht.

»Ihr wolltet mit Lord Perrin sprechen, mein Lord Prophet«, sagte Berelain sanft, aber Perrin konnte die Anstrengung riechen, die sie ihr Lächeln kostete.

Masema starrte sie an. »Ich bin bloß der Prophet des Lord Drachen, kein Lord. Der Lord Drache ist nun der einzige Lord. Sein Kommen hat alle Bande zerbrochen und alle Titel zerstört. Könige und Königinnen, Lords und Ladys sind nur Staub unter seinen Füßen.«

Die wirbelnden Farben drohten wieder, aber Perrin zerq uetschte sie. »Was macht Ihr hier?«, wollte er wissen. Es war unmöglich, die Augenblicke mit Masema angenehmer zu machen. Der Mann war so hart wie eine gute Feile. »Ihr solltet bei Euren Männern sein. Ihr riskiert, gesehen zu werden, wenn Ihr herkommt, und Ihr riskiert es bei Eurer Rückkehr erneut. Ich vertraue Euren Leuten nicht, fünf Minuten durchzuhalten, ohne dass Ihr ihnen den Rücken stärkt. Sie werden abhauen, sobald sie die Shaido auf sich zukommen sehen.«

»Das sind nicht meine Leute, Aybara. Es sind die Leute des Lord Drachen.« Beim Licht, in Masemas Nähe zu sein bedeut ete, die Farben alle paar Minuten unterdrücken zu müssen!

»Ich habe Nengar den Befehl übergeben. Er hat in mehr Schlachten gekämpft, als Ihr Euch träumen lasst. Die Wilden eingeschlossen. Außerdem habe ich den Frauen den Befehl gegeben, jeden Mann zu töten, der fliehen will, und ich habe allgemein bekannt gemacht, dass ich jeden jage, der den Frauen entkommt. Sie werden bis zum letzten Mann ausharren, Aybara.«

»Ihr klingt, als würdet Ihr nicht zurückgehen«, sagte Perrin.

»Ich beabsichtige, in Eurer Nähe zu bleiben.« Nebel mochte die Hitze in Masemas Augen verbergen, aber Perrin konnte sie fühlen. »Es wäre doch eine Schande, wenn Euch in dem Moment, in dem Ihr Eure Frau zurückerobert, ein Unglück befallen sollte.«

Und so hatte sich bereits ein kleiner Teil seines Planes aufg elöst. Eigentlich eher eine Hoffnung als der Teil des Planes. Wenn alles andere gut funktionierte, würden sich die Shaido, die fliehen konnten, einen Weg durch Masemas Leute bahnen, ohne auch nur einen Schritt langsamer zu werden, aber statt einen Speer durch die Rippen zu bekommen, würde Masema… ihn im Auge behalten. Zweifellos war die Leibwache des Mannes nicht weit entfernt, etwa zweihundert Schurken, die besser beritten und bewaffnet als der Rest seines Heeres waren. Perrin sah Berelain nicht an, aber die Sorge in ihrem Geruch war stärker geworden. Masema hatte seine Gründe, sie beide tot sehen zu wollen. Er würde Gallenne einen Wink geben, dass seine Hauptaufgabe heute darin bestand, Berelain vor Masemas Männern zu beschützen. Und er würde auf seinen eigenen Rücken aufpassen müssen.

Ein Stück weiter im Nebel entfernt blitzte es kurz blausilbern auf, und er runzelte die Stirn. Für Grady war es zu früh. Zwei Gestalten schälten sich aus dem Nebel. Die eine war Neald, der ausnahmsweise einmal nicht stolzierte. Tatsächlich stolperte er. Er sah müde aus. Sollte er doch zu Asche verbrennen, warum verschwendete er auf diese Weise seine Kraft? Der andere war ein junger Seanchaner in lackierter Rüstung mit einer einzigen dünnen Feder auf dem seltsamen Helm, den er unter dem Arm trug. Perrin erkannte ihn. Es war Gueye Arabah, ein Leutnant, von dem Tylee viel hielt. Die beiden Aes Sedai rafften die Röcke, als wollten sie verhindern, dass er sie berührte, obwohl er nicht einmal in ihre Nähe kam. Er wiederum kam aus dem Tritt, als er nahe genug war, um ihre Gesichter zu erkennen, und Perrin hörte, wie er schwer schluckte. Plötzlich roch er nervös.

Arabahs Verbeugung schloss Perrin und Berelain ein, und er sah Masema mit einem leichten Stirnrunzeln an, als würde er sich fragen, was solch ein zerlumpter Kerl in ihrer Gesellschaft tat. Masema grinste höhnisch, und die freie Hand des Seanchaners glitt auf seinen Schwertgriff zu, bevor er damit innehielt. Seanchaner schienen empfindliche Leute zu sein. Aber Arabah verschwendete keine Zeit. »Eine Empfehlung von Bannergeneralin Khirgan, mein Lord, meine Erste Lady. Morat'raken berichten, dass diese Aielbanden schneller als erwartet reisen. Sie werden irgendwann heute eintreffen, möglicherweise schon gegen Mittag. Die Gruppe aus dem Westen umfasst etwa fünfundzwanzig oder dreißigtausend, die aus dem Osten ist ein Drittel größer. Etwa die Hälfte von ihnen trägt Weiß, aber das sind immer noch eine Menge Speere, die Ihr hinter Euch habt. Die Bannergeneralin möchte wissen, ob Ihr Veränderungen im Aufmarschplan besprechen wollt. Sie schlägt vor, ein paar tausend altaranische Lanzenreiter zu Euch abzukommandieren.«

Perrin schnitt eine Grimasse. Bei jeder dieser Gruppen würden mindestens drei oder viertausend Algai'd'siswai sein. Eine Menge Speere, um sie im Rücken zu haben. Neald gähnte. »Wie geht es Euch, Neald?«

»Oh, ich bin bereit zu tun, was getan werden muss, mein Lord«, sagte der Mann mit nur einer Spur seiner üblichen Eleganz.

Perrin schüttelte den Kopf. Man konnte den Asha'man nicht ein Tor mehr machen lassen als nötig. Er betete, dass ihnen am Ende nicht gerade dieses eine Tor fehlte. »Wir werd en hier gegen Mittag fertig sein. Sagt der Bannergeneralin, wir gehen wie geplant vor.« Und beten, dass nichts anderes schiefgeht. Das sagte er allerdings nicht laut.

Draußen im Nebel heulten Wölfe, ein unheimlicher Laut, der um ganz Maiden herum erscholl. Es hatte wahrhaftig angefangen.

»Ihr macht das großartig, Maighdin«, krächzte Faile. Ihr war leicht schwindelig, ihr Hals ganz trocken davon, die Frau zu unterstützen. Jeder hatte einen trockenen Hals. Dem Einfall des durch die Lücken in der Decke eindringenden Lichts nach zu urteilen, war der Vormittag zur Hälfte vergangen, und sie hatten den größten Teil der Zeit mit Reden verbracht. Sie hatten versucht, sich bei den unversehrten Fässern zu bedienen, aber der darin enthaltene Wein war zu verdorben, um selbst die Lippen damit befeuchten zu können. Jetzt wechselten sie sich mit dem Zuspruch ab. Sie saß neben ihrer hellblonden Dienerin, während die anderen an der Wand saßen, so weit entfernt von dem Trümmergewirr aus Balken und Dielen, wie sie nur konnten. »Ihr werdet uns retten, Maighdin.«

Uber ihnen war das rote Tuch so gerade eben durch einen schmalen Spalt in dem Trümmerhaufen zu sehen. Es hing jetzt schon einige Zeit lang schlaff herunter, solange der Wind nicht wehte. Maighdin starrte es gebannt an. Ihr schmutziges Gesicht war schweißbedeckt, und sie atmete, als wäre sie gelaufen. Plötzlich schnellte das Tuch starr nach oben und fing an zu pendeln, einmal, zweimal, dreimal. Dann ergriff es der Wind und ließ es flattern, und es sackte herunter. Maighdin starrte es weiterhin an.

»Das war wunderbar«, sagte Faile heiser. Ihre Dienerin wurde müde. Zwischen jedem Erfolg verging immer mehr Zeit, und die Erfolge hielten immer kürzer an. »Es war…«

Da erschien ein Gesicht neben dem Tuch, eine Hand packte den roten Stoff. Einen Augenblick lang hielt sie es für eine Einbildung. Aravines Gesicht, das von ihrer weißen Kapuze eingerahmt wurde.

»Ich sehe sie!«, sagte die Frau aufgeregt. »Ich sehe die Lady Faile und Maighdin! Sie leben!« Stimmen jubelten und verstummten schnell wieder.

Maighdin schwankte, als würde sie gleich umkippen, aber ein wunderschönes Lächeln ließ sie strahlen. Faile hörte ein Weinen hinter ihr, und sie wollte selbst vor Freude weinen. Freunde hatten sie gefunden, nicht die Shaido. Möglicherweise war ihre Flucht noch nicht vorbei.

Sie erhob sich mühsam und ging näher an den schiefen Trümmerhaufen heran. Sie versuchte Feuchtigkeit in ihrem Mund zu erzeugen. »Wir leben alle«, schaffte sie heiser hervorzustoßen. »Wie, beim Licht, habt ihr uns gefunden?«

»Es war Theril, meine Lady«, erwiderte Aravine. »Der Schurke ist Euch trotz Eurer Befehle gefolgt, und das Licht segne ihn dafür. Er sah Galina gehen und das Haus einstürzen, und er hielt euch alle für tot. Er setzte sich und weinte.« Eine Stimme protestierte in rauem amadicianischem Akzent, und Aravine drehte kurz den Kopf. »Ich weiß, wenn jemand geweint hat, Junge. Sei froh, dass du zu weinen aufgehört hast. Als er sah, wie sich das Tuch bewegte, meine Lady, rannte er Hilfe holen.«

»Sagt ihm, dass Tränen keine Schande sind«, erwiderte Faile. »Sagt ihm, dass ich meinen Mann habe weinen gesehen, wenn es angebracht war.«

»Meine Lady«, begann Aravine zögernd, »er sagt, Galina hat ein Stück Holz herausgezogen, als sie heraustrat. Es war wie ein Hebel, sagt er. Sie hat das Haus einstürzen lassen, sagt er.«

»Warum sollte sie so etwas tun?«, wollte Alliandre wiss en. Sie hatte Maighdin auf die Füße geholfen und stützte sie beinahe, um Faile zu erreichen. Lacile und Arrela gesellten sich zu ihnen, waren abwechselnd am Lachen und Weinen. Alliandres Miene war so finster wie eine Gewitterwolke.

Faile verzog das Gesicht. Wie oft in den vergangenen paar Stunden hatte sie sich gewünscht, diesen Schlag zurücknehmen zu können. Galina hatte es versprochen^. Konnte die Frau eine Schwarze Ajah sein? »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich werde es ihr heimzahlen, so oder so.« Das Wie war eine andere Sache. Schließlich wa r Galina Aes Sedai. »Aravine, wie viele Leute habt Ihr mitgebracht? Könnt Ihr…«

Große Hände nahmen Aravine bei den Schultern und schoben sie beiseite. »Genug geredet.« Rolans Gesicht erschien in dem Spalt, die Sho ufa um den Hals und den Schleier auf der Brust. Rolan! »Wir können nichts wegräumen, solange du da stehst, Faile Bashere. Das könnte einstürzen, wenn wir anfangen. Geh ans andere Ende und drück dich gegen die Wand.«

»Was tut Ihr hier?«, wollte sie wissen.

Der Mann kicherte. Er kicherte! »Du trägst noch immer Weiß, Frau. Tu, was man dir sagt, oder ich versohle dir ordentlich den Hintern, wenn ich dich da raushabe. Und dann werden wir deine Tränen vielleicht mit einem Kussspiel lindern.«

Sie zeigte ihm die Zähne, hoffte, er hielt es nicht für ein Grinsen. Aber er hatte Recht, dass sie weggehen mussten, also führte sie ihre Gefährtinnen über den mit Trümmern übersäten Steinboden an das andere Ende des Kellers, wo sie sich gegen die Wand drückten. Sie konnte draußen Stimmengemurmel hören, vermutlich diskutierten sie darüber, wie sie einen Weg freiräumen konnten, ohne den Rest des Hauses über ihren Köpfen einstürzen zu lassen.

»Das alles für nichts und wieder nichts«, sagte Alliandre bitter. »Was glaubt Ihr, wie viele Shaido sind da oben?«

Holz ächzte laut, der Trümmerhaufen ruckte ein Stück weiter nach unten. Die Stimmen ertönten erneut.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Faile, »aber es müssen alles Mera'din sein, keine Shaido.« Die Shaido gaben sich nicht mit den Bruderlosen ab. »Das könnte uns helfen.« Sicherlich würde Rolan sie gehen lassen, sobald er von Dairaine erfuhr. Natürlich würde er das. Und wenn er stur blieb… In diesem Fall würde sie tun, was auch immer nötig war, um ihn zu überzeugen. Perrin würde es nie erfahren.

Wieder schabte Holz gegen Holz, und wieder ruckte der Haufen aus verbrannten Balken und Dielenbrettern ein Stück in die Tiefe.

Der Nebel verbarg die Sonne, aber Perrin schätzte, dass der Vormittag zur Hälfte vorüber war. Grady würde bald kommen. Er hätte schon längst da sein müssen. Wenn der Mann zu erschöpft war, um ein weiteres Tor zu öffnen… Nein. Grady würde kommen. Bald. Aber seine Schultern waren so verspannt, als hätte er den ganzen Tag und länger am Schmiedeofen schwer gearbeitet.

»Ich sage Euch, der gefällt mir nicht«, murmelte Gallenne. In dem dichten Nebel war seine rote Augenklappe nur ein weiterer Schatten. Sein Brauner mit der breiten Brust stupste seinen Rücken an, ungeduldig, und er tätschelte flüchtig seinen Hals. »Wenn Masema die Erste Lady wirklich töten will, dann sage ich, lasst ihn uns jetzt erledigen. Wir sind in der Überzahl. Wir können seine Leibwache in wenigen Minuten überwältigen.«

»Narr«, knurrte Arganda und schaute nach rechts, als könnte er Masema und seine Männer durch das wallende Grau sehen. Im Gegensatz zu dem Mayener hatte er seinen silberfarbenen Helm mit den drei buschigen weißen Federn aufgesetzt. Genau wie der mit Gold und Silber veredelte Harnisch funkelte er vor Feuchtigkeit. Nebel oder nicht, seine Rüstung schien beinahe zu glühen. »Glaubt Ihr, wir können zweihundert Männer lautlos umbringen? Man wird auf der anderen Seite des Hügels Schreie hören. Ihr habt Eure Herrscherin, wo Ihr sie mit neunhundert Männern umgeben und sie möglicherweise fortbringen könnt. Alliandre ist noch immer in dieser verdammten Stadt und wird von Shaido umringt.«

Erzürnt griff Gallenne nach dem Schwertgriff, als wollte er bei Arganda üben, bevor er bei Masema weitermachte.

»Heute werden nur Shaido getötet«, sagte Perrin energisch. Gallenne grunzte, aber er versuchte nicht, eine Diskuss ion anzufangen. Doch er stank förmlich nach Unzufriedenheit. Berelains Schutz würde dafür sorgen, dass sich die Geflügelten Wachen aus dem Kampf heraushielten.

Links blitzte es blau, und die Anspannung in Perrins Schultern lockerte sich. Grady erschien, er sah sich um. Seine Schritte wurden schneller, als er Perrin erblickte, aber sie waren unsicher. Ein anderer Mann war bei ihm, der ein großes schwarzes Pferd führte. Perrin lächelte das erste Mal seit langer Zeit.

»Es ist schön, Euch zu sehen, Tarn«, sagte er.

»Gut, auch Euch zu sehen, mein Lord.« Tarn al'Thor war noch immer ein kräftiger Mann, der aussah, als könnte er ohne Pause von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang durcharbeiten, aber das Haar auf seinem Kopf war völlig grau geworden, seit Perrin ihn das letzte Mal gesehen hatte, und sein Gesicht wies ein paar zusätzliche Falten auf. Er musterte Arganda und Gallenne mit ruhigem Blick. Hübsche Rüstungen beeindruckten ihn nicht.

»Haltet Ihr durch, Grady?«, fragte Perrin.

»Ich halte durch, mein Lord.« Die Stimme des wettergegerbten Mannes klang abgrundtief erschöpft. So vom Nebel beschattet, sah sein Gesicht noch älter als das von Tarn aus.

»Nun, sobald Ihr hier fertig seid, geht Ihr zu Mishima. Ich will, dass ihn jemand im Auge behält. Jemand, der ihn so nervös macht, dass er nicht auf die Idee kommt, etwas zu ändern, worin sie eingewilligt haben.« Er hätte Grady gern aufgetragen, sein Wegetor zu verknoten. Es wäre ein kurzer Weg, um Faile zurück zu den Zwei Flüssen zu bringen. Aber falls heute alles schieflief, wäre es auch ein kurzer Weg für die Shaido gewesen.

»Ich weiß nicht, ob ich im Augenblick eine Katze nervös machen könnte, mein Lord, aber ich tue, was ich kann.«

Tarn sah Grady mit einem Stirnrunzeln nach, als er in der grauen Suppe verschwand. »Ich wünschte, ich hätte einen anderen Weg hierher gehabt«, sagte er. »Vor einer Weile haben Burschen wie er die Zwei Flüsse besucht. Einer nannte sich Mazrim Taim, ein Name, den wir alle kennen. Ein falscher Drache. Aber jetzt trägt er einen schwarzen Mantel mit schicken Stickereien und nennt sich der M'Hael. Sie haben überall davon gesprochen, Männer im Lenken der Macht zu unterrichten, haben von dieser Schwarzen Burg gesprochen.« Er legte Missbilligung in die Worte. »Der Dorfrat hat versucht, dem einen Riegel vorzuschieben, genau wie der Frauenkreis, aber am Ende nahmen sie vierzig Männer und Jungen mit. Dem Licht sei Dank haben einige auf die Stimme der Vernunft gehört, oder sie hätten bestimmt zehnmal so viele mitgenommen.« Sein Blick richtete sich auf Perrin. »Taim sagte, Rand hätte ihn geschickt. Er sagte, Rand wäre der Wiedergeborene Drache.« Da lag der Hauch einer Frage darin, vielleicht die Hoffnung, dass man es abstritt, vielleicht das Verlangen, wissen zu wollen, warum Perrin geschwiegen hatte.

Diese Farben schwirrten in Perrins Kopf, aber er vertrieb sie und antwortete, indem er nicht antwortete. Tatsachen waren nun einmal Tatsachen. »Daran lässt sich nichts mehr ändern, Tarn.« Laut Grady und Neald ließ die Schwarze Burg die Männer nicht mehr gehen, sobald sie erst einmal dort waren.

Kummer trat in Tams Geruch, auch wenn er ihn sich nicht anmerken ließ. Er kannte das Schicksal der Männer, die die Macht lenken konnten. Grady und Neald behaupteten, die männliche Hälfte der Quelle sei nun sauber, aber Perrin konnte sich nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte. Tatsachen waren Tatsachen. Man erledigte die Aufgabe, die einem übertragen wurde, folgte dem Weg, dem man folgen musste, und das war es. Sinnlos, über Blasen an den Füßen oder den steinigen Boden zu klagen.

»Das sind Bertain Gallenne, Lordhauptmann der Geflügelten Wachen, und Gerard Arganda, Erster Hauptmann der Legion der Mauer.« Arganda zuckte unbehaglich mit den Schultern. Dieser Name hatte in Ghealdan politisches Gewicht, und anscheinend hatte sich Alliandre nicht stark genug gefühlt, um zu verkünden, dass sie die Legion wieder aufstellte. Aber Balwer hatte eine Nase dafür, Geheimnisse zu erschnüffeln. Dieses jedenfalls würde dafür sorgen, dass Arganda nicht bei dem Versuch durchdrehte, seine Königin zu finden. »Gallenne, Arganda, das ist Tarn al'Thor. Er ist mein Erster Hauptmann. Ihr habt die Karte studiert, Tarn, und meinen Plan?«

»Ich habe sie studiert, mein Lord«, sagte Tarn trocken. Natürlich hatte er das. »Es sieht wie ein guter Plan aus. So gut wie jeder, bis die Pfeile fliegen.«

Arganda schob den Stiefel in den Steigbügel seines Roans.

»Solange er Euer Erster Hauptmann ist, mein Lord, habe ich keine Einwände.« Zuvor hatte er viele gehabt. Weder er noch Gallenne waren erfreut gewesen, dass Perrin ihnen jemanden vor die Nase gesetzt hatte.

Oben auf dem Kamm ertönte der schrille Alarmruf einer schwarzen Spottdrossel. Nur einmal. Wäre es ein echter Vogel gewesen, wäre der Ruf wiederholt ertönt.

Perrin eilte den Abhang so schnell hoch, wie er konnte. Arganda und Gallenne überholten ihn auf ihren Reittieren, aber sie trennten sich, um zu ihren Männern zu reiten, und verschwanden in den dichten grauen Schwaden. Perrin eilte über den Kamm und wieder nach unten. Dannil stand beinahe an der Grenze des Nebels. Er schaute zum Lager der Shaido. Er zeigte, aber der Grund für den Alarm war offensichtlich. Eine große Gruppe Algai'd'siswai verließ die Zelte, vielleicht vierhundert oder mehr. Die Shaido schickten oft Jagdgruppen aus, aber diese kam direkt auf Perrin zu. Sie gingen im Schritttempo, aber sie würden nicht lange brauchen, um den Hügel zu erreichen.

»Es ist Zeit, dass sie uns sehen, Dannil«, sagte er, löste seinen Umhang und legte ihn über einen niedrigen Busch. Er würde ihn sich später dort abholen. Wenn er konnte. Aber jetzt würde er ihn nur behindern. Dannil deutete eine Verbeugung an, bevor er zurück zwischen die Bäume eilte; Aram erschien, das Schwert bereits in der Hand. Er roch begierig. Perrin schob die Umhangnadel sorgfältig in die Tasche. Faile hatte sie ihm gegeben. Er wollte sie nicht verlieren. Seine Finger fanden die Lederschnur, in die er jeden Tag ihrer Gefangenschaft einen Knoten gemacht hatte. Er zog sie heraus und ließ sie zu Boden fallen, ohne einen Blick darauf zu verschwenden. Dieser Morgen hatte den letzten Knoten gesehen.

Er schob die Daumen hinter den breiten Gürtel, der seinen Hammer und das Gürtelmesser hielt, und schlenderte aus dem Nebel heraus. Aram hielt sich dicht hinter ihm, bereits in einer der Schwertfiguren. Perrin ging ganz normal. Er hatte die Morgensonne, die tatsächlich den halben Weg zu ihrem Mittagsstand zurückgelegt hatte, in den Augen. Eine Zeit lang hatte er darüber nachgedacht, den Osthügel zu nehmen und Masemas Männer hier zu postieren, aber das hätte bedeutet, dass die Stadttore noch weiter entfernt gewesen wären. Ein alberner Grund, aber diese Tore zogen ihn an wie ein Magnetstein Eisensplitter. Er lockerte den schweren Hammer in seiner Schlaufe am Gürtel, lockerte das Gürtelmesser. Seine Klinge war so lang wie seine Hand.

Das Auftauchen zweier Männer, die anscheinend gemütlich auf sie zukamen, reichte aus, um die Shaido anhalten zu lassen. Nun ja, vielleicht nicht unbedingt gemütlich, bedachte man Arams Schwert. Sie hätten blind sein müssen, um nicht zu sehen, wie das Sonnenlicht von seiner langen Klinge reflektiert wurde. Sie mussten sich fragen, ob sie da ein paar Verrückte sahen. Auf halbem Weg den Abhang hinunter blieb er stehen.

»Entspannt Euch«, sagte er zu Aram. »So erschöpft ihr Euch bloß.«

Der Kesselflicker nickte lediglich, ohne den Blick von den Shaido zu wenden, und suchte sich einen festen Stand. Sein Geruch war der eines Jägers, der ein gefährliches Wild jagte und entschlossen war, es zu erlegen.

Nach einem Moment kam ein halbes Dutzend Shaido langsam auf sie zu. Sie hatten sich nicht verschleiert. Verm utlich hofften sie, dass er und Aram nicht furchterfüllt die Flucht ergriffen. Zwischen den Zelten zeigten Leute mit den Fingern auf die zwei Narren.

Das Geräusch polternder Stiefel und Hufe und schnaubender Pferde ließ ihn über die Schulter sehen. Argandas Ghealdaner waren als Erste aus dem Nebel gekommen, ritten in ihren funkelnden Brustharnischen und Helmen hinter einem wehenden roten Banner mit den drei sechszackigen Silbersternen von Ghealdan, und dann kamen die Geflügelten Wachen in ihrer roten Rüstung hinter dem goldenen Falken auf blauem Untergrund von Mayene. Dazwischen ließ Dannil die Männer von den Zwei Flüssen in drei Reihen Aufstellung nehmen. Jeder Mann trug zwei gefüllte Köcher am Gürtel sowie ein Bündel Pfeile, die er mit den Spitzen in den Boden des Abhangs rammte, bevor er das Halteband durchtrennte. Sie trugen ihre Schwerter und Kurzschwerter, aber die Hellebarden und anderen Stangenwaffen waren an diesem Morgen auf den Karren zurückgeblieben. Einer von ihnen hatte das rote Wolfsschädelbanner mitgebracht, aber der Schaft war hinter ihnen in den Boden gerammt worden. Keiner von ihnen konnte erübrigt werden, um das Ding zu tragen. Auch Dannil hielt einen Bogen.

Masema und seine Leibwache aus Lanzenträgern nahmen eine Position rechts von den Geflügelten Wachen ein, ihre schlecht geführten Pferde tänzelten und stiegen auf die Hinterhand. Ihre Rüstungen wiesen braune Flecken auf, wo man den Rost abgekratzt hatte, statt sie richtig zu säubern. Masema ritt an ihrer Spitze, ein Schwert an der Hüfte, aber ohne Helm und Harnisch. Nein, an Mut mangelte es ihm wahrlich nicht. Er starrte die Mayener an, bei denen Perrin Berelain genau in der Mitte dieses Waldes aus Lanzen entdecken konnte. Er hatte keinen klaren Blick auf ihr Gesicht, aber er nahm an, dass ihre Miene noch immer kühl war. Sie hatte sich beharrlich dagegen gewehrt, dass ihre Soldaten vom Kampf ferngehalten wurden, und er hatte sehr energisch sein müssen, damit sie es einsah. Beim Licht, die Frau hatte doch so gut wie vorgeschlagen, die Männer bei einem Sturmangriff anzuführen^.

Die Weisen Frauen und die beiden Aes Sedai kamen zwischen den Ghealdanern und den Männern von den Zwei Flüssen herunter, begleitet von den Töchtern, von denen jede lange rote Stoffstreifen um die Oberarme und die Handgelenke geknüpft hatte. Er konnte Aviellin nicht ausmachen, aber ihrer Zahl nach zu urteilen, musste sie dabei sein, Geheilt oder nicht. Schwarze Schleier verhüllten ihre Gesichter bis auf die Augen, aber er brauchte ihre Gesichter nicht zu sehen oder ihren Geruch aufzufangen, um zu wissen, dass sie empört waren. Die Abzeichen waren nötig gewesen, um Unfälle zu vermeiden, aber Edarra hatte laut werden müssen, damit sie sie auch trugen.

Goldene und elfenbeinerne Armreifen klirrten, als Edarra das schwarze Schultertuch richtete. Mit den glatten, von der Sonne gebräunten Wangen, die wegen des hellblonden Haars noch dunkler erschienen, sah sie etwas älter als Perrin aus, aber in ihren blauen Augen lag eine unerschütterliche Ruhe. Er hielt sie für viel älter, als es den Anschein hatte. Diese Augen hatten viel gesehen. »Ich glaube, es wird bald anfangen, Perrin Aybara«, sagte sie.

Perrin nickte. Die Stadttore riefen ihn.

Der Aufmarsch von fast zweitausend Lanzenreitern und zweihundert Bogenschützen reichte, damit die Shaido die Schleier anlegten und ausschwärmten, während mehr von ihnen aus den Zelten eilten und sich in einer dichten, immer länger werdenden Reihe zu ihnen gesellten. Ausgestreckte Finger in dieser Reihe und ausgestreckte Speere ließen Perrin erneut nach hinten blicken.

Tarn stand jetzt da, weitere Männer von den Zwei Flüssen strömten mit Langbögen in den Händen aus dem Nebel. Einige wollten sich zu den Männern gesellen, die Perrin gefolgt waren, um sich zu Brüdern, Söhnen, Neffen und Freunden zu gesellen, aber Tarn scheuchte sie weg, ließ seinen schwarzen Wallach den Abhang auf und ab reiten, währ end er sie zu beiden Seiten der Reiter in drei ständig größer werdenden Reihen Aufstellung nehmen ließ. Perrin entdeckte Hu Barran und seinen genauso schlaksigen Bruder Tad, die Stallburschen von der Weinquellen-Schenke, und Bar Dowtry, der nur wenige Jahre älter als er war und sich einen Namen als Kunsttischler machte, und der dürre Thad Torfinn, der seinen Hof nur selten verließ und dann auch nur, um Emondsfelde zu besuchen. Oren Dautry, schlank und groß, stand zwischen Jon Ayellin, der dick und kahl war, und Kev Barstere, der offensichtlich endlich dem Daumen seiner Mutter entkommen war, wenn er hier war. Da waren Marwins und al'Dais, al'Seens und Coles, Thanes und al'Caars und Crawes, Männer aus jeder ihm bekannten Familie, ihm unbekannte Männer aus Devenritt oder Wachhügel oder Taren-Fähre, alle mit grimmigen Gesichtern und mit gefüllten Köchern und zusätzlichen Pfeilbündeln beladen. Und zwischen ihnen standen andere, Männer mit kupferner Haut, Männer mit durchsichtigen Schleiern vor der unteren Gesichtshälfte, Männer mit heller Haut, die einfach nicht nach den Zwei Flüssen aussahen. Sie trugen natürlich kürzere Bogen — es dauerte ein Leben lang, den Umgang mit dem Langbogen von den Zwei Flüssen zu lernen —, aber jedes Gesicht trug den gleichen entschlossenen Ausdruck wie das der Zwei Flüsse-Männer. Was, beim Licht, hatten diese Ausländer hier zu suchen? Die Ströme laufender Männer hörten nicht auf, bis diese drei langen Reihen mindestens dreitausend Männer enthielten, vielleicht auch viertausend.

Tarn führte sein Pferd im Schritttempo den Abhang bis zu Perrin hinunter und musterte die anschwellenden Ränge der Shaido unter ihnen, dennoch schien er Perrins unausgesprochene Frage gehört zu haben. »Ich habe bei den Zwei Flüssen nach Freiwilligen gefragt und die besten Bogenschützen ausgewählt, aber die, die Ihr aufgenommen habt, traten in Gruppen an. Ihr habt ihnen und ihren Familien ein Heim gegeben, und sie sagten, sie wären jetzt auch Männer der Zwei Flüsse. Einige dieser Bögen werden nicht viel weiter als zweihundert Schritte tragen, aber die Männer, die ich ausgesucht habe, treffen, worauf sie zielen.«

Unten fingen die Shaido an, mit den Speeren rhythmisch gegen die Lederrundschilde zu hämmern. RAT-tat-tat-tat! RAT-tat-tat-tat! RAT-tat-tat-tat! Das Dröhnen wurde lauter, wie ein Donnerschlag. Die Flut verschleierter Gestalten, die von den Zelten herbeiliefen, wurde zu einem Rinnsaal, das immer weniger wurde und schließlich versiegte. Anscheinend hatte man sämtliche Algai'd'siswai herausgelockt. Das war ja auch der Plan gewesen. Es mussten fast zwanzigtausend von ihnen sein, die alle auf ihre Schilde hämmerten. RAT-tat-tat-tat! RAT-tat-tat-tat! RAT-tat-tat-tat!

»Ich hatte nach dem Aielkrieg gehofft, das nie wieder zu hören«, sagte Tarn laut, um sich verständlich zu machen. Dieser Lärm konnte einem Mann auf die Nerven gehen.

»Gebt Ihr den Befehl, Lord Perrin?«

»Das tut Ihr.« Perrin lockerte den Hammer erneut, das Gürtelmesser auch. Sein Blick glitt immer wieder von den Shaido zu den Stadttoren und der finsteren Masse der Festung in der Stadt. Dort wartete Faile.

»Wir werden es bald wissen«, sagte Edarra. Sie meinte den Tee. Wenn sie nicht lange genug gewartet hatten, dann waren sie alle tot. Ihre Stimme klang jedoch ganz ruhig. Aram bewegte sich nervös, das Schwert mit beiden Händen vor sich in die Höhe erhoben.

Perrin konnte Tarn rufen hören, als er die Reihen der Bogenschützen abritt. »Langbögen, einspannen! Kurzbögen, wartet, bis ihr nahe dran seid! Nicht die Sehne spannen, ihr Narren! Ihr wisst es doch besser! Langbögen…!«

Unter ihnen wandte sich vielleicht ein Viertel der Shaido ab und lief im Laufschritt parallel zum Hügel nach Norden, dabei immer noch auf die Rundschilde schlagend. Ein weiteres Viertel ging nach Süden. Sie wollten den Hügel umgehen und die Männer auf dem Abhang von beiden Seiten angreifen. Sie flankieren, wie Tylee das nannte. Eine wellenförmige Bewegung kam in die Verbleibenden, als sie die Speere unter ihr Ledergeschirr schoben, die Schilde am Gürtel befestigten und die Bogen zogen.

»Gleich«, murmelte Edarra.

Ein Feuerball größer als ein Männerkopf schoss zwischen den Zelten empor und raste auf den Hügel zu, dann noch einer, der doppelt so groß war, und noch viele weitere. Der Erste war hoch in den Himmel gestiegen und raste jetzt in die Tiefe. Und explodierte mit lautem Krachen hundert Schritte über ihren Köpfen. In schneller Folge explodierten auch die anderen, ohne Schaden anzurichten, aber es folgten weitere Flammenkugeln, die in einem beständigen Strom auf den Hügelkamm zujagten. Verästelte silberne Blitze stachen aus dem wolkenlosen Himmel und zerplatzten mit ohrenbetäubenden Donnerschlägen und im Funkenregen, ohne auch nur in Bodennähe zu kommen.

»Etwa fünfzehn oder zwanzig Weise Frauen sind dem Tee entkommen«, sagte Edarra, »sonst hätten sich mittlerweile mehr eingemischt. Ich kann bloß neun Machtlenkerinnen ausmachen. Der Rest muss irgendwo zwischen den Zelten sein.« Sie verabscheute seine Abmachung mit den Seanchanern genauso sehr wie die Aes Sedai, aber ihre Stimme war völlig ruhig. Soweit es sie betraf, hatten die Shaido das ji'e'toh in einem solchen Ausmaß verletzt, dass es fraglich war, ob man sie überhaupt noch als Aiel bezeichnen konnte. Für sie stellten sie etwas dar, das man aus der Volksmasse der Aiel herausschneiden musste, und ihre Weisen Frauen verkörperten den schlimmsten Krankheitsherd, weil sie das zugelassen hatten. Masuri nahm den Arm nach hinten, aber Edarra legte ihr die Hand auf die Schulter. »Noch nicht, Masuri Sokawa. Wir sagen schon Bescheid, wenn es so weit ist.« Masuri nickte gehorsam, obwohl sie nach Ungeduld roch.

»Nun, ich für meinen Teil fühlte mich gefährdet«, sagte Annoura fest und nahm den Arm zurück. Edarra sah sie bloß an. Nach einem Moment senkte die Aes Sedai den Arm wieder. Ihre perlengeschmückten Zöpfe stießen klirrend aneinander, als sie ruckartig den Kopf drehte, um dem Blick der Weisen Frau auszuweichen. Von ihr ging der Geruch starken Unbehagens aus. »Vielleicht sollte ich ja noch etwas warten«, murmelte sie.

Die Feuerbälle, die über das Firmament sausten, explodierten weiterhin weit über ihren Köpfen, die Blitze zuckten auf den Hügel herunter, aber die Shaido unten warteten nicht. Mit einem Aufschrei setzte sich die Masse der Krieger im Laufschritt in Richtung Abhang in Bewegung. Und sie sangen aus vollem Halse. Perrin bezweifelte, dass jemand anders auf dem Hang mehr als ein Brüllen verstehen konnte, aber seine Ohren konnten undeutlich Worte ausmachen. Sie sangen gruppenweise.

Wasch den Speer…

… wenn die Sonne am Himmel steht. Wasch den Speer…

… wenn die Sonne sinkt. Wasch den Speer…

… wer hat Angst vor dem Tod?

Wasch den Speer…

… keiner, den ich kenn'!

Er sperrte den Laut aus, ignorierte ihn, während sein Blick über die anstürmende Masse verschleierter Gestalten hinaus zu den Toren von Maiden glitt. Eisenspäne und ein Magnetstein. Die Gestalten unter ihm schienen einen halben Schritt langsamer geworden zu sein, obwohl er wusste, dass das nicht stimmte. In solchen Augenblicken schien für ihn alles langsamer zu werden. Wie lange, bevor sie in Reichweite waren? Sie hatten etwa die Hälfte des Weges zum Hügel zurückgelegt.

»Langbogen, auf! Auf mein Signal!«, rief Tarn. »Langbogen, auf! Auf mein Signal!«

Perrin schüttelte den Kopf. Zu früh. Hinter ihm schnappt en Tausende von Bogensehnen zurück. Pfeile zischten über seinen Kopf hinweg. Der Himmel schien sich durch sie verd unkelt zu haben. Sekunden später folgte eine zweite Salve, dann eine dritte. Feuerbälle brannten Schneisen in sie hinein, trotzdem regneten noch immer Tausende Pfeile in einem tödlichen Hagel auf die Shaido herab. Natürlich. Er hatte den höheren Standort der Bogenschützen nicht mit einkalkuliert. Das gab ihnen eine etwas größere Reichweite. Man konnte sich auf Tarn verlassen, das zu bedenken. Natürlich traf nicht jeder Pfeil einen Mann. Viele gruben sich in den Boden. Vielleicht die Hälfte trafen Algai'd'siswai, durchbohrten Arme und Beine, schlugen in Körper ein. Verwundete Shaido wurden selten langsamer, selbst wenn sie sich vom Boden wieder hochkämpfen mussten. Dennoch blieben Hunderte von ihnen reglos liegen, und die zweite Salve fällte noch einmal Hunderte, genau wie die dritte, während die vierte und fünfte bereits auf dem Weg waren. Die Shaido behielten ihren eingeschlagenen Weg bei, beugten sich vor, als würden sie in einen Regensturm hineinlaufen, während die Feuerbälle und Blitze ihrer Weisen Frauen hoch über ihren Köpfen explodierten. Ihr Lied war verstummt. Einige hoben die Bögen und schössen. Ein Pfeil streifte Perrins linken Arm, aber der Rest fiel außer Reichweite zu Boden. Aber nicht mehr weit außer Reichweite. Noch zwanzig Schritte, und dann…

Der plötzliche, durchdringende Schall seanchanischer Signalhörner ließ seinen Blick nach Norden und Süden huschen, gerade noch rechtzeitig, um zu beobachten, wie der Boden zwischen den flankierenden Gruppen in Gestalt von Flammensäulen aufbrach. Blitze zuckten in sie hinein. Die Damane hielt man im Augenblick zwischen den Bäumen postiert, aber sie verrichteten ihr tödliches Werk. Immer wieder schleuderten Explosionen und Blitze Männer wie Zweige umher. Diese Algai'd'siswai konnten nicht wissen, wo dieser Angriff herkam. Sie begannen auf die Bäume zuzulaufen, auf ihre Mörder zu. Einige der Feuerbälle aus dem Lager flogen nun auf den Wald zu, in dem die Damane waren, Blitze zuckten auf die Bäume zu, aber sie richteten genauso wenig aus wie zuvor auf dem Hügel. Tylee hatte behauptet, man würde Damane für alle möglichen Arbeiten einsetzen, aber in Wahrheit stellten sie Kriegswaffen dar, und sie und die Sul'dam verstanden ihr Handwerk vortrefflich.

»Jetzt«, sagte Edarra, und Feuerbälle regneten auf die Shaido unter ihnen herab. Die Weisen Frauen und die Aes Sedai machten mit beiden Armen Wurfbewegungen, so schnell sie konnten, und jedes Mal schien ein Feuerball aus ihren Fingerspitzen zu wachsen. Natürlich explodierten viele davon zu früh. Die Weisen Frauen der Shaido verteidigten ihre Leute. Aber die Algai'd'siswai befanden sich nun viel näher am Hügel, also blieb ihnen eine geringere Reaktionszeit. Feuerbälle zerplatzten zwischen den Shaido, schleuderten Männer zur Seite, wirbelten abgetrennte Arme und Beine in die Luft. Silberblaue Blitze verästelten sich in die Tiefe, und die meisten von ihnen trafen auch. Die Haare auf Perrins Armen kräuselten sich. Die Haare auf seinem Kopf wollten sich aufstellen. Die Luft schien durch die Blitzentladungen zu knistern.

Und während Edarra und die anderen den Tod auf die Angreifer schleuderten, wehrten sie gleichzeitig die Angriffe der gegnerischen Weisen Frauen ab, und die ganze Zeit über bedienten die Männer von den Zwei Flüssen ihre Bögen, so schnell sie konnten. Ein geübter Schütze konnte zwölf Pfeile in der Minute verschießen, und der Abstand war nun kürzer. Die Shaido trennten keine zweihundert Schritte mehr vom Fuß des Hügels. Ihre Pfeile fielen immer noch vor Perrin zu Boden, aber auf diese Distanz trafen die Zwei-Flüsse-Pfeile jedes Mal. Natürlich wählte jeder Bogenschütze sein eigenes Ziel, also sah Perrin Algai'd'siswai von zwei, drei, sogar vier Pfeilen getroffen stürzen.

Es gab Grenzen, was das Fleisch erdulden konnte. Die erst en Shaido fielen zurück. Sie flohen nicht. Viele schössen auf den Hang, obwohl keine Aussicht bestand, die Distanz überbrücken zu können. Aber dann drehten sie wie auf einen unhörbaren Befehl und rannten los, versuchten ausreichend Abstand zwischen sich und die Pfeile der Zwei Flüsse und den Feuer und Blitzregen zu legen. Die Flankierenden fielen ebenfalls zurück, als Lanzenreiter zwischen den Bäumen hervorschossen und sich zu tausend Pferde breiten Rängen formierten, dann langsam vorrückten, während Feuer und Blitz die Shaido heimsuchten.

»Ein Rang nach dem anderen«, rief Tarn, »drei Schritte vor und schießen!«

»Im Schritttempo vorwärts!«, brüllte Arganda.

»Mir nach!«, donnerte Masema.

Eigentlich sollte Perrin zusammen mit den anderen den langsamen Vorstoß machen, aber er schritt den Abhang mit jedem Schritt schneller hinunter. Die Tore zerrten an ihm. Sein Blut verwandelte sich in Feuer. Elyas behauptete, dies sei ein ganz natürliches Gefühl, wenn man in Lebensgefahr schwebte, aber er konnte das nicht so sehen. Einst war er im Wasserwald beinahe ertrunken, und er hatte nicht einmal annähernd so etwas wie die Aufregung verspürt, die ihn jetzt durchzuckte. Hinter ihm schrie jemand seinen Namen, aber er machte im Laufschritt weiter, wurde immer schneller. Er befreite den Hammer aus seiner Gürtelschlaufe, zog mit der Linken das Messer. Aram rannte an seiner Seite, wie ihm bewusst wurde, aber seine ganze Konzentration war auf die Stadttore gerichtet, auf die Shaido, die noch immer zwischen ihm und Faile standen. Feuer, Blitz und Pfeile regneten wie Hagel auf sie herab, und sie drehten sich nicht länger um, um zu schießen, aber sie schauten oft über die Schulter. Viele stützten Verwundete, Männer, die ein Bein nachzogen oder sich die Seite hielten, aus der zwei der langen Zwei-Flüsse-Pfeile ragten, und er holte auf.

Plötzlich drehten sich ein halbes Dutzend verschleierter Männer mit Speeren in den Händen um und liefen auf ihn und Aram zu. Dass sie nicht ihre Bögen benutzten, bedeutete, dass sie keine Pfeile mehr hatten. Er hatte Geschichten von Helden gehört, von Männern, die durch einen Zweikampf die Zukunft entschieden und deren Heere sich nach dem Ausgang richteten. Die Aiel kannten solche Geschichten nicht. Allerdings wurde er nicht langsamer. Sein Blut war wie Feuer. Er war das Feuer.

Ein Pfeil von den Zwei Flüssen bohrte sich mitten in die Brust eines Shaido, und er war noch nicht auf dem Boden aufgeschlagen, als drei weitere von mindestens einem Dutzend Pfeilen getroffen wurden. Aber nun waren Aram und er zu nahe an den beiden letzten Gegnern. Jeder außer dem allerbesten Schützen würde riskieren, Aram oder ihn zu treffen. Aram glitt auf einen der Shaido zu, als würde er tanzen, seine Klinge war wie ein funkelnder Schemen, aber Perrin hatte keine Zeit, sich einen Kampf anzusehen, selbst wenn er gewollt hätte. Ein verschleierter Mann, der ihn um mindestens einen Kopf überragte, stach mit einem Kurzspeer nach ihm. Perrin parierte den Speer mit dem Gürtelmesser und schwang den Hammer. Der Shaido wollte ihn mit dem Rundschild abwehren, aber er veränderte die Richtung des Schwungs etwas und hörte die Unterarmknochen des Mannes bersten, als sie zehn Pfund von einem Schmiedarm geschwungener Stahl trafen. Jetzt hatte er die Speerspitze weit hinter sich gelassen und hieb dem Mann ohne langsamer zu werden das Messer quer über den Hals. Blut spritzte, und er rannte weiter, während der Mann fiel. Er musste Faile finden. Feuer in seinem Blut, Feuer in seinem Herzen. Feuer in seinem Kopf. Nichts und niemand würde ihn von Faile fernhalten.

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