12

Sie war eine hervorragende Dartspielerin. Das hatte Lynley am Abend zuvor herausgefunden und es unter den mageren Informationen abgespeichert, die er bislang über Daidre Trahair hatte sammeln können. Sie hatte an der Rückseite ihrer Wohnzimmertür eine Dartscheibe aufgehängt, was ihm bislang entgangen war, weil sie diese Tür immerzu offen stehen ließ, statt sie gegen den eisigen Wind zu schließen, der aus der Diele hereinwehte, wenn jemand das Cottage betrat.

Er hätte wissen müssen, dass er in Schwierigkeiten steckte, als sie mit einem Maßband eine Entfernung von exakt 2,37 Metern bis zur geschlossenen Tür ermittelt und an der entsprechenden Stelle einen Schürhaken auf den Boden gelegt hatte, den sie Oche nannte. »Okeeeh?«, hatte er verwirrt wiederholt, und sie hatte erklärt: »Das Oche ist die Wurflinie, hinter der die Spieler stehen, Thomas.« Da schwante ihm zum ersten Mal, dass er sich womöglich ein bisschen zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Aber wie schwierig kann es schon sein?, hatte er sich beruhigt und war wie das Lamm zur Schlachtbank gegangen, als er einem Spiel namens 501 zustimmte, von dem er nicht die geringste Ahnung hatte.

»Gibt es dafür irgendwelche Regeln?«, hatte er sich erkundigt.

Sie hatte ihn mit einem missfälligen Blick traktiert. »Natürlich gibt es Regeln. Es ist ein Spiel, Thomas.« Und sie hatte es ihm erklärt. Sie begann mit der Dartscheibe, und er verlor fast augenblicklich den Faden, als sie von Treble- und Double-Ringen sprach und ausführte, was es für seinen Punktestand bedeutete, wenn sein Pfeil dort auftraf. Er hatte sein Leben lang angenommen, wenn man in der Lage sei, das Bull's Eye zu identifizieren, wüsste man genug über Darts aber schon nach wenigen Augenblicken war er hoffnungslos verwirrt.

Es sei ganz einfach, versicherte sie. »Wir beginnen beide mit einem Punktestand von jeweils fünfhunderteins. Ziel ist es, diesen Punktestand auf null zu reduzieren. Wir werfen je drei Darts. Ein Bull's Eye zählt fünfzig Punkte, ein Bull fünfundzwanzig, und alles im Double- oder Treble-Ring bringt das Doppelte beziehungsweise Dreifache der dem Segment zugewiesenen Punktzahl. So weit klar?«

Er nickte. Er hatte nur eine nebulöse Vorstellung, wovon sie eigentlich sprach, aber er war überzeugt: Selbstvertrauen war der Schlüssel zum Erfolg.

»Gut. Wichtig ist noch, dass der letzte Wurf in einem Double oder im Bull's Eye landen muss. Und wenn Ihre Punktzahl auf eins oder unter null geht, ist die Runde ungültig, und der andere Spieler ist an der Reihe. Kommen Sie noch mit?«

Er nickte wieder. Inzwischen war er zwar noch verwirrter, aber wie schwierig konnte es denn sein, eine Dartscheibe aus weniger als drei Metern Entfernung zu treffen? Außerdem war es ja nur ein Spiel, und sein Ego war stabil genug, um unbeschadet zu bleiben, sollte sie gewinnen. Denn dem ersten Spiel konnte ja ein weiteres folgen. Sie konnten über drei Sätze spielen. Oder über mehrere Gewinnsätze. Es spielte keine Rolle. Es war doch nur ein abendlicher Zeitvertreib, oder etwa nicht?

Sie gewann jede einzelne Partie. Sie hätten die ganze Nacht durchspielen können, und Daidre hätte wahrscheinlich immer weiter gewonnen. Und diese kleine Teufelin denn als solche betrachtete er sie inzwischen entpuppte sich nicht nur als Turnierspielerin, sondern ebenso als die Art Frau, die nicht daran glaubte, dass das Ego eines Mannes hin und wieder den Balsam der unangefochtenen Überlegenheit über das andere Geschlecht verdiente.

Sie zeigte jedoch so viel Anstand, wenigstens ein bisschen verlegen zu sein. »Oje«, sagte sie. »Ach du meine Güte. Es ist einfach… Ich lasse grundsätzlich niemanden absichtlich gewinnen. Das kommt mir immer so unehrlich vor.«

»Sie sind… sagenhaft«, erwiderte er. »Mir ist schon ganz schwindelig.«

»Nun ja. Ich hatte Ihnen verschwiegen, dass ich ziemlich häufig spiele. Aber ich zahle den Preis dafür, dass ich Ihnen die Wahrheit verheimlicht habe: Ich helfe Ihnen mit dem Abwasch.«

Sie hielt Wort, und in ungetrübter Eintracht brachten sie die Küche in Ordnung. Er spülte, sie trocknete ab. Dann hieß sie ihn, den Herd zu putzen. »Das ist nur fair«, frotzelte sie, fegte dann aber selbst den Boden und scheuerte die Spüle. Er stellte fest, dass er sich in ihrer Gesellschaft wohlfühlte, und das hatte zur Folge, dass seine Aufgabe ihm Unbehagen verursachte.

Er erfüllte sie trotzdem. Denn im Grunde war nur eine Sache wirklich wichtig: Er war Polizist, und es war jemand durch Mord zu Tode gekommen. Daidre hatte eine ermittelnde Beamtin angelogen, und ganz gleich wie sehr er diesen Abend genoss, er hatte für Detective Inckspector Hannaford einen Job zu erledigen, und er hatte die Absicht, dies auch zu tun.

Er nahm seine Nachforschungen gleich am nächsten Morgen in seinem Zimmer im Salthouse Inn wieder auf und kam erstaunlich weit. Mit ein paar unkomplizierten Telefonaten fand er heraus, dass tatsächlich eine Frau mit Namen Daidre Trahair als Tierärztin im Zoo von Bristol arbeitete. Als er fragte, ob er sie denn sprechen könne, teilte man ihm mit, sie habe Sonderurlaub bekommen, um sich einer dringenden Familienangelegenheit in Cornwall anzunehmen.

Diese Information fand er nicht sonderlich eigenartig. Viele täuschten Familienprobleme vor, wenn sie in Wahrheit nur ein paar Tage weg wollten, um Abstand von einem stressigen Job zu gewinnen. Daraus konnte man ihr keinen Vorwurf machen.

Auch die Geschichte von ihrem adoptierten chinesischen Bruder hielt stand. Lok Trahair studierte in Oxford. Daidre selbst hatte einen Abschluss in Biologie von der Universität Glasgow, wo sie anschließend am Royal Veterinary College weiterstudiert und ihren Doktor gemacht hatte. So weit also alles in Ordnung. Sie mochte Geheimnisse haben, die sie vor DI Hannaford zu verbergen suchte, aber die betrafen weder ihre Identität noch die ihres Bruders.

Er forschte weiter bis in ihre Schulzeit zurück, und da stieß er auf die erste Ungereimtheit. Daidre Trahair hatte eine weiterführende Gesamtschule in Falmouth besucht, aber für die Zeit davor gab es keinerlei Belege. Ihr Name tauchte in keinem Schülerverzeichnis in Falmouth auf, weder in den staatlichen noch den privaten Schulen, Internaten oder Klosterschulen… Nichts. Entweder hatte sie diese Zeit nicht in Falmouth verbracht, oder sie war aus irgendeinem Grund anderswohin geschickt oder zu Hause unterrichtet worden.

Aber sie hätte es doch sicher erwähnt, wenn sie daheim unterrichtet worden wäre, hatte sie ihm doch auch erzählt, dass sie zu Hause zur Welt gekommen war. Wäre dies nicht eine naheliegende Fortführung gewesen?

Er war sich nicht sicher. Er war sich auch nicht sicher, was er sonst noch tun konnte. Er überdachte seine Möglichkeiten, als ein Klopfen an der Tür ihn aus seinen Gedanken riss. Siobhan Rourke brachte ihm ein Päckchen. Es sei gerade mit der Post gekommen, sagte sie.

Er bedankte sich, und als er wieder allein war, öffnete er es und zog seine Brieftasche daraus hervor. Er klappte sie auf ein Reflex, aber gleichzeitig ein bisschen mehr als das. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, doch mit einem Mal hatte er seine Identität zurück: Führerschein zu einem Quadrat gefaltet, Bankkarte, Kreditkarten, ein Foto von Helen.

Er nahm es in die Hand. Es war eine Aufnahme, die an Weihnachten entstanden war, keine zwei Monate vor ihrem Tod. Es waren hektische Feiertage gewesen, keine Zeit, um ihre oder seine Familie zu besuchen, weil er bis über beide Ohren in Ermittlungen gesteckt hatte. »Mach dir keine Gedanken, es wird weitere Weihnachtsfeste geben, Darling«, hatte sie gesagt. Das Bild zeigte sie am Frühstückstisch; das Kinn auf die Hand gelegt, sah sie ihn lächelnd an, ihr Haar noch ungekämmt, das Gesicht ungeschminkt so wie er sie liebte.

Helen, dachte er.

Er musste sich zwingen, in die Gegenwart zurückzukehren. Behutsam steckte er das Foto zurück an seinen Platz in der Brieftasche. Diese legte er neben das Telefon auf den Nachttisch. Schweigend saß er da, hörte nichts als sein eigenes Atemgeräusch. Er dachte an ihren Namen. Er dachte an ihr Haar. Er dachte an nichts.

Schließlich nahm er seine Arbeit wieder auf. Er wägte die Alternativen ab. Weitere Nachforschungen über Daidre Trahair würden notwendig sein, aber er wollte nicht derjenige sein, der sie anstellte, ganz gleich ob er einer Kollegin Loyalität schuldete oder nicht. Denn er war doch gar kein Polizist — jedenfalls hier nicht und überhaupt nicht mehr. Und es gab andere.

Doch ehe er sich daran hindern konnte — dabei wäre es so einfach gewesen, nahm er den Hörer wieder zur Hand und wählte eine Nummer, die ihm vertrauter war als seine eigene. Und eine Stimme, die vertraut war wie die eines Familienmitgliedes, meldete sich am anderen Ende der Leitung: Dorothea Harriman, Abteilungssekretärin bei New Scotland Yard.

Zuerst war er nicht sicher, ob er sprechen konnte, aber schließlich brachte er ein Wort heraus: »Dee.«

Sie erkannte ihn sofort. Mit gesenkter Stimme sagte sie: »Detective Superintendent… Detective Inspector… Sir?«

»Einfach Thomas«, erwiderte er. »Einfach nur Thomas, Dee.«

»Um Himmels willen, Sir, kommt nicht infrage!«, protestierte sie. Dee Harriman, die niemals irgendjemanden anders ansprach als mit seinem vollständigen Rang. »Wie geht es Ihnen, Detective Superintendent Lynley?«

»Es geht mir gut, Dee. Ist Barbara in der Nähe?«

»Detective Sergeant Havers?«, fragte sie. Derart nachzufragen, sah Dee überhaupt nicht ähnlich. Lynley überlegte, warum sie es wohl getan hatte.

»Nein. Sie ist nicht hier, Detective Superintendent. Aber Detective Sergeant Nkata ist im Büro. Und Detective Inspector Stewart. Und Detective Inspec…«

Lynley unterbrach sie: »Ich versuch's auf Barbaras Handy. Und, Dee…?«

»Detective Superintendent?«

»Sagen Sie niemandem, dass ich angerufen habe, in Ordnung?«

»Aber… Sind Sie…«

»Bitte.«

»Ja. Ja. Natürlich. Aber wir hoffen… Nicht nur ich… Ich spreche für alle hier, das weiß ich, wenn ich sage…«

»Danke.« Er legte auf. Er überlegte, ob er Barbara Havers, seine langjährige Partnerin und mitunter streitbare Freundin, wirklich anrufen sollte. Sie würde ihm bereitwillig ihre Hilfe anbieten, aber es wäre allzu bereitwillig. Selbst wenn sie mitten in einem Fall steckte, würde sie ihm trotzdem helfen wollen und die Konsequenzen tragen, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

Und noch eine andere Gewissheit war in ihm aufgestiegen, als er Dorothea Harrimans Stimme gehört hatte: Es war offensichtlich noch viel zu früh. Und womöglich war die Wunde zu tief, um überhaupt je zu heilen.

Doch ein Junge war tot, und Lynley war, wer er war. Er griff erneut zum Telefon.

»Ja?« Das war typisch Havers. Sie sprach laut, und wenn er die Hintergrundgeräusche richtig deutete, steckte sie mit der Höllenmaschine, die sie ihr Auto nannte, irgendwo im Straßenverkehr.

Er atmete ein, immer noch unsicher.

»Hey«, blaffte sie. »Ist da jemand? Ich kann Sie nicht hören. Hören Sie mich?«

»Ja. Ich kann Sie hören. Ich bin da an etwas dran… Können Sie mir helfen, Barbara?«

Ein langes Schweigen. Er hörte ihr Radio und den vorüberrauschenden Verkehr. Offenbar war sie so klug gewesen, auf dem Seitenstreifen zu halten, um zu telefonieren. Aber sie sagte immer noch nichts.

»Barbara?«

»Schießen Sie los, Sir.«


LiquidEarth befand sich am Binner Down inmitten einer Ansammlung kleiner Betriebe auf dem Gelände eines vor langer Zeit stillgelegten Air-Force-Flugplatzes ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, das nach all den Jahrzehnten nur noch aus verfallenen Gebäuden, tief gefurchten Wegen und Dornengestrüpp bestand. Es wirkte wie eine Müllkippe. Zerbrochene Hummerfallen und ausrangierte Fischernetze lagen neben Hügeln aus Betonbrocken, Altreifen und schimmelnden Möbeln um alte Gastanks herum, ausgemusterte Toiletten und Waschbecken dienten dem wilden Efeu als Kletterhilfen. Matratzen, schwarze Müllsäcke, die mit Gott weiß was prall gefüllt waren, dreibeinige Stühle, zersplitterte Türen und alte Fensterrahmen. Der perfekte Ort, um eine Leiche auf Jahrzehnte verschwinden zu lassen, schoss es Bea Hannaford durch den Kopf.

Die Ausdünstungen dieses Ortes drangen selbst durch die geschlossenen Türen und Fenster in den Wagen ein: Feuer und Kuhmist von der Milchviehwirtschaft am Rande des Plateaus. Und um die allgegenwärtige Abscheulichkeit perfekt zu machen, hatten sich in den Kratern des Asphalts Pfützen gebildet, die mit einer Ölschicht überzogen waren.

Sie hatte Constable McNulty als Navigator und Notizenschreiber mitgebracht. Seine Anmerkungen in Santo Kernes Zimmer am Vortag hatten sie hoffen lassen, er könne nützlicher sein als befürchtet, vor allem wenn es um das Thema Surfen ging, und als langjähriger Einwohner von Casvelyn kannte er sich überdies hier aus.

Sie waren auf dem Weg hierher an der Kaianlage vorbeigekommen, die das nordöstliche Ufer des Casvelyn Canal bildete. Über die Arundel-Verbindung waren sie zum Binner Down gelangt, von wo aus schließlich ein unebener Pfad vorbei an einem rußverschmierten Farmhaus zu dem einstigen Flugfeld führte. Jenseits davon stand in der Ferne ein verfallenes Haus, eine Bruchbude, die offenkundig einer Reihe von Surfern als Behausung gedient hatte. McNulty schien es gelassen zu nehmen. Was sollte man schon erwarten?, sagte sein Ausdruck.

Bea stellte bald fest, dass sie froh sein konnte, ihn mitgenommen zu haben, denn keiner der Betriebe auf dem einstigen Flughafengelände war über eine Hausnummer oder Ähnliches kenntlich gemacht. Es handelte sich um beinah fensterlose Betongebäude mit Dächern aus verzinktem Metall, von denen Efeu herabrankte. Rissige Betonrampen führten zu schweren Stahltoren hinauf.

McNulty dirigierte Bea einen schmalen Weg entlang zum nördlichen Ende des Flugplatzes. Nach etwa dreihundert Metern, die ihr fast das Kreuz brachen, verkündete er schließlich: »Wir sind da, Chef.« Er zeigte auf eine von drei Hütten, die, so behauptete er, einmal Marinehelferinnen beherbergt hatten kaum zu glauben, dachte Bea. Aber es waren harte Zeiten gewesen. Verglichen mit einem Leben zwischen den zerbombten Trümmern Londons oder Coventrys war es ihnen hier wahrscheinlich wie im Paradies vorgekommen.

Bea war ausgestiegen und reckte sich, um ihre in Mitleidenschaft gezogene Wirbelsäule zu lockern, als McNulty sie darauf aufmerksam machte, wie viel näher sie hier dem verfallenen Surferhaus waren. Er nannte es "Binner Down House", und es stand genau gegenüber am anderen Ende des Plateaus. Praktisch für die Surfer, bemerkte er. Wenn ihre Bretter reparaturbedürftig waren, konnten sie einfach hier herüberkommen und sie Lew Angarrack vorbeibringen.

Sie betraten LiquidEarth durch eine Tür, die mit nicht weniger als vier Schlössern gesichert war. Man gelangte direkt in einen kleinen Ausstellungsraum, wo an zwei Wänden in schmucklosen Gestellen Longboards und Shortboards mit der Nase nach oben standen. Eine dritte Wand war mit Postern behängt Wellen so groß wie Kreuzfahrtschiffe, während entlang der vierten Wand eine Ladentheke stand. Dahinter war allerlei Zubehör ausgestellt: Schutzhüllen für Surfbretter, Leinen und Finnen. Neoprenanzüge gab es nicht. Ebenso wenig wie T-Shirts mit Designs, die von Santo Kerne stammten.

Beißender Dampf, der in den Augen brannte, hing in der Luft. Er schien aus einem angrenzenden Raum herüberzuwabern, wo ein Mann in Overall mit einem langen grauen Pferdeschwanz und einer großen Brille eine zähflüssige Substanz aus einem Eimer über ein Surfbrett goss, das quer über zwei Holzböcken lag.

Der Mann arbeitete langsam, was an der Art seiner Tätigkeit liegen mochte, vielleicht aber auch an einer Gewohnheit, seinem Alter oder an einer Erkrankung. Er zitterte, stellte Bea fest. Parkinson, Alkohol oder was auch immer.

»Entschuldigen Sie Mr. Angarrack?« Im selben Moment begann hinter einer geschlossenen Tür ein elektrisch betriebenes Werkzeug zu heulen.

»Das ist er nicht«, raunte Constable McNulty ihr von hinten zu. »Das da nebenan, das wird er wohl sein.«

Das da, schloss Bea, meinte offenbar, dass Lewis Angarrack derjenige war, der das Werkzeug betrieb, das den Radau verursachte. Während sie zu diesem Ergebnis kam, drehte der ältere Mann sich um. Sein Gesicht war tief gefurcht; seine Brille wurde von einem Stück Draht zusammengehalten.

»Tut mir leid, ich kann das hier gerade nicht unterbrechen.« Er nickte auf seine Arbeit hinab. »Aber kommen Sie nur rein. Sie sind von der Polizei?«

Da McNulty Uniform trug, war dieser Schluss naheliegend. Bea hingegen trat auf ihn zu, hinterließ Fußspuren auf dem Boden, der mit einer Schicht aus Kunststoffstaub bedeckt war, und zückte ihren Dienstausweis. Er warf einen flüchtigen Blick darauf, nickte und stellte sich als Jago Reeth vor. Der Kunstharzgießer. Er sei gerade dabei, die letzte Harzschicht auf ein neues Brett aufzubringen, und die müsse er glätten, ehe sie zu trocknen begann, sonst hätte er später beim Schleifen ein mächtiges Problem. Doch sobald er fertig sei, habe er Zeit, mit ihnen zu reden, wenn sie das wünschten. Sei es indes Lew, den sie suchten: Der schleife nebenan gerade die Rails eines Boards, und dabei sei er gern ungestört, da er es am liebsten in einem einzigen Arbeitsdurchgang mache.

»Wir werden uns ausdrücklich für die Unterbrechung entschuldigen«, versicherte Bea. »Könnten Sie ihn bitte holen? Oder sollen wir…?« Sie zeigte auf die Tür, hinter der das Kreischgeräusch andauerte und darauf hindeutete, dass ein weiteres Surfbrett Gestalt annahm.

»Warten Sie 'n Moment«, bat Jago. »Lassen Sie mich das hier auftragen. Dauert keine fünf Minuten, aber ich kann die Arbeit wirklich nicht unterbrechen.«

Sie sahen ihm zu, während er den Plastikeimer leerte. Das Harz breitete sich zäh aus, formte einen kleinen See, der sich der Kontur des Surfbretts anpasste, und Jago nahm einen Pinsel zur Hand, um es gleichmäßig zu verteilen. Wieder fiel Bea auf, wie stark seine Hände zitterten. Er schien ihre Gedanken in ihrem Blick zu lesen.

»Viele gute Jahre hab ich nicht mehr vor mir«, bemerkte er. »Ich hätte die großen Wellen nehmen sollen, solange ich noch dazu in der Lage war.«

»Sie surfen selber?«, fragte Bea.

»Heutzutage nicht mehr. Das wäre Selbstmord.« Über das Brett gebeugt, sah er zu ihr auf. Die Augen hinter den Brillengläsern die ebenfalls mit weißem Staub bedeckt waren waren klar und scharf, trotz seines Alters. »Sie sind wegen Santo Kerne hier, nehme ich an. War also Mord, he?«

»Ach, das wissen Sie bereits?«, hakte Bea nach.

»Ich wusste's nicht«, entgegnete er. »Hab's mir nur gedacht.«

»Wieso?«

»Weil Sie hier sind. Warum sollten Sie herkommen, wenn es nicht Mord war? Oder machen Sie eine Runde, um jedem zu kondolieren, der den Jungen kannte?«

»Zählen Sie dazu?«

»Ja«, antwortete er. »Nicht lange, aber ich kannte ihn. Vielleicht sechs Monate. Seit ich für Lew arbeite.«

»Sie wohnen also noch nicht lange hier in der Stadt?«

Er zog mit dem Pinsel einen schwungvollen Strich über die gesamte Länge des Bretts. »Ich? Nein. Dieses Mal bin ich aus Australien gekommen. Ich bin seit Ewigkeiten immer der Saison nachgereist.«

»Dem Sommer oder dem Surfen?«

»Ist an vielen Orten ein und dasselbe. An anderen ist es der Winter. Es werden immer und überall Leute gebraucht, die Boards bauen können. Und da komm ich ins Spiel.«

»Ist es hier nicht noch ein bisschen früh dafür?«

»Überhaupt nicht. Nur noch ein paar Wochen. Gerade jetzt werd ich am meisten gebraucht, denn vor Saisonbeginn kommen die Bestellungen rein. Dann, während der Saison, werden die Bretter beschädigt und müssen repariert werden. Newquay, North Shore, Queensland oder Kalifornien ich hab überall gearbeitet. Früher bin ich direkt nach der Arbeit surfen gegangen. Manchmal auch schon vor der Arbeit.«

»Aber heute nicht mehr.«

»Du meine Güte, nein. Das würde mich ziemlich sicher umbringen. Übrigens hat Santos Vater immer geglaubt, es würde den Jungen eines Tages umbringen, wussten Sie das? Aber er ist ein Idiot. Surfen ist ungefährlicher, als die Straße zu überqueren. Und es bringt die jungen Leute raus an die frische Luft und in die Sonne.«

»So wie das Klettern in den Klippen«, bemerkte Bea.

Jago warf ihr einen düsteren Blick zu. »Sie sehen ja, was ihm dabei passiert ist.«

»Sie kennen die Kernes also?«

»Santo. Wie ich schon sagte. Die anderen nur vom Hörensagen. Ich weiß nur, was Santo erzählt hat. Das ist alles.« Er legte den Pinsel in den Eimer, den er zuvor unter das Brett geschoben hatte, und dann nahm er sein Werk in Augenschein, ging hinter dem Board in die Hocke, um es vom Ende bis zur Spitze zu begutachten. Dann erhob er sich und trat an die Tür, hinter der ein neues Brett geformt wurde. Schob sich durch einen schmalen Spalt und schloss sie hinter sich. Gleich darauf verstummte das heulende Gerät.

Constable McNulty sah sich um, und zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine Falte gebildet, als dächte er angestrengt darüber nach, was er hier zu sehen bekam. Bea hatte keine Ahnung von der Herstellung von Surfbrettern, also fragte sie: »Was?«, und er tauchte aus seinen Gedanken auf.

»Irgendetwas…«, antwortete er. »Ich weiß noch nicht so richtig.«

»Hat es mit dieser Werkstatt zu tun? Mit Reeth? Mit Santo? Seiner Familie? Was?«

»Bin nicht sicher.«

Sie stieß hörbar die Luft aus. Wahrscheinlich würde der Mann ein verdammtes Ouijabrett brauchen.

Lew Angarrack betrat den Raum. Genau wie Jago Reeth trug auch er einen Overall aus steifem Papier, der perfekt zu seiner restlichen Erscheinung passte: Er war von Kopf bis Fuß weiß. Sein dichtes Haar hätte jede Farbe haben können — wahrscheinlich war es grau meliert, denn er schien auf die fünfzig zuzugehen, aber momentan sah er so aus, als trüge er eine Juristenperücke, so dicht war er mit Polystyrolstaub bepudert. Der Staub hatte sich wie eine dünne Patina auch auf seine Stirn und Wangen gelegt. Nur Mund und Augen waren frei davon, was wohl an der Schutzmaske und -brille lag, die um seinen Hals baumelten.

An ihm vorbei konnte Bea das Brett sehen, an dem er gerade gearbeitet hatte. Gleich dem, welches der Kunstharzgießer beschichtet hatte, lag es über zwei hohen Holzböcken: geformt aus einem Hartschaumblock, der durch eine längslaufende Holzleiste in zwei Hälften gespalten schien. Weitere Hartschaumblöcke standen aufgereiht an der Wand des Zuschnittraums. Eine weitere Wand, sah Bea aus dem Augenwinkel, beherbergte Regale mit Werkzeugen: Hobel, Schleifmaschinen und Feilen.

Angarrack war kein hochgewachsener Mann, nicht viel größer als Bea selbst. Aber sein Oberkörper wirkte kompakt, und Bea nahm an, er war sehr kräftig. Jago Reeth hatte ihn vermutlich über das Auftauchen der Polizeibeamten ins Bild gesetzt, aber ihre Anwesenheit schien Angarrack nicht zu beunruhigen. Er wirkte nicht einmal überrascht. Oder schockiert oder bekümmert.

Bea stellte sich selbst und Constable McNulty vor und erkundigte sich, ob sie ihm einige Fragen stellen dürften.

»Reine Höflichkeit, dass Sie fragen, oder?«, entgegnete er knapp. »Sie sind extra hier rausgekommen, also nehme ich an, das bedeutet, dass Sie mir Ihre Fragen stellen werden, ob ich nun will oder nicht.«

Bea ging nicht darauf ein. »Vielleicht können Sie uns währenddessen herumführen?«, schlug sie vor. »Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, wie Surfboards gebaut werden.«

»Man nennt es "Shaping"«, mischte Jago Reeth sich ein. Er hatte sich in eine Ecke des Ladens zurückgezogen.

»Es gibt nicht viel zu sehen«, sagte Angarrack. »Shaping, Lackieren, Versiegeln, Schleifen. Für jeden Arbeitsschritt habe ich einen Raum.« Er wies mit dem Daumen zur Lackiererwerkstatt hinüber. Die Tür stand offen, aber der Raum war unbeleuchtet. Angarrack legte einen altmodischen Lichtschalter um, und nach und nach sprangen grelle Deckenlampen an. Jetzt konnte Bea erkennen, dass auch dort ein Holzbock stand. Noch lag kein Surfboard darauf bereit. Allerdings waren an der Wand fünf Bretter aufgereiht, die offenbar lackiert werden mussten.

»Sie machen auch die künstlerische Gestaltung?«, fragte Bea.

»Nicht ich persönlich. Ein alter Bekannter hat eine Zeit lang die Designs für mich gemacht, bis er weitergezogen ist. Dann hat Santo das übernommen, sozusagen als Bezahlung für das Board, das er sich ausgesucht hatte. Aber jetzt suche ich jemand Neues.«

»Weil Santo gestorben ist?«

»Nein. Ich hatte ihn schon vorher rausgeworfen.«

»Warum?«

»Aus Solidarität, würde man wohl sagen.«

»Mit wem?«

»Mit meiner Tochter.«

»Santos Freundin.«

»Das war sie eine Zeit lang. Aber diese Zeit war vorüber.« Er schritt zurück in den Verkaufsraum, wo hinter der Ladentheke zwischen Katalogen und einem Klemmbrett voller Formulare und Surfbrettplänen ein Wasserkocher auf einem Klapptisch stand. Angarrack stöpselte den Wasserkocher ein und fragte: »Kann ich Ihnen was anbieten?«, und als sie ablehnten, rief er: »Jago?«

»Schwarz und stark«, antwortete Jago.

»Erzählen Sie uns von Santo Kerne«, bat Bea, während Lew sich an dem Instantkaffee zu schaffen machte. Er löffelte reichlich in einen Becher und war sparsamer bei einem zweiten.

»Er hat ein Board bei mir gekauft. Vor zwei Jahren. Er hatte die Surfer am Strand unweit des Hotels gesehen und wollte das auch lernen. Zuerst war er unten bei Clean Barrel…«

»Der Surfladen«, murmelte McNulty, als glaubte er, Bea brauchte einen Übersetzer.

»… aber Will Mendick — ein Typ, der da gearbeitet hat — hat ihm wohl empfohlen, sich an mich zu wenden. Ich gebe hin und wieder ein paar Bretter bei Clean Barrel in Kommission, aber nicht viele.«

»Man verdient ja nichts mehr, wenn man den Profit mit einem Händler teilen muss«, grollte Jago von hinten.

»Nur zu wahr«, bestätigte Angarrack. »Jedenfalls hatte Santo dort ein Brett gesehen, das ihm gefiel. Aber es war zu schwierig für ihn, auch wenn er das damals noch nicht wusste. Ein Shortboard. Ein Thruster, mit drei Finnen. Er hatte sich das Brett zeigen lassen, aber Will wusste, dass er das Surfen darauf nicht gut würde lernen können — wenn er's denn überhaupt lernen würde. Also hat er ihn zu mir geschickt. Ich habe Santo ein leichteres Board gebaut: breiter, länger und mit nur einer Finne. Und Madlyn — das ist meine Tochter — hat ihn unterrichtet.«

»So hat es mit den beiden also angefangen.«

»Im Grunde genommen. Ja.«

Der Wasserkocher schaltete sich aus. Angarrack goss das Wasser in die Becher, rührte um und sagte über die Schulter: »Hier ist dein Kaffee, Kumpel.« Jago Reeth trat zu ihnen, nahm den Kaffee entgegen und schlürfte geräuschvoll den ersten Schluck.

»Wie standen Sie dazu?«, fragte Bea. »Zu der Beziehung der beiden?« Sie sah, dass Jago Lew nicht aus den Augen ließ. Interessant, dachte sie und setzte beide Namen auf ihre imaginäre Liste.

»Um ehrlich zu sein, es hat mir nicht gefallen. Sie hat darüber ihr Ziel aus den Augen verloren. Früher hat sie immer auf etwas hingearbeitet. Die Landesmeisterschaft. Internationale Wettbewerbe. Doch als sie Santo kennengelernt hat, spielte das alles auf einmal keine Rolle mehr. Es gab nur noch Santo für sie.«

»Die erste Liebe«, kommentierte Jago. »Kann sehr schmerzhaft sein.«

»Sie waren beide zu jung«, befand Angarrack. »Nicht einmal siebzehn, als sie sich begegnet sind. Keinen Schimmer, wie alt sie waren, als sie sich zum ersten Mal…« Er vollführte eine Geste, die ihnen bedeutete, den Satz selbst zu beenden.

»Geliebt haben«, schlug Bea vor.

»In dem Alter hat das nichts mit Liebe zu tun«, entgegnete Angarrack. »Jedenfalls nicht bei den Jungs. Bei ihr war das anders. Leuchtende Augen und Watte im Hirn. Santo hier, Santo da. Ich wünschte, ich hätte etwas tun können, um es zu verhindern.«

»Das ist nun mal der Lauf der Welt, Lew.« Jago lehnte im Türrahmen zur Gießerwerkstatt, den Kaffeebecher mit beiden Händen umschlossen.

»Ich habe ihr nicht verboten, sich mit ihm zu treffen«, fuhr Angarrack fort. »Was hätte das schon genützt? Aber ich habe ihr eingeschärft, vorsichtig zu sein.«

»In welcher Hinsicht?«

»Das liegt doch wohl auf der Hand. Schlimm genug, dass sie an keinen Wettkämpfen mehr teilnahm. Aber was, wenn sie schwanger geworden wäre oder Schlimmeres.«

»Schlimmeres?«

»Wenn sie sich eine Krankheit eingefangen hatte.«

»Oh. Das hört sich an, als hielten Sie den Jungen für promiskuitiv.«

»Ich habe keine Ahnung, was er war, aber ich wollte es auch nicht herausfinden, indem ich Madlyn in irgendwelche Schwierigkeiten hineingeraten ließ — ganz egal welcher Art. Also habe ich sie gewarnt, und dann hab ich sie gewähren lassen.« Bislang hatte Angarrack seinen Kaffee nicht angerührt, doch jetzt hob er den Becher und trank einen großen Schluck. »Das war wahrscheinlich ein Fehler.«

»Warum? Ist sie…«

»Sie wäre schneller über ihn hinweggekommen, wenn es früher aus gewesen wäre. Aber so, wie die Dinge dann gelaufen sind, ist sie eben nicht über ihn hinweggekommen.«

»Ich schätze, jetzt wird sie es«, warf Bea ein.

Die beiden Männer tauschten einen Blick. Schnell, beinahe verstohlen. Bea bemerkte es trotz alledem und versah auf der imaginären Liste ihre beiden Namen mit einem nachdrücklichen Ausrufezeichen.

»Auf Santos Computer haben wir ein T-Shirt-Design für LiquidEarth gefunden.« Constable McNulty zückte den Ausdruck und reichte ihn an Lew Angarrack weiter. »Hatten Sie ihn damit beauftragt?«, fragte Bea.

Er schüttelte den Kopf. »Als Madlyn mit Santo Schluss gemacht hat, habe ich ebenfalls mit Santo Schluss gemacht. Vielleicht wollte er mit dem Design sein neues Board abbezahlen…«

»Noch ein Board?«

»Aus dem ersten war er längst herausgewachsen. Er brauchte ein neues, kein Anfängerbrett mehr, wenn er sich weiterentwickeln wollte. Aber nachdem ich ihn rausgeworfen hatte, hatte er keinerlei Möglichkeiten, dieses Brett zu bezahlen. Vielleicht deshalb dieser Entwurf.« Er gab McNulty das Blatt zurück.

»Zeigen Sie ihm das andere«, befahl Bea dem Constable, und McNulty förderte den "Sei subversiv!"-Entwurf zutage. Lew warf einen Blick darauf und schüttelte den Kopf. Er reichte ihn weiter an Jago, der mit den Fingerknöcheln seine Brille zurechtschob, das Blatt betrachtete und sagte: »Will Mendick. Das war für ihn.« »Der junge Mann vom Clean-Barrel-Surfshop?«, vergewisserte sich Bea.

»Das war einmal. Jetzt arbeitet er im Blue-Star-Supermarkt.«

»Was hat dieser Entwurf zu bedeuten?«

»Er ist Freeganer. So nennt er sich jedenfalls. Hat zumindest Santo mal gesagt.«

»Freeganer? Das habe ich noch nie gehört.«

»Er isst nur, was er umsonst bekommt. Zeug, das er anbaut, oder was er in den Müllcontainern vom Supermarkt oder hinter den Restaurants findet.«

»Wie appetitlich! Ist das irgendeine Bewegung oder so was?«

Jago zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Aber er und Santo waren befreundet, glaube ich, also war es vielleicht eine Gefälligkeit. Das Logo, meine ich.«

Bea hörte mit Zufriedenheit, dass Constable McNulty all das eifrig mitschrieb, statt die Surfposter an den Wänden zu begaffen. Weit weniger zufrieden war sie, als er Jago plötzlich fragte: »Haben Sie je eine der ganz großen Wellen gesehen?« Er errötete leicht, während er sprach, so als wüsste er ganz genau, dass er einen Fehltritt beging, könnte sich aber einfach nicht zurückhalten.

»Ja sicher. Ke Iki. Waimea. Jaws. Teahupoo.«

»Sind sie wirklich so gigantisch, wie es immer heißt?«

»Hängt vom Wetter ab«, antwortete Jago. »Manchmal so hoch wie… ein Bürohaus. Oder noch höher.«

»Wo? Wann?« Und als Entschuldigung fügte er, an Bea gewandt, hinzu: »Will ich auch mal sehen, wissen Sie. Mit meiner Frau und den Kindern… ist ein Traum… Und wenn wir fahren, will ich sicher sein, dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, verstehen Sie…«

»Ach, Sie surfen?«, fragte Jago.

»Bisschen. Nicht so wie ihr hier. Aber ich…«

»Das reicht, Constable«, beschied Bea.

Er wirkte kreuzunglücklich, als hätte sie ihn einer einmaligen Gelegenheit beraubt. »Ich wollte doch nur wissen…«

»Wo können wir Ihre Tochter finden?«, fragte sie Angarrack und brachte McNulty mit einer ungeduldigen Geste endgültig zum Schweigen.

Lew leerte seinen Becher und stellte ihn zurück auf den Klapptisch. »Was wollen Sie von Madlyn?«, fragte er.

»Ich denke, das liegt auf der Hand.«

»Das finde ich nicht.«

»Sie ist Santo Kernes Exfreundin, Mr. Angarrack. Sie muss wie jeder andere auch befragt werden.«

Es war offensichtlich, dass Lew Angarrack die Richtung nicht behagte, in die Bea ermittelte, aber er verriet ihr nichtsdestotrotz, wo seine Tochter arbeitete. Bea gab ihm ihre Karte und kreiste ihre Handynummer ein. Falls ihm noch irgendetwas einfalle…

Er nickte, kehrte an seine Arbeit zurück und schloss die Tür zu seinem Werkraum hinter sich. Sekunden später war erneut das Heulen der Schleifmaschine zu hören.

Jago Reeth blieb bei Bea und dem Constable. Nach einem Blick über die Schulter sagte er: »Eine Sache noch… Mir liegt was auf der Seele, also, wenn Sie noch einen Moment Zeit hätten…« Und auf Beas Nicken hin fuhr er fort: »Ich wär dankbar, wenn Lew das nicht erfährt, versteh'n Sie? Er wär stinksauer, wenn er's wüsste.«

»Worum geht es denn?«

Jago verlagerte nervös das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Ich hab's ihnen ermöglicht. Ich weiß, ich hätte das vermutlich nicht tun sollen. Nachher war mir das klar, aber da war das Kind schon in den Brunnen gefallen. Da konnt' ich's ja nicht mehr rausfischen…«

»So sehr ich Ihren virtuosen Umgang mit der Metapher auch bewundere, aber könnten Sie bitte etwas deutlicher werden?«, fragte Bea.

»Santo und Madlyn. Ich gehe fast jeden Nachmittag ins Salthouse Inn. Treff mich da mit 'nem Bekannten. Santo und Madlyn sind dann immer zu mir gegangen.«

»Um Sex zu haben?«

Er schien nicht gerade glücklich darüber, das einräumen zu müssen. »Ich hätte es ihnen selbst überlassen können, sich was zu suchen, aber es schien… Ich wollte, dass sie einen sicheren Ort haben, versteh'n Sie? Nicht irgendwo auf dem Rücksitz eines Autos. Nicht in… Was weiß ich.«

»Wenn man allerdings bedenkt, dass seinem Vater ein Hotel gehört…«, entgegnete Bea.

Jago fuhr sich mit dem Unterarm über den Mund. »Ja sicher. Schön. Sie hätten vielleicht eines der Zimmer im King George nehmen können. Aber das hieß ja nicht… Die beiden… Ich wollte nur… Oh, Mist. Wie hätte ich denn sonst sicher sein können, dass er benutzt, was er benutzen musste, um das Mädchen nicht in Gefahr zu bringen? Also hab ich sie für ihn liegen lassen. Gleich neben dem Bett.«

»Kondome.«

Er schien ein bisschen verlegen — ein alter Knabe, der eine so unverblümte Unterhaltung mit einer Frau führte, die er unter anderen Umständen vielleicht eine Dame genannt hätte. Eine Vertreterin des schönen Geschlechts, dachte Bea. Sie las diesen Gedanken in seinem Gesichtsausdruck.

»Er hat sie benutzt, aber nicht jedes Mal, versteh'n Sie?«

»Und woher wussten Sie, wann er sie benutzt hatte?«, bohrte Bea weiter.

Er wirkte aufrichtig entsetzt. »Du lieber Gott, Inspector!«

»Ich bin nicht sicher, ob Gott hiermit irgendetwas zu tun hat, Mr. Reeth. Wenn Sie mir bitte die Frage beantworten würden. Haben Sie die Kondome vorher und nachher gezählt? Im Müll nachgeschaut? Was?«

Seine Miene verriet sein Unbehagen. »Beides«, gestand er. »Verflucht noch mal, ich hab dieses Mädchen gern! Sie hat ein gutes Herz. Vielleicht geh'n ihr manchmal die Gäule durch, aber sie hat ein gutes Herz. Ich hab mir gedacht, es passiert sowieso mit den beiden, also kann ich auch dafür sorgen, dass es eine gute Erfahrung für sie wird.«

»Und wo wäre das? Ihr Haus, meine ich?«

»Ich wohne in einem Caravan drüben in Sea Dreams.«

Bea warf Constable McNulty einen Blick zu, und er nickte. Er wusste, wo das war. Gut.

»Möglicherweise werden wir ihn uns anschauen wollen«, sagte sie.

»Hab ich mir schon gedacht.« Jago schüttelte den Kopf. »Junge Leute. Wer denkt denn schon an die Folgen, wenn man jung ist?«

»Tja. Nun ja. Wer denkt im Eifer des Gefechts an die Folgen?«, wiederholte Bea.

»Manchmal sind es ja nicht einfach nur Folgen. Ich meine, sehen Sie sich das da an.« Er sprach jetzt anscheinend von einem der Poster an der Wand. Es zeigte ein Surfboard, das in die Luft schoss. Der Surfer hing wie gekreuzigt inmitten eines einzigartigen, monströsen Wipeouts in der Luft, vor dem Hintergrund einer massiven Wasserwand. »Sie denken nicht über den Moment selbst nach, geschweige denn über die Folgen… dieses Moments. Und dann passiert so was.«

»Wer ist das?«, fragte McNulty und trat näher an das Poster heran.

»Ein Kerl namens Mark Foo. Eine Minute wenn überhaupt vor seinem Tod.«

McNultys Mund formte ein ehrfürchtiges »Oh«, und er wollte schon antworten. Bea sah, dass er sich auf einen ausführlichen Surf-Plausch einrichtete, und sie konnte sich vorstellen, wohin das führen würde. »Das sieht ein bisschen gefährlicher aus als Klettern«, ging sie dazwischen. »Vielleicht hatte Santos Vater ja doch recht, seinem Sohn das Surfen ausreden zu wollen.«

»Und den Jungen von dem fernzuhalten, was er liebte? Was sollte daran richtig sein?«

»Vielleicht wollte er einfach nur sicherstellen, dass ihm nichts zustößt.«

»Hat ja prima geklappt«, wandte Jago Reeth ein und räusperte sich. »Vielleicht ist das eine Sache, die wir für andere einfach nicht sicherstellen können.«


Daidre Trahair bat darum, wieder den Internetzugang in Max Priestleys Büro in der Watchman-Redaktion benutzen zu dürfen, aber dieses Mal musste sie dafür bezahlen. Max verlangte allerdings kein Geld. Der Preis war ein Interview mit einem seiner Reporter. Steve Teller sei zufällig im Haus und arbeite an der Story über die Ermordung von Santo Kerne, erklärte er. Und sie, Daidre, sei das fehlende Puzzleteilchen. Das Verbrechen verlange nach einem Augenzeugenbericht.

»Ermordung?«, wiederholte Daidre, denn sie ahnte, dass dies die von ihr erwartete Reaktion war. Sie hatte den Leichnam gesehen und die Netzschlinge, was Max zwar nicht sicher wusste, aber womöglich vermutete.

»Die Cops haben uns heute Morgen informiert«, erklärte er. »Steve ist im Layout. Da ich den Computer im Moment selber brauche, kannst du dort mit ihm sprechen.«

Daidre glaubte nicht, dass Max seinen Computer gerade wirklich benötigte, aber sie erhob keine Einwände. Sie wollte mit der Sache nichts zu tun haben, wollte auch nicht, dass ihr Name, ihr Foto, die Lage ihres Cottages oder irgendwelche anderen persönlichen Informationen über sie in der Zeitung standen, aber sie sah keinen Weg, das zu verhindern, ohne Max' Argwohn zu wecken. Also willigte sie ein. Sie brauchte den Internetzugang, und hier hatte sie mehr Zeit und war ungestörter als an dem einzigen Computerarbeitsplatz in der Bücherei. Sie gestand sich ein, in dieser Hinsicht fast schon paranoid zu sein, aber ihrer Verfolgungsangst nachzugeben, schien ihr die klügste Vorgehensweise zu sein.

Sie begleitete Max also ins Layout und nutzte die Gelegenheit, ihm einen verstohlenen Blick zuzuwerfen. Sie wollte ergründen, was sich hinter seiner gelassenen Miene verbarg. Genau wie sie ging auch er gern auf dem Küstenpfad spazieren. Mehr als einmal war sie ihm auf dieser oder jener Klippe begegnet, der Hund seine einzige Begleitung. Beim vierten oder fünften Mal hatten sie darüber gewitzelt und vereinbart: »Wir sollten uns auch mal woanders treffen.« Und sie hatte ihn gefragt, warum er so oft die Küste entlangwanderte. Er hatte geantwortet, Lily habe Spaß daran, und er selbst sei gern allein. »Einzelkind«, hatte er erklärt. »Ich bin das Alleinsein gewöhnt.« Aber sie hatte nie geglaubt, dass das die ganze Wahrheit war.

An diesem Tag war sein Ausdruck unergründlich. Nicht dass er je sonderlich leicht zu lesen wäre. Wie üblich sah er aus, als wäre er einem Artikel in der Country Life über das Leben in Cornwall entsprungen: Der Kragen seines gestärkten blauen Hemdes schaute aus einem cremeweißen Seemannspulli, er war glatt rasiert, und seine Brille funkelte im Licht der Deckenleuchten so makellos wie alles andere an ihm. Ein Mann in den Vierzigern, tugendhaft und frei von Schuld.

»Hier hätten wir unsere Zielperson, Steve«, sagte er, als sie den Layout-Raum betraten, wo der Reporter an einem PC in der Ecke arbeitete. »Sie hat sich zu einem Interview bereit erklärt. Zeig keine Gnade mit ihr!«

Daidre warf ihm einen Blick zu. »Du klingst, als wäre ich irgendwie in die Sache verwickelt.«

»Du warst nicht gerade überrascht, geschweige denn entsetzt, als du gehört hast, dass es Mord war«, erwiderte Max.

Sie sahen einander in die Augen. Daidre wägte mögliche Antworten ab und sagte schließlich: »Ich habe den Leichnam gesehen, vergiss das nicht.«

»Und, war es denn so offensichtlich? Zuerst hieß es doch, er wäre abgestürzt.«

»Ich glaube, genau so sollte es auch aussehen.« Sie hörte Teller auf seine Tastatur einhämmern und fuhr ein wenig zu scharf fort: »Ich habe nichts davon gesagt, dass das Interview bereits begonnen hat.«

Max winkte ab. »Du befindest dich in Gesellschaft von Journalisten, meine Liebe. Wir stürzen uns auf jeden Happen. Du warst schließlich vorgewarnt.«

»Verstehe.« Sie nahm Platz, und sie wusste, es sah affektiert aus, wie sie auf der Kante eines Stuhls mit Sprossenlehne thronte, der kaum unbequemer hätte sein können. Sie hielt die Handtasche auf dem Schoß, die Hände darüber gefaltet. Wahrscheinlich sah sie aus wie eine Gouvernante oder eine hoffnungsvolle Bewerberin. Sie versuchte erst gar nicht, diesen Eindruck zu zerstreuen, und bemerkte: »Ich kann nicht sagen, dass ich besonders glücklich hierüber bin.«

»Das ist nie jemand außer vielleicht zweitklassige Promis.« Damit verließ Max den Raum und wandte sich anderen Dingen zu. »Janna, haben wir schon den genauen Termin der Untersuchung?« Doch Daidre hörte Jannas Antwort nicht mehr, denn Steve Teller hatte sich vor ihr aufgebaut und kam sofort zur Sache. Zunächst wolle er die Fakten, dann ihre Eindrücke, erklärte er. Letztere werde sie mit Sicherheit niemandem anvertrauen, beschloss sie, erst recht keinem Journalisten. Aber wie ein Polizist war er wahrscheinlich darauf getrimmt, Ungereimtheiten und Widersprüche aufzuspüren. Sie musste sich also vorsehen, was sie sagte und wie sie es sagte. Sie überließ nicht gerne irgendetwas dem Zufall.

Sie hielt sich insgesamt zwei Stunden in den Watchman-Räumen auf, etwa eine Stunde im Gespräch mit Teller und eine weitere in Internetrecherche vertieft. Als sie das, was sie suchte, gefunden und ausgedruckt hatte, um es später in Ruhe lesen zu können, gab sie als letzten Suchbegriff "Adventures Unlimited" ein. Sie zögerte kurz, ehe sie den Suchvorgang startete. War es besser, diese Dinge zu wissen oder sie nicht zu wissen? Und wenn sie sie wusste, wäre sie dann in der Lage, sie nicht preiszugeben nicht einmal durch ein verdächtiges Stirnrunzeln? Sie war nicht sicher, wie weit sie wirklich gehen sollte. Dann klickte sie auf "Suchen".

Die Trefferliste zu dem jungen Unternehmen war nicht allzu umfangreich. Die Mail on Sunday hatte einen längeren Artikel darüber gebracht, sah sie, genau wie verschiedene kleinere Zeitungen in Cornwall. Auch der Watchman zählte dazu.

Warum auch nicht, überlegte sie. Adventures Unlimited war schließlich eine Story aus Casvelyn. Und der Watchman war die Lokalzeitung. Das King-George-Hotel war gerettet worden Jetzt komm schon, Daidre, es ist ein denkmalgeschütztes Gebäude, wäre also kaum von der Abrissbirne bedroht gewesen!, und hier hatte auch so etwas Nachrichtenwert… Sie überflog den Artikel und betrachtete die Fotos. Es war das Übliche: der architektonische Aspekt, der Businessplan, die Familie. Und da waren sie alle abgelichtet, auch Santo. Über jeden gab es ein paar Informationen, niemand war besonders hervorgehoben worden, denn es war ja schließlich ein Familienunternehmen. Zum Schluss las sie die Verfasserzeile: Max selbst hatte den Artikel geschrieben. Das war nicht ungewöhnlich, denn die Redaktion war winzig, sodass jeder mit anpacken musste. Trotzdem war es potenziell verdächtig.

Sie fragte sich, was all das denn eigentlich mit ihr zu tun hatte: Max, Santo Kerne, die Klippen und Adventures Unlimited. Ihr kam John Donnes berühmter Ausspruch in den Sinn »Ich bin verbunden mit der Menschheit«, jedoch verwarf sie den Gedanken gleich wieder. Im Gegensatz zu dem Dichter fühlte sie sich der Menschheit viel zu häufig überhaupt nicht zugehörig und blieb lieber allein.

Dann verließ sie die Zeitungsredaktion. Sie dachte an Max Priestley und die Dinge, die sie gelesen hatte, als plötzlich jemand ihren Namen rief. Sie fuhr herum und erkannte Thomas Lynley die Princes Street entlang auf sie zukommen, ein großes Stück Pappe unter dem Arm, und eine kleine Plastiktüte baumelte an seinem Finger.

Wieder kam ihr in den Sinn, wie verändert er doch aussah ohne den zotteligen Bart, neu eingekleidet und wenigstens ein bisschen ausgeruhter. »Sie sehen nicht allzu niedergeschlagen aus nach Ihrem Waterloo am Dartbrett gestern Abend. Darf ich davon ausgehen, dass Ihr Ego nicht übermäßig ramponiert ist, Thomas?«

»Sie werden's nicht glauben«, erwiderte er. »Ich war die ganze Nacht auf und habe am Dartbrett im Salthouse Inn trainiert. Wo Sie regelmäßig jeden Herausforderer in die Knie zwingen, wie ich gehört habe — notfalls sogar mit verbundenen Augen, munkelt man dort.«

»Man übertreibt dort auch, fürchte ich.«

»Ach, wirklich? Haben Sie eigentlich sonst noch etwas vor mir geheim gehalten?«

»Roller-Derby«, gestand sie lächelnd. »Schon mal gehört? Eine amerikanische Sportart, wo furchteinflößende Frauen auf Inlineskates einander über den Haufen fahren.«

»Mein Gott!«

»Wir haben oben in Bristol ein junges Team, und als Jammer bin ich die Hölle auf Rädern. Auf meinen Skates bin ich noch weitaus rücksichtsloser als mit den Darts. Wir heißen übrigens die Boudica-Bräute, und mein Name ist Kickarse Electra. Unsere Pseudonyme sind allesamt angemessen bedrohlich.«

»Sie stecken voller Überraschungen, Dr. Trahair.«

»Das macht meinen Charme aus. Was haben Sie denn da?«, fragte sie und nickte auf sein Paket hinab.

»Ah. Ein Glücksfall, dass wir uns hier getroffen haben. Darf ich das hier in Ihrem Wagen deponieren? Es ist die neue Scheibe für das Fenster, das ich zerschlagen habe. Und das Werkzeug, um sie einzusetzen.«

»Woher in aller Welt wussten Sie die Größe?«

»Ich bin rausgefahren und habe es ausgemessen.« Er wies vage in die Richtung, wo er ihr Cottage vermutete, irgendwo im Norden von Casvelyn. »Ich musste schon wieder einbrechen, nachdem ich festgestellt hatte, dass Sie nicht da waren«, gestand er. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir.«

»Ich hoffe nur, dass Sie nicht schon wieder ein Fenster kaputt gemacht haben, um hineinzugelangen.«

»Das war nicht nötig, weil ja bereits eines kaputt war. Besser, wir reparieren es, ehe jemand anderes den Schaden entdeckt und sich unter den Nagel reißt, was immer Sie dort versteckt haben.«

»So gut wie nichts«, eröffnete sie ihm. »Es sei denn, irgendjemand möchte meine Dartscheibe stehlen.«

»Ich wünschte, jemand täte es«, seufzte er, und sie lachte.

»Jetzt da wir uns getroffen haben, darf ich die Sachen in Ihr Auto legen?«

Sie hatte den Wagen an derselben Stelle geparkt wie am Tag zuvor, gegenüber vom Toes on the Nose, wo sich die Surfergemeinde bereits wieder versammelt hatte. Heute standen die meisten jedoch draußen und hatten ein Auge auf St. Mevan Beach. Etwa dreihundert Meter vom Parkplatz entfernt ragte das King-George-Hotel auf. Daidre machte Lynley darauf aufmerksam. Dort habe Santo Kerne gewohnt, erklärte sie. Und dann fügte sie hinzu: »Sie haben gar nichts von Mord gesagt, Thomas. Sie müssen es gestern Abend schon gewusst haben, aber Sie haben es nicht mit einer Silbe erwähnt.«

»Wie kommen Sie darauf, dass ich es gewusst habe?«

»Sie sind gestern Nachmittag zusammen mit der Polizistin weggefahren. Sie sind selbst einer. Polizist, meine ich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es Ihnen nicht gesagt hat. Sie sind doch so gut wie Kollegen.«

»Sie hat es mir gesagt«, räumte er ein.

»Gehöre ich zu den Verdächtigen?«

»Wir alle sind verdächtig, ich selbst mit eingeschlossen.«

»Und haben Sie ihr gesagt…«

»Was?«

»Dass ich Santo Kerne kannte. Oder zumindest erkannt habe.«

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, und sie fragte sich, warum. »Nein«, erwiderte er schließlich. »Ich habe es ihr nicht gesagt.«

»Warum nicht?«

Er gab ihr keine Erklärung. Stattdessen bemerkte er: »Da ist Ihr Auto«, als sie es erreichten. Sie wollte auf einer Antwort bestehen; andererseits wollte sie sie gar nicht hören, weil sie sich nicht sicher war, was sie damit anfangen würde.

Sie durchwühlte ihre Tasche auf der Suche nach dem Schlüssel. Die Ausdrucke, die sie beim Watchman gemacht hatte, glitten ihr aus der Hand und flatterten auf den Bürgersteig hinab. »Verflixt«, sagte sie, während die Blätter sich mit Regenwasser vollsogen. Sie wollte sich schon hinknien, um sie aufzuheben. »Erlauben Sie«, sagte Lynley, stellte ganz Gentleman sein Paket ab und begann, die Blätter einzusammeln.

Überdies ganz Polizist, warf er einen Blick darauf und sah überrascht zu Daidre hoch. Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

»Hoffen Sie auf ein Wunder?«, fragte er.

»Mein Privatleben war in den letzten Jahren ziemlich unerfreulich. Ich finde, man sollte nichts unversucht lassen. Darf ich fragen, warum Sie es mir nicht gesagt haben, Thomas?«

»Was habe ich Ihnen nicht gesagt?«

»Dass Santo Kerne ermordet wurde. Top secret kann es ja wohl kaum gewesen sein. Sogar Max Priestley wusste es.«

Er reichte ihr die Ausdrucke und hob sein eigenes Paket wieder auf, während sie den Kofferraum des Vauxhalls öffnete. »Wer ist Max Priestley?«

»Der Herausgeber des Watchman. Ich habe vorhin mit ihm gesprochen.«

»Ich nehme an, die Presse wurde von Detective Inspector Hannaford informiert. Sie ist diejenige, die entscheidet, wann Informationen öffentlich gemacht werden, denn ich habe Zweifel, dass es bei der hiesigen Polizei einen Pressesprecher gibt. Es sei denn, sie hat jemanden dazu ernannt. Mir hätte es nicht angestanden, davon zu sprechen, ehe Detective Inspector Hannaford die Information freigegeben hatte.«

»Verstehe.« Sie hätte schlecht sagen können: Aber ich dachte, wir sind Freunde, denn das entsprach nicht den Tatsachen. Es schien wenig sinnvoll, das Thema weiterzuverfolgen, also fragte sie stattdessen: »Wollen Sie jetzt gleich mit raus zum Cottage kommen, um das Fenster zu reparieren?«

Er habe noch einige Kleinigkeiten in der Stadt zu erledigen, erklärte er, aber wenn es ihr recht sei, wolle er anschließend nach Polcare Cove kommen und alles in Ordnung bringen. Sie fragte, ob er denn wisse, wie man ein Fenster reparierte. Irgendwie sei es kaum vorstellbar, dass ein Blaublut — ob nun im Polizeidienst oder nicht — wisse, was man mit einer Glasscheibe und Kitt anfing.

Er erwiderte, er sei zuversichtlich, dass er das schon irgendwie zufriedenstellend hinbekommen werde. Und dann fragte er aus Gründen, die sie nicht verstand: »Führen Sie Ihre Recherchen immer in der Zeitungsredaktion durch?«

»Normalerweise recherchiere ich überhaupt nicht«, erwiderte sie. »Jedenfalls nicht, wenn ich in Cornwall bin. Aber wenn ich etwas nachschauen muss, ja. Dann gehe ich zum Watchman. Max Priestley hat einen Retriever, den ich mal behandelt habe, darum lässt er mich an seinen Computer.«

»Das wird doch nicht der einzige Internetzugang sein.«

»Vergessen Sie nicht, wo wir hier sind, Thomas. Ich kann froh sein, dass es in Casvelyn überhaupt Internet gibt.« Sie zeigte nach Süden auf den Hafen. »Ich könnte den Zugang in der Bücherei benutzen, aber dort bekommt man immer nur ein kurzes Zeitfenster. Nach fünfzehn Minuten ist der nächste Benutzer an der Reihe. Das macht einen wahnsinnig, wenn man irgendetwas Bedeutsameres tun will, als nur mal eben schnell seine E-Mails zu beantworten.«

»Und etwas Vertraulicheres, nehme ich an«, sagte Lynley.

»Auch das«, räumte sie ein.

»Wir wissen schließlich, wie viel Ihnen Ihre Privatsphäre bedeutet.«

Sie lächelte, aber sie wusste, es sah bemüht aus. Es war Zeit für einen Rückzug, geordnet oder nicht. Sie werde ihn wohl später sehen, wenn er vorbeikam, um ihr Fenster zu reparieren, sagte sie zum Abschied. Dann stieg sie ein.

Sie fühlte seinen stetigen Blick auf sich, als sie vom Parkplatz fuhr.


Lynley sah ihr nach. Sie war in mehr als nur einer Hinsicht ein Rätsel und hütete viele Geheimnisse. Manche hatten mit Santo Kerne zu tun, nahm er an. Aber nicht alle, hoffte er. Er wusste nicht so recht, warum, aber er gestand sich ein, dass er die Frau mochte. Er bewunderte ihre Unabhängigkeit und ihren Lebensstil, mit dem sie gegen den Strom zu schwimmen schien. Sie war anders als alle anderen Menschen, die er kannte.

Aber das an sich warf schon Fragen auf. Wer genau war sie, und warum schien es, als sei sie erst als Jugendliche ins Leben getreten, fertig geformt, wie Athene aus Zeus' Kopf geboren? Die Leerstellen in ihrem Leben waren zutiefst beunruhigend. Er musste gestehen, dass hundert rote Warnflaggen diese Frau umgaben, und nur einige davon hingen mit einem toten Jungen am Fuß der Klippe in der Nähe ihres Cottages zusammen.

Vom Parkplatz aus ging er zu Fuß zur Polizeiwache am Ende der Lansdown Road. Zu beiden Seiten der schmalen Kopfsteinpflasterstraße standen Reihen weißer Häuser mit kaputten Dächern und fleckigen Fassaden, an denen das Wasser aus löchrigen, verrosteten Regenrohren herablief. Die meisten Häuser vermittelten einen heruntergekommenen Eindruck, wie überall in den ärmeren Gegenden Cornwalls, die die Flutwelle der Immobiliensanierung noch nicht erreicht hatte. Ein einziges Haus wurde hier derzeit renoviert das Gerüst ein Vorbote auf bessere Zeiten für zumindest einen Bewohner dieses Viertels.

Die Polizeiwache selbst war sogar in dieser Umgebung ein Schandfleck, ein grau verputzter Kasten ohne jeden architektonischen Charme, Fassade und Dach — flach ein Schuhkarton mit dem gelegentlichen Fenster und einem Schaukasten gleich neben der Tür.

Man betrat einen Eingangsbereich, der mit drei Plastikstühlen und einer Empfangstheke ausgestattet war. Dahinter saß Bea Hannaford, den Telefonhörer ans Ohr gepresst. Sie hob einen Finger zum Gruß und sagte zu ihrem Gesprächspartner: »Verstanden. Na ja, das ist keine große Überraschung, oder… Dann werden wir sie uns wohl noch mal vorknöpfen müssen.«

Sie legte auf und führte Lynley in die Einsatzzentrale im ersten Stock, die bis vor Kurzem als Konferenz-, Pausen- und Garderobenraum gedient zu haben schien. Inzwischen war sie zwar mit ein paar Magnettafeln und HOLMES-Computern ausgestattet worden, aber offensichtlich unzureichend bemannt. Der Constable und der Sergeant waren emsig bei der Arbeit, sah Lynley, und zwei weitere Beamte standen in einer Ecke zusammen und tauschten sich entweder über den Fall oder aber über die Rennergebnisse in Newmarket aus schwer zu sagen. Aufgaben waren an einer Magnettafel aufgelistet: einige abgehakt, andere noch unerledigt.

Detective Inspector Hannaford wies Collins an: »Besetzen Sie den Empfang, Sergeant.« Und nachdem er den Raum verlassen hatte, fuhr sie, an Lynley gewandt, fort: »Sie hat gelogen, wie sich herausgestellt hat.«

»Wer?«, fragte er, auch wenn es seines Wissens nur eine "sie" gab, die Gegenstand der Ermittlungen war.

»Das ist doch wohl eine rhetorische Frage«, bemerkte Hannaford. »Unsere Frau Trahair natürlich. In keinem einzigen Pub auf der ganzen Strecke, die sie angeblich von Bristol hier herunter genommen hat, erinnert man sich an sie. Und zu dieser Jahreszeit hätte man sich an sie erinnert, wenn wir bedenken, wie wenig Verkehr derzeit in diesem Teil der Welt herrscht.«

»Vielleicht«, räumte er ein. »Aber es müssen doch mindestens hundert Pubs an der Strecke liegen.«

»Nicht da, wo sie entlanggefahren ist. Zu behaupten, das wäre ihre Route gewesen, war möglicherweise ihr erster Fehler. Und wer einen Fehler macht, macht weitere, glauben Sie mir. Was haben Sie über sie erfahren?«

Lynley berichtete, was er in Falmouth über Daidre Trahair herausgefunden hatte. Er fügte hinzu, was er über ihren Bruder, ihre Arbeit und ihre Ausbildung wusste. Alles, was sie über sich erzählt hatte, habe sich als zutreffend erwiesen. So weit, so gut.

»Und wieso habe ich das Gefühl, dass Sie mir nicht alles sagen, was Sie wissen?«, setzte Bea Hannaford nach, nachdem sie ihn einen Moment lang betrachtet hatte. »Verheimlichen Sie mir irgendetwas, Superintendent Lynley?«

Er wollte entgegnen, dass er nicht mehr Superintendent war. Er hatte überhaupt nichts mehr mit der Polizei zu tun, und deswegen war er auch nicht verpflichtet, ihr alles zu sagen, was er herausgefunden hatte. Doch stattdessen antwortete er: »Sie hat eine eigenartige Internetrecherche gemacht. Mir ist allerdings nicht klar, was das mit dem Mord zu tun haben könnte.«

»Was für eine Recherche?«

»Wunder«, sagte er. »Oder vielmehr Orte, an denen angeblich Wunder geschehen sind. Lourdes, zum Beispiel. Eine Kirche in New Mexico. Da war noch mehr, aber ich hatte nicht die Gelegenheit, alles durchzusehen, außerdem hatte ich meine Lesebrille nicht auf. Sie hat den Internetzugang beim Watchman benutzt. Das ist die Lokalzeitung. Anscheinend ist sie mit dem Herausgeber bekannt.«

»Max Priestley«, rief Constable McNulty von seinem Computer in der Ecke des Raumes herüber. »Er hatte übrigens Kontakt zu dem toten Jungen.«

»Ach, wirklich?«, fragte Bea Hannaford. »Das ist ja mal eine interessante Wendung.« Sie erklärte Lynley, der Constable gehe auf der Suche nach nützlichen Informationen Santo Kernes E-Mails durch.

»Was hat er denn geschrieben?«

»"Es raubt mir nicht den Schlaf. Bring du dich also nicht um deinen." Ich nehme an, das kommt von Priestley; die Absenderadresse lautet jedenfalls "MEP at Watchman dot com". Obwohl es natürlich jeder geschickt haben könnte, der sein Passwort kennt und Zugang zu einem Computer in der Redaktion hat, schätze ich.«

»Ist das alles?«, fragte Hannaford den Constable.

»Das ist alles von Priestley. Aber ich habe eine ganze Sammlung von dem Angarrack-Mädchen, mit dem Absender "at LiquidEarth". Fast schon ein Protokoll ihrer Beziehung. Von locker über vertrauter, intim, heiß bis hin zu… plastisch. Und dann nichts mehr. Als wollte sie keine schriftlichen Spuren hinterlassen, nachdem sie einmal angefangen hatten, es miteinander zu treiben.«

»Interessant«, bemerkte Bea.

»Fand ich auch. Aber "verrückt nach ihm" kommt den Gefühlen, die sie für den Jungen hatte, nicht einmal ansatzweise nahe. Wenn Sie mich fragen: Als die Sache zwischen ihr und Santo in die Brüche ging, hätte sie ihm bestimmt am liebsten die Eier abgeschnitten. Wie war das doch gleich wieder mit den geschmähten Frauen?«

»Die Hölle kennt keine Rache wie die einer verschmähten Frau«, murmelte Lynley.

»Genau. Na ja. Ich würd sagen, wir nehmen sie mal unter die Lupe. Sie hatte bestimmt irgendwann Zugang zu seiner Kletterausrüstung. Oder wusste zumindest, wo er sie aufbewahrt hat.«

»Sie steht auf unserer Liste«, bestätigte Hannaford. »War das alles?«

»Ich hab hier noch ein paar E-Mails von jemandem, der sich "Freeganman" nennt, und ich würde sagen, das ist Mendick. Ich glaube kaum, dass es in der Stadt noch mehr Leute mit seinem Fimmel gibt.«

Hannaford erklärte Lynley das Pseudonym, wie sie davon erfahren hatten und auf wen es verwies. »Und was teilt Mr. Mendick mit?«, fragte sie den Constable.

»"Können wir das für uns behalten?" Nicht besonders aufschlussreich, aber immerhin…«

»Ein guter Grund, mit ihm zu reden. Setzen wir den Blue-Star-Supermarkt also auch auf die Liste.«

»Okay.« McNulty wandte sich wieder dem Bildschirm zu.

Hannaford ging zu einem Schreibtisch hinüber und begann, eine Schultertasche zu durchwühlen, die recht schwer aussah. Schließlich förderte sie ein Handy zutage und warf es Lynley zu. »Der Empfang ist miserabel hier in der Gegend, hab ich festgestellt, aber ich möchte, dass Sie es bei sich tragen, und zwar eingeschaltet.«

»Und aus welchem Grund?«, fragte Lynley.

»Muss ich meine Gründe wirklich darlegen, Superintendent?«

Und sei es nur, weil ich ranghöher bin als Sie, wäre unter anderen Umständen seine Antwort gewesen. »Ich bin nur neugierig«, sagte er indes. »Es deutet darauf hin, dass Sie glauben, ich könne weiterhin von Nutzen sein.«

»Das ist korrekt. Wir sind unterbesetzt, und ich will, dass Sie sich mir zur Verfügung halten.«

»Ich bin aber kein…«

»Blödsinn! Einmal Bulle, immer Bulle. Hier ist Not am Mann, und wir wissen beide, dass Sie einer Situation nicht den Rücken kehren, wenn Ihre Hilfe gebraucht wird. Außerdem sind Sie ein wichtiger Zeuge, und bis ich Ihnen sage, dass Sie gehen dürfen, gehen Sie nirgendwohin. Also können Sie sich ebenso gut nützlich machen.«

»Schwebt Ihnen dabei etwas Bestimmtes vor?«

»Daidre Trahair. Details. Alles. Von der Schuhgröße bis zur Blutgruppe und alles dazwischen.«

»Aber wie soll ich…«

»Oh, bitte, Detective. Machen Sie mir nichts vor. Sie wissen genau, wie man das macht, und Sie haben Charme. Setzen Sie ihn ein. Graben Sie in ihrer Vergangenheit. Nehmen Sie sie mit zum Picknick. Führen Sie sie schick aus. Lesen Sie ihr Gedichte vor. Streicheln Sie ihr die Hand. Gewinnen Sie ihr Vertrauen. Mir ist verdammt noch mal egal, wie, aber tun Sie's! Und wenn Sie es geschafft haben, will ich alles erfahren. Ist das klar?«

Während sie sprach, war Sergeant Collins an der Tür erschienen. »Chef? Da will Sie jemand sprechen. Seltsames Vögelchen namens Tammy Penrule. Sie wartet unten. Sie sagt, sie hat Informationen für Sie.«

Hannaford redete weiter auf Lynley ein: »Und sorgen Sie dafür dass dieses Telefon immer aufgeladen ist. Machen Sie ich an die Arbeit! Tun Sie, was getan werden muss!«

»Mir ist nicht wohl bei…«

»Das ist nicht mein Problem. Außerdem hat Mord nichts mit Wohlbefinden zu tun.«

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