17

»Du verstehst überhaupt nichts, Granddad. Kein Wunder, dass dich alle irgendwann verlassen haben«, hatte sie ihm noch entgegengeschleudert, ehe sie in Casvelyn aus dem Auto gestiegen war. Sie hatte eher traurig als wütend geklungen, und das hatte es Selevan Penrule unmöglich gemacht, entrüstet zu reagieren. Er hätte nur zu gerne ein rhetorisches Geschoss auf sie abgefeuert und mit seiner langen Erfahrung in verbaler Kriegsführung genüsslich zugesehen, wie es sein Ziel fand. Aber irgendetwas in ihren Augen hatte ihn daran gehindert trotz der Kränkung, die ihre Worte bei ihm verursacht hatten. Vielleicht war er ja aus der Übung, dachte er. Entweder das oder das Mädchen fing an, ihm gar zu sehr ans Herz zu wachsen. Diese Vorstellung gefiel ihm ganz und gar nicht.

Er hatte sie auf der Fahrt zum Clean-Barrel-Surfshop zur Rede gestellt, und er war stolz auf sich gewesen, dass er einen ganzen Tag lang der Versuchung widerstanden hatte, sie sich gleich vorzuknöpfen. Er war kein Freund von Geheimnissen, und Lügen verabscheute er erst recht. Dass Tammy Erstere hütete und Letztere benutzte, machte ihm schwerer zu schaffen, als er es sich eingestehen wollte. Denn trotz ihrer Eigenarten in Bezug auf Kleidung, Benehmen, Ernährung und Absichten mochte er das Mädchen. Und er wollte nur zu gerne glauben, dass sie anders war als die übrigen Teenager dieser Welt, diese verschlagenen Halbwüchsigen, die ein heimliches Zweitleben führten, das von Sex, Drogen und körperlicher Verstümmelung bestimmt zu sein schien.

Er hatte tatsächlich geglaubt, dass sie sich von ihren Altersgenossen unterschied. Doch dann hatte er beim Beziehen der Betten den Umschlag unter ihrer Matratze gefunden, und beim Lesen des Inhalts hatte er erkennen müssen, dass sie auch nicht anders war als die anderen. Alle Fortschritte, die er mit ihr gemacht zu haben glaubte, waren nur Lug und Trug gewesen.

In einer anderen Situation hätte dieses Wissen ihn nicht weiter belastet. Nichts würde überstürzt passieren, also würde ihm Zeit bleiben, seine Bemühungen zu verdoppeln und ihr seinen Willen aufzuzwingen… und den Willen ihrer Eltern. Das Problem dabei war allerdings, dass Tammys Mutter nicht gerade für ihre Geduld berühmt war. Sie wollte Ergebnisse sehen, und wenn diese sich nicht binnen Kurzem einstellten, wusste Selevan, wäre Tammys Zeit in Cornwall schon bald vorüber.

Also hatte er während der Fahrt den Umschlag hervorgezogen, den er unter ihrer Matratze gefunden hatte, und aufs Armaturenbrett gelegt. Tammy hatte erst den Umschlag angesehen, dann ihren Großvater. Und schließlich war dieses gottverdammte Mädchen in die Offensive gegangen: »Du durchwühlst also meine Sachen, wenn ich nicht zu Hause bin.« Sie hatte zu Tode gekränkt geklungen. »Das hast du mit Tante Nan auch getan, nicht wahr?«

Er gedachte nicht, sich auf eine Debatte über seine Tochter und den Taugenichts einzulassen, mit dem sie seit zweiundzwanzig Jahren verheiratet war — angeblich glücklich. »Das hier hat nichts mit deiner Tante zu tun«, hatte er entgegnet. »Tammy, was soll dieser Blödsinn?«

»Du kannst es einfach nicht akzeptieren, wenn jemand anderer Ansicht ist als du, Granddad. Und das ist so typisch für dich! Wenn irgendetwas nicht Teil deines Erfahrungshorizontes ist, dann ist es nicht wert, zur Kenntnis genommen zu werden. Oder es ist schlecht. Oder sogar böse. Aber das hier ist nicht böse. Es ist das, was ich will, und wenn du und Dad und Mum nicht einsehen könnt, dass es die Antwort ist, die diese ganze verdammte Welt jetzt braucht, damit sie eben aufhört, eine verdammte Welt zu sein…« Sie hatte sich den Umschlag geschnappt und ihn in ihren Rucksack gestopft. Er hatte damit geliebäugelt, ihn ihr zu entreißen und aus dem Fenster zu werfen, aber was hätte das genützt? Wo dieser eine Umschlag herkam, da waren auch noch weitere.

Als sie wieder gesprochen hatte, war ihre Stimme verändert gewesen. Sie hatte erschüttert geklungen — das Opfer eines Verrats. »Ich dachte, du würdest mich verstehen. Oder zumindest habe ich dich nicht für jemanden gehalten, der in den Sachen anderer Leute herumschnüffelt.«

Das hatte Selevan auf die Palme gebracht. Er war doch schließlich derjenige gewesen, der von ihr verraten worden war, oder etwa nicht? Sie hatte den Brief vor ihm versteckt, nicht andersherum. Wenn ihre Mutter aus Afrika anrief und sie über Tammy sprachen, dann verheimlichte er das ja auch nicht vor ihr, und sie verwendeten am Telefon auch keine Codewörter. Also war ihre Empörung völlig unangebracht.

»Jetzt wirst du mir mal zuhören«, hatte er angehoben.

»Das werde ich nicht«, hatte sie leise erwidert. »Nicht bis du mir auch zuhörst.«

Und dabei war es geblieben, bis sie in Casvelyn die Autotür geöffnet hatte. Sie hatte ihm ihre Abschiedsworte entgegengeschleudert und war zum Laden hinübergestapft. Der Selevan von früher wäre ihr gefolgt. Keines seiner Kinder hatte je so mit ihm gesprochen, ohne umgehend den Riemen, den Gürtel oder seine Hand zu spüren. Aber das Problem war: Tammy war nicht sein Kind. Eine verletzte Generation stand zwischen ihnen, und sie wussten beide, wer die Wunden geschlagen hatte.

Also hatte er sie gehen lassen und war nach Sea Dreams zurückgefahren, sein Herz bleischwer. Er hatte den Caravan geputzt und sich in der Hoffnung, sein Magen würde aufhören zu schlingern, wenn er ihn füllte, ein zweites Frühstück aus weißen Bohnen auf Toast zubereitet. Er hatte den Teller zum Tisch hinübergetragen und gegessen, aber nichts hatte das kranke Gefühl in ihm verdrängen können.

Eine zuschlagende Autotür lenkte Selevan schließlich von seinem Kummer ab. Er blickte aus dem Fenster und sah, wie Jago Reeth gerade die Tür zu seinem Caravan aufschloss, als Madlyn Angarrack auf ihn zutrat. Jago stieg die Stufen wieder hinunter, streckte die Hände aus und nahm Madlyn in die Arme, tätschelte erst ihren Rücken, dann den Kopf. Madlyn trocknete sich an Jagos Flanellärmel die Tränen, und dann traten sie gemeinsam ins Innere des Caravans.

Der Anblick versetzte Selevan einen schmerzhaften Stich. Er verstand einfach nicht, wie Jago Reeth schaffte, was ihm selbst so unmöglich zu sein schien. Jago war ein Mann, dem junge Leute sich anvertrauten. Offensichtlich hatte er eine bestimmte Art, Jugendlichen zuzuhören und auf sie einzugehen, die Selevan zu lernen versäumt hatte.

Aber es war ja auch verdammt einfach, wenn es sich nicht um die eigenen Verwandten handelte. Hatte Jago das nicht selbst eingeräumt?

Egal. Selevan wusste nur, dass sein Freund womöglich den Schlüssel zu der einen, zu der einzigen vernünftigen Unterhaltung zwischen ihm und seiner Enkelin in Händen hielt. Er musste herausfinden, was genau dieser Schlüssel war, und zwar noch ehe Tammys Mutter die Reißleine zog und Tammy weiß Gott wohin schickte, um sie zu kurieren.

Er wartete, bis Madlyn Angarrack wieder gegangen war — genau dreiundvierzig endlose Minuten lang. Dann beeilte er sich, zu Jagos Caravan hinüberzukommen, und klopfte heftig an die Tür. Als Jago öffnete, erkannte Selevan mit einem Blick, dass sein Freund im Begriff war zu gehen. Er hatte bereits seine Jacke an, ein Stirnband, das ihm das lange Haar aus dem Gesicht hielt, und die zerbrochene Brille auf der Nase, die er sonst nur bei LiquidEarth trug. Selevan wollte sich schon entschuldigen, aber der andere Mann unterbrach ihn und bat ihn herein.

»Du hast etwas auf dem Herzen«, bemerkte er. »Das sehe ich, ohne dass du es mir sagen musst. Lass mich nur eben…« Jago griff zum Telefon und tippte eine Nummer ein. Anscheinend erreichte er lediglich einen Anrufbeantworter, denn er sagte: »Lew, ich bin's. Ich komme ein bisschen später. Ich hab hier zu Hause so was wie einen Notfall. Madlyn ist übrigens vorbeigekommen. Sie war ein bisschen durcheinander, aber ich schätze, jetzt geht's wieder. Im Wärmeschrank steht ein Board, das du dir ansehen solltest, okay?« Und dann legte er auf.

Selevan beobachtete seine Bewegungen. Die Parkinson-Symptome waren an diesem Morgen schlimmer als sonst. Entweder das, oder Jagos Medikamente wirkten noch nicht. Alt zu werden, war kein Spaß, das stand mal fest. Aber alt und krank zusammen das war richtig übel.

Schweigend zog er die seltsame Halskette hervor, die er Tammy tags zuvor abgeknöpft hatte. Er legte sie auf den Tisch, und als Jago sich neben ihn auf die Bank setzte, eröffnete er ihm: »Das hab ich bei ihr gefunden. Sie hatte es um den Hals. Das "M" steht für Maria, sagt sie. Ist das denn zu glauben? Sagt mir das einfach so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.«

Jago nahm die Kette in die Hand und betrachtete sie. »Ein Skapulier«, murmelte er.

»Genau! So hat sie es genannt! Skapulier. Aber das "M" steht für Maria. Das macht mir Sorgen.«

Jago nickte, aber Selevan sah auch ein Lächeln in seinen Mundwinkeln lauern. Das ärgerte ihn. Jago hatte gut lachen! Es war ja nicht seine Enkelin, die mit einem "M" für Maria um den Hals herumlief.

»Irgendetwas ist irgendwann mit dem Mädchen passiert«, sagte er. »Das ist die einzige Erklärung für den Zustand, in dem es sich jetzt befindet. Afrika ist daran schuld. All die Eingeborenenfrauen, die es da gesehen hat, die mit baumelnden Brüsten über die Straße laufen. Ist doch kein Wunder, dass es da ganz durcheinander ist.«

»Heilige Muttergottes«, sagte Jago.

»Das kannst du laut sagen«, schnaubte Selevan.

Jago fing an zu lachen, laut und herzhaft, und als Selevan entrüstet auffuhr, winkte Jago beschwichtigend ab: »Jetzt reg dich mal ab, Kumpel! Du hast doch selber gesagt, das "M" steht für Maria. Auf einem Skapulier steht das "M" für Maria, die Muttergottes. Das hier ist ein religiöser Gegenstand. So etwas tragen Katholiken. An manchen hängt auch ein Bild von Jesus. Oder ein Heiliger. St. Sowieso von Sowieso. Es ist ein Frömmigkeitssymbol.«

»Verdammt«, murmelte Selevan. »Das wird ja immer vertrackter.« Tammys Mutter träfe der Schlag, so viel war sicher. Ein Grund mehr, Tammys Sachen zu packen und sie vor die Tür zu setzen. In Sally Joys Vorstellung rangierten Katholiken auf der Liste der verachtungswürdigsten Menschen auf Platz zwei gleich hinter Terroristen. »Wenn es wenigstens St. Georg und sein Drache wären«, brummelte er. Das hätte man zumindest patriotisch deuten können.

»St. Georg wirst du auf einem von diesen Dingern wohl kaum finden«, entgegnete Jago und ließ das Skapulier von seinem Finger baumeln. »Drachen sind schließlich Fabelwesen. Und darum ist auch St. Georg selbst mit einem dicken Fragezeichen behaftet. Aber grundsätzlich sind sie genau dazu da: Der Gläubige oder im Fall deiner Tammy die Gläubige, die einen bestimmten Heiligen besonders verehrt, trägt so ein Ding um den Hals, vermutlich um sich selbst ein bisschen heiliger zu fühlen.«

»Die verdammten Politiker sind schuld«, behauptete Selevan finster. »Sie haben die Welt zu dem gemacht, was sie heute ist, und darum versucht das Mädchen, eine Heilige zu werden. Sich auf das Ende der Welt vorzubereiten. Und lässt sich das von nichts und niemandem ausreden.«

»Hat sie das behauptet?«

»Hä?« Selevan griff nach dem Skapulier und stopfte es zurück in die Brusttasche seines Hemdes. »Sie sagt, sie will ein Leben im Gebet führen. Das waren ihre Worte. "Ich will im Gebet leben, Granddad. Ich glaube, das ist es, was jeder anstreben sollte." Als würde es helfen, auch nur ein einziges Problem auf der Welt zu lösen, wenn man sich irgendwo in eine Höhle setzt und Gras isst und einmal pro Woche seine eigene Pisse trinkt.«

»So sehen ihre Pläne aus?«

»Ach, was weiß denn ich, wie ihre Scheißpläne aussehen! Niemand weiß das, und das gilt ganz besonders für das Mädchen selbst. Siehst du nicht, wie es läuft? Sie hört von irgendeiner Religion, der sie sich anschließen kann, und das tut sie dann auch gleich, weil genau diese eine Religion anders als alle anderen diejenige ist, die die Welt retten wird.«

Jago wirkte versonnen. Selevan hoffte inständig, sein Freund würde eine Lösung für sein Problem mit Tammy zum Besten geben, doch Jago schwieg beharrlich, also fuhr Selevan fort: »Ich komme einfach nicht zu ihr durch. Nicht einmal ansatzweise. Unter ihrem Bett hab ich einen Brief gefunden. Sie haben ihr geschrieben, sie solle vorbeikommen und sich alles ansehen. Führ ein Gespräch mit uns, damit wir dir auf den Zahn fühlen und sehen können, ob du hier reinpasst und ob wir dich haben wollen und was sonst noch. Ich habe sie darauf angesprochen, und da ist sie fuchsteufelswild geworden, weil ich angeblich in ihren Sachen rumgeschnüffelt habe.«

Jago kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Stimmt ja auch«, sagte er.

»Was?«

»Du hast in ihren Sachen geschnüffelt, oder etwa nicht?«

»Musste ich doch! Wenn nicht, wäre ihre Mutter wieder hinter mir her gewesen wie der Teufel hinter der armen Seele. Sie sagt immer: "Wir müssen sie zur Vernunft bringen. Irgendjemand muss sie zur Vernunft bringen, ehe es zu spät ist."«

»Genau das ist das Problem«, wandte Jago ein. »Das ist genau der Punkt, wo ihr alle euch irrt.«

»Wie meinst du das?« Selevan sah seinen Freund mit großen Augen an. Wenn er die Sache mit Tammy falsch angepackt hatte, dann wollte er auf der Stelle erfahren, wie er es richtig machen konnte. Das war schließlich der Grund, warum er zu Jago gekommen war.

»Das Furchtbare mit diesen jungen Leute ist, dass man ihnen zugestehen muss, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen«, erklärte Jago.

»Aber…«

»Lass mich ausreden! Es gehört zum Erwachsenwerden dazu. Sie treffen eine Entscheidung, machen Fehler, und wenn nicht sofort jemand angerannt kommt wie die Feuerwehr, um sie vor den Folgen zu bewahren, dann lernen sie sogar etwas daraus. Es ist nicht die Aufgabe von Eltern oder Großeltern, ihnen genau diese Erfahrungen vorzuenthalten, aus denen sie lernen können. Eltern und Großeltern sind einzig und allein dazu da, ihnen am Ende der ganzen Geschichte zur Seite zu stehen.«

Selevan lehnte sich nachdenklich zurück. Je länger er darüber nachdachte, umso eher stimmte er seinem Freund sogar zu. Allerdings war Zustimmung eine Sache des Intellekts. Sie hatte nichts mit dem Herzen zu tun. Jagos Lebenssituation ohne eigene Kinder oder Enkel machte es ihm leicht, dieser bewundernswerten Philosophie anzuhängen. Es erklärte auch, warum die jungen Leute sich so gern mit ihm unterhielten. Sie redeten, und er hörte zu. Wahrscheinlich war es so ähnlich, als vertraute man seine Geheimnisse einer Mauer an. Aber wo lag der Sinn, wenn die Mauer nicht antwortete: "Halt mal! Du bist im Begriff, dich zum Narren zu machen"? Oder: "Du triffst die falsche Wahl, verdammt!" Oder: "Hör mir zu, denn ich lebe schon ungefähr sechzig Jahre länger als du, und diese Jahre sind eine Menge wert, denn wozu hätte ich sie sonst gelebt haben sollen"? Und davon abgesehen: Hatten Eltern und Großeltern nicht das Recht, ihre Nachkommen zur Räson zu rufen? Ganz zu schweigen von dem Recht zu entscheiden, was diese Nachkommen mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollten. Das war es doch, was ihm selbst passiert war. Vielleicht war es nicht das gewesen, was ihm gefallen, was er gewollt hatte oder was er sich je selbst ausgesucht hätte; aber war er nicht ein besserer und stärkerer Mann geworden, weil er seine Träume von der Navy für ein pflichterfülltes Leben auf der Farm begraben hatte?

Jago beobachtete ihn, eine buschige Braue über den Rand seiner ramponierten Brille hochgezogen. Sein Ausdruck war unmissverständlich: Er wusste genau, was Selevan von seinen Zuhörerqualitäten hielt, und er würde dieser Einschätzung nicht widersprechen.

»Es steckt ein bisschen mehr dahinter, Kumpel, ganz gleich was du denkst. Wenn du sie erst mal kennenlernst, liegen sie dir irgendwann auch am Herzen, und es ist grässlich mitanzusehen, wenn sie die falschen Entscheidungen treffen. Aber wenn man jung ist, hört man eben nicht auf gute Ratschläge. Oder hast du das etwa getan?«

Selevan senkte den Blick. Denn genau das war das Haar in der Suppe seines Lebens, wenn man die Dinge genau betrachtete: Er hatte die guten Ratschläge gehört. Er hatte ihnen Folge geleistet. Und diese Entscheidung sein Leben lang bereut.

»Verdammter Mist«, seufzte er. Er vergrub das Gesicht in den Händen.

»Ja, genau«, stimmte sein Freund Jago Reeth zu.


Bea hatte den Tag nicht gerade mit strahlender Laune begonnen, und die Dinge besserten sich auch nicht während ihrer Besprechung mit DS Havers von New Scotland Yard. Als die Beamtin in Casvelyn eingetroffen war, hatte Bea ihr aufgetragen, sich im Salthouse Inn einzumieten und genauestens in Erfahrung zu bringen, was Thomas Lynley bislang über Daidre Trahair herausgefunden hatte. Sie wusste, DS Hackvers hatte in London lange mit Lynley zusammengearbeitet, und wenn irgendjemand in der Lage war, dem Mann etwas zu entlocken, so hatte Bea geglaubt, dann war es Barbara Havers. Aber "anscheinend sauber" war alles, was Havers in Bezug auf Lynleys Recherchen über die Vergangenheit der mysteriösen Tierärztin zu berichten wusste. Und das verleitete Hannaford dazu, ihre eigene Sichtweise in dieser ganzen Angelegenheit in Zweifel zu ziehen. Immerhin hatte sie höchstpersönlich zugestimmt, als Assistant Commissioner Sir David Hillier von Scotckland Yard ihr angeboten hatte, Lynleys einstige Partnerin leihweise vorbeizuschicken, um bei den Mordermittlungen auszuhelfen. Doch auf ihre Frage: »Was wissen wir von Superintendent Lynley über Dr. Trahair?«, hatte sie lediglich zu hören bekommen: »Er sagt, so weit ist alles sauber, aber er macht weiter.« Und das war es nicht, was sie zu hören gehofft hatte. Es hatte sie ins Grübeln gebracht. Über Loyalitäten und über die Frage, wo diese liegen mochten.

Sie hatte selbst mit Lynley gesprochen. Er hatte über seinen Besuch in Pengelly Cove am vorangegangenen Nachmittag berichtet, und sie hatte mit Argwohn registriert, dass sein Interesse jetzt in erster Linie der Kerne-Familie galt. Zwar würde früher oder später auch bei Adventures Unlimited das Unterste zuoberst gekehrt werden müssen, aber Lynleys Nachforschungen über die Kernes würden sein Interesse an Daidre Trahair nicht wachhalten, dabei war es einzig und allein das, was Bea von ihm verlangte. Die Tierärztin hatte gelogen, das stand außer Frage. Und bedachte man, wie sie Lynley angeschaut hatte, als Bea die beiden zusammen gesehen hatte — mit einer Mischung aus Mitgefühl, Bewunderung und Begierde, schien Lynley die besten Chancen zu haben, Dr. Trahairs Lügen und Wahrheiten auseinanderzudividieren. Doch jetzt war Bea sich nicht mehr so sicher.

Während sie mit Barbara Havers sprach, wurde ihre Laune daher noch finsterer, als sie es beim Aufwachen bereits gewesen war, und sie hätte nicht geglaubt, dass das möglich sein würde. Denn sie war mit Petes Fragen und Bemerkungen vom Vortag aufgewacht, und das hieß, sie war genau so aufgewacht, wie sie eingeschlafen war. Warum hasst du ihn so sehr… Er liebt dich doch.

Ganz offensichtlich war es höchste Zeit für einen neuen Internetflirt. Wenn sie doch nur die Zeit fände, die es brauchte, um zu fischen, zu wählen, zu kontaktieren, zu entscheiden, ob das entsprechende Individuum einen Abend wert war, und diesen Abend dann auch noch freizuschaufeln! Und dann… Was hätte sie denn davon? Mit wie vielen Fröschen sollte sie denn noch essen, ein Glas Wein oder eine Tasse Kaffee trinken gehen, bis sie einen fand, der Prinzen- und nicht nur amphibische Qualitäten ahnen ließ?

Hunderte, so schien es. Tausende. Und dabei war sie nicht einmal sicher, ob sie überhaupt eine neue Beziehung wollte. Sie, Pete und die Hunde kamen doch wunderbar allein zurecht.

Und so kam es, als Bea Barbara Havers an der Magnettafel gegenüberstand, wo sie die anstehenden Aufgaben des Tages durchgingen, dass sie die Beamtin von Scotland Yard einer kritischen Musterung unterzog. Die Musterung hatte mehr mit ihrer professionellen Einstellung als mit ihrem modischen Geschmack zu tun, der gruseliger war, als Bea es bei einer Frau je für möglich gehalten hätte. Heute trug DS Havers einen ausgeleierten Seemannspulli über einem hochgeschlossenen T-Shirt mit einem Kaffeefleck am Bündchen, darunter eine olivfarbene Tweedhose, die selbst eine bessere Figur unansehnlich hätte erscheinen lassen — wenigstens zwei Zentimeter zu kurz und schätzungsweise zwölf Jahre zu alt, und die bereits bekannten knöchelhohen Turnschuhe an den Füßen. Sie sah aus wie eine obdachlose Flüchtlingsfrau aus einem Krisengebiet, mit Kleidung am Leib, die selbst die Heilsarmee aussortiert hätte.

Bea versuchte, all das zu ignorieren. »Ich habe das Gefühl, dass Superintendent Lynley sich in Sachen Dr. Trahair nicht wirklich ins Zeug legt«, eröffnete sie ihr. »Was meinen Sie, Sergeant?« Sie behielt Havers genau im Auge, um deren Antwort taxieren zu können.

»Könnte sein«, räumte Havers freimütig ein. »Wenn man bedenkt, was er hinter sich hat, ist es nur allzu verständlich, dass er nicht hundertprozentig bei der Sache ist. Aber wenn sie etwas mit dem Tod dieses Jungen zu tun haben sollte und er dahinterkommt, dann wird er sie sich vornehmen. Darauf können Sie sich verlassen.«

»Wollen Sie damit sagen, ich soll ihm freie Hand lassen, an diese Sache so heranzugehen, wie er es für richtig hält?«

Havers antwortete nicht sofort. Sie betrachtete die Tafel. Sorgfältiges Nachdenken war zumindest ein kleiner Hinweis auf ihre Prioritäten, das musste Bea ihr zugute halten.

»Ich glaube, er wird klarkommen«, sagte Havers schließlich. »Angesichts seiner Umstände wird er nicht zulassen, dass irgendjemand ungeschoren mit einem Mord davonkommt. Falls Sie verstehen, was ich meine.«

Natürlich. Gerade diese Schwäche — "seine Umstände", hatte Havers es genannt — machte wohl wirklich einen Mann aus ihm, der alles tun würde, um zu verhindern, dass einem anderen Menschen das Gleiche passierte wie ihm selbst. Und davon abgesehen, war gerade seine Anfälligkeit vielleicht von Vorteil, denn eine verletzliche Person mochte eine andere dazu verleiten, in ihrer Gegenwart Fehler zu machen. Und diese Fehler sollte vorzugsweise Dr. Trahair machen. Sie hatte bereits einen begangen, und andere würden folgen.

»Na schön«, lenkte Bea ein. »Kommen Sie mit. Wir haben hier einen Mann in der Stadt, der wegen schwerer Körperverletzung gesessen hat. Die Sache ist ein paar Jahre her. Er hat dem Richter vorgejammert, der Alkohol wäre schuld gewesen, aber da sein Opfer seit dieser Geschichte querschnittgelähmt ist…«

»Ach du Schande!«, warf Havers ein.

»… hat der Richter ihn zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Inzwischen ist er wieder draußen mitsamt seinem Jähzorn und seiner Neigung zum Suff. Und er kannte Santo Kerne. Irgendwer hat dem Jungen kurz vor seinem Tod ein blaues Auge verpasst. Zugegeben, es war nicht die Schlägerei, die zu seinem Tod geführt hat, aber wir sollten diesen Kerl trotzdem gründlich unter die Lupe nehmen.«


Will Mendick arbeitete im Blue-Star-Supermarkt, jenem ultramodernen Flachbau, der an seinem Standort an der Kreuzung Belle Vue Lane und St. Mevan Crescent völlig fehl am Platze wirkte. Während der Fahrt hatte Bea Barbara Havers auf das nahe gelegene Adventures Unlimited aufmerksam gemacht, das unübersehbar oben auf dem Hügel thronte. Ebenfalls in der Nähe lag die Bäckerei Casvelyn of Cornwall, und als sie auf dem Parkplatz des Supermarktes ausgestiegen waren, hatte die Morgenbrise den Duft frisch gebackener Pasteten zu ihnen herübergetragen. Barbara Havers hatte gegen das verführerische Aroma angekämpft, indem sie sich eine Zigarette ansteckte. Gierig hatte sie daran gezogen, während sie um das Gebäude herumgegangen waren, und sie hatte sie halb aufgeraucht und dann weggeschnippt, ehe sie das Geschäft betraten.

In einer extrem optimistischen Anwandlung, was den nahenden Frühling betraf, hatte die Marktleitung die Heizung abgeschaltet, darum war es in dem Gebäude eisig kalt. Zu dieser Tageszeit war nicht viel Kundschaft anwesend, und nur eine der sechs Kassen hatte geöffnet. Dort erkundigten sich Bea und Sergeant Havers und wurden in den hinteren Teil des Gebäudes verwiesen. Hier trennte eine Doppelschwingtür das Lager vom Geschäft. "Zutritt verboten", stand dort angeschlagen, und: "Nur für Personals"

Bea trat ungerührt hindurch und hielt ihren Dienstausweis bereit. Einen unrasierten Mann, der im Begriff war, die Toilette aufzusuchen, hielt sie mit dem knappen Zuruf »Polizei!« auf. Er nahm nicht annähernd in dem Maße Haltung an, wie Bea es sich gewünscht hätte, schien aber zumindest kooperativ. Sie fragte nach Will Mendick.

»Draußen, nehm ich an«, lautete die Antwort, und so schlugen sie den Weg ein, den sie gekommen waren. Diesmal durchmaßen sie das Gebäude allerdings durch einen dämmrigen Gang, wo turmhohe Regale mit Papierprodukten und Konserven diversen Inhalts aufragten: genug Kartons mit Schriftzügen verschiedener Junkfood-Marken, um die Fettleibigkeit ganzer Generationen sicherzustellen.

Auf der Südseite des Gebäudes befand sich eine Laderampe voller Warenpaletten, die gerade von einem riesigen Lastwagen gewuchtet wurden. Bea hoffte schon, Will Mendick hier zu finden, aber eine neuerliche Nachfrage führte sie zu einer Reihe Müllcontainer am hinteren Ende der Rampe. Dort entdeckte sie einen jungen Mann, der aussortiertes Gemüse und andere Waren in einen schwarzen Müllbeutel stopfte — es handelte sich ganz offenkundig um Will Mendick bei einer jener subversiven Aktionen, für die Santo Kerne das merkwürdige T-Shirt-Logo entworfen hatte. Der junge Mann kämpfte gegen die Möwen an. Über ihm und um ihn herum flatterte es unablässig. Manche kamen ihm so nah, als wollten sie ihn aus ihrem Revier verjagen. Bea kam es vor wie eine Szene aus einem Hitchcock-Film.

Dann hielt sie Will Mendick ihren Dienstausweis hin. Er war lang aufgeschossen und hatte eine von Natur aus rosige Gesichtsfarbe, die sich allerdings sichtlich verdunkelte, als er erkannte, dass es die Polizei war, die ihn aufgesucht hatte. Definitiv die Haut eines Schuldigen, dachte Bea.

Mendick sah von Bea zu Havers und wieder zurück, und sein Ausdruck besagte, dass keine der Frauen so aussah, wie er sich eine Polizistin vorgestellt hatte. »Ich hab Pause«, sagte er, als befürchtete er, sie wären gekommen, um über seine Arbeitsmoral zu befinden.

»Das ist uns nur recht«, erwiderte Bea. »Wir können reden, während Sie… tun, was immer Sie da tun.«

»Wissen Sie, wie viele Lebensmittel in diesem Land weggeworfen werden?«, fragte er sie schroff.

»Ziemlich viele, schätze ich.«

»Und das ist noch untertrieben. Tonnenweise. Tonnen! Kaum ist das Verfallsdatum überschritten, fliegen die Sachen raus. Das ist ein Verbrechen.«

»Dann ist es ja aller Ehren wert, dass Sie sie einer sinnvollen Verwendung zuführen.«

»Ich esse sie.« Sein Ton war defensiv.

»Genau das habe ich mir gedacht«, bemerkte Bea.

»Ich wette, das müssen Sie auch«, warf Barbara Havers freundlich ein. »Es dürfte schwierig sein, die Lebensmittel in den Sudan zu schicken, ehe sie verderben, verschimmeln, vertrocknen oder was auch immer. Außerdem kostet es Sie nichts noch ein Vorteil.«

Mendick beäugte sie, als wollte er das ganze Ausmaß ihrer Respektlosigkeit ausloten. Ihr Gesicht gab jedoch nichts preis. Er schien zu dem Schluss zu kommen, jedwedes Urteil, das sie über seine Aktivitäten fällen mochten, zu ignorieren. »Sie wollen mit mir reden?«, fragte er. »Also, reden Sie!«

»Sie kannten Santo Kerne. Gut genug, dass er ein T-Shirt für Sie entworfen hat, wie wir herausgefunden haben.«

»Wenn Sie das wissen, wissen Sie sicher auch, dass das hier eine Kleinstadt ist, wo die meisten Leute Santo kannten. Ich hoffe, mit denen reden Sie auch.«

»Wir werden nach und nach all seine Bekannten aufsuchen«, antwortete Bea. »Aber momentan interessieren wir uns nur für Sie. Erzählen Sie uns von Conrad Nelson. Er sitzt im Rollstuhl, habe ich gehört.«

Mendick hatte ein paar Pickel um die Mundpartie, und sie nahmen schlagartig die Farbe von Himbeeren an. »Ich hab meine Zeit dafür abgesessen«, sagte er und fuhr fort, die Müllcontainer des Supermarkts zu durchforsten. Er sicherte sich ein paar Äpfel, die Druckstellen aufwiesen, und einige weiche Zucchini.

»Das wissen wir«, versicherte Bea. »Was wir hingegen nicht wissen, ist, wie es passiert ist und warum.«

»Was hat das denn mit Ihren Ermittlungen zu tun?«

»Es war ein vorsätzlicher tätlicher Angriff«, erklärte Bea. »Ein Fall von schwerer Körperverletzung. Die Ihnen einen längeren Ferienaufenthalt auf Staatskosten eingebracht hat. Wenn jemand eine solche Vorgeschichte hat, Mr. Mendick, dann müssen wir mehr darüber erfahren. Insbesondere wenn er in Kontakt ob nun eng oder nicht mit einem Mordopfer stand.«

»Und wo Rauch ist, ist immer auch Feuer«, und als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen, zündete Havers sich eine neue Zigarette an.

»Sie zerstören Ihre Lungen und die Ihrer Mitmenschen obendrein«, belehrte Mendick sie. »Rauchen ist eine ganz und gar widerliche Angewohnheit.«

»Und was genau ist das Durchwühlen von Mülltonnen?«, gab sie zurück.

»Eine Maßnahme gegen Verschwendung.«

»Mist. Ich wünschte, mein Charakter wäre so ehrsam wie der Ihre. Sie müssen Ihren Edelmut wohl aus Versehen vorübergehend vergessen haben, als Sie den Typen in Plymouth zusammengeschlagen haben, was?«

»Wie gesagt, ich hab die Zeit dafür abgesessen.«

»Wir haben gehört, Sie haben dem Richter gesagt, der Alkohol wäre schuld gewesen«, berichtete Bea. »Haben Sie immer noch ein Problem damit? Bringt der Suff Sie immer noch gelegentlich dazu auszurasten? So lautete Ihre Verteidigung, hat man mir gesagt.«

»Ich trinke nicht mehr, also bringt mich der Suff zu gar nichts mehr.« Er starrte wieder in den Container, tauchte hinein und kam mit einer Schachtel Feigenriegel wieder zum Vorschein, verstaute die Schachtel in seinem Beutel und setzte die Suche fort, riss ein Paket mit offenbar altbackenem Brot auf und warf es den Möwen hin. Gierig stürzten sie sich darauf. »Ich gehe zu den Anonymen Alkoholikern, wenn Sie das beruhigt«, fügte er hinzu. »Seit ich draußen bin, habe ich keinen Tropfen mehr angerührt.«

»Ich will für Sie hoffen, dass das der Fall ist, Mr. Mendick. Was hat diese Auseinandersetzung in Plymouth ausgelöst?«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, es hat nichts…« Er hielt inne, schien seinen wütenden Tonfall und die Richtung zu überdenken, die ihre Unterhaltung zu nehmen drohte, seufzte schließlich und sagte: »Ich hab mich früher häufiger sinnlos besoffen. Ich bin irgendwie mit diesem Typ aneinandergeraten, ich weiß wirklich nicht mehr, warum. Wenn ich gesoffen hatte, wusste ich hinterher nie, warum ich ausgerastet bin oder ob ich überhaupt ausgerastet bin. Ich konnte mich am nächsten Tag noch nicht einmal mehr an diese Schlägerei erinnern, und es tut mir echt verdammt leid, dass der Kerl jetzt im Rollstuhl sitzt. Das hatte ich nun wirklich nicht beabsichtigt. Ich hatte ihn vermutlich nur ein bisschen zurechtstutzen wollen.«

»Ist das üblicherweise Ihre Methode, Leute zurechtzustutzen?«

»Als ich noch getrunken hab, war das so, ja. Aber das ist nichts, worauf ich stolz bin. Und außerdem ist es vorbei. Ich habe dafür bezahlt. Ich habe mich gebessert. Und ich versuche, trocken zu bleiben.«

»Sie versuchen…?«

»Verflucht noch mal!« Er kletterte in den Container und wandte sich mit unübersehbarem Elan wieder dessen Inhalt zu.

»Ein paar Tage vor seinem Tod hat irgendjemand Santo Kerne einen ziemlich ordentlichen Faustschlag verpasst«, bemerkte Bea. »Ich frage mich, ob Sie uns darüber irgendetwas sagen können.«

»Nein«, erwiderte er barsch.

»Können Sie nicht, oder wollen Sie nicht?«

»Warum wollen Sie mir das anhängen?«, fuhr er herum.

Weil du so verdammt schuldig aussiehst, dachte Bea bei sich. Weil du mich an irgendeinem Punkt belogen hast. Das sehe ich an deiner Gesichtsfarbe, die jetzt leuchtend rot ist von den Wangen bis zu den Ohren und sogar bis unter den Haaransatz. Doch sie sagte nur: »Das ist mein Job. Es irgendwem anzuhängen. Und wenn Sie derjenige nicht sein sollen, dann wüsste ich gern, warum nicht.«

»Ich hatte keinen Grund, ihm etwas anzutun. Geschweige denn ihn umzubringen. Oder sonst irgendwas.«

»Woher kannten Sie ihn?«

»Ich hab bei Clean Barrel gearbeitet. Das ist ein Surfladen unten im Zentrum.« Mendick nickte in Richtung Innenstadt. »Er kam vorbei, weil er ein Board kaufen wollte. So haben wir uns kennengelernt. Ein paar Monate nachdem er hierhergezogen ist.«

»Warum arbeiten Sie nicht mehr im Clean-Barrel-Surfshop? Hat das auch etwas mit Santo Kerne zu tun?«

»Ich hab ihn an LiquidEarth weiterverwiesen, und das ist rausgekommen. Deshalb wurde ich gefeuert. Weil ich jemanden zur Konkurrenz geschickt habe. Nicht dass LiquidEarth tatsächlich im engeren Sinne Konkurrenz wäre, aber das wollte mein Boss nicht einsehen. Also war ich draußen.«

»Und das haben Sie ihm übel genommen?«

»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber die Antwort ist Nein. Es war richtig, Santo zu LiquidEarth zu schicken. Er war ein blutiger Anfänger. Er war noch nie draußen gewesen. Er brauchte ein Anfängerbrett. Wir hatten damals keine brauchbaren nur Schrott aus China, wenn Sie's genau wissen wollen, und den verkaufen wir hauptsächlich an Touristen. Also hab ich ihm geraten, zu Lew Angarrack zu gehen, der würde ihm bestimmt ein richtig gutes Brett bauen, auf dem er Surfen lernen könnte. Es würde ein bisschen mehr kosten, aber es wäre das Richtige für ihn. Das hab ich getan. Das war alles, was ich getan hab. Echt! Aber so wie Nigel Coyle reagiert hat, hätte man meinen können, ich hätte jemanden erschossen. Santo kam mit dem Brett vorbei, um es mir zu zeigen, Coyle war zufällig da, und den Rest können Sie sich wohl denken.«

»Santo hat Sie also ganz schön reingerissen.«

»Also hab ich ihn umgebracht? Hab ihm erst eine ordentliche Abreibung verpasst und ihn dann umgebracht? Wohl kaum. Er hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen wegen der Sache. Er hat sich zigmal entschuldigt.«

»Wo?«

»Wo was?«

»Wo hat er sich entschuldigt? Wo haben Sie ihn getroffen?«

»Überall«, gab er zurück. »Es ist eine Kleinstadt, wie gesagt.«

»Am Strand?«

»Ich gehe nicht zum Strand.«

»In einer Surferstadt wie Casvelyn gehen Sie nicht zum Strand?«

»Ich surfe nicht.«

»Sie haben Surfbretter verkauft und surfen selbst nicht? Wie kommt das, Mr. Mendick?«

»Gott verdammt!« Mendick richtete sich auf. So wie er da im Container stand, überragte er sie deutlich, aber das hätte er an jedem anderen Standort auch getan, so groß und schlaksig, wie er war.

Bea sah die Adern in seinen Schläfen pulsieren. Sie fragte sich, was es ihn kostete, seinen Jähzorn zu unterdrücken, und was passieren musste, damit er ihm freien Lauf ließ.

Sie spürte auch die Anspannung in Sergeant Havers und warf ihr einen Blick zu. Havers' Gesicht zeigte einen Ausdruck von Härte, was Bea mit Wohlwollen quittierte. Sie war offenbar keine Frau, die in einer Konfrontation klein beigab.

»Standen Sie in Konkurrenz zu anderen Surfern?«, fragte Bea. »Zu Santo? Oder stand er in Konkurrenz zu Ihnen? Haben Sie es aufgegeben? Oder was?«

»Ich mag das Meer nicht.« Er sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich kann es nicht leiden, nicht zu wissen, was sich unter mir befindet. Überall auf der Welt gibt es Haie, und ehrlich gesagt bin ich nicht sonderlich scharf darauf, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich kenne mich mit Surfboards aus und mit dem Surfen, aber ich surfe selbst nicht, okay?«

»Na schön. Klettern Sie, Mr. Mendick?«

»Klettern? Nein, ich klettere nicht.«

»Was machen Sie denn dann?«

»Ich hänge mit Freunden rum.«

»Zählte Santo Kerne dazu?«

»Eigentlich nicht…« Mendick nahm das Tempo aus ihrer Unterhaltung, ganz so als wäre ihm plötzlich aufgegangen, wie leicht er sonst in eine Falle tappen könnte. Er steckte weiter unermüdlich Lebensmittel in seinen Beutel — ein paar ernstlich eingedellte Konserven, Pakete mit Spinat und anderem Gemüse, eine Handvoll abgepackter Kräuter, eine Schachtel Teekuchen, ehe er aus dem Container stieg und antwortete: »Santo hatte keine Freunde. Nicht im üblichen Sinn. Nicht so wie andere Menschen. Er hatte Leute, mit denen er sich abgab, wenn er sich etwas von ihnen versprach.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel… Erfahrungen. So hat er es ausgedrückt. Das war sein ganz großes Ding: Erfahrungen machen.«

»Welche Art Erfahrungen?«

Mendick zögerte, was Bea anzeigte, dass sie endlich zum Kern der Sache vorgedrungen waren. Es hatte länger gedauert, als ihr lieb gewesen war, und sie fragte sich flüchtig, ob sie an Biss verlor. Aber wenigstens hatte sie Mendick dorthinbekommen, also, sagte sie sich, müsse doch noch ein kleiner Rest Leben in ihr stecken. »Mr. Mendick?«, ermunterte sie ihn.

»Sex«, antwortete er. »Santo war verrückt nach Sex.«

»Er war achtzehn«, warf Havers ein. »Gibt es auch nur einen einzigen Achtzehnjährigen auf dieser Welt, der nicht total verrückt nach Sex ist?«

»So wie er? Was er so getrieben hat? Ja, ich würde sagen, es gibt Achtzehnjährige, die kein bisschen so sind wie er.«

»Was hat er denn getrieben?«

»Das weiß ich nicht genau. Nur dass es abartig war. Das war alles, was sie mir gesagt hat. Das und die Tatsache, dass er sie betrogen hat.«

»Sie?«, fragte Bea. »Sprechen wir von Madlyn Angarrack? Was hat sie Ihnen erzählt?«

»Nichts. Nur dass es sie krank machte, was er trieb.«

»Ah.« Damit hatten sie sich praktisch einmal im Kreis gedreht, dachte Bea. Und bei dieser Ermittlung schien das Kreiseln stets darauf hinzudeuten, dass ein weiterer Lügner enttarnt war.

»Stehen Sie Madlyn nahe?«, fragte Havers.

»Nicht besonders. Ich kenne ihren Bruder, Cadan. Darum kenne ich sie auch. Wie gesagt, Casvelyn ist klein. Früher oder später kennt hier jeder jeden.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Bea.

Will Mendick schien verwirrt. »Was?«

»Das Einander-Kennen«, erwiderte sie. »Jeder kennt jeden, haben Sie gesagt. Ich frage mich, wie Sie das meinen.«

Mendicks Ausdruck besagte deutlich, dass er die Anspielung nicht verstand. Aber das war nebensächlich. Sie hatten Madlyn Angarrack, wo sie sie wollten.

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