21

Trotz Jagos Warnung konnte Cadan sich nicht beherrschen. Es war der schiere Wahnsinn, und das wusste er sehr wohl, trotzdem ließ er sich dazu hinreißen. Das weiche, seidige Gefühl ihrer Oberschenkel, die ihn umschlossen; ihr Stöhnen und dann ihr zunehmend ekstatisches Ja!, und das alles vor dem Hintergrund der Wellen, die auf den nahen Strand brandeten; die Aromen des Meeres, ihrer Weiblichkeit und des modrigen Holzes in der winzigen Strandhütte; das ewige weibliche Salz, da wo er leckte, während sie schrie, und ihr Ja! Ja!, mit dem sich ihre Finger in sein Haar krallten; das schwache Licht aus den Ritzen um die Tür, das ein beinah unirdisches Glühen auf ihre Haut warf, die glitschig, aber straff war und fest und willig… Gott, so begierig und vor allem so willig…

So könnte es sein, dachte Cadan, und obwohl es schon spät wurde, war er drauf und dran, Pooh ins Wohnzimmer zu verfrachten, sein Fahrrad aus der Garage zu holen und im Eiltempo zu Adventures Unlimited hinüberzuradeln, um auf Dellen Kernes Angebot einzugehen und sich mit ihr in der Strandhütte zu treffen. Er hatte genügend Filme im Kino gesehen, um zu wissen, dass Liaisons älterer Frauen mit jüngeren Männern mitnichten einfach waren und niemals hielten, was in seinen Augen ein Pluspunkt hätte sein können. Aber allein der Gedanke, es mit Dellen Kerne zu treiben, war in Cadans Vorstellung so präsent, dass er sich über die bloße Präsenz hinausentwickelt hatte: in eine völlig neue Region des Erhabenen, des Mystischen und Metaphysischen. Der einzige Haken an der Sache war leider Dellen selbst.

Die Frau war verrückt, keine Frage. Trotz seines Verlangens, seine Lippen auf verschiedene Regionen ihres Körpers zu pressen, erkannte Cadan doch Beklopptheit, wenn er Beklopptheit vor sich hatte falls Beklopptheit denn überhaupt ein Wort war, was er ernstlich bezweifelte. Aber wenn es das Wort nicht gab, musste es erfunden werden, denn sie war die personifizierte Beklopptheit. Hoch zehn. Sie war die wandelnde, sprechende, atmende, essende, schlafende Beklopptheit, und auch wenn Cadan Angarrack geil genug war, um es mit einer ganzen Schafherde aufzunehmen, war er doch gleichzeitig clever genug, Beklopptheit weiträumig zu meiden.

Er war an diesem Tag nicht zur Arbeit gegangen, aber er hatte den Fragen seines Vaters, warum er sich zu Hause herumdrückte, ebenso wenig ins Auge blicken können. Um zu vermeiden, dass Lew Verdacht schöpfte, war Cadan aufgestanden wie üblich und hatte sich angezogen wie üblich — er war sogar so weit gegangen, seine farbbespritzckte Jeans anzuziehen, was er sehr schlau fand — und war wie üblich am Frühstückstisch erschienen, wo Madlyn gerade eine gesunde halbe Grapefruit aß und Lew eine anständige Pfanne Eier mit Speck auf seinen Teller schob.

Als er Cadan sah, hatte Lew auf überraschend liebenswürdige Art auf sein Frühstück gezeigt. Cadan wertete dies als Friedensangebot und Anerkennung seines Bemühens um Rehabilitation durch seine Rückkehr in ein geregeltes Arbeitsverhältnis, darum akzeptierte er das angebotene Frühstück mit einem: »Fantastisch, Dad. Danke.« Dann fiel er über seine Portion her und fragte nebenbei seine Schwester, wie sie zurechtkomme.

Madlyn warf ihm einen finsteren Blick zu, der einen Themenwechsel nahelegte, also betrachtete Cadan seinen Vater einen Moment und stellte an ihm die Art entspannter Körpersprache fest, die in der Vergangenheit immer auf kürzliche sexuelle Befriedigung hingedeutet hatte. Doch weil er es für unwahrscheinlich hielt, dass sein Vater sich morgens unter der Dusche einen runterholte, fragte er: »Hast du dich mit Ione versöhnt, Dad?« Er sprach von Mann zu Mann, in einem verschwörerischen Tonfall, dessen Implikation unmissverständlich war.

Und Lew missverstand ihn definitiv nicht, so viel war Cadan klar. Denn die gebräunte Haut seines Vaters verdunkelte sich beinah unmerklich um eine Nuance, ehe Lew sich wieder dem Herd zuwandte und schweigend eine zweite Portion Eier und Speck zuzubereiten begann.

So viel also zu anheimelndem Familienglück. Sei's drum. Da bis auf Kau- und Schlucklaute keiner von ihnen mehr etwas von sich gab, blieb auch Cadans Arbeit unerwähnt. Allerdings hätte er zu gerne gewusst, wo das Problem lag, wenn sie ein paar anzügliche Bemerkungen darüber austauschten, dass Lew Ione zumindest hinreichend umgarnt hatte, um sie endlich wieder mannhaft auf die Matratze nageln zu können. Na schön, Madlyn saß mit am Tisch, und vielleicht sollte man Rücksicht auf ihre Weiblichkeit nehmen — ganz zu schweigen von all dem, was in letzter Zeit in ihrem Leben schiefgelaufen war, — indem man die allzu fleischlichen Aspekte der Mann-Frau-Beziehung unerwähnt ließ. Andererseits hätte ein Augenzwinkern unter Männern bestimmt nicht geschadet, und in glücklicheren Tagen hatte Lew nie Bedenken gehabt, seinen Sohn hin und wieder andeutungsweise an seinen Triumphen und Eroberungen teilhaben zu lassen.

Was Cadan zu der Frage führte, was hier inzwischen eigentlich los war.

Hatte Lew eine Neue? Es wäre auf jeden Fall typisch für ihn. Eine ganze Karawane von Frauen war über die Jahre in das Leben des kleinen Angarrack-Clans eingezogen: Frauen, die am Ende in der Regel heulten, keiften oder versuchten, am Küchentisch, an der Haustür, im Garten oder wo auch immer vernünftige Aussprachen zu führen, weil sie hatten feststellen müssen, dass Lew Angarrack sich nicht binden wollte. Dabei brachte Lew seine neuen Eroberungen für gewöhnlich noch vor dem ersten Sex mit nach Hause und stellte sie seinen Kindern vor, was bei den Damen stets den Eindruck erweckte, als wäre tatsächlich etwas zwischen ihnen möglich… wie etwa eine Zukunft. Was hatte es also zu bedeuten, dass Lew mit so entspannten Bewegungen in der Küche umherwerkelte? Dass ihm geradezu auf die Stirn geschrieben zu sein schien, dass er es irgendeiner Frau besorgt hatte, die er jedoch nicht mit heimgenommen und seinen Kindern vorgestellt hatte? Seine Kinder waren inzwischen älter geworden, erwachsen, zugegeben, aber wenigstens ein paar Dinge gab es im Hause Angarrack, die in Stein gemeißelt waren — zumindest bis vor Kurzem, und dazu gehörte auch Lews Verhalten.

Was Cadan zurück zu Dellen Kerne brachte. Nicht dass sie je lange aus seinen Gedanken verdrängt gewesen wäre, aber Lews Verschwiegenheit schien darauf hinzudeuten, dass er einen verdammt guten Grund für Heimlichtuerei hatte, was wiederum auf etwas Verbotenes schließen ließ. Und "verboten" erinnerte unweigerlich an Ehebruch. Eine verheiratete Frau. Verdammt, sein Vater war ihm bei Dellen zuvorgekommen!, schloss er. Cadan hatte keine Ahnung, wie, aber er nahm an, irgendwie musste es passiert sein. Er spürte einen Stich echter Eifersucht.

Er hatte im Laufe des Tages reichlich Zeit, sich auszumalen, wohin ein Zusammentreffen mit Dellen ihn nach wie vor führen könnte. Er hatte so ein Gefühl, sie hätte keine Vorbehalte, es gleichzeitig mit einem Vater und seinem Sohn zu treiben, aber Tatsache war auch, dass er die Dinge zwischen ihm und seinem Vater nicht noch schlimmer machen wollte, als sie es ohnehin schon waren, also versuchte er, sich mit anderen Gedanken abzulenken.

Das Problem war nur, er war eher ein Mann der Tat als ein Denker. Angestrengtes Nachdenken führte unweigerlich zu angespannter Besorgnis, wofür es sage und schreibe nur zwei Heilmittel gab: Handeln zum einen oder Alkohol. Eingedenk vergangener Ereignisse wusste Cadan genau, welches der beiden er hätte wählen sollen, aber er wollte das andere, und während die Stunden vergingen, nahm das Verlangen zu. Als es ihn schließlich derart im Griff hatte, dass er zu keinem rationalen Gedanken mehr fähig war, bereitete er Pooh einen Obstteller mit dem Lieblingsobst des Papageien, spanischen Orangen, und dann holte er sein Rad und schlug den Weg zum Binner Down House ein.

Cadan wollte einen Trinkgefährten finden. Mehr als einmal pro Woche allein zu trinken, deutete darauf hin, dass man ein Problem mit stimmungsverändernden Drogen der flüssigen Sorte hatte, und Cadan wollte auf keinen Fall als etwas anderes als ein Bonvivant gelten. Also wählte er Will Mendick als Kandidaten aus.

Da Will in Sachen Madlyn noch keinerlei Fortschritte gemacht hatte, war anzunehmen, dass er nicht abgeneigt war, sich volllaufen zu lassen. Und wäre das erst vollbracht, könnten sie beide im Binner Down House ihren Rausch ausschlafen, ohne dass irgendwer je davon erfahren musste. Es schien ein hervorragender Plan zu sein.

Will wohnte zusammen mit neun Surfern beiderlei Geschlechts im Binner Down House. Er war der Sonderling in der Gruppe. Er surfte selbst nicht. Er hatte eine unüberwindbare Abneigung gegen Haie, und auch Petermännchen mochte er auch nicht sonderlich. Cadan fand ihn auf der Südseite des Hauses einem uralten Kasten in bedauernswertem Zustand, der jedoch nicht allzu überraschend war, wenn man bedachte, dass das Bauwerk nahe der See stand und niemand sich darum kümmerte. Der einstige Garten war mit Ginster, Farn und einer Vielzahl von Seegräsern überwuchert. Die einzelne verkrüppelte Zypresse im Vorgarten hätte dringend beschnitten werden müssen, und allmählich verlor sogar der Rasen den edlen Kampf gegen das Unkraut. Das Gebäude selbst war dringend renovierungsbedürftig, besonders das Dach und die Holzstürze der Fenster und Türen. Doch die Bewohner hatten Wichtigeres zu tun, und ein windschiefer Schuppen, in dem ihre Surfbretter aufgereiht standen wie bunte Lesezeichen, verriet unmissverständlich, was das war — ebenso wie auch ihre Neoprenanzüge, die meist zum Trocknen auf den unteren Ästen der Zypresse hingen.

Die Südseite des Hauses lag dem Binner Down zugewandt, und von den Weiden, die den Hügel umgaben, wehte das Muhen der Kühe herüber. Eine Art Gewächshaus war an das Gebäude angebaut. Das gläserne Pultdach war ans Haus angelehnt, eine Wand war ebenfalls aus Glas, die rückwärtige Wand indes bildete die Granitaußenmauer, die hier weiß gestrichen war, um die Sonne zu reflektieren. Das Gewächshaus war errichtet worden, um darin Wein anzubauen, hatte Cadan unlängst erfahren.

Er suchte und fand Will genau dort. Er stand vornübergebeugt unter dem niedrigen Glasdach und harkte gerade den Boden um einen jungen Weinstock herum. Als Cadan eintrat, richtete Will sich ein wenig auf und sagte über die Schulter: »Verdammte Scheiße, das wird aber auch Zeit«, ehe er sah, wer hereingekommen war. »Oh, tut mir leid«, fügte er hinzu. »Ich dachte, es wäre einer meiner Mitbewohner.«

»Packen sie hier immer noch nicht mit an?«

»Keine Spur. Das hieße ja, dass sie mal ihren Hintern bewegen müssten.« Will hatte die Erde mit einer Mistgabel bearbeitet — was Cadan nicht für das optimale Arbeitsgerät hielt, wenn man die Größe der Pflanzen bedachte, aber er hielt den Mund, und Will warf sie nun beiseite. Dann nahm er eine Tasse vom Sims und leerte sie in großen Schlucken. Es war warm im Gewächshaus, genau wie es sein sollte, und Will schwitzte. Sein schütteres Haar klebte an seiner Kopfhaut. Er würde mit dreißig eine Glatze haben, erkannte Cadan, und dankte dem Schicksal für seine dichten Locken.

»Ich schulde dir was«, sagte Cadan zur Begrüßung. »Deswegen bin ich hier.«

Will sah ein wenig verwirrt aus. Er griff nach der Mistgabel und nahm seine Arbeit wieder auf. »Was denn?«

»Eine Entschuldigung. Für das, was ich gesagt habe.«

Will richtete sich auf und fuhr sich mit dem Arm über die Stirn. Er trug ein Flanellhemd, dessen obere Knöpfe geöffnet waren, darunter das übliche schwarze T-Shirt. »Was hast du denn gesagt?«

»Das mit Madlyn. Neulich. Du weißt schon. Als du vorbeigekommen bist.« Cadan befand, je weniger über Madlyn gesagt wurde, desto glücklicher wären sie beide, aber er wollte sichergehen, dass Will wusste, wovon er sprach. »Die Sache ist, Mann, woher zum Geier sollte ausgerechnet ich wissen, wer eine Chance bei meiner Schwester hat und wer nicht?«

»Oh, ich schätze, das weißt du ziemlich genau. Du bist schließlich ihr Bruder.«

»Ich weiß nicht annähernd so viel, wie ich dachte«, gestand Cadan ein. »Sie hat zufällig heute Morgen beim Frühstück von dir gesprochen. Und da wurde mir klar… Hör zu, Mann, ich hab total falsch gelegen, und ich wollte, dass du das weißt.« Natürlich log er, aber er nahm an, dass das unter den gegebenen Umständen verzeihlich war. Es ging um höhere Ziele. Er hatte im Grunde wirklich keine Ahnung, wie seine Schwester über wie auch immer geartete romantische Verwicklungen dachte, von Santo Kerne einmal abgesehen. Und er war nicht einmal mehr sicher, ob er sich da ein realistisches Bild gemacht hatte. Aber er brauchte Will Mendick, wenn also eine kleine Notlüge nötig war, um Will zu bewegen, eine Flasche mit ihm zu öffnen, dann war das doch bestimmt verzeihlich. »Was ich meine, ist, dass du sie nicht abschreiben solltest. Sie hat eine ziemlich harte Zeit hinter sich, und ich könnte mir vorstellen, dass sie dich braucht, selbst wenn sie das im Moment noch nicht mal selber weiß.«

Will ging ans Ende des Glashauses, wo ein paar Regale standen, und zog ein Paket Dünger hervor. Cadan folgte ihm.

»Also hab ich mir gedacht, wir könnten zusammen einen heben.« Cadan wand sich innerlich ob dieses bizarren Ausdrucks. Er klang wie jemand aus einer amerikanischen Fernsehserie. »Und Vergangenes vergangen sein lassen. Was meinst du?«

»Kann nicht«, erwiderte Will. »Ich kann hier im Moment nicht weg.«

»Glück gehabt. Ich wollte nämlich gar nicht ausgehen«, erklärte Cadan freimütig. »Ich hab mir gedacht, wir könnten hier…«

Will schüttelte den Kopf. Er wandte sich wieder seinen Reben und seiner Mistgabel zu. Cadan hatte das Gefühl, dass irgendetwas seinem Freund schwer zu schaffen machte.

»Ich kann nicht. Tut mir leid.« Will legte bei der Arbeit einen Zahn zu, und nach einer kurzen Weile verriet er auch, was los war: »Die Bullen waren im Supermarkt, Cadan. Die haben mich in die Mangel genommen.«

»Weswegen?«

»Was glaubst du wohl?«

»Santo Kerne?«

»Ja, Santo Kerne. Gibt es noch ein anderes Thema?«

»Warum dich, in aller Welt?«

»Ich habe nicht den Schimmer einer Ahnung. Sie haben angeblich mit jedem gesprochen. Hast du dich etwa gedrückt?« Will harkte mit wütender Heftigkeit weiter.

Cadan antwortete nicht. Mit einem Mal war ihm unbehaglich. Er musterte Will. Die Tatsache, dass die Polizei seinen Freund aufgesucht hatte, schien auf Dinge hinzudeuten, die Cadan absolut nicht näher betrachten wollte.

»Na ja«, sagte er in jenem aufgesetzt fröhlichen Tonfall, der immer das Ende einer Unterhaltung ankündigte.

»Genau«, sagte Will grimmig. »Na ja.«

Als Cadan sich wenig später verabschiedete, wusste er beim besten Willen nichts mit sich anzufangen. Von Will und Wills Problemen einmal ganz abgesehen, schien das Schicksal ihm sagen zu wollen, dass es Zeit war zu handeln. Und Handeln bedeutet die eine Tat, die Cadan abgesehen von seinem Verlangen nach Alkohol nicht aus seinem Kopf hatte bannen können.

Gott, er war regelrecht besessen von ihr. Als wäre sie eine tödliche Infektion, die sein Hirn zerfraß. Cadan wusste, die Wahl, vor der er stand, war einfach: Er musste sie entweder loswerden oder er musste sie haben. Aber sie zu haben, wäre so ähnlich wie rituellen Selbstmord zu begehen. Also fuhr er vom Binner Down House zu dem einzigen Ort, der auf seiner kurzen Liste von Zufluchtsorten vor sich selbst noch übrig war: zum einstigen Luftwaffenstützpunkt. Er sah keine Alternative. Wenn es sein müsste, würde er seinen Vater anlügen, warum er nicht zur Arbeit gegangen war. Aber er musste einfach irgendwohin, wo er nicht allein war, wie etwa zu Hause… oder aber in der Nähe dieser Frau, wie bei Adventures Unlimited.

Und er hatte Glück: Der Wagen seines Vaters war nicht da, Jagos hingegen schon, und das war ein Geschenk des Himmels. Wenn irgendjemand die Rolle des Beichtvaters würde ausfüllen können, dann war es Jago Reeth.

Unglücklicherweise war jemand anderes auch schon auf diese Idee gekommen. Denn als Cadan den Verkaufsraum betrat, fand er dort die beiden Töchter von Ione Soutar, die Tür zur Werkstatt indes geschlossen vor. Jennie saß an dem Klapptisch, der seinem Vater als Schreibtisch diente, und erledigte mit vorbildlicher Ernsthaftigkeit ihre Hausaufgaben, während die furchteinflößende Leigh einen Finger gegen ihr Nasenloch gedrückt hielt, eine Tube Sekundenkleber vor sich auf der Ladentheke und einen Taschenspiegel in der anderen Hand.

»Mum ist da drin, okay?«, berichtete sie in ihrem nervtötenden Fragetonfall, der immer anzudeuten schien, dass sie einen Idioten vor sich hatte. »Sie hat gesagt, es ist etwas Persönliches. Geh also nicht rein, kapiert?«

»Sie spricht mit Jago bestimmt über deinen Dad«, fügte Jennie freimütig hinzu. Sie saugte an ihrer Unterlippe, während sie die Bleistiftmarkierungen auf ihrem Blatt ausradierte. »Sie sagt, es ist vorbei, aber sie heult jeden Abend im Badezimmer, wenn sie glaubt, wir hören sie nicht. Also schätze ich, es ist nicht so vorbei, wie sie's gern hätte.«

»Sie sollte ihn ein für alle Mal abservieren«, befand Leigh. »Ich meine, nimm's mir nicht übel, Cadan, aber dein Vater ist ein Trottel. Frauen müssen sich behaupten, sie müssen standhaft sein und den Kerl in den Arsch treten, der sie nicht so behandelt, wie sie's verdienen, okay? Ich meine, was gibt sie uns denn für ein Beispiel?«

»Was zum Geier machst du mit deinem Gesicht?«, fragte Cadan.

»Mummy hat ihr verboten, dass sie sich die Nase piercen lässt, darum klebt sie jetzt einen Stein drauf«, erklärte Jennie ihm auf die ihr eigene freundliche Art. »Kannst du schriftlich teilen, Cadan?«

»Gott, das brauchst du den nicht zu fragen«, blaffte Leigh. »Der hat doch noch nicht mal die mittlere Reife geschafft. Das weißt du doch, Jennie.«

Cadan ignorierte sie. »Willst du einen Taschenrechner?«, fragte er Jennie.

»Sie muss die einzelnen Rechenschritte aufschreiben, okay?«, belehrte Leigh ihn. Sie inspizierte ihre Nase und sagte in den Spiegel: »Ich bin doch nicht blöd. Ich mach mir mein Gesicht nicht kaputt. Als ob ich das je tun würde, he?« Sie verdrehte die Augen. »Was meinst du, Jennie?«

Ohne aufzusehen, antwortete sie: »Ich glaube, jetzt kriegst du richtig Ärger mit ihr.«

Cadan war ganz ihrer Meinung. Leigh sah aus, als hätte sie einen dicken Blutstropfen auf der Nase. Sie hätte eine andere Farbe wählen sollen.

»Mum wird dich zwingen, ihn wieder abzumachen«, fuhr Jennie fort. »Und das wird bestimmt wehtun. Sekundenkleber hält nämlich richtig gut. Das wird dir noch leidtun, Leigh.«

»Halt die Klappe, ja?«, befahl Leigh.

»Ich hab doch nur gesagt…«

»Halt die Klappe, okay? Stopf dir eine Socke ins Maul! Oder deine Faust! Knebel dich selbst!«

»So darfst du nicht mit mir…«

Die Tür zur Werkstatt flog auf, und Ione trat in den Verkaufsraum. Sie hatte geweint, und zwar heftig, so wie sie aussah. Verdammt, sie musste seinen Vater wirklich lieben, ging Cadan auf.

Er wollte ihr sagen, sie solle ihn sich aus dem Kopf schlagen und ihr Leben leben. Lew Angarrack war nicht zu haben und würde es wahrscheinlich niemals sein. Er war von diesem Miststück sitzengelassen worden — seiner einen wahren Sandkastenliebe — und nie darüber hinweggekommen. Das war keiner von ihnen.

Aber wie sollte man das einer Frau erklären, die es geschafft hatte, mit ihrem Leben weiterzumachen, als ihre eigene Ehe in die Brüche gegangen war? Konnte man das überhaupt?

Es sah allerdings so aus, als habe Jago auf diesem Feld einen wahrhaft heroischen Versuch unternommen. Er stand hinter ihr, mit einem Taschentuch in der Hand, faltete es nun jedoch zusammen und steckte es zurück in die Tasche seines Overalls.

Leigh warf ihrer Mutter einen Blick zu und verdrehte die Augen. »Ich schätze, das heißt, wir gehen nicht mehr zum Surfen, ja?«, fragte sie.

Und während sie ihre Schulbücher einpackte, fügte Jennie loyal hinzu: »Mir hat das sowieso nie Spaß gemacht.«

»Gehen wir«, sagte Ione zu ihren Töchtern. Sie ließ den Blick über die Werkstatt gleiten. »Es gibt nichts weiter zu sagen. Wir sind hier fertig, und zwar endgültig.«

Sie ignorierte Cadan vollkommen, so als wäre er lediglich ein weiterer Träger des vermaledeiten Familienvirus, das auch Lew befallen hatte. Cadan trat schweigend beiseite, als sie ihre Töchter an ihm vorbei aus dem Laden führte und in Richtung ihres eigenen Ladens auf dem Flugfeld davonmarschierte.

»Armes Mädchen«, lautete Jagos Kommentar.

»Was hast du ihr gesagt?«

Jago ging zurück in die Werkstatt. »Die Wahrheit.«

»Und was ist die Wahrheit?«

»Dass niemand einen anderen Menschen ändern kann.«

»Und was ist mit diesem Menschen selbst?«

Jago begann, eine Lage blaues Klebeband vom Rail eines Pincktail-Shortboards zu schälen. Seine Hände zitterten heute besonders schlimm. »Hä?«, fragte Jago abwesend zurück.

»Kann ein Mensch sich nicht selbst ändern?«

»Ich glaube, die Antwort kannst du dir denken, Cadan.«

»Aber Menschen ändern sich.«

»Nein«, widersprach Jago. »Das tun sie nicht.« Er fuhr mit Schmirgelpapier über die Harznaht. Seine Brille rutschte die Nase entlang abwärts, und er schob sie zurück. »Sie ändern höchstens ihre Reaktionen. Das, was sie der Welt zeigen, wenn du verstehst, was ich meine. Nur das ändert sich, und auch nur wenn ein Mensch es partout ändern will. Aber sein Innerstes? Das bleibt immer gleich. Du kannst nicht ändern, was du bist. Nur wie du handelst.« Jago sah auf. Eine dicke graue Haarsträhne hatte sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst und war ihm auf die Wange gerutscht. »Was machst du eigentlich hier, Cadan?«

»Ich?«

»Wenn du deinen Namen nicht geändert hast… Müsstest du nicht bei der Arbeit sein?«

Cadan zog es vor, die Frage nicht direkt zu beantworten, und machte stattdessen einen Rundgang durch die Werkstatt, während Jago fortfuhr, das Brett zu bearbeiten. Cadan öffnete die Tür zum Shaping-Raum — Schauplatz seines gescheiterten Versuchs, bei LiquidEarth zu arbeiten — und starrte hinein.

Das Problem war gewesen, dass ihm ausgerechnet das Shaping als Aufgabe zugewiesen worden war, befand Cadan. Doch ihm hatte die Geduld dafür gefehlt. Zum Shaping brauchte man eine ruhige Hand. Es erforderte den Einsatz einer endlosen Reihe von Werkzeugen und Schablonen. Man musste so viele Variablen berücksichtigen, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, sie alle im Kopf zu behalten. Die Rundung des Rohlings. Einfache oder doppelte Konkavität. Die Kontur der Rails. Die Position der Finnen. Die Länge des Boards. Die Tail-Form. Die Dicke der Rails. Schon ein winziges Sechzehntelzoll machte da einen riesigen Unterschied, und Gott verdammt, Cadan, siehst du denn nicht, dass diese Rillen zu tief sind? Ich kann nicht zulassen, dass du hier Mist baust.

Also schön. Er war darin eine Null. Und Glasieren langweilte ihn zu Tränen. Es raubte ihm den letzten Nerv. Das Feingefühl, das es erforderte. Die Fiberglasfolie abrollen, aber nur mit gerade so viel Überschuss, dass nichts verschwendet wurde. Dann das sorgsame Auftragen von Harz, um das Fiberglas für immer auf dem Kunststoffkern zu fixieren, und zwar so, dass sich keine Luftbläschen bildeten. Schleifen, dann wieder Glas auftragen, wieder schleifen.

Er hatte das einfach nicht gekonnt. Er war nicht dafür geschaffen gewesen. Zum Gießer musste man geboren sein, so wie Jago.

Cadan hatte von Anfang an in der Lackiererei arbeiten und seine eigenen Entwürfe auf die Boards auftragen wollen. Aber das war ihm untersagt worden. Sein Vater hatte auf dem Standpunkt beharrt, die Position müsste er sich erst verdienen, indem er zunächst die anderen Herstellungsschritte erlernte.

Von Santo hatte Lew das nicht verlangt.

»Du wirst das Geschäft einmal übernehmen. Santo nicht. Darum musst du alles von der Pike auf lernen«, hatte sein Vater erklärt. »Ich brauche einen Künstler, und zwar jetzt. Santo versteht sich auf Design.«

Du meinst wohl, er versteht sich darauf, Madlyn zu ficken, hatte Cadan erwidern wollen. Aber mal ehrlich was hätte das genützt? Madlyn hatte gewollt, dass Santo den Job bekam, und Madlyn war der Engel gewesen, dessen Wünsche Lew nur zu gerne erfüllte.

Und was war daraus geworden? Letztlich hatten sie beide ihren Vater enttäuscht, Madlyn möglicherweise in noch höherem Maße als Cadan.

»Ich wäre bereit, es noch mal hier zu versuchen«, sagte er jetzt zu Jago. »Was hältst du davon?«

Jago schob den Schleifblock beiseite und nahm Cadan genau in Augenschein. »Was ist los, Junge?«, fragte er dann.

Cadan zermarterte sich das Hirn auf der Suche nach einem plausiblen Grund für seinen Sinneswandel, aber ihm blieb nur die Wahrheit, wenn er vor den Augen seines Vaters wieder Gnade finden wollte und Jagos Unterstützung. »Du hattest recht«, bekannte er schließlich. »Ich kann da nicht arbeiten, Jago. Aber ich brauche deine Hilfe.«

Jago nickte. »Sie hat dich schlimm erwischt, was?«

Cadan wollte keinen Moment länger an Dellen Kerne verschwenden, weder in Gedanken noch in Worten. »Blödsinn«, entgegnete er. »Na ja, vielleicht doch. Wie auch immer. Ich muss da raus. Kannst du mir helfen?«

»Natürlich«, antwortete der alte Mann gütig. »Gib mir nur ein bisschen Zeit, unsere Strategie zu planen.«


Nach der Unterhaltung mit dem ehemaligen Detective in der Kirche von Zennor hatte Lynley David Wilkie zu seinem Haus begleitet, das nicht weit von der Kirche entfernt lag. Dort waren sie auf den Dachboden gestiegen. Eine einstündige Suche in allen möglichen Pappkartons hatte schließlich Wilkies Notizen über den ungelösten Mord an Jamie Parsons zutage gefördert. Diese Notizen wiederum enthielten die Namen der Jungen, die im Zusammenhang mit Jamie Parsons' Tod so gründlich verhört worden waren. Wilkie hatte keine Vorstellung, wo diese Jungen heute lebten, aber Lynley hielt es für durchaus möglich, dass zumindest einige von ihnen heute noch in der Gegend rund um Pengelly Cove wohnten. Wenn er recht behielt, dann warteten sie nur darauf, erneut befragt zu werden.

Diese Befragung beherrschte Lynleys Gedanken, als er zu dem kleinen Surfparadies zurückfuhr. Er grübelte darüber nach, wohin er seinen nächsten Schritt lenken wollte.

Wie sich herausstellte, waren nur noch drei der ursprünglich sechs damals Verdächtigen in Pengelly Cove ansässig. Ben Kerne war bekanntermaßen nach Casvelyn gezogen, ein anderer war in der Zwischenzeit an Lymphdrüsenkrebs gestorben und ein weiterer nach Australien ausgewandert. Die verbliebenen drei waren nicht schwer zu finden. Lynleys Nachfrage im Pub führte ihn der Reihe nach zu einer Karosseriewerkstatt (Chris Outer), der Grundschule (Darren Fields) und zu einer Bootswerft (Frankie Kliskey). An jedem der Arbeitsplätze tat er das Gleiche: Er zückte seinen Dienstausweis, machte rudimentäre Angaben zu dem aktuellen Todesfall und erkundigte sich, ob sie sich wohl in einer Stunde freimachen könnten, um andernorts mit ihm über Ben Kerne zu sprechen. Die knappe Information der Tod von Ben Kernes Sohn, Santo schien wie ein Zauberspruch zu wirken. Jeder der Männer sagte zu.

Lynley hatte den Küstenpfad für ihr Gespräch ausgewählt. Nicht weit vom Dorf entfernt stand hoch oben auf der Klippe die Gedenkstätte für Jamie Parsons, die Eddie Kerne erwähnt hatte: eine halbkreisförmige Steinbank mit hoher Rückenlehne und einem runden Tisch davor. "Jamie" stand in die Mitte der Tischplatte gemeißelt, darunter sein Geburts- und Todesdatum. Als er bei der Gedenkstätte ankam, erinnerte sich Lynley daran, dass er sie früher schon während seiner langen Wanderung auf dem Küstenpfad gesehen hatte. Er hatte in ihrem Windschatten gesessen und, statt aufs Meer hinauszublicken, auf den Namen des Jungen und die Daten gestarrt, die von der Kürze dieses Lebens sprachen. Die Kürze des Lebens hatte seine Gedanken beherrscht. Und sie. Helen.

Heute, ging ihm auf, als er sich auf die Bank setzte, um zu warten, hatte er bis auf ein paar Minuten beim Aufwachen noch kein einziges Mal an Helen gedacht, und diese Erkenntnis drängte ihren Tod wie einen frischen Schmerz zurück in sein Bewusstsein. Es war ihm nicht recht, dass er nicht täglich, stündlich an sie dachte, wenngleich ihm klar war: In der Gegenwart zu existieren, würde bedeuten, dass Helen weiter und weiter in seine Vergangenheit entschwand, während er selbst sich vorwärtsbewegte. Doch es verletzte ihn, das zu denken. Geliebte Frau. Ersehnter Sohn. Beide waren fort, und eines Tages würde er es überwinden. Obwohl er wusste, dass dies der Lauf der Dinge, dass so das Leben war, erschien ihm die Tatsache, dass er irgendwann darüber hinwegkommen würde, ebenso unerträglich wie obszön.

Er stand von der Bank auf und trat an den Rand der Klippe. Auch hier wurde an den Tod eines Menschen erinnert, wenn auch weniger formell, als Jamie Parsons' Bank und Tisch es taten. Neben dem Weg lagen ein Kranz aus welkendem Immergrün vom letzten Weihnachtsfest, ein schwindsüchtiger Luftballon, ein durchweichter Teddybär und der Name Eric in schwarzem Filzmarker auf einem Zungenspatel. Es gab Dutzende Wege, um an der Küste von Cornwall sein Leben zu verlieren. Lynley fragte sich, welcher Tod Eric ereilt hatte.

Schritte auf dem steinigen Weg lenkten seine Aufmerksamkeit zurück auf den Pfad, der von Pengelly Cove heraufführte. Er sah die drei Männer zusammen über die Kuppe kommen und wusste, dass sie einander kontaktiert hatten. Damit hatte er gerechnet, als er sie aufgesucht hatte. Er hatte es sogar gefördert. Sein Plan war, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Sie hatten nichts von ihm zu befürchten.

Darren Fields war offenbar so etwas wie der Anführer. Er war der Größte von ihnen, und als Rektor der örtlichen Grundschule verfügte er vermutlich auch über die beste Bildung. Er führte ihren Gänsemarsch den Pfad hinauf an. Er war der Erste, der Lynley zunickte und die Wahl des Treffpunkts mit den Worten kommentierte: »Das dachte ich mir. Nun, wir haben alles, was es zu dem Thema zu sagen gibt, schon vor Jahren gesagt. Also, wenn Sie glauben…«

»Ich bin hier wegen Santo Kerne, wie ich Ihnen schon sagte«, unterbrach Lynley. »Und auch wegen Ben Kerne. Wenn ich irgendwelche anderen Absichten verfolgte, hätte ich Ihnen wohl kaum Ross und Reiter genannt.«

Die anderen beiden schauten Fields an, der Lynleys Worte abwägte. Schließlich zuckte er mit dem Kopf, was man als Nicken deuten konnte, und sie alle kehrten zu der Bank und dem Tisch zurück. Frankie Kliskey schien der nervöseste von den dreien zu sein. Er war ein ungewöhnlich kleiner Mann und biss seitlich auf seinem Zeigefinger herum, der mit Maschinenöl verdreckt und wund vom vielen Kauen war. Wie ein verschrecktes Kaninchen huschte sein Blick von einem zum anderen. Chris Outer schien auf jedwede Richtung, in die die Dinge sich entwickeln mochten, vorbereitet. Im Windschatten seiner Hand zündete er sich eine Zigarette an, lehnte sich an die Bank, den Kragen seiner Lederjacke hochgeschlagen, die Augen verengt, und sein Ausdruck erinnerte ein klein wenig an James Dean; nur die Haartolle fehlte. Outer war so kahl wie ein Ei.

»Ich hoffe, Sie verstehen, dass dies hier keine wie auch immer geartete Falle ist«, sagte Lynley zur Einleitung. »David Wilkie — sagt Ihnen der Name noch etwas? Ja, ich sehe, das ist der Fall. Er ist der Überzeugung, dass das, was vor all den Jahren mit Jamie Parsons passiert ist, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Unfall war. Wilkie denkt nicht und hat das auch nie gedacht, dass Ihre damaligen Vorsätze bezüglich des Jungen seinen Tod mit eingeschlossen hätten. Das Labor konnte damals sowohl Alkohol als auch Kokain in Parsons' Blut nachweisen. Wilkie glaubt, Sie seien sich über seinen Zustand nicht im Klaren gewesen und davon ausgegangen, dass er allein aus der Höhle finden würde, nachdem Sie mit ihm fertig waren.«

Sie sagten noch immer nichts. Darren Fields' Augen waren indessen trüb geworden, und darin las Lynley die Entschlossenheit, unumstößlich an dem festzuhalten, was in der Vergangenheit über Jamie Parsons gesagt worden war. Aus Darrens Perspektive war das in der Tat das Beste, was er tun konnte. Was immer in der Vergangenheit gesagt worden war, hatte ihnen fast drei Jahrzehnte lang die Justizbehörden vom Hals gehalten. Warum sollten sie ihre Strategie jetzt ändern?

»Ich will Ihnen sagen, was ich darüber hinaus in Erfahrung bringen konnte«, fuhr Lynley fort.

»Moment mal«, schnauzte Darren Fields. »Eben haben Sie uns noch erzählt, Sie wären in einer ganz anderen Sache hier.«

»Bens Junge«, ergänzte Chris Outer schroff. Frankie Kliskey sagte auch weiterhin nichts, aber sein Blick jagte immer noch hin und her wie ein Pingpongball.

»In der Tat. Deswegen bin ich hier«, räumte Lynley ein. »Aber beide Todesfälle haben einen gemeinsamen Beteiligten — Ben Kerne, und dem muss auf den Grund gegangen werden. So funktionieren diese Dinge eben.«

»Es gibt nichts weiter zu sagen.«

»Ich glaube doch. Und ich glaube, das hat es auch schon immer gegeben. Das denkt übrigens auch Inspector Wilkie, aber der Unterschied zwischen uns ist wie ich schon sagte, dass Wilkie der Meinung ist, das, was passiert ist, sei nicht vorsätzlich passiert, während ich in dieser Frage keineswegs sicher bin. Ich könnte mich eines Besseren belehren lassen, aber zu dem Zweck müsste einer von Ihnen oder müssten Sie alle mit mir reden und mir von jener Nacht und der Höhle erzählen.«

Die drei Männer antworteten nicht, aber Outer und Fields tauschten einen Blick. Ein getauschter Blick war allerdings kein Beweis, den er Detective Inspector Hannaford vorlegen konnte, und darum fuhr Lynley fort: »Es gab eine Party. Im Verlauf dieser Party gab es einen Zusammenstoß zwischen Jamie Parsons und Ben Kerne. Jamie war aus den verschiedensten Gründen längst fällig für eine Lektion, was vor allem damit zusammenhing, wer er war und wie er andere behandelte. Und die Art und Weise, wie er Ben Kerne an jenem Abend behandelt hat, war offenbar der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Also wurde ihm in einer der Strandhöhlen ebendiese Lektion erteilt. Ich glaube, das Ziel war Demütigung. Daher das Fehlen der Kleidung, die Fesselspuren an Händen und Füßen, der Kot in seinen Ohren. Ich wäre bereit zu wetten, dass Sie auch auf ihn uriniert haben, aber die Flut hat fast alles fortgespült nur eben die Fäkalien nicht. Meine Frage lautet: Wie haben Sie ihn bewogen, zu der Höhle hinunterzukommen? Ich habe darüber nachgedacht, und mir scheint, Sie müssen ihm irgendetwas in Aussicht gestellt haben, was er haben wollte. Da er ohnehin schon betrunken und high war, wird es wohl kaum die Aussicht auf noch mehr Alkohol oder Drogen gewesen sein. Bliebe irgendeine andere Ware, die niemand zu Gesicht bekommen sollte, schon gar nicht seine Schwestern, die es womöglich den Eltern verraten hätten. Nur sieht es dem Jamie, der mir beschrieben wurde, nicht ähnlich, dass er irgendetwas heimlich besitzen wollte, ohne dass andere es sähen, die es vielleicht auch hätten haben wollen. Zu besitzen, was andere begehrten, bewunderten, respektierten oder was auch immer — das schien schließlich seine Triebfeder gewesen zu sein. Mit derlei Dingen vor anderen anzugeben. Besser zu sein als alle anderen. Darum kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass er sich zu einem heimlichen Treffen in der Höhle bereiterklärt hätte, um in den Besitz irgendwelcher illegalen Substanzen zu kommen. Damit bliebe nur etwas von eher persönlicher Natur, was ihm versprochen wurde. Und da fiele mir spontan ein: Sex.«

Frankies Augen verrieten ihn. Sie waren leuchtend blau und weiteten sich unübersehbar. Lynley fragte sich, wie er es geschafft hatte, die Klappe zu halten, als er ohne den Schutzschild seiner Freunde von Wilkie verhört worden war. Aber vielleicht war genau das der Punkt gewesen. Ohne seine Freunde hatte er vermutlich nicht gewusst, was er hätte sagen sollen, und aus diesem Grund einfach überhaupt nichts gesagt. In ihrer Gegenwart konnte er abwarten, welche Richtung sie einschlagen würden.

»Junge Männer — heranwachsende Jungen — tun fast alles, wenn Sex im Spiel ist«, sagte Lynley. »Ich nehme an, Jamie Parsons war in dem Punkt nicht anders als Sie. Also ist die Frage: War er homosexuell, und hat einer von Ihnen ihm ein Versprechen gegeben, das unten in der Höhle eingelöst werden sollte?«

Schweigen. Das beherrschten sie wirklich meisterlich. Aber Lynley war sich einigermaßen sicher, dass er sie würde weichklopfen können.

»Es muss jedoch mehr als nur ein Versprechen gewesen sein«, fuhr er fort. »Jamie hätte sich schwerlich darauf eingelassen, wenn ihm nur ein schnelles Nümmerchen mit einem von Ihnen in Aussicht gestellt worden wäre. Es muss eine eindeutigere Einladung gewesen sein, ein Auslöser, ein Signal, sodass er dachte, es wäre sicher, den nächsten Schritt zu tun. Was könnte das gewesen sein? Ein wissender Blick? Ein Wort? Eine Geste? Eine Hand auf dem Hintern? Die Erektion, die sich in einer stillen Ecke an ihm rieb? Die Art Sprache, die nur von…«

»Keiner von uns ist eine Schwuchtel.« Es war Darren, der das Wort ergriffen hatte. Wenig überraschend, erkannte Lynley — denn Darren unterrichtete kleine Kinder und hatte am meisten zu verlieren. »Und das war auch keiner der anderen.«

»Vom Rest Ihrer Clique?«, vergewisserte sich Lynley.

»Das meinte ich.«

»Aber es ging um Sex, nicht wahr?«, bohrte Lynley nach. »In dem Punkt habe ich recht. Er glaubte, er würde dort unten irgendjemanden treffen, um mit dieser Person Sex zu haben. Wer war dieser Jemand?«

Schweigen.

Schließlich: »Die Vergangenheit ist tot.« Dieses Mal war es Chris Outer, der das Wort ergriff, und er wirkte ebenso hart wie Darren Fields.

»Die Vergangenheit ist die Vergangenheit«, entgegnete Lynley. »Santo Kerne ist tot. Jamie Parsons ist tot. Diese Todesfälle mögen miteinander in Verbindung stehen oder nicht, aber…«

»Tun sie nicht«, warf Fields ein.

»… aber bis ich eines Besseren belehrt werde, muss ich davon ausgehen, dass eine Verbindung besteht. Und ich möchte nicht, dass diese Verbindung darin besteht, dass beide Ermittlungen auf die gleiche Weise enden: nämlich mit offenem Ausgang. Denn zumindest Santo Kerne wurde definitiv ermordet.«

»Jamie Parsons nicht.«

»Na schön. Das lasse ich gelten. Inspector Wilkie glaubt das ebenfalls. Sie werden mehr als ein Vierteljahrhundert später nicht vor Gericht gestellt werden für die unglaubliche Dummheit, den Jungen in dieser Höhle zurückgelassen zu haben. Alles, was ich wissen will, ist: Was ist in jener Nacht wirklich passiert?«

»Es war Jack. Jack.« Das Eingeständnis brach förmlich aus Frankie Kliskey hervor, als hätte er dreißig Jahre lang darauf gewartet. Zu den anderen sagte er: »Jack ist tot, also was macht es noch? Ich will das nicht länger mit mir herumtragen. Ich bin es so verdammt satt, Darren.«

»Gott verflucht…«

»Damals habe ich den Mund gehalten, und sieh mich doch heute an! Sieh mich an!« Er streckte die Hände aus. Sie zitterten, als litte er an Schüttellähmung. »Ein Cop kreuzt auf, und alles drängt wieder an die Oberfläche. Ich will das nicht noch mal.«

Darren stieß sich vom Tisch ab eine wütende Gebärde und zugleich eine Geste der Distanzierung, als wollte er sagen: Mach doch, was du willst.

Wieder breitete sich angespanntes Schweigen aus. Nur der Schrei der Möwen und die Fehlzündung eines Motorboots unten in der Bucht unterbrachen die Stille.

»Sie hieß Nancy Snow«, sagte Chris Outer bedächtig. »Sie war Jack Dustows Freundin. Jack war einer von uns.«

»Er ist derjenige, der an Lymphdrüsenkrebs gestorben ist«, bemerkte Lynley. »Richtig?«

»Richtig. Er hat Nan dazu überredet… zu tun, was dann eben passiert ist. Wir hätten auch Dellen nehmen können — das ist Bens Frau, damals hieß sie Dellen Nankervis, weil die immer für alles zu haben war…«

»Sie war in jener Nacht auch da?«, hakte Lynley nach.

»O ja, sie war da. Ihretwegen hat das alles doch überhaupt erst angefangen. Weil sie da war.« Er fasste die Ereignisse zusammen: Krach in einer Teenagerbeziehung, jeder wollte es dem anderen heimzahlen, und zwar mit einem willigen neuen Partner, Jamie reagierte wütend, als seine Schwester sich mit Ben Kerne einließ, und ging auf Ben los…

»Er war sowieso fällig, wie Sie gesagt haben«, schloss Frankie Kliskey. »Keiner von uns konnte den Kerl ausstehen. Also hat Jack Nan überredet, ihn anzumachen. Was dazu führte, dass Jamie es gleich an Ort und Stelle mit ihr treiben wollte.«

»Vorzugsweise da, wo jeder es sehen konnte«, fügte Darren Fields hinzu.

»Wo Jack es sehen konnte«, korrigierte Chris. »So war Jamie.«

»Aber Nan sagte Nein«, setzte Frankie die Geschichte fort. »Auf keinen Fall wollte sie es da tun, wo andere zusehen konnten, wo vor allem Jack sie würde beobachten können. Lass uns runter zur Höhle gehen, hat sie gesagt, und das haben sie auch getan. Und dort haben wir auf sie gewartet.«

»Sie kannte den Plan?«

»Jack hatte es ihr gesteckt«, antwortete Chris. »Sie wusste Bescheid. Lock Jamie mit dem Versprechen auf Sex runter zur Höhle. Geh mit ihm zusammen dort runter, denn er ist nicht blöd, und auf das bloße Versprechen, dort aufzukreuzen, würde er nicht eingehen. Geht also gemeinsam hin. Tu so, als wolltest du's genauso wie er. Den Rest übernehmen wir. Also kamen sie so gegen halb zwei runter an den Strand. Wir hatten uns in der Höhle versteckt, und Nan führte ihn geradewegs zu uns. Den Rest… können Sie sich selbst zusammenreimen.«

»Es konnte nicht viel schiefgehen. Sie waren zu sechst.«

»Nein«, widersprach Darren. Seine Stimme klang rau. »Ben Kerne war nicht dabei.«

»Wo war er denn?«

»Er war längst nach Hause gegangen. Er war einfach dämlich und verbohrt, wenn es um Dellen ging. Immer schon. Gott, wenn sie nicht gewesen wäre, wäre er gar nicht erst zu der blöden Party gegangen. Aber er brauchte Aufmunterung, also haben wir gesagt: "Lass uns hingehen und seinen Fusel trinken und sein Büfett abräumen und seine Musik hören." Nur war sie eben auch da, diese verfluchte Dellen mit irgendeinem neuen Kerl, und prompt hat Ben sich an das falsche Mädchen rangemacht. Und danach wollte er nur noch nach Hause. Also ist er gegangen. Der Rest von uns hat mit Nan gesprochen, Nan ist zurück auf die Party gegangen und…« Darren wies in Richtung Strand, wo zu ihren Füßen die Höhle in den Klippen versteckt lag.

Lynley setzte die Geschichte fort: »Sie haben ihm in der Höhle die Kleidung abgenommen und ihn gefesselt. Sie haben ihn mit Kot beschmiert. Haben Sie auch über ihn uriniert? Nein? Sondern? Onaniert? Einer von Ihnen? Sie alle?«

»Er hat geheult«, sagte Darren. »Das war alles, was wir wollten. Als er anfing zu heulen, waren wir fertig mit ihm. Wir haben ihn losgebunden und liegen lassen. Sollte er doch selbst die Klippe rauffinden. Den Rest kennen Sie.«

Lynley nickte. Die Geschichte verursachte ihm eine fahle Übelkeit. Es war eine Sache zu mutmaßen, aber eine ganz andere, die Wahrheit ausgesprochen zu hören. Es gab so viele Jamie Parsons auf der Welt und so viele Jungen wie diese Männer, die hier vor ihm standen. Diese weite Kluft zwischen ihnen und die Frage, ob und wie man diese Kluft je überbrücken konnte. Jamie Parsons war vermutlich unerträglich gewesen. Aber das hieß noch lange nicht, dass er verdient gehabt hätte zu sterben.

»Eines würde mich noch interessieren«, sagte Lynley.

Sie warteten. Alle sahen ihn an: Darren Fields trotzig, Chris Outer so gelassen, wie er vermutlich vor achtundzwanzig Jahren schon gewesen war, Frankie Kliskey ängstlich, als befürchtete er einen weiteren psychologischen Tiefschlag.

»Wie haben Sie es geschafft, alle bei derselben Geschichte zu bleiben, als Sie damals von der Polizei vernommen wurden? Bevor die sich auf Ben Kerne eingeschossen hatte, meine ich.«

»Wir haben die Party um halb zwölf verlassen. An der Hauptstraße haben wir uns getrennt. Wir sind nach Hause gegangen.« Es war Darren, der sprach, und Lynley verstand: Nur drei Sätze, wieder und wieder aufgesagt. Sie mochten unverantwortlich dumm gehandelt haben, diese fünf Jungen, aber mit dem Gesetz hatten sie sich hinreichend ausgekannt.

»Was haben Sie mit den Kleidungsstücken gemacht?«

»Hier wimmelt es nur so von Stollen und Minenschächten«, erklärte Chris. »Das ist typisch für diese Ecke Cornwalls.«

»Und was war mit Ben Kerne? Haben Sie ihm gesagt, was passiert ist?«

»Wir haben die Party um halb zwölf verlassen. An der Hauptstraße haben wir uns getrennt. Wir sind nach Hause gegangen.«

Also war Ben Kerne genauso ahnungslos gewesen wie alle anderen, dachte Lynley, abgesehen von den fünf Jungen und dem Mädchen. »Was war mit Nancy Snow?«, fragt er. »Wie konnten Sie sicher sein, dass sie nicht reden würde?«

»Sie war schwanger von Jack«, antwortete Darren. »Im dritten Monat. Es lag in ihrem Interesse, Jack aus Schwierigkeiten herauszuhalten.«

»Was ist aus ihr geworden?«

»Sie haben geheiratet. Nachdem er gestorben ist, ist sie mit ihrem zweiten Mann nach Dublin gezogen.«

»Also hatten Sie von ihr nichts zu befürchten.«

»Wir hatten von niemandem etwas zu befürchten. Wir haben die Party um halb zwölf verlassen. An der Hauptstraße haben wir uns getrennt. Wir sind nach Hause gegangen.«

Es gab nichts weiter zu sagen. Es war immer noch wie unmittelbar nach Jamie Parsons' Tod vor beinah dreißig Jahren.

»Haben Sie sich überhaupt nicht verantwortlich gefühlt, als die Polizei sich auf Ben Kerne versteift hatte?«, fragte Lynley. »Irgendjemand hat ihn angeschwärzt. War es einer von ihnen?«

Darren lachte rau. »Wohl kaum. Nur jemand, der Ben in Schwierigkeiten bringen wollte, hätte ihn angeschwärzt.«

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