3

Da Daidre Trahair allein lebte, war sie Stille gewöhnt. Und weil es bei ihrer Arbeit meistens sehr laut zuging, hatte sie überhaupt nichts dagegen, hin und wieder irgendwo zu sein, wo sie nur natürliche Umgebungsgeräusche vernahm, und sie empfand keine Nervosität in einer Gruppe von Menschen, die einander nichts zu sagen hatten. Abends schaltete sie kaum je das Radio oder den Fernseher ein. Wenn zu Hause das Telefon klingelte, ignorierte sie es oft. So machte es ihr also nichts aus, dass mindestens eine Stunde vergangen war, ohne dass einer ihrer Gäste auch nur ein Wort gesprochen hatte.

Sie saß mit einem Buch über Gertrude Jekylls Gärten am Feuer und bestaunte die Pläne. Sie waren in Aquarellen entworfen, und dort, wo sie verwirklicht worden waren, komplettierten Fotografien die Ansichten der Pläne. Diese Frau hatte wahrhaft etwas von Form, Farben und Komposition verstanden, und darum bewunderte Daidre sie. Ihr Traum war es, das Grundstück rund um das Polcare Cottage in einen Garten zu verwandeln, den Gertrude Jekyll hätte ersonnen haben können. Aufgrund der Winde und des Wetters war das zwar eine gewaltige Herausforderung, und wahrscheinlich würden all ihre Pflanzen auf dem Kompost landen, aber Daidre wollte es trotzdem versuchen. Daheim in Bristol hatte sie keinen Garten, doch sie liebte Gärten. Genau wie die Arbeit: bis zu den Ellbogen im Dreck, doch am Ende wuchs daraus zur Belohnung etwas Lebendiges hervor. Die Gartenarbeit sollte ihr Ventil werden. Ihr anstrengender Job war offensichtlich nicht anstrengend genug.

Sie sah von dem Buch auf und betrachtete die beiden Männer in ihrem Wohnzimmer. Der Polizeibeamte aus Casvelyn hatte sich als Sergeant Paddy Collins vorgestellt, und sein Belfaster Akzent deutete darauf hin, dass er den irischen Namen zu Recht trug. Er saß kerzengerade auf einem der Küchenstühle, den er ins Wohnzimmer gebracht hatte, als hätte es ein Pflichtversäumnis dargestellt, sich in einem der bequemeren Sessel niederzulassen. Sein Notizbuch lag nach wie vor aufgeschlagen auf seinem Knie, und er betrachtete den anderen Mann so, wie er ihn vom ersten Moment an betrachtet hatte: mit unverhohlenem Misstrauen.

Das konnte man ihm kaum verübeln, dachte Daidre. Der Wanderer war eine äußerst fragwürdige Erscheinung. Sein Auftauchen auf dem Küstenweg allein hätte das Misstrauen der Polizei nicht erweckt; es handelte sich schließlich um eine beliebte Wanderstrecke, jedenfalls bei gutem Wetter. Doch sein Äußeres und sein Geruch standen in keinem Verhältnis zu seiner Sprechweise. Er war offensichtlich gebildet und wahrscheinlich aus einer feinen Familie, und Paddy Collins hatte ungläubig die Augenbrauen gehoben, als der Mann behauptete, keine Ausweispapiere bei sich zu haben.

»Was heißt das?«, hakte Collins nach. »Haben Sie keinen Führerschein, Mann? Kreditkarte? Gar nichts?«

»Gar nichts«, beteuerte Thomas. »Es tut mir sehr leid.«

»Sie könnten also Gott weiß wer sein, ja?«

»Vermutlich, ja.« Thomas hörte sich an, als wünschte er, genau das wäre der Fall.

»Und ich soll einfach glauben, was immer Sie von sich behaupten?«, setzte Collins nach.

Thomas hatte die Frage offenbar als rhetorisch aufgefasst, denn er hatte nicht geantwortet. Der drohende Tonfall in Collins' Stimme schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. Er war lediglich an das kleine Fenster getreten und hatte in Richtung Strand geblickt, wenngleich man den von hier aus nicht sah. Dort am Fenster war er dann geblieben, vollkommen reglos, und fast hätte man meinen können, er atmete nicht einmal.

Daidre wollte ihn fragen, an welcher Art von Verletzung er litt. Als sie in ihrem Cottage über ihn gestolpert war, waren es nicht Blut auf Gesicht oder Kleidung oder sonst irgendwelche äußerlichen Anzeichen gewesen, die sie bewogen hatten, ihm ärztliche Hilfe anzubieten. Es war vielmehr der Ausdruck in seinen Augen gewesen. Er litt unermessliche Qualen eine seelische Verletzung, keine körperliche. Das sah sie jetzt. Sie kannte die Anzeichen.

Als Sergeant Collins sich rührte, aufstand und in Richtung Küche ging vermutlich, um sich eine Tasse Tee zu machen, denn sie hatte ihm gezeigt, wo alles Notwendige stand, ergriff Daidre die Gelegenheit, den Wanderer anzusprechen: »Wie kommt es, dass Sie allein und ohne Ausweispapiere hier unterwegs sind, Thomas?«

Er wandte sich nicht vom Fenster ab und gab auch keine Antwort, doch sein Kopf bewegte sich ein klein wenig, was darauf hindeutete, dass er zuhörte.

Sie fuhr fort: »Was, wenn Ihnen etwas zugestoßen wäre? Es kommt immer wieder vor, dass Menschen von den Klippen stürzen. Sie machen einen falschen Schritt, rutschen aus…«

»Ja«, erwiderte er. »Ich habe die Mahnmale gesehen.«

Man fand sie überall entlang der Küste: manchmal nur in vergänglicher Form, wie etwa einem Strauß welker Blumen an der Stelle, wo sich ein tödlicher Sturz ereignet hatte, manchmal auch als Sitzbank mit einem passenden Spruch, dann wieder als etwas so Dauerhaftes wie ein Gedenkstein mit dem Namen des Verstorbenen. Ein jedes erinnerte an das Ende eines Surfers, Kletterers, Wanderers oder Selbstmörders. Es war unmöglich, den Küstenpfad entlangzuwandern und sie nicht zu sehen.

»Da war ein sehr kunstvolles darunter«, fuhr Thomas ruhig fort, als wäre dies das vordringliche Thema, das sie mit ihm erörtern wollte. »Ein Tisch und eine Bank aus Granit. Granit ist übrigens die richtige Wahl, wenn das Gedenken gegen die Zeit bestehen soll.«

»Sie haben mir nicht geantwortet«, bemerkte sie.

»Ich war der Ansicht, das hätte ich gerade getan.«

»Wenn Sie gestürzt wären…«

»Das könnte immer noch passieren«, erwiderte er. »Wenn ich weiterziehe. Sobald das hier vorüber ist.«

»Würden Sie nicht wollen, dass Ihre Angehörigen davon erfahren? Sie haben doch Angehörige, nehme ich an?« Sie fügte bewusst nicht hinzu: Selbst bei Leuten Ihrer Sorte ist das für gewöhnlich der Fall. Ihr Tonfall sagte dies bereits unmissverständlich.

Er reagierte nicht. Mit einem lauten Klick schaltete der Kessel in der Küche sich aus. Dann hörte sie Wasser in eine Tasse plätschern. Sie hatte sich also nicht getäuscht: ein Tee für den Sergeant.

Sie fragte: »Was ist mit Ihrer Frau, Thomas?«

Er verharrte vollkommen reglos und wiederholte nur: »Meine Frau.«

»Sie tragen einen Ehering, darum nehme ich an, Sie sind verheiratet. Und ich könnte mir vorstellen, sie würde erfahren wollen, wenn Ihnen etwas zustieße, oder?«

In dem Moment kam Collins aus der Küche. Aber Daidre hatte das Gefühl, der Wanderer hätte auch dann nicht geantwortet, wenn der Sergeant nicht eingetreten wäre.

Collins vollführte eine Geste mit der Tasse, sodass Tee auf die Untertasse schwappte, und sagte: »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

»Nein, nur zu«, antwortete Daidre.

Vom Fenster kam Thomas' Stimme: »Da kommt die Kripo.« Er klang, als wäre ihm vollkommen gleichgültig, dass ihr Thema vorerst aufgeschoben war.

Collins trat zur Tür. Daidre hörte ihn ein paar Worte mit einer Frau wechseln. Als diese schließlich ins Wohnzimmer trat, war Daidre erstaunt.

Bislang kannte sie Detectives nur aus dem Fernsehen, wenn es gelegentlich vorkam, dass sie eine der unzähligen Krimiserien schaute, die den Äther verseuchten. Sie waren immer distanziert professionell und steckten alle in der gleichen langweiligen Einheitskleidung, die entweder ihre Psyche oder ihr Privatleben widerspiegeln sollte: die Frauen zwanghaft gepflegt und wie aus dem Ei gepellt in maßgeschneiderten Kostümen. Und die Männer schlampig. Erstere mussten sich in der Männerwelt durchsetzen, Letztere befanden sich auf der Suche nach dem weiblichen Engel, der sie retten würde.

Diese Frau jedoch, die sich als Detective Inspector Beatrice Hannaford vorstellte, passte überhaupt nicht in diese Schablone. Sie trug einen Anorak, schlammige Turnschuhe und Jeans. Ihr Haar war von einem so flammenden Rot, dass man fast hätte meinen können, es eilte ihr in den Raum voraus und riefe: »Gefärbt! Was dagegen?« Und es stand trotz des Regens in gegelten Igelstacheln vom Kopf ab. Sie fing Daidres Blick auf und bemerkte, noch bevor diese etwas gesagt hatte: »Sobald jemand "Oma" zu Ihnen sagt, betrachten Sie dieses ganze In-Würde-Altern-Geschwafel mit anderen Augen.«

Daidre nickte versonnen. Das war einleuchtend. »Sind Sie denn eine Oma?«

»Allerdings.« An Collins gewandt, fuhr sie fort: »Gehen Sie nach draußen, und holen Sie mich, wenn der Rechtsmediziner aufkreuzt. Halten Sie alle anderen Personen fern. Nicht dass es bei dem Wetter wahrscheinlich wäre, dass irgendwer hierherkommt, aber man weiß nie. Ich höre, die Nachricht hat schon die Runde gemacht?«, fragte sie Daidre, als Collins verschwunden war.

»Wir haben das Telefon im Salthouse Inn benutzt, also weiß man dort Bescheid«, antwortete Daidre.

»Und inzwischen zweifellos in der ganzen Umgebung. Kannten Sie den toten Jungen?«

Daidre hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass diese Frage ihr nochmals gestellt würde. Sie hatte ihre eigene Definition des Wortes "kennen", und entsprechend antwortete sie: »Nein. Ich wohne nicht hier, wissen Sie. Das Cottage gehört mir, ja, aber es ist nur meine Wochenendzuflucht. Ich wohne eigentlich in Bristol und komme nur dann hierher, wenn ich mal frei habe.«

»Was machen Sie beruflich in Bristol?«

»Ich bin Ärztin. Na ja, Tierärztin, um genau zu sein.« Daidre spürte Thomas' Blick auf sich, und ihr wurde heiß. Nicht dass sie sich schämte, Tierärztin zu sein im Gegenteil, sie war unbändig stolz darauf, zumal es alles andere als einfach für sie gewesen war, dieses Ziel zu erreichen. Doch sie hatte ihn glauben gemacht, Humanmedizinerin zu sein, als sie ihn angetroffen hatte. Sie wusste nicht recht, warum sie das getan hatte, nur dass es ihr lächerlich erschienen war, dem Mann, den sie für verletzt gehalten hatte, ihre Hilfe als Veterinärin anzubieten. »Ich behandele hauptsächlich größere Tiere.«

DI Hannaford zog die Brauen zusammen. Sie schaute von Daidre zu Thomas und schien sich zu fragen, welche Verbindung zwischen den beiden bestand. Oder vielleicht fragte sie sich auch, ob Daidres Antwort der Wahrheit entsprach. Trotz der unmöglichen Frisur sah sie aus wie jemand, der das gut einschätzen konnte.

Thomas sagte: »Da war ein Surfer draußen. Ich konnte nicht ausmachen, ob Mann oder Frau. Ich habe ihn — ich sage jetzt einfach mal "er" — von der Klippe aus gesehen.«

»Was? Vor Polcare Cove?«

»Eine Bucht weiter. Aber ich nehme an, es ist möglich, dass er von hier kam.«

»Aber auf dem Parkplatz stand kein Wagen«, warf Daidre ein. »Er muss also von Buck's Haven gestartet sein. So heißt die Bucht südlich von hier. Oder meinten Sie die nächste Bucht im Norden? Ich habe Sie gar nicht gefragt, aus welcher Richtung Sie gekommen sind.«

»Von Süden«, antwortete er. Und an Hannaford gewandt, fügte er hinzu: »Das Wetter schien mir kaum geeignet. Zum Surfen. Außerdem hatte die Flut die Riffe noch nicht ganz bedeckt. Wenn der Surfer ihnen zu nahe gekommen wäre… hätte er verunglücken können.«

»Jemand ist verunglückt«, erinnerte Hannaford ihn. »Jemand ist gestorben.«

»Aber nicht beim Surfen«, wandte Daidre ein. Dann fragte sie sich, wieso sie diese Bemerkung gemacht hatte, denn es klang, als wollte sie Thomas in Schutz nehmen, was nicht der Fall war.

Hannaford fragte sie beide: »Sie spielen wohl gern Detektiv, was? Ist das ein Hobby?« Sie schien keine Antwort zu erwarten, sondern fuhr an Thomas gewandt fort: »Constable McNulty hat mir erzählt, dass Sie ihm geholfen haben, den Toten zu tragen. Ich brauche Ihre Kleidung für die kriminaltechnische Untersuchung. Ihre Oberbekleidung. Was immer Sie zu dem Zeitpunkt getragen haben. Ich nehme an, dieselben Sachen wie jetzt.« Sie fragte Daidre: »Haben Sie den Toten auch berührt?«

»Ich habe nach seinem Puls getastet.«

»Dann brauche ich Ihre Oberbekleidung ebenfalls.«

»Ich fürchte, ich habe keine Sachen dabei, um mich umzuziehen«, sagte Thomas.

»Gar nichts?« Wieder schaute Hannaford von dem Mann zu Daidre. Sie hatte angenommen, die beiden wären ein Paar, ging Daidre auf. Die Annahme entbehrte wohl nicht einer gewissen Grundlage: Sie hatten zusammen Hilfe geholt und waren jetzt zusammen in ihrem Haus. Keiner von ihnen hatte etwas gesagt, um die Vermutung der Polizistin zu widerlegen. »Wer genau sind Sie beide eigentlich?«, fragte Hannaford. »Und was bringt Sie in diesen Teil der Welt?«

Daidre erwiderte: »Wir haben dem Sergeant unsere Personalien schon gegeben.«

»Tun Sie mir trotzdem den Gefallen.«

»Wie ich Ihnen schon sagte. Ich bin Tierärztin.«

»Wo ist Ihre Praxis?«

»Im Zoo von Bristol. Ich bin heute Nachmittag hierhergekommen, um ein paar Tage auszuspannen. Für eine Woche, um genau zu sein.«

»Seltsame Jahreszeit für Urlaub.«

»Für manche Leute mag das zutreffen. Aber ich ziehe es vor, dann Urlaub zu machen, wenn keine Touristenmassen da sind.«

»Wann sind Sie in Bristol losgefahren?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Es war Vormittag. Vielleicht neun oder zehn. Halb elf.«

»Haben Sie unterwegs irgendwo angehalten?«

Daidre überlegte, wie viel die Polizistin wissen musste. »Einmal kurz, ja«, antwortete sie. »Aber das hat wohl kaum mit dieser Sache…«

»Wo?«

»Bitte?«

»Wo haben Sie haltgemacht?«

»Zum Mittagessen. Ich hatte nicht gefrühstückt. Das tue ich selten. Frühstücken, meine ich. Ich hatte also Hunger, darum habe ich angehalten.«

»Wo?«

»An einem Pub. Nirgends, wo ich für gewöhnlich Pause mache. Nicht dass ich normalerweise überhaupt unterwegs Pause mache, aber da war dieser Pub, ich hatte Hunger, draußen stand: "Mittagstisch", also hab ich angehalten. Das war, nachdem ich von der M5 abgefahren bin. An den Namen des Pubs erinnere ich mich nicht mehr. Tut mir leid. Ich glaube, ich hab den Namen nicht einmal gelesen. Es muss irgendwo vor Crediton gewesen sein, glaube ich.«

»Glauben Sie. Interessant. Was haben Sie gegessen?«

»Ein Ploughman's Lunch.«

»Was für Käse?«

»Das weiß ich nicht mehr. Ich habe nicht darauf geachtet. Ein Ploughman's Lunch eben: Käse, Brot, Mixed Pickles, Zwiebeln. Ich bin Vegetarierin.«

»Natürlich sind Sie das.«

Daidre spürte Wut in sich aufsteigen. Sie hatte absolut nichts verbrochen, aber die Polizistin machte ihr ein schlechtes Gewissen. »Ich finde es problematisch, Tiere einerseits zu behandeln und mich andererseits an ihnen gütlich zu tun, Inspector«, sagte sie so gelassen, wie sie konnte.

»Natürlich«, wiederholte DI Hannaford knapp. »Kannten Sie den toten Jungen?«

»Auch diese Frage habe ich bereits beantwortet.«

»Dann ist es mir wohl entfallen. Sagen Sie's mir noch mal.«

»Ich fürchte, ich habe sein Gesicht nicht deutlich sehen können.«

»Und ich fürchte, das ist nicht, wonach ich Sie gefragt habe.«

»Ich bin nicht aus dieser Gegend. Wie gesagt, das hier ist mein Ferienhaus. Ich komme hin und wieder übers Wochenende. Feiertage. Urlaub. Ich kenne ein paar Leute hier, aber hauptsächlich die, die in der Nähe wohnen.«

»Und dieser Junge wohnte nicht hier in der Nähe?«

»Ich kenne ihn nicht.« Daidre spürte, wie sich der Schweiß in ihrem Nacken sammelte, und fragte sich, ob er ihr auch auf der Stirn stand. Sie war den Umgang mit der Polizei nicht gewohnt, und unter diesen Umständen war er besonders zermürbend.

Jemand klopfte vernehmlich an die Tür, doch noch ehe irgendwer hingehen und öffnen konnte, hörten sie schon zwei Männerstimmen — eine davon Sergeant Collins', und unmittelbar darauf trat er ein. Daidre hatte angenommen, dass es sich bei seinem Begleiter um den Rechtsmediziner handelte, den DI Hannaford angefordert hatte, aber das war offenbar nicht der Fall. Der groß gewachsene, grauhaarige und gut aussehende Ankömmling nickte in die Runde und fragte dann grußlos die Polizistin: »Wo steckt er?«

Worauf sie antwortete: »Ist er nicht im Auto?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Anscheinend nicht.«

»Dieser elende Bengel«, schimpfte Hannaford. »Also wirklich. Danke, dass du so kurzfristig gekommen bist, Ray.« Dann wandte sie sich an Daidre und Thomas. »Ich brauche Ihre Kleidung, wie gesagt, Dr. Trahair. Sergeant Collins wird sie in Empfang nehmen, also gehen Sie sich bitte umziehen.« Und zu Thomas: »Wenn die Kriminaltechnik eintrifft, bekommen Sie einen Overall. Unterdessen, Mr.… Ich weiß Ihren Namen gar nicht.«

»Thomas«, antwortete er.

»Mr. Thomas, ja? Oder ist Thomas Ihr Vorname?«

Er zögerte. Daidre glaubte einen Moment, er würde lügen, denn danach sah es aus. Und das konnte er ja auch, da er keine Ausweispapiere bei sich hatte. Er konnte behaupten, Gott weiß wer zu sein. Er blickte ins Kohlefeuer, als meditierte er über die verschiedenen Möglichkeiten. Dann sah er Detective Hannaford wieder an. »Lynley«, sagte er. »Thomas Lynley.«

Hannaford sah ihn schweigend an. Daidres Blick wanderte von Thomas zu Hannaford, und sie stellte erstaunt fest, wie deren Ausdruck sich veränderte, ebenso wie der des Mannes, den sie Ray genannt hatte. Seltsamerweise war er es auch, der das Wort ergriff. Was er sagte, verwirrte Daidre vollends: »New Scotland Yard?«

Thomas Lynley zögerte erneut. Dann schluckte er. »Bis vor Kurzem«, antwortete er. »Ja. New Scotland Yard.«


»Natürlich weiß ich, wer er ist«, erklärte Bea Hannaford ihrem Exmann schroff. »Ich lebe ja nicht hinterm Mond.« Es sah Ray ähnlich, sie derart herablassend aufzuklären. Er war ja so was von stolz auf sich. Devon and Cornwall Constabulary. In Middlemore. Dort war er Assistant Chief Constable eigentlich ein Schreibtischtäter, fand Bea, aber nie zuvor hatte eine Beförderung das Verhalten eines Menschen in so nervtötender Weise verändert. »Die Frage ist nur, was er ausgerechnet hier zu suchen hat«, fügte sie hinzu. »Collins sagt, er kann sich nicht einmal ausweisen. Also könnte er auch jemand ganz anderes sein, oder?«

»Könnte. Ist er aber nicht.«

»Woher willst du das wissen? Kennst du ihn?«

»Ich muss ihn gar nicht kennen.«

Wieder dieser Ausdruck von Selbstzufriedenheit. War er schon immer so gewesen? Hatte sie es einfach nicht gesehen? Hatte die Liebe oder was auch immer sie so blind gemacht, dass sie diesen Mann bedenkenlos geheiratet hatte? Es war ja nicht so gewesen, dass sie sich der gefährlichen Altersgrenze genähert hätte und Ray ihre letzte Chance auf Heim und Familie gewesen wäre. Sie war erst einundzwanzig gewesen. Und glücklich oder etwa nicht?

Bis Pete gekommen war, war ihr Leben in Ordnung gewesen: Sie hatten ein Kind — eine Tochter, und auch wenn es eine kleine Enttäuschung war, hatte Ginny ihnen doch gleich nach ihrer Heirat ein Enkelkind geschenkt, und das nächste war bereits unterwegs. Bea und Ray hatten in nicht allzu ferner Zukunft dem Pensionsalter entgegengesehen und all den verlockenden Dingen, die sie sich für die Zeit nach dem Berufsleben vorgenommen hatten. Doch dann hatte Pete sich angekündigt — eine totale Überraschung. Eine freudige für Bea; unliebsam für Ray. Der Rest war Geschichte.

»Tatsächlich ist es so, dass ich in der Zeitung über ihn gelesen habe«, sagte Ray in diesem aufrichtigen Tonfall, mit dem er immer seine Geständnisse ablegte und der sie jedes Mal veranlasste, ihm selbst seine schlimmsten Anfälle von Blasiertheit zu verzeihen. »Dort stand, dass er aus dieser Gegend stammt. Der Familiensitz liegt in Cornwall. In der Gegend von Penzance.«

»Also ist er nach Hause gekommen.«

»Hm. Tja. Nach dem, was passiert ist, kann man ihm wohl kaum vorwerfen, dass er die Nase von London voll hat.«

»Aber Penzance ist ziemlich weit weg von hier.«

»Vielleicht hat er zu Hause bei der Familie nicht gefunden, was er brauchte. Armes Schwein.«

Bea warf Ray einen Blick zu. Sie gingen Seite an Seite vom Haus hinüber zum Parkplatz und kamen an seinem Porsche vorbei, den er halb auf der Straße abgestellt hatte. Sie fand das unklug, aber ihr konnte es ja gleich sein; sie war für sein Fahrzeug nicht verantwortlich. Seine Stimme war ebenso missmutig wie seine Miene, das sah sie selbst im Dämmerlicht.

»Die ganze Geschichte hat dich berührt, wie?«, fragte sie.

»Ich hab auch ein Herz, Beatrice«, entgegnete er.

Das stimmte. Und Beas Problem war, dass seine bestechende Menschlichkeit es unmöglich machte, ihn zu hassen. Denn sie hätte es vorgezogen, Ray Hannaford zu hassen. Ihn zu verstehen, war viel zu schmerzlich.

»Ah«, machte Ray. »Ich glaube, wir haben unseren verlorenen Sohn gefunden.« Er wies zur Klippe hinüber, die rechts von ihnen jenseits des Parkplatzes aufragte. Der Küstenpfad sah aus wie ein schmaler Streifen, der wie mit dem Messer in das ansteigende Gelände geschnitten war, und zwei Gestalten kamen von der Anhöhe herab. Die vordere beleuchtete den Pfad durch die Dämmerung und den Regen mit einer Taschenlampe. Die kleinere zweite suchte sich vorsichtig einen Weg zwischen den regennassen Steinen, die den Boden dort übersäten, wo der Pfad nur unzureichend geräumt war.

»Dieser schreckliche Junge«, sagte Bea. »Er bringt mich noch ins Grab.« Dann rief sie: »Komm sofort da runter, Peter Hannaford! Ich hatte doch gesagt, du sollst im Auto bleiben! Und das war mein Ernst, wie du verdammt gut weißt! Und Sie, Constable: Was denken Sie sich eigentlich dabei, einem Kind zu erlauben…«

»Sie können dich nicht hören, Liebes«, unterbrach Ray. »Lass es mich mal versuchen.« Er brüllte Petes Namen und gab einen Befehl, den nur ein Dummkopf ignoriert hätte. Pete hastete den Pfad hinab und hatte seine Ausrede schon parat, als er zu ihnen stieß.

»Ich bin nicht mal in der Nähe der Leiche gewesen«, beteuerte er. »Du hast gesagt, ich soll nicht hingehen, und das bin ich auch nicht. Frag Mick! Ich bin nur den Pfad mit ihm raufgeklettert. Er war…«

»Haarspalterei«, fiel Ray ihm ins Wort.

»Du weißt genau, was ich davon halte, wenn du so etwas tust, Pete«, sagte Bea. »Jetzt begrüß deinen Vater, und dann verschwinde von hier, ehe ich dich verdresche, wie du's verdient hättest.«

»Hallo«, sagte Pete. Er streckte die Hand aus. Ray schlug ein. Bea wandte den Blick ab. Sie hätte einen Händedruck nicht zugelassen. Sie hätte den Jungen gepackt und geküsst.

Mick McNulty trat auf sie zu. »Tut mir leid. Ich wusste ja nicht…«

»Es ist ja nichts passiert.« Ray legte Pete die Hände auf die Schultern und schob ihn in Richtung Porsche. »Ich hab mir gedacht, wir holen uns beim Thai etwas zu essen«, schlug er seinem Sohn vor.

Peter verabscheute asiatisches Essen, aber Bea überließ es den beiden, das auszudiskutieren. Sie warf ihrem Sohn einen unmissverständlichen Blick zu, der besagte: Nicht hier. Pete schnitt eine Grimasse.

»Pass auf dich auf«, sagte Ray und küsste Bea zum Abschied auf die Wange.

»Fahr vorsichtig«, erwiderte sie. »Die Straßen sind rutschig.« Und weil sie sich nicht bremsen konnte, fügte sie hinzu: »Du siehst gut aus, Ray.«

»Nur hab ich davon nichts«, erwiderte er und ging mit ihrem Sohn davon. Pete hielt an Beas Wagen und holte seine Fußballschuhe heraus. Bea unterdrückte den Drang, ihm nachzurufen, er solle sie liegen lassen. Stattdessen fragte sie Constable McNulty: »Also? Was haben wir?«

McNulty wies zur Klippe hinauf. »Da oben liegt ein Rucksack, den die Spurensicherung einpacken sollte. Ich schätze, er gehört dem Jungen.«

»Sonst noch was?«

»Indizien, wie der arme Tropf abgestürzt ist. Hab ich auch für die Spurensicherung liegen lassen.«

»Was ist es?«

»Da oben ist ein Zauntritt, vielleicht drei Meter von der Felskante entfernt. Er markiert die Westgrenze einer Kuhweide. Der Junge hat eine Schlinge darumgelegt, an der sein Karabiner und das Seil für den Abstieg befestigt waren.«

»Was für eine Schlinge?«

»Aus Nylonnetz. Sieht aus wie ein Fischernetz, wenn man nicht weiß, wofür's gedacht ist. Man formt eine lange Schlinge daraus, legt sie um ein feststehendes Objekt und verbindet die Enden mit einem Karabiner. Dann knotet man das Seil an den Karabiner, und ab geht's.«

»Klingt vernünftig.«

»Wär's an sich auch gewesen. Aber die Schlinge war mit Klebeband ausgebessert, vermutlich um eine Schwachstelle zu stärken, und genau da ist sie gerissen.« McNulty sah zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. »So ein Vollidiot! Warum hat er sich nicht einfach eine neue Schlinge besorgt?«

»Was für eine Art Klebeband hat er denn verwendet?«

McNulty schaute sie an, als überraschte ihn die Frage. »Isolierband.«

»Ich hoffe, Sie haben die Finger davon gelassen?«

»'türlich.«

»Und der Rucksack?«

»Ist aus festem Segeltuch.«

»Das hab ich mir schon gedacht«, erwiderte Bea geduldig. »Wo hat er gelegen? Und woher wissen Sie, dass er dem Jungen gehörte? Haben Sie reingeschaut?«

»Er lag gleich neben dem Zauntritt, darum hab ich angenommen, es ist seiner. Wahrscheinlich hatte er seine Ausrüstung da drin. Jetzt ist er leer bis auf einen Schlüsselring.«

»Autoschlüssel?«

»Vermutlich.«

»Haben Sie sich nach dem Fahrzeug umgesehen?«

»Ich dachte, es ist besser, Ihnen erst mal Bericht zu erstatten.«

»Dann denken Sie noch mal scharf nach, Constable. Ab nach oben mit Ihnen, und finden Sie den Wagen!«

Er sah zur Klippe hinüber. Sein Ausdruck verriet ihr, wie wenig Lust er verspürte, ein zweites Mal im Regen dort hinaufzusteigen. »Na los«, ermunterte sie ihn liebenswürdig. »Die Bewegung kann Ihnen nur guttun.«

»Ich dachte, ich sollte vielleicht lieber die Straße nehmen. Es sind ein paar Meilen, aber…«

»Sie gehen schön zu Fuß«, teilte sie ihm mit. »Und halten Sie auf dem Pfad die Augen offen. Vielleicht gibt es Fußabdrücke, die der Regen noch nicht vernichtet hat.« Oder du, fügte sie in Gedanken hinzu.

McNulty sah nicht gerade glücklich aus, aber er sagte: »Okay, Detective.« Er machte kehrt und schlug den Weg ein, den er mit Pete gekommen war.


Kerra Kerne war vollkommen erledigt und durchnässt, weil sie ihre oberste Regel gebrochen hatte: Gegenwind auf dem Hinweg, Rückenwind auf dem Weg nach Hause. Doch sie hatte es so eilig gehabt, aus Casvelyn hinauszukommen, dass sie es zum ersten Mal seit Ewigkeiten versäumt hatte, im Internet nachzusehen, ehe sie ihre Montur übergezogen hatte und aus der Stadt geradelt war. Sie hatte nur die Lyckcrakombi und den Helm getragen, und sie hatte so emsig in die Pedale getreten, dass sie schon zehn Meilen außerhalb von Casvelyn war, ehe sie aufblickte, um festzustellen, wo genau sie sich befand. Und auch dann war es allein die Strecke, die sie beachtete, und nicht die Windverhältnisse. Sie war einfach immer weiter in östlicher Richtung geradelt. Und als das Unwetter aufzog, war sie so weit draußen gewesen, dass ihr, um ihm zu entgehen, nur geblieben wäre, einen Unterstand aufzusuchen, und das hatte sie nicht gewollt. So hatte sie sich also die fünfunddreißig Meilen nach Hause gequält, nass bis auf die Haut und müde bis in die Knochen.

Daran war einzig und allein Alan schuld, befand sie. Alan Cheston blind, dämlich und angeblich ihr Lebensgefährte, mit allem Drum und Dran, was der Begriff "Lebensgefährte" einschließen mochte. Der jedoch eine Entscheidung getroffen hatte, die sie niemals würde gutheißen können. Und auch ihrem Vater gab sie die Schuld. Er war ebenso blind und dämlich, wenn auch in völlig anderer Weise und aus ganz anderen Gründen.

Schon vor fast einem Jahr hatte sie zu Alan gesagt: »Bitte tu es nicht. Es wird nicht klappen. Es wird…«

Und er war ihr ins Wort gefallen. Das kam selten vor, hätte ihr aber etwas über ihn verraten sollen, was sie noch nicht wusste. Doch sie hatte die Zeichen nicht erkannt. »Warum sollte es nicht klappen? Wir werden uns nicht einmal oft sehen, falls es das ist, was dir Sorgen macht.«

Doch das war nicht der Grund für ihre Sorge gewesen. Sie wusste, was er sagte, entsprach der Wahrheit. Er würde das tun, was immer man in einer Marketingabteilung tat, die weniger eine Abteilung als vielmehr ein alter Konferenzraum hinter der einstigen Rezeption des heruntergekommenen Hotels war. Sie selbst würde die angehenden Trainer ausbilden. Er würde das Chaos beseitigen, das ihre Mutter als angebliche Direktorin jener nicht existenten Marketingabteilung hinterlassen hatte, während sie Kerra auf der Suche nach geeigneten Mitarbeitern wäre. Vielleicht würden sie sich hin und wieder in der Frühstücks- oder Mittagspause treffen, vielleicht aber auch nicht. Es stand also nicht zu befürchten, dass sie tagsüber aufeinanderhängen und dann später am Abend aufeinanderliegen würden.

Er hatte gefragt: »Siehst du denn nicht ein, Kerra, dass ich hier in Casvelyn eine vernünftige Arbeit brauche? Und genau das ist dieser Job! Sie hängen hier ja nicht gerade an den Bäumen, und es war ziemlich anständig von deinem Vater, ihn mir anzubieten. Geschenkter Gaul und so weiter.«

Ihr Vater war wohl kaum ein geschenkter Gaul, dachte sie, und es war erst recht nicht der Anstand, der ihn bewogen hatte, Alan die Stelle anzubieten. Sie brauchten jemanden, der Adventures Unlimited in der Öffentlichkeit publik machte, und sie brauchten einen ganz bestimmten Jemand dafür. Alan Cheston schien genau dieser Jemand zu sein, nach dem ihr Vater gesucht hatte.

Ihr Vater ließ sich in seinen Entscheidungen gerne vom äußeren Anschein leiten. In seiner Vorstellung entsprach Alan einem bestimmten Typus. Oder, genauer gesagt, er entsprach einem gewissen Typus eben nicht. Ihr Vater glaubte, der Typus, den sie bei Adventures Unlimited nicht brauchen konnten, war der Maskuline: Dreck unter den Fingernägeln, ein Kerl, der eine Frau aufs Bett warf und es ihr besorgte, bis sie Sterne sah. Was er nicht begriff und nie begriffen hatte, war, dass es keinen derartigen Typus gab. Es gab nur Männer. Und trotz der abfallenden Schultern, der Brille, trotz des vorstehenden Adamsapfels und der zarten Hände mit den langen, tastenden, spachtelförmigen Fingern war Alan Cheston ein Mann. Er dachte wie ein Mann, handelte wie ein Mann, und das war das Entscheidende er reagierte wie ein Mann. Und genau deshalb hatte Kerra auf stur geschaltet, doch es hatte nicht gefruchtet, weil sie eben auch nicht mehr gesagt hatte als: »Es wird nicht funktionieren.« Da das nichts nützte, hatte sie den einzigen Weg gewählt, der ihr in dieser Situation noch offenstand, und ihm gesagt, dass sie ihre Beziehung dann wohl würden beenden müssen, woraufhin er in aller Seelenruhe und ohne den leisesten Hauch von Panik in der Stimme erwidert hatte: »Ist es das, was du tust, wenn du nicht bekommst, was du willst? Du servierst die Menschen einfach ab?«

»Ja«, hatte sie erklärt. »Genau das ist es, was ich tue. Aber nicht dann, wenn ich nicht bekomme, was ich will. Sondern dann, wenn die Menschen nicht auf das hören, was ich ihnen zu ihrem eigenen Besten rate.«

»Wie kann es zu meinem Besten sein, diesen Job nicht anzunehmen? Er bringt Geld. Er bietet eine Zukunft. Ist es nicht das, was du willst?«

»Anscheinend nicht«, antwortete sie.

Trotzdem war sie nicht in der Lage gewesen, ihre Drohung wahrzumachen, was zum Teil daran lag, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wie es wäre, tagsüber mit Alan zu arbeiten, ihn aber abends nicht mehr zu sehen. Sie war schwach in dieser Hinsicht, und sie verabscheute ihre Schwäche, zumal sie ihn sich doch vornehmlich ausgesucht hatte, weil er der Schwache zu sein schien: rücksichtsvoll, was sie für unterwürfig, und behutsam, was sie für zaghaft gehalten hatte. Doch seit er bei Adventures Unlimited arbeitete, hatte er bewiesen, dass er genau das Gegenteil davon war, und das machte ihr eine Himmelangst.

Ein Weg, diese Angst loszuwerden, war, sie zu konfrontieren, doch das hätte geheißen, Alan selbst zu konfrontieren. Nur wie? Sie hatte anfangs gegrollt, dann hatte sie abgewartet, beobachtet und zugehört. Das Unvermeidliche war genau das: unvermeidlich. Und wie sie es auch früher immer schon getan hatte, hatte sie die Zeit genutzt, um sich zu stählen. Sich innerlich zu distanzieren, während sie äußerlich Selbstsicherheit zur Schau trug.

An dieser Rolle hatte sie bis heute festgehalten, genau bis zu dem Moment, da er ihr eröffnete: »Ich muss für ein paar Stunden weg, runter an die Küste.« Das hatte Alarmsirenen in ihrem Hirn ausgelöst. Und an dem Punkt war ihr nichts anderes mehr übrig geblieben, als sich aufs Rad zu schwingen und schnell und weit weg zu fahren. Sich so zu verausgaben, dass sie nicht mehr denken konnte und somit auch nicht mehr leiden. Darum hatte sie sich all ihren Verpflichtungen zum Trotz auf den Weg gemacht. Sie war den St. Mevan Crescent entlanggefahren, dann hinüber zum Burn View, die Lansdown Road und The Strand hinab und von dort aus der Stadt hinaus.

Sie war immer weiter in Richtung Osten gefahren, auch noch lange nachdem sie hätte kehrtmachen sollen. So kam es, dass es bereits dunkel wurde, als sie zum letzten Anstieg The Strand hinauf den Gang herunterschaltete. Die Geschäfte hatten schon geschlossen, die Restaurants waren geöffnet, wenn auch zu dieser Jahreszeit schwach besucht. Wimpelleinen hingen lustlos und tröpfelnd über der Straße, und die einsame Ampel auf der Kuppe des Hügels warf ihr einen roten Lichtkegel entgegen. Kein Mensch war auf dem nassen Bürgersteig unterwegs, aber das würde sich in zwei Monaten ändern, wenn die Sommergäste in Casvelyn einfielen, um sich an seinen zwei weiten Stränden zu vergnügen, an der Brandung, dem Meerwasserpool, dem Vergnügungspark und, so stand zu hoffen, an den Aktivitäten, die Advencktures Unlimited feilbot.

Es war der Traum ihres Vaters gewesen: das leer stehende, 1933 erbaute Hotel zu kaufen, das auf einer Landzunge oberhalb von St. Meckvan Beach lag, und es in ein Sporthotel zu verwandeln — ein enormes Risiko für die Kernes, und wenn es nicht klappte, würden sie vor dem Ruin stehen. Aber ihr Vater war ein Mann, der auch schon in der Vergangenheit Risiken eingegangen war, und sie hatten immer Früchte getragen, denn das Einzige im Leben, wovor er keine Angst hatte, war harte Arbeit. Was all die anderen Dinge im Leben ihres Vaters betraf… Kerra hatte zu viele Jahre damit zugebracht, nach dem Warum zu fragen, und keine Antwort bekommen.

Als sie die Hügelkuppe erreichte, bog sie wieder in den St. Mevan Crescent ein. Vorbei an alten Bed & Breakfasts und noch älteren Hotels, einem chinesischen Schnellimbiss und einem Zeitungskiosk gelangte sie zur Einfahrt dessen, was einmal das King-George-Hotel gewesen und heute Adventures Unlimited war. Das alte Hotel war nur schwach erleuchtet, und die Front lag hinter einem Gerüst verborgen. Im Erdgeschoss brannte Licht; oben, wo die Familie ihre Wohnung hatte, war alles dunkel. Vor dem Eingang parkte ein Streifenwagen. Kerra runzelte die Stirn, als sie ihn entdeckte. Alan!, schoss ihr durch den Kopf. Ihr Bruder kam ihr überhaupt nicht in den Sinn.


Ben Kernes Büro bei Adventures Unlimited lag im ersten Stock des Hotels. Es war ein umgebautes Einzelzimmer, das vermutlich einst die Zofe einer feinen Dame beherbergt hatte, denn direkt daneben befand sich eine Suite, zu der es einmal eine Verbindungstür gegeben hatte. Die Suite hatte Ben in ein Familienzimmer umgewandelt, denn Familien waren die Zielgruppe, auf die er seine finanzielle Zukunft verwettet hatte.

Die Zeit war ihm genau richtig für diese Sache erschienen für sein bislang größtes Unternehmen. Seine Kinder waren inzwischen erwachsen, und zumindest Kerra war selbstständig und absolut in der Lage, auch anderswo ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sollte das Unternehmen in die Binsen gehen. Mit Santo lagen die Dinge anders aus den verschiedensten Gründen, über die Ben lieber nicht nachdenken wollte. Aber Gott sei Dank war der Junge in letzter Zeit zuverlässiger geworden, ganz so als hätte er die ganze Tragweite des Unterfangens endlich begriffen. Also hatte Ben das Gefühl gehabt, die Familie unterstützte ihn. Die Verantwortung würde nicht allein auf seinen Schultern lasten. Ganze zwei Jahre hatten sie jetzt schon investiert. Der Umbau war bis auf den Fassadenanstrich und ein paar Kleinigkeiten in der Innenausstattung abgeschlossen. Bis Mitte Juni sollte der Betrieb in Schwung gekommen sein. Seit einigen Wochen nahmen sie Buchungen entgegen.

Ben war gerade dabei gewesen, sie durchzusehen, als die Polizei gekommen war. Wenngleich die Buchungen die Früchte ihrer vereinten Bemühungen darstellten, hatte er sie nie als solche betrachtet oder sich auch nur einen flüchtigen Gedanken über die Auslastung gemacht. Woran er stattdessen gedacht hatte, war Rot. Nicht im Sinne von "in den roten Zahlen stehen", was in der Tat der Fall war und auch in absehbarer Zukunft bleiben würde, bis das Hotel einbrachte, was Ben hineingesteckt hatte. Er dachte an Rot als die Farbe eines Nagellacks oder Lippenstifts, eines Schals, einer Bluse oder eines eng anliegenden Kleides.

Seit fünf Tagen trug Dellen Rot. Mit dem Nagellack hatte es angefangen. Der Lippenstift war gefolgt. Dann ein verwegenes Barett auf dem blonden Schopf, wenn sie das Haus verließ. Er rechnete damit, dass bald ein roter Pullover mit großzügigem Ausschnitt zu einer engen schwarzen Hose hinzukommen würde. Und irgendwann würde sie auch das Kleid tragen, das noch mehr Dekolleté zeigte und ihre Beine, und wenn es so weit war, würde nichts sie mehr halten. Seine Kinder würden ihn ansehen, wie sie es seit jeher getan hatten, und ihre Blicke würden ihn auffordern, etwas zu unternehmen; dabei war dies eine Situation, in der er rein gar nichts tun konnte. Obwohl sie inzwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahre alt waren, hielten Santo und Kerra unbeirrbar an ihrer Überzeugung fest, ihr Vater müsste ihre Mutter doch ändern können. Und wenn er das nicht tat zumal er bei dem Versuch bereits gescheitert war, als er noch jünger gewesen war als seine Kinder heute, sah er das Warum in ihren Augen. Zumindest in Kerras. Warum lässt du dir das von ihr bieten?

Als er die Autotür schlagen hörte, dachte er an Dellen. Er trat ans Fenster, erkannte, dass es ein Streifenwagen war und nicht ihr alter BMW, und dachte trotzdem gleich wieder an Dellen. Später gestand er sich ein, dass es nähergelegen hätte, an Kerra zu denken, war sie doch seit Stunden mit dem Rad unterwegs, und das bei einem Wetter, das seit dem frühen Nachmittag kontinuierlich schlimmer geworden war. Doch es war nun einmal Dellen, die seit achtundzwanzig Jahren im Mittelpunkt all seiner Gedanken stand, und da sie seit Mittag verschwunden war, nahm er an, dass sie sich in irgendwelche Schwierigkeiten gebracht hatte.

Er verließ sein Büro und ging ins Erdgeschoss hinunter. An der Rezeption stand ein uniformierter Constable, der sich suchend umschaute und zweifellos verwundert war, das Portal zwar unverschlossen, die Rezeption jedoch verwaist vorgefunden zu haben.

Der Polizist war jung und kam Ben vage bekannt vor. Er musste wohl hier aus dem Ort stammen. Allmählich wusste Ben, wer in Casvelyn lebte und wer aus der Umgebung kam.

Der Constable stellte sich vor: »Mick McNulty. Und Sie sind… Sir?«

»Benesek Kerne. Ist irgendetwas passiert?« Ben knipste ein paar zusätzliche Lampen an. Die zeitgesteuerten hatten sich zwar bei Beginn der Dämmerung eingeschaltet, aber sie warfen überall Schatten, und Ben hatte unwillkürlich das Bedürfnis, diese Schatten zu vertreiben.

»Ah«, sagte McNulty. »Kann ich Sie einen Moment sprechen, Mr. Kerne?«

Ben wusste, der Constable meinte, ob sie irgendwohin gehen konnten, wo sie ungestört waren. Also führte er ihn nach oben ins Wohnzimmer. Von dort hatte man einen Blick auf St. Mevan Beach, wo die Wellen heute eine anständige Größe hatten und sich in rascher Folge an den Sandbänken brachen. Sie kamen von Südwesten, aber der Wind verdarb sie. Es war niemand draußen, nicht einmal die Süchtigsten der einheimischen Surfer.

Das Gelände zwischen Strand und Hotel hatte sich seit den Glanzzeiten des King-George-Hotels beträchtlich verändert. Der Pool war noch da, aber die Bar und das Außenrestaurant waren einer Freeclimbing-Wand gewichen. Und den Kletterseilen, Hängebrücken, Flaschenzügen, Gerätschaften, Drähten und Kabeln für eine Canopy-Seilbahn. Eine solide gebaute Hütte beherbergte die Kajaks, eine zweite die Tauchausrüstungen. Constable McNulty betrachtete all das oder erweckte zumindest den Anschein, sodass Ben Kerne Zeit blieb, sich für das zu wappnen, was der Polizist ihm zu sagen hatte. Er dachte an Dellen und rote Accessoires, an die nassen Straßen und Dellens Absichten, die sie vermutlich aus der Stadt hinausgeführt hatten, die Küste entlang, zu einer der Buchten. Doch bei diesem Wetter dorthin zu gelangen, bedeutete, sich Gefahren auszusetzen, vor allem wenn sie nicht auf den Hauptstraßen geblieben war. Nun war zwar Gefahr genau das, was sie liebte und was sie suchte aber nicht die Sorte, bei der Autos von der Straße abkamen und die Klippen hinabstürzten.

Als die Frage kam, war es nicht diejenige, die Ben erwartet hatte.

»Ist Alexander Kerne Ihr Sohn?«

»Santo?«, fragte Ben und dachte: Gott sei Dank! Es war Santo, der sich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Vermutlich war er wegen unbefugten Betretens irgendeines Geländes verhaftet worden. Ben hatte ihn immer wieder gewarnt. »Was hat er angestellt?«

»Er ist verunglückt«, antwortete der Constable. »Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ein Leichnam gefunden worden ist, bei dem es sich um Alexander zu handeln scheint. Wenn Sie ein Foto von ihm hätten…«

Ben hörte das Wort "Leichnam", doch sein Verstand weigerte sich, es aufzunehmen. »Ist er im Krankenhaus?«, fragte er. »In welchem? Was ist passiert?« Er dachte daran, dass er es Dellen würde sagen müssen und was es in ihr auszulösen vermochte.

»… furchtbar leid«, hörte er den Constable sagen. »Wenn Sie ein Foto hätten, könnten wir…«

»Was sagen Sie da?«

Constable McNulty wirkte nervös. »Ich fürchte, er ist tot. Der Junge. Den wir gefunden haben.«

»Santo? Tot? Aber wo? Wie?« Ben blickte hinaus auf die rastlosen Wellen, und in diesem Moment schlug eine Windbö gegen die Fenster und ließ sie in den Rahmen erzittern. »O mein Gott. Er ist da rausgegangen! Er war surfen!«

»Nicht surfen«, entgegnete McNulty.

»Was ist denn dann passiert?«, fragte Ben. »Bitte. Was ist Santo passiert?«

»Er ist beim Klettern abgestürzt. Materialfehler. In den Klippen bei Polcare Cove.«

»Er war klettern?«, wiederholte Ben verständnislos. »Santo war klettern? Mit wem? Wo…«

»Im Moment sieht es so aus, als sei er allein gewesen.«

»Allein? In Polcare Cove? Bei diesem Wetter?« Ben kam es vor, als könnte er nur mehr Informationen nachplappern wie ein sprechender Roboter. Mehr zu tun, hätte geheißen, es wahrzuhaben, und das konnte er nicht ertragen, denn er ahnte, was Wahr haben bedeutete. »Antworten Sie«, befahl er. »Antworten Sie mir, Mann, verflucht noch mal!«

»Haben Sie ein Foto von Alexander?«

»Ich will ihn sehen. Ich muss. Vielleicht ist es nicht…«

»Das ist im Augenblick leider nicht möglich. Darum brauche ich das Foto. Der Leichnam… ist nach Truro ins Krankenhaus gebracht worden.«

Ben stürzte sich auf das Wort "Krankenhaus". »Also ist er doch nicht tot.«

»Mr. Kerne. Es tut mir leid. Er ist tot. Der Leichnam…«

»Sie sagten "Krankenhaus".«

»In die Rechtsmedizin. Zur Autopsie«, erklärte McNulty. »Es tut mir furchtbar leid.«

»O mein Gott.«

Unten wurde die Eingangstür geöffnet. Ben schnellte aus dem Wohnzimmer und rief: »Dellen?«

Schritte näherten sich der Treppe. Aber es war Kerra und nicht Bens Frau, die in der Wohnzimmertür erschien. Regenwasser triefte von ihrer Kleidung auf den Fußboden, und sie hatte den Helm abgenommen. Ihr Scheitel schien der einzig trockene Teil ihres Körpers zu sein.

Ihr Blick fiel auf den Constable, dann sah sie Ben an und fragte: »Ist etwas passiert?«

»Santo.« Bens Stimme klang rau. »Santo ist tot.«

»Santo.« Und dann: »Santo?« Kerra blickte sich panisch im Zimmer um. »Wo ist Alan? Wo ist Mum?«

Ben konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Deine Mutter ist nicht da«, murmelte er.

»Was ist passiert?«

Ben berichtete ihr das wenige, das er wusste.

Genau wie er fragte auch sie: »Santo war klettern?«, und der Ausdruck, mit dem sie ihn ansah, spiegelte exakt seine Gedanken wider: Wenn Santo zum Klettern gegangen war, dann wahrscheinlich seinetwegen.

»Ja«, antwortete Ben. »Ich weiß. Ich weiß! Du brauchst es nicht zu sagen.«

»Sie wissen was, Sir?«, erkundigte sich der Constable.

Ben wurde klar, dass diese ersten Minuten in den Augen der Polizei entscheidend waren, da sie ja anfangs nie wusste, womit genau sie es zu tun hatte. Die Polizei hatte einen Leichnam gefunden und ging davon aus, dass es sich um einen Unfall handelte, aber falls es kein Unfall war, musste sie in der Lage sein, mit dem Finger auf irgend jemanden zu zeigen und die richtigen Fragen zu stellen… Wo um Himmels willen blieb Dellen?

Ben rieb sich die Stirn. Das Meer war an allem schuld, dachte er. Immer lief alles auf das Meer hinaus. Nie war er wirklich im Einklang mit sich, wenn er das Rauschen des Meeres nicht hörte, und doch war er all die Jahre gezwungen gewesen, im Einklang mit sich zu sein. Aber all die Jahre hatte er sich unablässig nach dem Meer gesehnt, nach dessen riesiger, wogender Weite, nach dem Klang, nach der Erregung. Und jetzt das.

Nein, er allein war daran schuld, dass Santo tot war. Nicht surfen, hatte er gesagt. Ich will nicht, dass du surfst. Weißt du eigentlich, wie viele ihr Leben damit vertun, an irgendeinem Strand herumzuhängen und auf die perfekte Welle zu warten? Es ist verrückt. Pure Verschwendung.

»… schicken einen Kollegen vorbei«, sagte Constable McNulty.

»Wie bitte?«, fragte Ben. »Was war mit Ihrem Kollegen?«

Kerra betrachtete ihn, die blauen Augen verengt. Ihr Blick war forschend, und das war das Letzte, was Ben sich im Moment von seiner Tochter wünschte. Sie sagte behutsam: »Der Constable hat gesagt, dass ein Kollege von ihm hier vorbeikommt, sobald sie das Foto von Santo bekommen und sich vergewissert haben…« Und dann fragte sie McNulty: »Wieso brauchen Sie das Foto?«

»Er hatte keinen Ausweis dabei.«

»Woher wollen Sie dann…«

»Wir haben seinen Wagen gefunden. In einer Haltebucht in der Nähe von Stowe Wood. Sein Führerschein lag im Handschuhfach, und der Schlüssel aus seinem Rucksack passte ins Türschloss.«

»Also ist das hier eine reine Formalität«, stellte Kerra klar.

»Im Grunde genommen ja. Aber es muss gemacht werden.«

»Dann gehe ich Ihnen ein Foto holen.«

Ben staunte. Kerra war so geschäftsmäßig. Sie trug ihre Sachlichkeit wie eine Rüstung. Es brach ihm das Herz.

»Wann kann ich ihn sehen?«, fragte er.

»Erst nach der Obduktion, fürchte ich.«

»Warum?«

»So sind die Vorschriften, Mr. Kerne. Es ist nicht zulässig, dass vorher irgendwer in die Nähe der… in seine Nähe kommt. Aus spurentechnischen Gründen, verstehen Sie.«

»Sie schneiden ihn auf.«

»Sie werden nichts davon sehen. Es ist nicht so, wie Sie vielleicht glauben. Die machen ihn anschließend wieder zurecht. Darauf verstehen die sich. Sie werden nichts sehen.«

»Er ist kein verdammtes Stück Fleisch!«

»Natürlich ist er das nicht. Es tut mir leid, Mr. Kerne.«

»Wirklich? Haben Sie Kinder?«

»Einen Jungen, ja. Ich habe einen Jungen, Sir. Ihr Verlust ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Ich weiß das, Mr. Kerne.«

Ben starrte ihn an; seine Augen brannten. Der Constable war jung, vermutlich keine fünfundzwanzig. Der denkt wohl, er kennt die Welt, aber er hat keine Vorstellung nicht den Schimmer einer Ahnung, was dort draußen alles vor sich geht und was alles passieren kann. Er weiß nicht, dass es keine Möglichkeit gibt, sich vorzubereiten oder Kontrolle auszuüben. Das Leben kommt im gestreckten Galopp auf einen zu, und dann hat man zwei Möglichkeiten: aufspringen oder niedergeritten werden. Und wenn man versucht, einen Mittelweg zu finden, dann geht man unter.

Kerra kam mit einem Schnappschuss in der Hand zurück. Sie überreichte ihn Constable McNulty und sagte: »Das ist Santo. Mein Bruder.«

McNulty schaute das Foto an. »Hübscher Junge« sagte er.

»Ja«, erwiderte Ben finster. »Er kommt nach seiner Mutter.«

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