Da Daidre Trahair nicht zu Hause gewesen war, blieb Bea Hannaford und Barbara Havers nichts anderes übrig, als zur Polizeiwache zurückzukehren. Bea hatte ihre Visitenkarte in den Türschlitz des Cottages geklemmt, mit der handschriftlichen Bitte darauf, anzurufen oder zur Wache zu kommen, aber sie hegte wenig Hoffnung, dass dies sie auch nur einen Schritt weiterbringen würde. Zum einen besaß Dr. Trahair hier weder einen Festnetzanschluss noch ein Handy, und bedachte man ihren bisherigen Umgang mit der Wahrheit den man bestenfalls als locker und entspannt bezeichnen konnte, war sie wahrscheinlich nicht übermäßig motiviert, sie zu kontaktieren. Sie war eine Lügnerin. Das wussten sie inzwischen mit Gewissheit. Und Daidre Trahair wusste, dass sie wussten, dass sie eine Lügnerin war. Warum sollte sie sich freiwillig in eine Position begeben, die zwangsläufig zu einem unschönen Zusammenstoß mit der Polizei führen würde?
»Er sieht die Dinge nicht so, wie er sie sehen sollte«, sagte Bea unvermittelt zu DS Havers, als sie bergan fuhren und Polcare Cove hinter sich ließen. Polcare Cottage und Daidre Trahair — darum kreisten ihre Gedanken, und völlig unwillkürlich wurde daraus ein Gesamtbild, das neben Polcare Cottage und Daidre Trahair auch Thomas Lynley mit einschloss. Bea gefiel nicht, dass er dort gewesen war als inoffizielles Begrüßungskommando für sie und Havers. Und noch weniger gefiel ihr, wie vehement Lynley für Dr. Trahairs Unschuld in Bezug auf Santo Kerne plädiert hatte.
»Er ist der Ansicht, dass man sich alle möglichen Optionen offenhalten sollte«, erklärte Havers. Ihr Tonfall hatte eine gezwungene Leichtigkeit, und Detective Inspector Hannaford verengte argwöhnisch die Augen. Havers, sah sie, stierte stur geradeaus, während sie sprach, als wäre die genaue Betrachtung des Sträßchens aus irgendeinem Grund von eminenter Wichtigkeit. »Das war auch schon alles, was es mit der Sache dort am Cottage auf sich hatte. Er betrachtet die Situation aus der Perspektive, wie der Staatsanwalt sie betrachten würde. Lassen wir für den Moment eine Festnahme einmal außer Acht, denkt er sich. Denn die Frage ist: Ist das alles hier ausreichend, um damit vor Gericht zu gehen? Ja oder nein? Lautet die Antwort Nein, lässt er uns alle weitergraben. Er treibt einen in den Wahnsinn damit, meistens zumindest; aber am Ende hat er noch immer recht behalten.«
»Wenn das der Fall ist, sollten wir uns fragen, warum er so unwillig ist, Dr. Trahairs Geschichte auszugraben.«
»Ich nehme an, er glaubt, die Sache in Newquay sei vielversprechender. Aber eigentlich spielt es keine Rolle. Denn er wird sie ganz bestimmt nicht vom Haken lassen.«
Bea warf Havers einen weiteren Seitenblick zu. Die angespannte Körpersprache stand im Widerspruch zu ihrem lässigen Tonfall. Irgendetwas ging hier vor, was man auf den ersten Blick nicht sehen konnte, und Bea glaubte zu wissen, worum es sich dabei handelte. »Zwischen den Stühlen«, sagte sie.
»Was?« Havers sah sie an.
»Dort sitzen Sie, Sergeant Havers. Ihre Loyalität ihm gegenüber auf der einen Seite, Ihre Loyalität dem Job gegenüber auf der anderen. Die Frage ist, wie werden Sie sich entscheiden, wenn Sie sich entscheiden müssen?«
Havers zeigte ein schmallippiges, humorloses Lächeln. »Oh, ich weiß, wie ich mich entscheiden muss, wenn es dazu kommt, Inspector. Ich wäre nicht da, wo ich heute bin, wenn ich zu unklugen Entscheidungen neigte.«
»Was wiederum sehr von der individuellen Sichtweise abhängt«, bemerkte Bea. »Die Frage, welche Entscheidungen unklug sind. Ich bin kein Idiot, Sergeant. Also versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen.«
»Ich hoffe, so dämlich bin ich nicht.«
»Sind Sie verliebt in diesen Mann?«
Havers riss die Augen auf. »In wen?«
Sie hatte unvorteilhaft kleine Augen, doch als sie sie jetzt weit öffnete, erkannte Bea ihre hübsche Farbe: blau wie der Himmel über den Highlands.
»Meinen Sie etwa den Superintendent…?« Havers wies mit dem Daumen in die Richtung, wohin Lynley vorausgefahren war. »Ja, wären wir nicht ein hübsches Paar?« Sie lachte heiser. »Wie gesagt, Inspector, ich hoffe doch sehr, dass ich so dämlich nicht bin.«
Bea sah sie an und erkannte, dass Havers zumindest in diesem Punkt die Wahrheit sagte. Oder wenigstens die halbe Wahrheit. Und weil es nur die halbe Wahrheit war, wusste Bea, sie würde Havers und deren Arbeit genau im Auge behalten müssen. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Gab es denn verdammt noch mal niemanden in diesem Fall, auf den sie sich verlassen konnte?
Die Einsatzzentrale in Casvelyn bot ein Bild emsiger Betriebsamkeit: Sergeant Collins machte auf der Magnettafel Einträge bezüglich verschiedener Aktivitäten. Constable McNulty war immer noch mit Santo Kernes Computer zugange. In Ermangelung einer Schreibkraft hatte ein Mitglied der Taucherstaffel sich daran gemacht, stapelweise Notizen in die Nationale Polizeidatenbank einzugeben. Unterdessen war vom Straßenverkehrsamt die Liste mit den Namen der Halter jener Fahrzeugtypen gekommen, die zur fraglichen Zeit in der Nähe der Klippe gesehen worden waren. Wie Bea erwartet hatte, war es bei dem Defender einfacher, die Liste mit den an ihrem Fall beteiligten Personen abzugleichen. Jago Reeth besaß einen Defender, der große Ähnlichkeit mit demjenigen aufwies, der in Alsperyl nördlich des Tatorts gestanden hatte. Und der RAV4, das Fahrzeug, das südlich der Klippe gesehen worden war, gehörte vermutlich einem gewissen Lewis Angarrack.
»Madlyns Ersatzgroßvater zum einen, zum anderen ihr Vater«, erklärte Bea Sergeant Havers. »Ist das nicht ein hübscher Zufall?«
»Was das angeht…«, mischte sich Constable McNulty ein und erhob sich halb von seinem Platz hinter Santo Kernes Computer. Er klang halb hoffnungsvoll, halb aufgeregt: »Chef, ich habe…«
»Rache«, sagte Havers zustimmend. »Erst stiehlt er die Tugend der jungen Dame, und dann betrügt er sie. Also zahlen sie es ihm heim. Oder zumindest einer von ihnen. Oder sie haben es gemeinsam geplant. Solche Motive spielen doch oft eine Rolle bei Mordfällen.«
»Chef?«, meldete McNulty sich wieder zu Wort. Inzwischen hatte er sich ganz von seinem Stuhl erhoben.
»Und sowohl Reeth als auch Angarrack hätten theoretisch Zugang zur Ausrüstung des Jungen gehabt«, fuhr Bea ungerührt fort. »Sie wussten vermutlich, dass sie im Kofferraum seines Wagens lag.«
»Weil Madlyn es ihnen gesagt hatte?«
»Vielleicht. Aber jeder von ihnen hätte die Ausrüstung auch irgendwann zufällig zu Gesicht bekommen können.«
»Chef, ich weiß, Sie wollten, dass ich die Finger von den Surf-Sites lasse«, unterbrach McNulty, jetzt nachdrücklicher. »Aber das hier müssen Sie sich ansehen.«
»Augenblick, Constable.« Bea wies ihn mit einer Geste zurück auf seinen Platz. »Lassen Sie mich bitte einen Gedanken nach dem anderen abarbeiten!«
»Aber das hier hängt damit zusammen. Es ist ein Teil des Puzzles.«
»Verdammt noch mal, McNulty!«
Er ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen und tauschte einen finsteren Blick mit Sergeant Collins. Sein Ausdruck war unmissverständlich: Blöde Schlampe. Bea entging das nicht, und sie sagte scharf: »Das reicht, Constable. Also schön, also schön. Was?« Sie trat an den Computer. Er hackte wie besessen auf die Tastatur ein. Eine Website öffnete sich, und es erschien das Bild einer riesigen Welle, davor ein Surfer in der Größe einer Fliege. Bea rang um Geduld, als sie das sah. Ihr war danach zumute, McNulty an den Ohren vom Computer wegzuzerren.
»Was er über dieses Poster gesagt hat…«, erklärte McNulty. »Der alte Knacker bei LiquidEarth. Als wir mit ihm gesprochen haben. Sehen Sie, hier, der Junge auf der Welle. Reeth hat was von Mavericks erzählt, wissen Sie noch? Aber der Junge kann unmöglich Mark Foo gewesen sein. Es ist ein Bild von Jay Moriarty.«
»Constable, das kommt mir alles nur allzu bekannt vor«, unterbrach Bea.
»Nein, warten Sie! Sehen Sie her! Wie gesagt, es ist ein Bild von Jay Moriarty, und es ist berühmt. Jedenfalls unter Surfern, die große Wellen reiten. Nicht nur, weil der Junge erst sechzehn war, sondern weil er der damals jüngste Surfer war, der überhaupt je eine Mavericks-Welle genommen hat. Das Bild wurde in derselben Woche aufgenommen, als Mark Foo ums Leben gekommen ist.«
»Und warum ist das so wichtig für uns?«
»Weil Surfer das wissen. Jedenfalls Surfer, die mal in Mavericks waren.«
»Was genau wissen?«
»Wer Jay Moriarty und wer Mark Foo ist. Sie sehen den Unterschied auf den Fotos.« McNultys Gesicht leuchtete, als hätte er den Fall soeben im Alleingang gelöst und wartete nur darauf, dass Bea zu ihm sagte: »Nennen Sie mich Lestrade.« Als das jedoch ausblieb, fuhr er fort, vielleicht nicht mehr ganz so euphorisch, aber unverändert überzeugt: »Verstehen Sie denn nicht? Jago Reeth, der Typ, dem der Defender gehört, hat gesagt, das Poster bei LiquidEarth, das wäre Mark Foo. Mark Foo auf der Welle, die ihn umgebracht hat, hat er gesagt. Aber hier, genau hier…« McNulty tippte erneut etwas in die Tastatur, und ein Foto, das identisch mit dem Poster war, das sie in der Werkstatt gesehen hatten, kam auf den Bildschirm. »Das hier ist dasselbe Bild, Chef. Und es ist Jay Moriarty, nicht Mark Foo.«
Bea überlegte einen Moment. Sie wollte nichts vorschnell von der Hand weisen, aber McNulty schien auf gar zu verschlungenen Pfaden zu denken. Sein Enthusiasmus für das Surfen war mit ihm durchgegangen und hatte ihn in Regionen geführt, die mit dem Fall nichts mehr zu tun hatten. »Na schön. Also. Jago Reeth hat das Poster bei LiquidEarth falsch identifiziert. Aber was sagt uns das?«
»Es sagt uns, dass er keine Ahnung hat, wovon er spricht«, behauptete McNulty.
»Nur weil er die Person auf einem Poster nicht erkannte, das er wahrscheinlich noch nicht einmal selbst aufgehängt hat?«
»Er gaukelt uns etwas vor«, beharrte McNulty. »Mark Foos letzte Welle ist Surfgeschichte. Das Gleiche gilt für Jay Moriartys Wipe-out. Jemand Neues in dem Sport weiß vielleicht nicht, wer das ist oder was ihm passiert ist, aber ein langjähriger Surfer? Jemand, der behauptet, er hätte Jahrzehnte in der Szene verbracht und wäre durch die ganze Welt gezogen, um den Wellen zu folgen? So jemand muss das wissen! Und dieser Reeth wusste es nicht. Obendrein haben wir seinen Wagen in der Nähe des Unglücksortes gefunden. Ich würde sagen, das ist unser Mann.«
Bea dachte einen Moment darüber nach. Sie wusste, McNulty war als Ermittler nahezu unfähig. Er würde den Rest seiner Tage in der Polizeiwache von Casvelyn versauern und es nie weiter bringen als bis zum Sergeant und selbst das nur dann, wenn er enormes Glück hatte und Collins vor ihm das Zeitliche segnete. Aber manchmal tat nicht nur Kindermund, sondern auch Narrenmund Wahrheit kund. Sie wollte diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen, bloß weil sie sich nur allzu oft versucht sah, dem Constable mit ein paar leichten Schlägen auf den Hinterkopf auf die Sprünge zu helfen.
Also fragte sie über die Schulter: »Wie steht es mit den Fingerabdrüсken an Santo Kernes Wagen? Sind auch welche von Jago Reeth dabei?«
Sergeant Collins fischte ein Schriftstück von Beas Schreibtisch und studierte es. An dem Auto seien erwartungsgemäß überall die Fingerabdrücke des Jungen gefunden worden, berichtete er. Die von William Mendick außen an der Fahrerseite. Die von Madlyn Angarrack fast überall dort, wo auch Santos gewesen seien: innen, außen, am Handschuhfach, auf den CDs. Einige weitere stammten von Dellen und Ben Kerne, andere auf der CD und im Kofferraum seien noch nicht identifiziert.
»Und auf der Kletterausrüstung?«
Collins schüttelte den Kopf. »Die meisten sind unbrauchbar. Verschmiert. Wir haben einen deutlichen von Santo und einen Teilabdruck, der aber auch noch nicht zugeordnet ist. Das ist alles.«
»Mist«, sagte sie. »Schuss in den Ofen. Nichts.« Das brachte sie zurück zu den Autos in der Nähe des Unglücksortes. Sie sagte, eher nachdenklich als zu irgend jemandem direkt: »Wir wissen, dass der Junge sich in Sea Dreams mit Madlyn Angarrack zum Sex getroffen hat. Damit hatte Jago Reeth Zugang zu seinem Wagen — Fingerabdrücke hin oder her. In dem Punkt gebe ich Ihnen recht, Constable. Außerdem wissen wir, dass der Junge sein Surfbrett bei LiquidEarth gekauft hat. Da haben wir die Verbindung zu Lewis Angarrack. Überdies war er mit Madlyn Angarrack zusammen, vermutlich also auch dann und wann bei ihr zu Hause. Ihr Vater hätte dort erfahren können, wo er seine Kletterausrüstung aufbewahrt hat.«
»Aber es gibt doch sicher noch weitere Personen, oder?«, fragte Havers. Sie betrachtete die Magnettafel, wo Sergeant Collins diensteifrig die Liste der Aktivitäten erweiterte. »Jeder, der den Jungen kannte — seine Kumpel und sogar seine eigene Familie, wusste doch wahrscheinlich, wo er seine Ausrüstung lagerte, oder? Und hätten sie nicht leichter Zugang gehabt?«
»Vielleicht leichteren Zugang, aber kein Motiv.«
»Und niemand hat irgendeinen Vorteil durch seinen Tod? Die Schwester vielleicht? Oder ihr Freund?« Havers wandte sich von der Magnettafel ab und las offenbar irgendetwas in Beas Miene, denn sie fügte respektvoll hinzu: »Ich spiele hier nur den Advocatus Diaboli, Inspector, denn ich schätze, wir wollen nicht voreilig irgendwelche Türen zuschlagen.«
»Natürlich. Da ist immer noch die Frage von Adventures Unlimited«, bemerkte Bea.
»Ein Familienunternehmen«, sagte Havers. »Immer ein gutes Motiv.«
»Nur dass sie noch gar nicht eröffnet haben.«
»Vielleicht wollte irgendjemand Sand ins Getriebe streuen. Verhindern, dass sie den Betrieb aufnehmen. Ein Konkurrent?«
Bea schüttelte den Kopf. »Nichts ist so überzeugend wie die SexSchiene, Barbara.«
»Bislang«, schränkte Havers ein.
Zennor war selbst bei schönstem Wetter ein trostloser Ort, was einerseits seiner Lage in einer geschützten Mulde zwischen windgepeinigten Hügeln etwa eine halbe Meile von der See entfernt geschuldet war, zum anderen seiner monochromen Erscheinung in durchgängigem Granitgrau, nur hier und da aufgelockert durch den kuriosen Anblick einer vertrockneten Palme. Bei weniger günstigen Bedingungen wie schlechtem Wetter, in der Dämmerung oder mitten in der Nacht wirkte das Dorf fast schon unheimlich, umgeben von Weiden, auf denen Felsbrocken verstreut lagen, als hätte ein zorniger Gott sie wie Flüche hinabgeschleudert. Es hatte sich seit hundert Jahren nicht verändert und würde dies vermutlich auch in den kommenden hundert Jahren nicht tun. Seine Vergangenheit war vom Bergbau geprägt, seine Gegenwart setzte auf Tourismus, doch selbst im Hochsommer war davon nicht allzu viel zu sehen, denn die Strände in der näheren Umgebung waren nicht leicht zu erreichen, und die einzige Sehenswürdigkeit, die die Neugierigen möglicherweise anzulocken vermochte, war die Kirche abgesehen höchstens noch vom Tinner's Arms und den Speisen und Getränken, die ebendieser Pub zu bieten hatte. Die Größe seines Parkplatzes schien einen Hinweis darauf zu geben, dass zumindest im Sommer die Geschäfte einigermaßen gut liefen. Lynley stellte seinen Wagen vor dem Pub ab und ging hinein, um sich nach dem Sitz der Meerjungfrau zu erkundigen. Der Wirt war gerade dabei, ein Sudoku zu lösen. Er hob die Hand, um ihm zu bedeuten: Einen Augenblick bitte, schrieb eine Ziffer in eines der Kästchen, runzelte die Stirn und radierte sie wieder aus. Als er sich schließlich dem Besucher zuwandte, nahm er dem Sitz, den Lynley suchte, die Genitivkonstruktion. »Meerjungfrauen haben wenig Verwendung für einen Sitz, wenn Sie mal genauer darüber nachdenken«, erklärte er.
So erfuhr Lynley, dass es nicht der Sitz der Meerjungfrau, sondern der Meer Jungfrauensitz war, nach dem er suchte, und dass dieser sich in der Kirche befand. Selbige lag nur wenige Meter vom Pub entfernt so wie eigentlich alles in Zennor nur wenige Meter vom Pub entfernt lag. Das Dorf bestand lediglich aus zwei Straßen, einem Feldweg und einem Pfad, der sich an einer wohlriechenden Milchfarm vorbeischlängelte und zu den Klippen oberhalb der See führte. Die Kirche war vor einigen hundert Jahren auf einem kleinen Hügel errichtet worden, sodass sie das meiste all dessen überblickte.
Sie war wie so viele Kirchen auf dem Lande in Cornwall unverschlossen. Stille und der Geruch alter Steine beherrschten das Innere. Farbtupfer lieferten lediglich die Kniekissen, die in Reih und Glied entlang der Bänke lagen, und das Glasfenster über dem Altar, das eine Kreuzigungsszene darstellte.
Der Meerjungfrauensitz war offenbar die Hauptattraktion der Kirche. Er hatte einen besonderen Platz in der Seitenkapelle, und darüber hing ein Schild mit einigen erklärenden Worten, die darlegten, dass hier ein aphroditisches Symbol von mittelalterlichen Christen vereinnahmt worden sei, um die menschliche und göttliche Natur Christi zu veranschaulichen. Lynley fand das arg weit hergeholt, aber er nahm an, die Christen hatten es in diesem Teil der Welt nicht leicht gehabt; schon gar nicht im Mittelalter.
Der Sitz war schlicht und hatte mehr Ähnlichkeit mit einem schmalen Betstühlchen als mit einem Thron oder Ähnlichem. Er war aus uralter Eiche gefertigt und zeigte Schnitzereien des namengebenden Fabelwesens mit einem Spiegel in der einen und einem Kamm in der anderen Hand. Doch es saß niemand darauf und wartete auf Lynley.
Es blieb ihm folglich nichts weiter übrig, als seinerseits zu warten, also setzte er sich in die Bank, die dem Sitz am nächsten stand. Es war kalt und vollkommen still in der Kirche.
In seiner derzeitigen Lebenssituation war Lynley nicht gerade erpicht auf Kirchen. Die Hindeutung auf die Vergänglichkeit, die ihre Friedhöfe implizierten, gefiel ihm nicht. Er wollte nicht an Sterblichkeit erinnert werden. Darüber hinaus glaubte er an nichts außer an den Zufall und die Unmenschlichkeit, mit der Menschen einander begegneten. Seiner Meinung nach gaben sowohl die Kirchen als auch die Religionen, die sie repräsentierten, unhaltbare Versprechungen. Es war einfach, die ewige Seligkeit nach dem Tod zu garantieren, solange niemand zurückkehrte, um davon zu berichten. Also war völlig offen, ob die strikte Befolgung moralischer Regeln oder die Gräuel, die Menschen einander antaten, irgendwelche Folgen zeitigten.
Er hatte noch nicht lange gewartet, als er die Kirchentür hörte. Sie wurde schwungvoll geöffnet und fiel polternd zu, als wäre sie unwillig, auf diejenigen Rücksicht zu nehmen, die womöglich ins Gebet vertieft waren.
Lynley schob sich aus der Bank. Eine hochgewachsene Gestalt kam im dämmrigen Licht auf ihn zu. Der Mann schritt agil aus, und erst als er in den Seitenflügel trat, konnte Lynley ihn im Licht des Fensters richtig erkennen.
Lediglich das Gesicht verriet das Alter des Ankömmlings, denn seine Haltung war kerzengerade und sein Körperbau kräftig. Das Gesicht jedoch war tief gefurcht, die Nase von einem Rhinophym entstellt, das ihr das Aussehen eines Blumenkohls verlieh, der in Rotebetesaft getaucht worden war. Ferrell hatte ihm den Namen dieser potenziellen Informationsquelle über die Kernes verraten: David Wilkie, Chief Inspector im Ruhestand und einstmals bei der Devon and Cornwall Constabulary beschäftigt, die die rätselhaften Todesumstände von Jamie Parsons untersucht hatte.
»Mr. Wilkie?« Lynley stellte sich vor. Er zog seinen Dienstausweis hervor, und Wilkie setzte eine Brille auf, um ihn zu studieren.
»Weit von Ihrem Revier entfernt, was?«, fragte Wilkie. Er klang nicht besonders freundlich. »Wieso interessieren Sie sich für den Parsons-Fall?«
»War es Mord?«, fragte Lynley.
»Wir konnten es nie beweisen. Am Ende hieß es Tod durch Unglücksfall, aber Sie und ich, wir wissen beide genau, was das heißt. Es kann alles Mögliche dahinterstecken, nur beweisen kann man nichts. Also muss man sich darauf verlassen, was die Leute sagen.«
»Darum bin ich zu Ihnen gekommen. Ich habe mit Eddie Kerne gesprochen. Sein Sohn Ben…«
»Mein Gedächtnis funktioniert einwandfrei, mein Junge. Ich wäre immer noch im Dienst, wenn die Regeln es zuließen.«
»Wollen wir irgendwohin gehen und reden?«
»Sie halten wohl nicht viel auf das Haus Gottes, nein?«
»Derzeit nicht, fürchte ich.«
»Was sind Sie? Ein Schönwetterchrist? Der Herr hat nicht genau das abgeliefert, was Sie wollten, und schon schlagen Sie ihm die Tür vor der Nase zu? So in etwa? Ihr jungen Leute! Pah! Ihr seid doch alle gleich.«
Wilkie fischte ein Taschentuch aus der Tasche seiner wetterfesten Jacke und rieb sich damit erstaunlich behutsam die versehrte Nase. Dann streckte er es Lynley entgegen, der einen Moment lang glaubte, er sollte es ebenfalls benutzen als eine Art bizarrer Kommunion aus den Händen des älteren Mannes. Wilkie klärte ihn jedoch sofort auf. »Sehen Sie sich das an. So weiß wie an dem Tag, als ich es gekauft habe, und ich mache meine Wäsche selbst. Was sagen Sie dazu?«
»Beeindruckend«, erwiderte Lynley. »In der Hinsicht könnte ich Ihnen nicht das Wasser reichen.«
»Ihr Jungspunde könnt mir in keinerlei Hinsicht das Wasser reichen.« Wilkie stopfte das Taschentuch zurück in die Tasche. »Wir reden hier im Hause Gottes oder gar nicht. Außerdem muss ich die Bänke abstauben. Sie warten hier. Ich gehe die Utensilien holen.«
Wilkie, dachte Lynley, war mit Sicherheit nicht gaga. Er hätte Detective Sergeant Ferrell in Newquay mühelos in die Tasche gesteckt.
Als der alte Mann wiederkam, trug er einen Korb bei sich, aus dem er einen Handfeger, ein paar Putzlappen und eine Dose mit Möbelpolitur zog. Letztere öffnete er mit einem Hausschlüssel und fuhr mit einem Lappen hindurch. »Ich verstehe einfach nicht, was aus dem guten alten Kirchgang geworden ist«, eröffnete er Lynley. Er reichte ihm den Handfeger und gab exakte Anweisungen, wie dieser auf und unter den Bänken zum Einsatz gebracht werden sollte. Er werde mit dem Polierlappen folgen, also solle Lynley ja keine Stellen auslassen. Es seien nicht genügend Lappen vorhanden, falls diese hier — er wies auf den Korb — schmutzig würden. Ob Lynley das verstanden habe? Lynley bejahte, was Wilkie ermöglichte, zu seinem vorherigen Gedanken zurückzukehren. »Zu meiner Zeit war die Kirche immer zum Bersten voll. Zwei-, manchmal sogar dreimal am Sonntag und mittwochs zur Abendandacht. Heutzutage sieht man, abgesehen von Weihnachten, keine zwanzig regelmäßigen Besucher in der Kirche. Eine Handvoll zu Ostern vielleicht, aber nur bei schönem Wetter. Ich bin überzeugt, diese Beatles sind daran schuld. Ich erinnere mich noch, dass einer von denen mal behauptet hat, er wäre Jesus. Den hätte man auf der Stelle wegsperren müssen, wenn Sie mich fragen.«
»Aber das ist lange her, oder?«, murmelte Lynley.
»Die Kirche hat sich nie mehr wirklich von diesem Heiden erholt. Nie. All die Wichser mit Haaren bis zum Arsch und singen Satisfaction. Machen Kleinholz aus ihren Instrumenten. Die kosten doch Geld! Aber interessiert sie das? Nein. All das ist gottlos. Kein Wunder, dass niemand mehr kommt, um dem Herrn den geschuldeten Respekt zu erweisen.«
Lynley erwog eine Wiedereröffnung der Gaga-Frage. Außerdem hätte er Havers hier gebraucht, um dem alten Mann eine Nachhilfestunde in der Geschichte des Rock and Roll zu erteilen. Er selbst war in vieler Hinsicht spät entwickelt gewesen, und Rock and Roll gehörte zu den zahlreichen Aspekten der Popkultur vergangener Jahrzehnte, von denen er keine fundierte Kenntnis besaß. Also versuchte er gar nicht erst, sich dazu zu äußern. Er wartete einfach, bis Wilkie das Thema abgearbeitet hatte, und unterdessen zeigte er bewundernswerten Fleiß mit dem Handbesen, soweit das in der Enge der Kirchenbänke und der unzureichenden Beleuchtung in der Kirche möglich war.
Wie er gehofft hatte, endete Wilkie schließlich mit: »Die Welt geht zum Teufel, wenn Sie mich fragen.«
Lynley sah keinen Anlass, ihm zu widersprechen.
»Es waren die Eltern, die den Jungen für den Tod ihres Sohnes im Gefängnis sehen wollten«, begann der alte Mann plötzlich. Sie arbeiteten sich immer noch durch die Reihen. »Benesek Kerne. Die Eltern hatten sich auf ihn eingeschossen und gaben keine Ruhe.«
»Sie meinen die Eltern des toten Jungen?«
»Vor allem der Vater. Er war völlig aus der Bahn geworfen, als sein Junge starb. Jamie war immer sein Augapfel gewesen, und Jon Parsons — das war der Vater — hatte das auch nie zu verheimlichen versucht. Ein Vater sollte ein Lieblingskind haben, sagte er immer, und die anderen Kinder müssten diesem Lieblingskind nacheifern, um das Wohlwollen des Vaters zu erlangen.«
»Also gab es Geschwister?«
»Insgesamt waren es vier. Drei jüngere Mädchen, die kleinste noch nicht aus den Windeln, und der Junge, der ums Leben kam. Die Eltern warteten ab, zu welchem Ergebnis der Coroner kam, und als dieses Ergebnis Tod durch Unglücksfall lautete, wandte der Vater sich an mich. Das war ein paar Wochen später. Der arme Kerl war wie von Sinnen. Er sagte mir, er wisse mit Sicherheit, dass dieser Kerne-Junge dafür verantwortlich wäre. Ich fragte ihn, warum er erst so spät, erst nach Abschluss der Untersuchungen, mit dieser Information zu mir gekommen sei — ich hielt alles, was er sagte, für die Fantastereien eines vor Schmerz wahnsinnigen Vaters, und da sagte er mir, irgendjemand hätte geredet. Und zwar nachdem der Coroner seine Untersuchungsergebnisse verkündet hatte. Und er habe auch selbst Nachforschungen angestellt, sagte er mir. Hat einen Privatermittler engagiert. Und der habe angeblich jemanden gefunden, der geredet hätte.«
»Haben Sie ihm denn geglaubt?«
»Ist das nicht die alles entscheidende Frage? Wer zum Henker konnte denn schon wissen, ob es die Wahrheit war?«
»Dieser Informant. Hat er nie mit Ihnen gesprochen?«
»Nur mit Parsons. Das hat der jedenfalls behauptet. Was völlig unnütz ist, wie Sie und ich wissen, zumal… Was er mehr als alles andere wollte, war eine Verhaftung. Er brauchte jemanden, dem er die Schuld geben konnte. Und seine Frau genauso. Sie brauchten einen Schuldigen, denn sie glaubten, Beschuldigung, Verhaftung, Gerichtsverhandlung und Urteil würden dazu führen, dass sie sich besser fühlten, was natürlich nicht stimmt. Aber das wollte der Vater nicht hören. Welcher Vater will das schon? Seine eigenen Ermittlungen anzustellen, war das Einzige, was ihn davor bewahrt hat, in den Abgrund zu stürzen. Also war ich gewillt, mit ihm zu kooperieren, ihm zu helfen, diesen Scherbenhaufen hinter sich zu lassen, zu dem sein Leben geworden war. Und ich bat ihn, mir zu sagen, wer sein Informant war. Ich konnte ja schließlich keinen Haftbefehl beantragen nur aufgrund irgendwelcher Anschuldigungen, die ich noch nicht einmal mit eigenen Ohren gehört hatte.«
»Natürlich nicht«, warf Lynley ein.
»Aber er wollte es mir nicht sagen, was also konnte ich tun, was ich nicht schon getan hätte? Wir haben mit aller Gründlichkeit in der Sache ermittelt, aber glauben Sie mir, wir hatten nichts in der Hand. Der Kerne-Junge hatte kein Alibi außer: "Ich bin die längere Strecke nach Hause gelaufen, um einen klaren Kopf zu kriegen." Aber dafür kann man einen Mann nicht hängen, oder? Trotzdem, ich wollte dem Vater helfen. Also haben wir den Kerne-Jungen erneut aufs Revier geladen, nicht einmal, sondern zigmal. Ich weiß nicht mehr, wie oft. Wir haben jedes Detail in seinem Leben unter die Lupe genommen, und genauso haben wir es mit seinen Freunden getan. Benesek Kerne konnte den Parsons-Jungen nicht ausstehen, das haben wir ziemlich schnell rausgekriegt, aber wie sich herausstellte, konnte niemand ihn leiden.«
»Hatten Beneseks Freunde Alibis?«
»Sie alle haben dieselbe Geschichte erzählt: Nach Hause und ins Bett. Die Geschichte blieb unverändert, und keiner ist je umgefallen. Aus denen war nichts herauszuholen. Entweder hatten sie sich gegenseitig geschworen dichtzuhalten, oder es war tatsächlich die Wahrheit. Und nach meiner Erfahrung ist es so: Wenn eine Gruppe Jugendlicher irgendetwas anstellt, macht früher oder später einer den Mund auf, wenn man nur genug Druck ausübt. Aber in dem Fall hat das keiner getan.«
»Was Sie zu dem Schluss geführt hat, dass sie die Wahrheit sagten?«
»Mir blieb kein anderer Schluss übrig.«
»Was haben sie Ihnen über ihr Verhältnis zu dem toten Jungen erzählt? Was war ihre Geschichte?«
»Sie war ganz einfach. Der Kerne-Junge und Parsons hatten eine Auseinandersetzung an dem Abend, Handgreiflichkeiten. Wegen irgendeiner Sache, die sich während einer Party im Haus der Parsons zugetragen hatte. Kerne ist gegangen und seine Freunde auch. Und angeblich ist auch keiner von ihnen später zurückgegangen, um den Parcksons-Jungen in die tödliche Falle zu locken. Er muss allein zum Strand runtergegangen sein, haben sie gesagt. Ende der Geschichte.«
»Ich habe gehört, er ist in einer Strandhöhle gestorben.«
»Er ist nachts da runtergegangen, die Flut hat eingesetzt und ihn da drinnen überrascht, und er ist nicht mehr rausgekommen. Die Toxikologie hat ergeben, dass er sternhagelvoll war und obendrein auch noch Drogen genommen hatte. Zuerst wurde allgemein vermutet, er wäre mit einem Mädchen da runter, um ein Nümmerchen zu schieben, und entweder vorher oder nachher bewusstlos geworden.«
»Das wurde zuerst vermutet?«
»Die Leiche war ziemlich zerschunden, weil sie sechs Stunden lang in der Höhle herumgeschleudert worden war, während das Wasser stieg und wieder zurückging, aber die Gerichtsmedizin hat Male gefunden, die damit allein nicht erklärt werden konnten, und zwar an Hand- und Fußgelenken.«
»Fesselspuren? Aber keine weiteren Beweise?«
»Kot. In den Ohren. Ziemlich eigenartig, oder? Aber das war alles. Und es gab für nichts auch nur einen einzigen Zeugen. Von A bis Z war es ein Fall von: Er hat gesagt, sie hat gesagt, wir haben gesagt, sie haben gesagt. Klatsch und Tratsch und Anschuldigungen, aber das war auch schon alles. Ohne stichhaltige Beweise, ohne Zeugen, ohne auch nur die geringsten Indizien… Das Einzige, worauf wir hoffen konnten, war, dass irgendjemand einknickte. Und das wäre vielleicht auch passiert, wäre der Parsons-Junge ein anderer gewesen.«
»Und das heißt?«
»Er war wohl ein ziemlicher Wichser, so traurig es auch ist, das zu sagen. Die Familie hatte Geld, darum hielt er sich für was Besseres, und das hat er die anderen gern spüren lassen. Das hat ihn bei der Dorfjugend nicht gerade beliebt gemacht, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Aber zu seiner Party sind sie alle gegangen?«
»Gratis Getränke und Drogen, sturmfreie Bude, die Chance, ein bisschen rumzuknutschen. In Pengelly Cove wurde jungen Leuten sonst nicht allzu viel geboten. Die Gelegenheit, ein bisschen Spaß zu haben, hätten sie niemals ausgeschlagen.«
»Und was ist aus ihnen geworden?«
»Aus den übrigen Jungen? Den Freunden von Benesek Kerne? Soweit ich weiß, leben sie immer noch in Pengelly Cove.«
»Und die Parsons?«
»Die Familie als ganze ist nie nach Pengelly Cove zurückgekehrt. Sie stammten aus Exeter, und dorthin sind sie auch wieder zurück. Der Vater hatte eine Immobilienverwaltungsfirma. Die hieß Parsons und… irgendwas. Ich weiß nicht mehr. Parsons selbst kam regelmäßig nach Pengelly, übers Wochenende oder im Urlaub, um weiter zu versuchen, den Fall zu einem Abschluss zu bringen. Aber daraus wurde nichts. Er hatte mehr als einen Privatdetektiv darauf angesetzt. Das Ganze hat ihn ein Vermögen gekostet. Aber falls Benesek Kerne und seine Freunde hinter Jamie Parsons' Tod steckten, hatten sie durch die polizeiliche Ermittlung zumindest eines gelernt: Wenn es keine Beweise und keine Zeugen gibt, muss man nur den Mund halten, dann kann einem nichts passieren.«
»Wie ich hörte, hat er eine Art Gedenkstätte errichten lassen«, bemerkte Lynley.
»Wer? Parsons?« Und als Lynley nickte, fuhr er fort: »Na ja, die Familie hatte das Geld für so was, und wenn es für ihren Seelenfrieden wichtig war, warum nicht.« Wilkie war an der letzten Bank angelangt, und jetzt richtete er sich auf und streckte sich. Lynley tat es ihm gleich. Einen Moment standen sie schweigend in der Mitte der Kirche und betrachteten das Fenster über dem Altar. Als Wilkie wieder das Wort ergriff, sprach er versonnen. Er erweckte den Eindruck, als habe er in den vergangenen Jahren oft über die Sache nachgedacht. »Es hat mir nicht gefallen, den Fall nicht lösen zu können. Ich hatte das Gefühl, der Vater des Jungen würde nie wieder zur Ruhe kommen, wenn wir nicht jemanden präsentierten, der für die Ereignisse verantwortlich gemacht werden konnte. Aber ich glaube…« Er unterbrach sich und kratzte sich im Nacken. Sein Ausdruck deutete darauf hin, dass sein Körper zwar anwesend, sein Geist jedoch an einen anderen Ort, in eine andere Zeit gereist war. »Ich glaube, wenn wirklich diese Jungs dahintergesteckt haben, dann war es bestimmt nicht ihre Absicht, Jamie Parsons sterben zu lassen. Zu der Sorte gehörten sie nicht. Nicht ein Einziger von ihnen.«
»Wenn er nicht sterben sollte, was war dann ihre Absicht?«
Wilkie rieb sich das Gesicht. Seine raue Hand auf den Bartstoppeln klang wie Sandpapier. »Sie wollten es ihm zeigen. Ihm einen Schreck einjagen. Wie gesagt, der Kerl hatte eine ziemlich hohe Meinung von sich selbst, und er hatte keinerlei Bedenken, ihnen vorzuführen, was er alles besaß und was er alles konnte. All die Dinge, die sie nicht hatten und konnten.«
»Aber wenn sie ihn gefesselt und dort liegen gelassen haben…«
»Sie waren betrunken, allesamt. Und hatten Drogen genommen. Sie locken ihn runter zur Höhle — vielleicht machen sie ihm weis, da unten hätten sie noch mehr Drogen versteckt, und dann fallen sie über ihn her. Sie fesseln ihn an Händen und Füßen und nehmen ihn sich vor. Sagen ihm die Meinung. Werden vielleicht sogar handgreiflich. Beschmieren ihn mit Kot. Und dann binden sie ihn los und lassen ihn da liegen, in dem Glauben, dass er allein nach Hause findet. Nur denken sie nicht daran, wie besoffen und wie stoned er ist, und er wird bewusstlos und… Das war's. Verstehen Sie, die Sache ist… Wie ich schon sagte, es war nicht ein einziges faules Ei unter diesen Jungen. Keiner von ihnen hatte vorher je in irgendwelchen Schwierigkeiten gesteckt. Und das habe ich den Eltern auch gesagt. Sie wollten es nur nicht hören.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Das war das Schlimmste«, antwortete Wilkie. »Parsons hat am Morgen nach der Party die Cops angerufen, um seinen Sohn als vermisst zu melden. Die Kollegen erzählten ihm das Übliche: Vermutlich hat er sich mit einem Mädchen aus dem Dorf eingelassen und schläft jetzt in ihrem Bett oder darunter seinen Rausch aus. Rufen Sie uns wieder an, wenn er in ein, zwei Tagen immer noch nicht aufgetaucht ist, denn vorher interessiert uns die Sache nicht. Unterdessen erzählt ihm eines der Mädchen, also die Schwester des Jungen, von Jamies Auseinandersetzung mit Benesek Kerne, und Parsons kommt zu dem Schluss, dass mehr dahinterstecken muss. Also macht er sich selbst auf die Suche nach seinem Sohn. Und er hat ihn schließlich auch gefunden.« Wilkie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, aber ich nehme an, es kann einen Mann um den Verstand bringen. Das Lieblingskind. Der einzige Sohn. Und niemand wird je dafür zur Verantwortung gezogen. Aber es gibt da einen Namen, einen einzigen Namen, der im Zusammenhang mit den Stunden, die dem Tod des Jungen vorausgegangen sind, immer wieder fällt: Benesek Kerne. Jetzt verstehen Sie sicher, wieso er so auf ihn fixiert war.«
»Wissen Sie, dass Benesek Kernes eigener Sohn ums Leben gekommen ist?«, fragte Lynley. »Er ist beim Klettern in den Klippen abgestürzt. Seine Ausrüstung ist manipuliert worden. Es war Mord.«
Wilkie schüttelte den Kopf. »Das wusste ich nicht«, sagte er. »Was für ein Unglück. Wie alt war der Junge?«
»Achtzehn.«
»Genau wie der Parsons-Junge. Das ist wirklich eine Schande.«
Daidre war in ihren Grundfesten erschüttert. Sie wollte das Leben zurück, das sie bis vergangene Woche geführt hatte, als die einzigen Anforderungen an sie gewesen waren, auf sich selbst aufzupassen und ihren beruflichen Verpflichtungen nachzukommen. Zwar mochte sie infolgedessen allein gewesen sein, aber das war ihr sogar lieber gewesen. Es hatte ihre kleine Existenz sicherer gemacht, und Sicherheit allein zählte. Zumindest war es seit Jahren so gewesen.
Doch jetzt hatte das zuverlässig dahingleitende Gefährt, welches ihr Leben gewesen war, ernstliche Motorprobleme. Und verzweifelt stellte sie sich wieder und wieder die Frage, was sie dagegen tun konnte.
Darum parkte sie den Wagen am Cottage, als sie nach Polcare Cove zurückkam, und ging, ohne auch nur einen Fuß hineinzusetzen, direkt zum Meer hinab. Von dort schlug sie den steinigen, ansteigenden Pfad über die Klippe ein.
Dort draußen verstärkte sich der Wind zunehmend. Das Haar wehte ihr um den Kopf, und die Spitzen peitschten ihr in die Augen, sodass diese zu brennen begannen. Normalerweise nahm sie die Kontaktlinsen heraus, bevor sie auf die Klippe hinauswanderte, und trug stattdessen ihre Brille. Doch als sie am Morgen aufgebrochen war, hatte sie die Brille nicht eingesteckt. Sie hätte den kleinen Umweg am Cottage vorbei gehen und sie holen können, aber am Ende dieses Tages schien eine Kletterpartie hinauf auf die Klippe das Einzige, was sie im Hier und Jetzt verankert halten konnte.
Manchmal geriet man in Situationen, die ein Eingreifen, ein Zurechtrücken erforderten, gestand sie sich ein. Aber diese derzeitige war gewiss keine davon. Sie wollte nicht tun, was von ihr verlangt wurde, aber sie war klug genug zu wissen, dass es hier nicht um ihre eigenen Präferenzen ging.
Ein lautes Motorengeräusch drang zu ihr herauf, nicht lange nachdem sie die Felskuppe erreicht hatte. Sie hatte auf einem Felsvorsprung gesessen, die Möwen beobachtet und die großartigen Bogen bewundert, die sie flogen, während sie nach Landeplätzen in den Rissen und Spalten der Klippe suchten. Aufgestört durch den Motorenlärm, stand sie auf und kehrte auf den Pfad zurück. Ein Motorrad kam die schmale Straße entlanggefahren. Es parkte auf der gekiesten Einfahrt vor ihrem Cottage. Der Fahrer nahm den Helm ab und trat auf die Tür zu.
War das ein Kurierdienst?, fragte sie sich, als sie ihn anklopfen sah. Jemand, der ihr ein Paket brachte oder eine Nachricht aus Bristol? Sie erwartete keine Post, und nach allem, was sie sehen konnte, trug der Fahrer auch nichts bei sich. Vielmehr umrundete er das Cottage, um eine zweite Tür zu finden oder durch ein Fenster zu spähen. Oder Schlimmeres, schoss es Daidre durch den Kopf.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Rufen hatte keinen Zweck; auf diese Distanz hätte man sie nicht hören können. Aber übertriebene Eile war ebenso wenig angebracht. Das Cottage lag ein gutes Stück vom Meer entfernt, und sie befand sich zu weit oberhalb des Sträßchens. Vermutlich war der Motorradfahrer längst weg, bis sie ankam.
Allein der Gedanke, dass jemand in ihr Cottage einbrechen könnte, trieb sie dennoch voran. Ihr Blick glitt zwischen dem Pfad und dem Cottage hin und her, und die Tatsache, dass das Motorrad immer noch in ihrer Einfahrt stand, spornte sie an und machte sie neugierig.
Atemlos erreichte sie schließlich das Tor und stieß es auf. Statt eines Einbrechers, der gerade durchs Fenster steigen wollte, fand sie ein junges Mädchen in Ledermontur auf ihrer Eingangsstufe vor. Es lehnte mit dem Rücken gegen die leuchtend blaue Tür und hatte die Beine von sich gestreckt. Es trug einen Silberring in der Nasenscheidewand und hatte ein Stachelband um den Hals tätowiert. Cilla Cormack, erinnerte sich Daidre. Der Fluch im Leben ihrer Mutter. Cillas Großmutter wohnte neben Daidres Familie in Falmouth. Was in aller Welt tat sie hier?
Als Daidre näher trat, sah Cilla auf. Die milchige Sonne fiel auf ihren Nasenring und verlieh ihm das unschöne Funkeln eines jener Ringe, die man früher Rindern durch die Nase gezogen hatte, um sie gefügig zu machen, wenn man sie an der Leine führte. »Hey«, sagte sie und nickte Daidre zu. Dann stand sie auf und stampfte mit den Füßen auf, als wären sie eingeschlafen.
»Das ist aber eine Überraschung«, erwiderte Daidre. »Wie geht es dir, Cilla? Wie geht's deiner Mum?«
»Blöde Kuh«, bemerkte Cilla, und Daidre ahnte, dass die Auseinandersetzungen der beiden Frauen, die in der Nachbarschaft immer schon geradezu legendär gewesen waren, noch immer schwelten. »Kann ich bei Ihnen mal aufs Klo?«
»Natürlich.« Daidre schloss die Haustür auf und führte das Mädchen hinein. Cilla polterte in ihren Stiefeln durch die kleine Diele und ins Wohnzimmer. »Da drüben«, wies Daidre ihr den Weg. Sie war gespannt, was als Nächstes passieren würde, denn Cilla war wohl kaum den ganzen Weg von Falmouth hierhergekommen, um ihre Toilette zu benutzen.
Nach einigen Minuten in denen Daidre durchgängig Wasser plätschern hörte, sodass sie sich zu fragen begann, ob das Mädchen vielleicht beschlossen hatte, ein Bad zu nehmen, kam Cilla zurück. Ihr Haar war nass und zurückgekämmt, und ihr Duft verriet, dass sie sich an Daidres Parfüm bedient hatte. »Schon besser«, sagte sie. »Ich hab mich furchtbar gefühlt. Die Straßen hier sind ja der Hammer!«
»Ah«, ging Daidre darüber hinweg. »Möchtest du… irgendetwas? Tee? Kaffee?«
»'ne Kippe vielleicht?«
»Ich rauche nicht, tut mir leid.«
»Hätt ich mir denken können.« Cilla sah sich um und nickte. »Nett hier. Aber Sie wohnen hier nicht immer, oder?«
»Nein. Cilla, ist irgendetwas…?«
Daidre unterbrach sich. Sie war zu wohlerzogen, als dass sie ihre Besucherin einfach geradeheraus hätte fragen können, was zum Henker es mit ihrem Besuch auf sich hatte. Andererseits war es undenkbar, dass das Mädchen einfach nur zufällig vorbeigekommen war. Daidre lächelte gezwungen und versuchte, ermunternd auszusehen.
Cilla war nicht eben das hellste Licht im Kronleuchter, trotzdem verstand sie die nonverbale Botschaft. »Meine Gran hat mich gebeten, zu Ihnen zu fahren«, erklärte sie. »Sie sagt, Sie hätten kein Handy.«
Daidre war erschrocken. »Ist etwas passiert? Was ist los? Ist jemand krank?«
»Gran sagt, Scotland Yard war bei ihr. Und das sollten Sie erfahren, am besten gleich, denn die Bullen haben ihr Fragen über Sie gestellt. Erst haben sie bei Ihren Eltern geklingelt, aber als da keiner aufmachte, sind sie von Tür zu Tür. Gran hat sofort in Bristol angerufen, um es Ihnen zu sagen. Aber da waren Sie nicht, und da hat sie sich gedacht, Sie sind bestimmt hier, und hat mich gefragt, ob ich hier vorbeifahren könnte, um es Ihnen zu sagen. Warum kaufen Sie sich kein Handy? Das wär nicht blöd, wissen Sie. Ich meine, zum Beispiel im Notfall. Denn es ist verdammt weit von Falmouth hierher. Und Benzin… Wissen Sie eigentlich, wie teuer Benzin heutzutage ist?«
Das Mädchen klang verdrossen. Daidre ging hinüber ins Esszimmer und zauberte zwanzig Pfund aus dem Sideboard hervor, die sie Cilla reichte. »Danke, dass du extra hergekommen bist«, sagte sie. »Das war ein weiter Weg.«
Cillas Miene hellte sich auf. »Na ja. Gran hat mich drum gebeten. Und sie ist in Ordnung. Sie lässt mich immer bei sich pennen, wenn Mum mich mal wieder rausschmeißt, was ungefähr einmal die Woche passiert. Deswegen… Als sie mich gebeten hat und gesagt hat, es ist wichtig…« Sie zuckte die Achseln. »Wie auch immer. Hier bin ich. Sie hat gesagt, Sie müssten das erfahren. Und sie hat auch noch gesagt…«
Cilla runzelte die Stirn, als hätte sie Mühe, sich an den Wortlaut der restlichen Nachricht zu erinnern. Daidre war verwundert, dass die Großmutter sie nicht aufgeschrieben hatte. Aber vermutlich hatte sie befürchtet, dass Cilla den Zettel verlieren würde, wohingegen man ihr eine kurze mündliche Botschaft durchaus anvertrauen konnte.
»Ach ja. Sie hat noch gesagt, Sie soll'n sich keine Sorgen machen, sie hat denen nichts verraten.« Cilla berührte ihren Nasenring, als wollte sie sich vergewissern, dass er sich noch an Ort und Stelle befand. »Warum schnüffelt Scotland Yard in Ihrem Leben rum?«, fragte sie nun. Und grinsend fügte sie hinzu: »Was haben Sie denn angestellt? Leichen im Garten vergraben oder so?«
Daidre lächelte schwach. »Sechs oder sieben«, gab sie zurück.
»Dacht ich's mir doch.« Cilla legte den Kopf schräg. »Sie sind ziemlich blass. Setzen Sie sich lieber hin, und den Kopf…« Sie schien vergessen zu haben, was man in einem solchen Fall mit dem Kopf tat. »Wollen Sie 'n Glas Wasser?«
»Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich hab heute noch nichts Richtiges gegessen. Bist du sicher, dass du nichts trinken möchtest?«
»Ich muss wieder los«, antwortete sie. »Ich hab heute Abend 'ne Verabredung. Mein Freund und ich, wir gehen tanzen.«
»Wie nett.«
»Ja. Wir machen einen Kurs. Klingt blöd, irgendwie, aber wenigstens unternehmen wir so auch mal was zusammen. Wir lernen gerade, wie das Mädchen durch die Gegend geworfen wird. Dafür muss man einen ganz steifen Rücken machen. Nase in die Luft strecken. So was in der Art. Und ich muss hochhackige Schuhe anziehen, was ich eigentlich nicht ausstehen kann, aber die Tanzlehrerin sagt, wir sind schon richtig gut. Sie will uns für irgend so einen Wettbewerb anmelden. Bruce — das ist mein Freund — ist total stolz deswegen und sagt, wir müssten ab sofort jeden Tag trainieren. Darum gehen wir auch heute Abend wieder aus. Meist üben wir bei seiner Mum im Wohnzimmer, aber er sagt, wir sind so weit, dass wir uns jetzt in der Öffentlichkeit zeigen können.«
»Das klingt großartig«, sagte Daidre. Sie wartete, ob noch mehr kommen würde, hoffte jedoch inständig, dass Cilla sich alsbald verabschiedete, damit sie sich endlich mit der Nachricht befassen konnte, die das Mädchen ihr überbracht hatte. Scotland Yard in Falmouth. Polizeibeamte, die Fragen stellten. Sie fühlte, dass die Beunruhigung ihr wie Gänsehaut die Arme heraufkroch.
»Also dann. Ich muss los«, sagte Cilla, als hätte sie Daidres Gedanken erraten. »Denken Sie mal drüber nach, sich hier ein Telefon anzuschaffen, okay? Sie können's ja im Schrank verstecken oder so. Und nur einstöpseln, wenn Sie wollen.«
»Ja. Ja, das mach ich«, versprach Daidre. »Vielen Dank, dass du den weiten Weg hierhergekommen bist, Cilla.«
Das Mädchen verabschiedete sich, und Daidre stand auf der Eingangsstufe und sah zu, während Cilla gekonnt den Kickstarter des Motorrads betätigte — eine Fahrerin wie sie brauchte keinen Elektrockstarter — und wie sie dann die Maschine in der Einfahrt drehte.
Sie verschwand mit einem Winken, brauste das enge Sträßchen hinauf, verschwand hinter einer Kurve und ließ Daidre mit ihren Gedanken allein zurück.
Scotland Yard, dachte sie. Beamte, die Fragen gestellt hatten. Es konnte nur einen Grund — einen Menschen geben, der dahintersteckte.