14

Die Identifizierung der Leiche war nur mehr Routine. Obwohl Ben Kerne das sehr wohl gewusst hatte, erlebte er doch einen Moment lächerlicher Hoffnung, dass es sich um einen schrecklichen Irrtum handeln könnte. Dass trotz des Wagens, den die Polizei schließlich gefunden hatte, und trotz der Ausweispapiere in ebendiesem Wagen der tote Junge, der am Fuß der Klippe von Polcare Cove gefunden worden war, jemand anderes als Alexander Kerne wäre. Doch diese Wunschvorstellung löste sich in nichts auf, als er Santo ins Gesicht blickte.

Ben war allein nach Truro gefahren. Er war zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Grund gab, Dellen dem Anblick ihres obduzierten Sohnes auszusetzen, zumal Ben keine Vorstellung hatte, in welchem Zustand der Leichnam sein würde. Dass Santo tot war, war schrecklich genug. Dass Dellen irgendetwas davon sehen sollte, was seinen Tod herbeigeführt hatte, war undenkbar. Doch als er Santo nun sah, erkannte Ben, dass es weitgehend unnötig gewesen war, Dellen schützen zu wollen. Santos Gesicht war mit Make-up hergerichtet worden. Über seinen Körper, der zweifellos gründlich seziert und untersucht worden war, war ein Laken drapiert. Ben hätte verlangen können, dass man ihn alles sehen ließe, damit er jeden Zoll von Santo betrachten könnte, wie er ihn seit frühester Kindheit nicht mehr betrachtet hatte. Doch er hatte darauf verzichtet. Es wäre ihm wie eine Verletzung der Intimsphäre des Jungen vorgekommen.

Auf die förmliche Frage: »Ist dies Alexander Kerne?«, hatte Ben genickt. Dann hatte er die Papiere unterschrieben, die man ihm vorgelegt hatte, und gelauscht, was diverse Menschen ihm über polizeiliche Untersuchungen, Bestattungsunternehmen, Beerdigungen und so weiter zu sagen hatten. Er empfand nichts, während all dies vonstatten ging, erst recht nicht bei den Beileidsbekundungen. Sie waren tatsächlich mitfühlend, all diese Menschen, mit denen er im Royal Cornwall Hospital in Kontakt kam. Sie hatten das schon tausendmal absolviert, vielleicht sogar noch öfter, aber diese Tatsache hinderte sie nicht daran, immer noch an dem Schmerz eines anderen Menschen anteil zu nehmen.

Als er schließlich aus dem Krankenhausgebäude trat, stürzten die Gefühle umso gewaltiger auf ihn ein. Vielleicht war es der leichte Regen, der seinen dünnen Schutzpanzer aufweichte, denn als er über den Parkplatz zu seinem Austin hinüberging, überkamen ihn Trauer — ob des gewaltigen Ausmaßes ihres Verlustes und Schuldgefühle ob der Rolle, die er dabei gespielt hatte. Und dann das Wissen, mit dem er fortan leben musste: Seine letzten Worte an Santo waren so ablehnend gewesen, und diese Ablehnung war doch nur seiner eigenen Unfähigkeit geschuldet, den Jungen so zu akzeptieren, wie er war. Diese Unfähigkeit wiederum rührte von einem Verdacht her, den er nicht auszusprechen wagte.

Warum begreifst du nicht, was andere bei dem empfinden, was du tust?, hatte Ben ihn immer wieder gefragt — der ewige Refrain im Lied ihrer Beziehung, das sie jahrelang gesungen hatten. Herrgott noch mal, Santo, diese Menschen sind real.

Du tust ganz so, als würde ich irgendjemanden ausnutzen. Als würde ich allen meinen Willen aufzwingen. Aber so ist es nicht. Außerdem sagst du niemals auch nur ein einziges Wort, wenn…

Komm mir ja nicht damit, verstanden?

Hör mal, Dad, wenn ich nur…

Ja, genau das ist es. Es geht immer nur um das eine: ich, ich und ich. Aber jetzt wollen wir mal eines klarstellen: Das Leben dreht sich nicht ausschließlich um dich. Was wir hier aufbauen beispielsweise hat nicht nur mit dir zu tun. Was du denkst und willst, interessiert mich nicht. Aber was du tust. Hier und anderswo. Ist das klar?

So vieles war unausgesprochen geblieben. Vor allem Bens Ängste. Aber wie hätte er sie auch zum Ausdruck bringen können, wenn doch alles, was mit diesen Ängsten zusammenhing, unter den Teppich gekehrt wurde?

Nicht jedoch heute. Das Heute, dieser Moment, verlangte ein Anerkennen der Vergangenheit, die ihn hierhergeführt hatte. Und so kam es, als Ben in den Wagen stieg und aus Truro herausfuhr, um den Weg nach Norden in Richtung Casvelyn einzuschlagen, dass er an dem Schild nach St. Ives abbremste und noch während er darauf wartete, dass sein verschwommener Blick sich klärte, unwillkürlich entschied, nach Westen abzubiegen.

Er gelangte auf die A30, die Hauptschlagader der Nordküste, und fuhr gen Süden. Er hatte keine klare Vorstellung, doch sowie die Hinweisschilder immer vertrauter wurden, nahm er wie auf Autopilot die richtigen Abzweigungen und fuhr zur Küste hinab durch eine schroffe Landschaft, deren Charakter von Granitfelsen geprägt war. Auf den ersten Blick wirkte sie abweisend, doch ihr Inneres war reich an Mineralerzen. In diesem Teil des Landes ragten verfallene Maschinenhäuser als stumme Zeugen jener Generationen von Männern aus Cornwall auf, die unter Tage gearbeitet hatten. Zinn und Kupfer hatten sie gefördert, bis die Adern erschöpft waren und die Minen Wind und Wetter überlassen wurden.

Entlegene Dörfer hatten die Bergarbeiter beherbergt und sich selbst neu definieren oder aber aussterben müssen, als der Minenbetrieb eingestellt wurde. Das Land eignete sich nicht zum Ackerbau, war zu steinig und karg und so anhaltend von stürmischen Winden heimgesucht, dass nur Ginsterdickicht und die widerstandsfähigsten Kräuter und Wildblumen hier überleben konnten. Darum hatten die Menschen sich Rinder oder Schafe zugelegt, soweit sie sich eine Herde leisten konnten, und wenn die Zeiten schlecht waren, hielten sie sich mit Schmuggel über Wasser.

Cornwalls unzählige Buchten waren Hochburgen des Schmuggels gewesen. Wer in diesem Geschäft erfolgreich war, kannte die See und die Gezeiten. Aber im Laufe der Zeit etablierten sich andere Einnahmequellen. Die Verkehrsanbindungen in den Südwesten wurden besser und brachten Touristen: etwa die Sommergäste, die sich am Strand sonnten und dem Zickzack der Wanderwege folgten. Und schließlich die Surfer.

Als Ben Pengelly Cove erreichte, sah er von oben auf die Bucht hinab, wo der Ortskern des Dorfes lag, Häuser aus unverputztem Granit mit Schieferdächern, die im nassen Frühlingswetter abweisend und verlassen wirkten. Es gab lediglich drei Straßen: zwei, die von Geschäften, Häusern, zwei Pubs und einer Pension namens Curlew Inn gesäumt waren, und eine dritte, die steil bergab an einem kleinen Parkplatz und einer Rettungsstation vorbei direkt zur See führte.

Draußen auf dem Wasser nahmen es die Surfer mit Wind und Wetter auf. Die Dünung kam in gleichmäßigem Rhythmus von Nordwesten, und die grauen Wellen bildeten jene Barrels, für die Pengelly Cove berühmt war. Die Surfer verschwanden darin oder schossen diagonal über die Vorderseite einer Welle, stiegen zu ihrem Kamm auf und verschwanden dahinter, ehe sie erneut hinauspaddelten und auf die nächste Welle warteten. Niemand machte sich die Mühe, eine Welle bis zum Strand zu reiten, nicht bei diesem Wetter und bei diesen Wellen, die einander glichen wie Spiegelbilder und in gleichmäßigen Abständen an dem Riff etwa hundert Meter von der Küste entfernt brachen. Die Strandwellen waren nur etwas für die blutigen Anfänger niedriges Gewoge aus weißem Wasser, die den Novizen ein Erfolgserlebnis, aber keine Anerkennung bescherten.

Ben fuhr weiter zur Bucht hinab. Er ließ den Wagen vor dem Curlew Inn stehen und ging zu Fuß zur Kreuzung zurück. Das Wetter war ihm egal. Er trug die geeignete Kleidung dafür, und er wollte die Bucht erleben, wie er sie aus seiner Jugend kannte. Damals hatte es nur einen Fußweg nach unten und noch keinen Parkplatz gegeben. Nichts bis auf das Wasser, den Sand und die tiefen Höhlen hatten ihn begrüßt, wann immer er hier herunter kam, das Surfboard unter den Arm geklemmt.

Er hatte vorgehabt, die Höhlen aufzusuchen, aber das Wasser stand zu hoch, und er wusste besser als jeder andere: Er konnte es nicht riskieren. Stattdessen sah er sich nun um und nahm konzentriert die Veränderungen in sich auf, die sich seit seinem letzten Besuch hier vollzogen hatten.

Geld war in diese Gegend geflossen. Das sah man an den Sommerhäusern und Wochenendcottages, die die Bucht überblickten. Früher hatte es nur ein einziges Haus dort oben gegeben weit draußen am Ende der Klippe: ein beeindruckender Granitbau, dessen leuchtend weiße Fassade, schwarze Regenrohre und Verzierungen von mehr Geld sprachen, als irgendjemand hier im Ort je besessen hatte. Inzwischen gab es mindestens ein Dutzend von dieser Sorte, wenngleich Cliff House so stolz wie eh und je alle anderen überragte. Er war nur einmal in diesem Haus gewesen, anlässlich einer Party, die die Parsons ausgerichtet hatten — die Familie, die fünf Sommer in Folge darin gewohnt hatte. »Eine Feier für unseren Jamie, ehe er zur Universität geht.« So hatten sie die Festivität betitelt.

Niemand im Dorf hatte Jamie Parsons leiden können. Er hatte sich nach der Schule ein ganzes Jahr Auszeit gegönnt und war um die Welt gereist und hatte nicht genug Verstand besessen, darüber den Mund zu halten. Und doch waren sie alle gewillt gewesen, Jamie Parsons ihren besten Kumpel oder sogar die Wiedergeburt Christi zu nennen, wenn sie dafür nur die Chance bekamen, einen Abend in diesem Haus zu verbringen.

Natürlich mussten sie dabei cool wirken. Ben erinnerte sich noch genau. Sie mussten aussehen wie Kids, die solche Partys andauernd erlebten: eine Spätsommernacht, eine Einladung, die mit der Post verschickt worden war — kann man sich das vorstellen? Eine Rockband, die eigens aus Newquay herüberkam, um aufzutreten. Lange Tische voller Köstlichkeiten, Lightshow über der Tanzfläche und überall im Haus Verstecke, wo man alles nur Denkbare anstellen konnte, ohne dass es irgendjemand herausbekam. Mindestens zwei der Parsons-Kinder waren da gewesen waren es insgesamt vier oder fünf?, nicht aber die Eltern. Bier jeder nur vorstellbaren Marke, und dazu die verbotenen Schätze: Whiskey, Wodka, Rum-Cola, Tabletten, über deren Zusammensetzung niemand Genaueres wusste und Cannabis. Kistenweise Cannabis, so schien es. Kokain auch? Ben wusste es nicht mehr.

Woran er sich aber erinnerte, war das Gerede. Es war ihm unvergesslich geblieben: wegen des Surfens in jenem Sommer und dem, wozu das Surfen geführt hatte.

Die große Kluft. Sie existierte überall dort, wo Menschen für einen begrenzten Zeitraum hinkamen, aber nicht geboren und ansässig waren. Es gab die Einheimischen und die Eindringlinge. Das galt ganz besonders für Cornwall, wo es einerseits diejenigen gab, die sich abmühten und schufteten, um sich einen bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen, und all jene andererseits, die herkamen, um ihre Ferien und ihr Geld zu verjubeln und die Annehmlichkeiten des Südwestens zu genießen. Die Hauptattraktion war die Küste mit ihrem herrlichen Wetter, den makellosen Stränden und ihren schroffen, hohen Klippen. Die größte Verlockung jedoch war das Wasser.

Die Einheimischen kannten die Regeln. Jeder, der regelmäßig surfte, kannte die Regeln, und sie waren simpel: Warte, bis du an der Reihe bist. Mogle dich nicht vor. Schnapp dir nicht die Welle eines anderen. Mach den erfahreneren Surfern Platz. Respektiere die Hierarchie. Die Brandung gehört den Anfängern mit ihren breiten Boards, den Kindern, die im Flachwasser spielen, und manchmal den Kneeboardern und Bodyboardern, die für ihre Mühen einen schnellen Kick wollen. Jeder, der jenseits der Linie surfte, wo die Wellen brachen, blieb draußen, bis er Feierabend machen wollte, sprang ansonsten vom Board oder fuhr über die Rückseite den Wellenkamm hinab, um wieder nach draußen zu paddeln, lange bevor er dorthin gelangte, wo sich die Anfänger aufhielten. So einfach war es. Ungeschriebene Gesetze, aber Unwissenheit war immer eine schlechte Rechtfertigung.

Niemand wusste, ob Jamie Parsons aus Unwissenheit handelte oder Gleichgültigkeit. Was sie hingegen alle ganz genau wussten, war, dass Jamie Parsons meinte, gewisse Vorrechte zu haben. Und er betrachtete sie als solche: als Rechte und nicht als das, was sie in Wirklichkeit waren, nämlich unverzeihliche Regelverstöße.

»Verglichen mit North Shore, ist das hier der letzte Scheiß«, wäre allein ja vielleicht noch erträglich gewesen. Aber so ein Spruch unmittelbar nach einem »Platz da, Kumpel!« und dem Schneiden eines der ortsansässigen Surfer damit machte man sich keine Freunde. Die Warteschlange interessierte Jamie Parsons nicht im Geringsten. »Hey! Damit müsst ihr leben«, lautete seine Antwort, wenn die Surfer ihn wissen ließen, dass er sich nicht regelkonform verhielt. Diese Dinge bedeuteten ihm nichts, weil er keiner von ihnen war. Er war besser als sie, ihnen überlegen dank seines Geldes, seines Lebens, seiner Bildung, seiner Möglichkeiten oder wie immer man es ausdrücken wollte. Er wusste es, und sie wussten es ebenso. Er hatte einfach nicht Verstand genug gehabt, diese Tatsache für sich zu behalten.

Also eine Party im Haus der Parsons…? Natürlich wollten sie hin. Sie würden zu seiner Musik tanzen, sein Essen vertilgen, seinen Fusel trinken und sein Gras rauchen. Der Drecksack war ihnen etwas schuldig, weil sie ihn erduldet hatten: fünf Sommer hintereinander, aber der letzte war der schlimmste gewesen.

Jamie Parsons, dachte Ben jetzt. Seit Jahren hatte er nicht mehr an diesen Kerl gedacht. Er war zu sehr von Dellen Nankervis besessen gewesen, doch wie sich herausgestellt hatte, hatte Jamie Parsons und nicht Dellen Nankervis den Lauf seines Lebens bestimmt.

Als Ben am Rande des Parkplatzes stand und zu den Surfern hinabschaute, wurde ihm mit einem Mal klar, dass alles, was ihn heute ausmachte, das Ergebnis von Entscheidungen war, die er genau hier in Pengelly Cove getroffen hatte. Nicht im Dorf, sondern unten in der Bucht: bei Flut ein Hufeisen aus Wasser, das an Schiefer- und Granitfelsen schlug; bei Ebbe ein langer Sandstrand, der weit über die eigentliche Bucht hinausragte. Ein Strand, der sich in zwei Richtungen erstreckte, durchbrochen von Felsen und Lavabrocken, begrenzt von den Höhlen, die tief in die Klippen hineinführten und in denen man noch immer reiche Mineraladern entdecken konnte. Schlünde im Fels, erschaffen in Äonen von geologischen Kataklysmen und durch Erosion, hatten diese Höhlen Ben Kernes Schicksal von dem Moment an geprägt, da er sie als kleiner Junge zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte. Die Gefahr, die sie darstellten, machten sie schier unwiderstehlich. Und die Abgeschiedenheit, die sie boten, machten sie unverzichtbar.

Seine Geschichte war unentwirrbar mit diesen beiden Höhlen verstrickt. Sie standen für all die ersten Male, die er erlebt hatte: seine erste Zigarette, den ersten Joint, den ersten Suff, den ersten Kuss, den ersten Sex. Außerdem markierten sie die Stürme seiner Beziehung mit Dellen. Denn ebenso wie eine der beiden großen Höhlen sowohl der Schauplatz seines ersten Kusses als auch des ersten Sex mit Dellen Nankervis gewesen war, waren sie überdies Zeuge jedes Betrugs geworden, den die beiden jungen Liebenden aneinander begangen hatten.

Herrgott, warum wirst du die verfluchte Nutte nicht einfach los?, hatte sein Vater zu wissen verlangt. Sie treibt dich noch in den Wahnsinn, Junge. Schick sie in die Wüste, bevor sie dich mit Haut und Haaren verschlingt und anschließend wieder ausspuckt, verdammt noch mal!

Er hätte es gern getan — er hätte nichts lieber getan als sie in die Wüste geschickt, aber er musste sich eingestehen, dass er es nicht konnte. Ihre Bindung reichte zu tief. Es gab andere Mädchen, aber verglichen mit Dellen waren sie simpel. Sie kicherten immerzu, neckten, plapperten oberflächliches Zeug, kämmten sich ewig die sonnengebleichten Haare und fragten jeden Kerl, ob er finde, sie wären zu dick. Sie bargen keine Geheimnisse, keine charakterliche Komplexität. Und vor allem: Keine von ihnen brauchte Ben, so wie Dellen ihn brauchte. Sie kam immer wieder zu ihm zurück, und er nahm sie bereitwillig wieder auf. Und selbst wenn zwei andere Kerle sie im Laufe ihrer verrückten Teenagerzeit geschwängert hatten, hatte er es zumindest auf dieselbe Zahl gebracht.

Als es zum dritten Mal passierte, hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle, denn sie hatte ihm die Dimension ihrer Liebe bewiesen: Sie war ihm nach Truro gefolgt, praktisch ohne einen Penny und nur mit dem, was in eine Reisetasche gepasst hatte. Sie hatte gesagt: »Es ist deins, Ben. Genau wie ich.« Und die beginnende Rundung ihres Leibes hatte ihm verraten, was sie meinte.

Jetzt würde alles besser, hatte er geglaubt. Sie würden heiraten und damit dem ewigen Teufelskreis aus Bindung, Betrug, Trennung, Sehnsucht und Versöhnung entkommen.

So war er also nach Truro gegangen, um einen Neuanfang zu wagen, aus dem jedoch nichts geworden war. Aus den gleichen Gründen war er von Truro nach Casvelyn gezogen und mit dem gleichen Ergebnis. Nein, mit einem weitaus schlimmeren Ergebnis: Santo war tot, und das instabile Gleichgewicht in Bens eigenem Leben war zerstört.

Es kam Ben so vor, als hätte alles einzig und allein mit dem Vorsatz begonnen, jemandem eine Lektion zu erteilen. Welch niederschmetternde Erkenntnis, dass nun auch alles mit einer Lektion geendet hatte. Nur die Rollen von Lehrer und Schüler waren anders besetzt. Die bittere Lehre blieb die gleiche.


Nachdem Detective Inspector Hannaford herausgefunden hatte, dass die Kernes aus Pengelly Cove stammten, bot Lynley sich für die Fahrt die Küste hinunter an. »So kann ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«, erklärte er. Worauf Hannaford wissend entgegnete: »Sie wollen sich doch nur um Ihre Verantwortung drücken. Was wissen Sie über Dr. Trahair, was Sie mir nicht verraten wollen, Superintendent?«

Er drücke sich keineswegs, erwiderte er aufgeräumt. Aber da die Vorgeschichte der Kernes aufgedeckt werden müsse und er laut Hannafords Anweisung gehalten sei, Daidre Trahairs Vertrauen zu gewinnen, könne er doch Daidre einen Ausflug vorschlagen…

»Es muss kein Ausflug sein«, protestierte Hannaford. »Es muss überhaupt nichts sein. Sie müssen sie nicht einmal sehen, um ihre Geschichte zu überprüfen. Und ich schätze, das wissen Sie.«

»Ja, natürlich«, räumte er ein. »Aber hier bietet sich die Gelegenheit…«

»Na schön, na schön. Aber vergessen Sie ja nicht, mich anzurufen.«

Also nahm er Daidre Trahair mit, ein Arrangement, das sich problemlos einfädeln ließ. Er musste ohnehin zu ihrem Cottage fahren, um sein Versprechen einzulösen, das zerbrochene Fenster zu reparieren. Er war zu dem Schluss gekommen, dass dies wohl kaum eine intellektuelle Herausforderung darstellte und er davon ausgehen konnte, als Oxford-Absolvent — wenn auch in Geschichte, was sich auf Glaserei nicht so ohne Weiteres übertragen ließ — mit ausreichend Verstand gesegnet zu sein, um eine geeignete Vorgehensweise zu entwickeln. Die Tatsache, dass er sich in seinem ganzen Leben noch nicht ein einziges Mal als Heimwerker versucht hatte, schreckte ihn nicht. Schließlich war er ein Mann, der an seinen Aufgaben wuchs. Er rechnete nicht mit Problemen.

»Es ist wirklich freundlich von Ihnen, Thomas, aber vielleicht sollte ich doch lieber einen Glaser kommen lassen?«, schlug Daidre vor. Sie schien seine Kompetenz im Umgang mit Glas und Kitt in Zweifel zu ziehen.

»Unsinn. Es ist völlig unkompliziert«, versicherte er.

»Haben Sie schon einmal… ich meine, früher?«

»Ungezählte Male. Andere Projekte, meine ich. Was Fenster betrifft, muss ich gestehen, dass ich noch jungfräulich bin. Also… Dann wollen wir uns die Sache einmal anschauen.«

Doch sie hatten es mit einem Cottage zu tun, das zweihundert Jahre alt war oder älter; Daidre wusste es nicht genau. Sie habe immer die Absicht gehabt, seine Geschichte beizeiten zu recherchieren und aufzuschreiben, aber bislang sei sie noch nicht dazu gekommen. Was sie indes wusste, war, dass es zunächst eine Fischerhütte gewesen war, die zu einem Herrenhaus in Alsperyl gehört hatte. Das Herrenhaus war verschwunden — das Innere durch ein Feuer zerstört und die Außenmauern nach und nach von den Einheimischen abgetragen. Sie hatten die Steine für den Bau neuer Cottages oder Begrenzungsmauern zweckentfremdet. Da jenes Herrenhaus im Jahre 1723 erbaut worden war, könne man aber davon ausgehen, dass das Cottage etwa das gleiche Alter hatte.

Das bedeutete allerdings auch, dass nichts an dem Cottage gerade war — insbesondere nicht die Fenster, deren Rahmen für die nicht eben rechtwinkligen Fensteröffnungen handgefertigt worden waren. Lynley erkannte das zu seinem Schrecken erst, als er die Überreste der zerbrochenen Scheibe entfernt hatte und die neue Scheibe in den Rahmen hielt. Die vermeintlichen Horizontalen waren in Wirklichkeit leicht schräg, stellte er fest — gerade schräg genug, um den Einbau zu einer Herausforderung werden zu lassen.

Er hätte an beiden Seiten messen sollen, ging ihm auf. Verlegen stieg ihm eine zarte Röte ins Gesicht.

»Oje«, bemerkte Daidre. Und dann, als fürchtete sie, die Bemerkung könnte einen Mangel an Vertrauen ausdrücken: »Ich nehme an, wir brauchen…«

»Kitt.«

»Wie bitte?«

»Es ist lediglich eine größere Menge Kitt auf der einen Seite erforderlich. Das sollte unser Problem beheben.«

»Oh, wunderbar«, erwiderte sie. »Fabelhaft.« Sie entfernte sich umgehend in Richtung Küche und murmelte vor sich hin, sie würde erst einmal Tee kochen…

Er hatte seine liebe Mühe mit der Aufgabe. Mit dem Kitt, dem Spachtel, der Scheibe, dem Einsetzen ebenjener und mit dem Regen, der ihm verdammt noch mal hätte sagen sollen, dass er sich vergebens an etwas nahezu Unmöglichem abmühte. Sie blieb in der Küche. Und zwar so lange, dass er zu dem Schluss kam, sie machte sich womöglich nicht nur über seine Unfähigkeit lustig, sondern wäre selbst in der Lage gewesen, das Fenster im Handumdrehen zu reparieren. Immerhin war sie die Frau, die ihn beim Dartspiel in Grund und Boden gestampft hatte.

Als sie endlich wieder zum Vorschein kam, war es ihm tatsächlich gelungen, die Glasscheibe einzusetzen. Allerdings war unübersehbar, dass irgendwer Geschickteres nötig war, um seine Reparatur auszubessern. Er gestand sein Scheitern ein und entschuldigte sich. Er werde nach Pengelly Cove fahren, erklärte er, und, wenn sie ihn begleiten wolle, mit einem Abendessen alles wiedergutmachen.

»Pengelly Cove? Warum gerade dorthin?«, fragte sie.

»In einer Polizeiangelegenheit«, antwortete er.

»Detective Inspector Hannaford glaubt, in Pengelly Cove seien Antworten zu finden? Und sie hat Sie darauf angesetzt? Warum nicht einen ihrer eigenen Beamten?«, wollte Daidre wissen.

Als er mit seiner Antwort zögerte, brauchte sie nur einen Moment, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. »Ah«, und sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Sie sind nicht mehr verdächtig. Ist das denn klug von ihr?«

»Was?«

»Sie von der Liste der Verdächtigen zu streichen, nur weil Sie Polizist sind? Ziemlich kurzsichtig, oder?«

»Ich glaube, sie hätte Schwierigkeiten, ein Motiv zu finden.«

»Verstehe.« Ihr Tonfall hatte sich verändert, und er wusste, dass sie sich den Rest zusammengereimt hatte: Er selbst mochte nicht länger verdächtig sein, sie — Daidre — hingegen schon. Vermutlich wusste sie, dass es dafür einen Grund gab, und vermutlich auch, welchen.

Er fürchtete schon, sie würde seine Einladung ausschlagen, aber das tat sie nicht, und das freute ihn. Er suchte nach einem Weg, um die Wahrheit über sie zu erfahren und was sie verbarg, und die beste Methode schien ihm zu sein, ihr Vertrauen auf einem gemeinsamen Ausflug zu gewinnen.

Der geeignete Zugang zu ihr, so stellte sich bald heraus, waren Wunder. Sie hatten die Küste verlassen und schlängelten sich durch Stowe Wood auf dem Weg zur A39, als er sie fragte, ob sie denn tatsächlich an Wunder glaube. Zuerst runzelte sie die Stirn über die Frage. Dann fiel es ihr wieder ein: »Ach ja. Die Ausdrucke aus dem Internet, die Sie gesehen haben. Nein, ich glaube nicht daran. Aber ein Freund von mir, ein Kollege im Zoo — der Affenpfleger, um genau zu sein, — plant eine Reise für seine Eltern. Denn sie glauben an Wunder und brauchen gerade dringend eines.«

»Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie ihm helfen.« Er sah zu ihr hinüber. Ihr Gesicht hatte sich gerötet. »Ihrem…« Welche Rolle mochte dieser Kollege wohl in ihrem Leben spielen?, überlegte er. Geliebter, Freund, Expartner? Woher kam diese Reaktion?

»Ein Freundschaftsdienst«, sagte sie, als hätte er seine Fragen ausgesprochen. »Bauchspeicheldrüsenkrebs. Es besteht eigentlich keine Hoffnung mehr auf Heilung, dabei ist er noch gar nicht alt — Paul sagt, sein Vater sei erst vierundfünfzig, — aber sie wollen eben nichts unversucht lassen. Ich glaube, es ist sinnlos, aber wer bin ich, dass ich das einschätzen könnte? Also habe ich ihm gesagt, ich würde… na ja, nach dem Ort mit den erfolgversprechendsten statistischen Zahlen suchen. Ziemlich albern, oder?«

»Nicht unbedingt.«

»Doch, natürlich ist es das, Thomas. Wie will man statistisch an einen Ort herangehen, der hauptsächlich von Mystizismus und tiefem, womöglich unangebrachtem Gottvertrauen lebt? Wenn ich in dieser einen bestimmten Quelle bade, sind meine Heilungschancen dann größer, als wenn ich meine Bitte auf ein Stück Papier schreibe und es einer Heiligenstatue zu Füßen lege? Was, wenn ich die Erde von Medjugorje küsse? Oder ist es am Ende doch am besten, ich bleibe zu Hause und bete zu irgendwem, der gerade einen Beschleuniger für sein Heiligsprechungsverfahren gebrauchen könnte? Denn die sind es doch, die ein Wunder brauchen, um ihren Heiligenschein zu kriegen. Wäre das nicht die beste Methode? Es würde auf jeden Fall Geld sparen, das auszugeben wir uns eh nicht leisten können.« Sie atmete tief durch, und er warf ihr einen raschen Blick zu.

Sie hatte sich mit dem Rücken gegen die Autotür gelehnt, und ihr Gesicht wirkte angespannt. »Tut mir leid«, fügte sie leise hinzu. »Ich übertreibe ein bisschen. Aber es ist so schrecklich, wenn man miterleben muss, wie Leute ihren gesunden Menschenverstand ausschalten, sobald sie in eine Krise geraten. Wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Ja«, sagte er gleichmütig. »Zufälligerweise weiß ich in der Tat, was Sie meinen.«

Sie legte die Hand vor den Mund. Sie hatte kräftige Hände, die sicher ordentlich zupacken konnten, die Hände einer Ärztin, mit kurzen, sauberen Nägeln. »O mein Gott. Es tut mir so furchtbar leid! Ich hab's schon wieder getan! Manchmal rede ich schneller, als ich denke.«

»Das ist schon in Ordnung.«

»Das ist es nicht. Sie hätten alles getan, um sie zu retten. Es tut mir leid.«

»Nein. Was Sie gesagt haben, ist absolut richtig. In einer Krise geraten die Menschen ins Taumeln, sehen sich orientierungslos um auf der Suche nach einer Lösung. Und diese Lösung ist in ihren Augen immer das, was sie wollen, und nicht unbedingt das, was für alle anderen das Beste ist.«

»Trotzdem. Es war nicht meine Absicht, Sie zu verletzen. Ich will niemals irgendwen verletzen…«

»Danke.«

Er wusste nicht, wie er von diesem Punkt auf ihre Lügen überleiten sollte, es sei denn, er tischte ihr selber ein paar auf, aber das lehnte er entschieden ab. Es war schließlich Bea Hannafords Aufgabe, Daidre Trahair bezüglich ihrer vorgeblichen Route von Bristol nach Polcare Cove zu befragen. Und ebenso lag es bei Bea Hannaford, Daidre zu erklären, dass die Polizei inzwischen über ihren mutmaßlichen Mittagsstopp in einem nicht existenten Pub Bescheid wusste, und es lag bei Hannaford zu entscheiden, wie sie dieses Wissen einzusetzen gedachte, um die Tierärztin zu einem wie auch immer gearteten Geständnis zu bewegen.

Er nutzte das längere Schweigen, um ihre Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken. »Wir hatten mal eine Gouvernante. Habe ich das schon erwähnt? Wie aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sie blieb nur so lange, bis meine Schwester und ich rebellierten und ihr in der Guy-Fawkes-Nacht Frösche ins Bett gesetzt haben. Und zu der Jahreszeit waren Frösche nicht leicht zu finden, glauben Sie mir.«

»Sie wollen mir weismachen, Sie hätten als Kind wirklich eine Gouvernante gehabt? Eine arme Jane Eyre ohne ihren Mr. Rochester, um sie aus ihrem Untergebenendasein zu erlösen — die immer allein in ihrem Zimmer essen musste, weil sie weder zur Herrschaft noch zum Personal gehörte?«

»Ganz so schlimm war es nicht. Sie hat mit uns gegessen. Mit der Familie. Vorher hatten wir ein Kindermädchen, aber später, als wir im Schulalter waren, kam die Gouvernante für meine ältere Schwester und mich. Bis mein Bruder zur Welt kam. Er ist zehn Jahre jünger als ich. Da wurde all das abgeschafft.«

»Es ist so… so hinreißend antiquiert.«

Lynley hörte das Lächeln in Daidres Stimme. »Das können Sie laut sagen. Aber es hieß: entweder das, ein Internat oder mit den Nachbarskindern die Dorfschule besuchen.«

»Mit ihrem fürchterlichen Cornwall-Akzent«, bemerkte Daidre.

»Genau. Mein Vater war felsenfest entschlossen, dass wir in seine Bildungsfußstapfen treten sollten, und die führten nun mal nicht zur Dorfschule. Gleichermaßen entschlossen war meine Mutter, dass wir nicht mit sieben Jahren ins Internat gesteckt werden sollten…«

»Kluge Frau.«

»… also war die Gouvernante die Kompromisslösung, bis wir sie beinahe um den Verstand gebracht und vergrault hatten. Danach kamen wir dann doch auf die Schule im Ort. Genau das war es, was wir beide gewollt hatten. Aber ich bin sicher, mein Vater hat Tag für Tag unseren Akzent überprüft. So schien es jedenfalls. Gott verhüte, dass wir jemals vulgär klingen könnten.«

»Lebt Ihr Vater noch?«

»Nein, er ist schon seit vielen Jahren tot.« Lynley gestattete sich, ihr einen Blick zuzuwerfen. Sie musterte ihn, und er überlegte, ob sie über das Thema "Schulbildung" und die Frage nachdachte, warum sie darüber sprachen.

»Wie war das bei Ihnen?«, fragte er und versuchte, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. Aber ihm war nicht wohl in seiner Haut. In der Vergangenheit hatte es ihm nie Probleme bereitet, einen Verdächtigen in die Falle zu locken.

»Meine Eltern sind beide noch am Leben und wohlauf.«

»Ich meinte die Schule.«

»Oh. Die völlig normale, langweilige Laufbahn, fürchte ich.«

»Also in Falmouth?«

»Ja. In meiner Familie wurden die Kinder nicht ins Internat abgeschoben. Das stand niemals zur Debatte. Ich bin im Ort zur Schule gegangen, zusammen mit dem Pöbel.«

Er hatte sie erwischt. Dies war der Moment, da Lynley die Falle normalerweise hätte zuschnappen lassen. Aber er wusste, es war möglich, dass er eine Schule übersehen hatte. Vielleicht hatte sie eine besucht, die inzwischen geschlossen war. Irgendwie verspürte er das Bedürfnis, im Zweifel für sie zu entscheiden. Er ließ die Sache auf sich beruhen.

Der Rest der Fahrt nach Pengelly Cove verlief in freundschaftlicher Atmosphäre. Er erzählte ihr, wie sein privilegiertes Leben ihn zur Polizeiarbeit gebracht hatte, und sie erzählte, wie ihre Leidenschaft für Tiere sie zunächst veranlasst hatte, Igel, Seevögel, Singvögel und Enten zu retten, und sie dann später zum Studium der Veterinärmedizin und letztlich zur Arbeit im Zoo geführt hatte. Die einzige Kreatur aus dem Tierreich, die sie nicht mochte, sei die Kanadagans, gestand sie. »Sie nehmen den ganzen Planeten in Beschlag«, erklärte sie. »Oder zumindest England, wie es scheint.« Ihr Lieblingstier sei der Otter, fuhr sie fort egal ob Fisch- oder Seeotter. Innerhalb der Gattung habe sie keine Vorlieben.

In Pengelly Cove bedurfte es nur eines kurzen Besuchs im Postamt einem Schalter im örtlichen Tante-Emma-Laden, um herauszufinden, dass mehr als ein Kerne im Einzugsgebiet wohnte. Sie alle waren Nachkommen eines gewissen Eddie Kerne und seiner Frau Ann. Letzterer residierte in einer Kuriosität, die er Ökohaus nannte, fünf Meilen außerhalb der Siedlung. Ann arbeitete im Curlew Inn, obwohl der Job eher eine Art Beschäftigungstherapie sei, denn nach einem Schlaganfall vor ein paar Jahren sei sie merklich gealtert. »Kernes gibt es hier wie Sand am Meer«, vertraute die Ladeninhaberin Lynley an. Sie war die einzige Arbeitskraft in dem Geschäft, eine Dame mit grauem Haar von unbestimmtem, aber fortgeschrittenem Alter, die gerade im Begriff gewesen war, einen winzigen Knopf an ein weißes Kinderhemdchen zu nähen, als sie eintraten. Sie stach sich mit der Nadel in den Finger. »Verflucht noch mal. Mist! Entschuldigung«, sagte sie, wischte den winzigen Blutstropfen an ihrer blauen Strickjacke ab und fuhr dann fort: »Wenn Sie raus auf die Straße gehen und "Kerne" rufen, drehen sich mindestens zehn Leute um und fragen: "Was?"« Sie überprüfte, ob der Knopf festsaß, und biss dann den Faden ab.

»Das wusste ich nicht«, sagte Lynley. Während Daidre die traurige Obstauslage gleich neben der Ladentür in Augenschein nahm, erstand er einige Postkarten, Briefmarken und eine Lokalzeitung — was er allesamt nicht gebrauchen konnte, im Gegensatz zu der Rolle Pfefferminzbonbons, die er ebenfalls auswählte. »Die Kernes hatten also eine ziemlich große Kinderschar, ja?«

Die grauhaarige Dame tippte seine Einkäufe in die Kasse. »Sieben haben sie, Eddie und Ann. Und alle wohnen noch hier, bis auf den Ältesten, Benesek. Er ist schon seit Ewigkeiten weg. Sind Sie mit den Kernes befreundet?« Sie schaute von Lynley zu Daidre. Zweifel schwang in ihrer Stimme mit.

Nein, er sei kein Freund der Familie, erklärte Lynley und zückte seinen Polizeiausweis. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Vorsicht, Polizei! Es hätte kaum deutlicher in ihren Zügen stehen können.

»Ben Kernes Sohn ist ermordet worden«, eröffnete Lynley ihr.

»Wirklich?« Unbewusst legte sie die Hand aufs Herz. »O mein Gott. Das ist aber eine traurige Nachricht. Was ist denn passiert?«

»Kannten Sie Santo Kerne?«

»Jeder hier kannte Santo. Er und seine Schwester Kerra waren als Kinder häufig für einige Zeit bei Eddie und Ann. Ann kam mit ihnen her, um Süßigkeiten oder Eis zu kaufen. Eddie nie. Er kommt nicht ins Dorf, wenn es nicht unbedingt sein muss. Schon seit Jahren nicht mehr.«

»Warum nicht?«

»Manche sagen, er sei zu stolz. Andere, er schäme sich zu sehr. Aber seine Ann ist anders. Außerdem muss sie ja arbeiten, damit Eddie seinen Traum verwirklichen und im Einklang mit der Natur leben kann.«

»Weswegen müsste er sich denn schämen?«, hakte Lynley nach.

Sie zeigte ein flüchtiges Lächeln, aber Lynley erkannte, dass es nichts mit Freundlichkeit oder Humor zu tun hatte, sondern eher damit, dass sie die Position anerkannte, in der sie beide sich im Moment befanden: er — der professionelle Fragensteller, sie — die Informationsquelle. »Es ist ein kleines Dorf«, antwortete sie. »Wenn die Dinge hier anfangen, für irgendwen schlecht zu laufen, können sie für eine lange Zeit schlecht bleiben, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Die Bemerkung mochte sich auf die Kernes beziehen oder aber auch auf ihre eigene Position, und Lynley verstand das. Als Postbeauftragte und Ladenbesitzerin wusste sie sicher einiges über die Vorgänge und Geschehnisse in Pengelly Cove. Als Mitglied der Dorfgemeinschaft wusste sie aber sicher auch, dass es klug war, den Mund zu halten, wenn ein Auswärtiger sich nach Dingen erkundigte, die ihn nichts angingen.

»Sie werden mit Ann oder Eddie reden müssen«, sagte sie. »Ann kann seit dem Schlaganfall nicht mehr so gut sprechen, aber Eddie wird Ihnen das Ohr abkauen, schätze ich. Gehen Sie nur zu ihm, er ist sicher zu Hause.«

Sie wies ihnen den Weg zur Farm der Kernes, ein paar Hektar Land nordöstlich von Pengelly Cove, wo einst Schafe geweidet hatten. Die Familie hatte die Farm allerdings umgestaltet und versuchte nun, kompromisslos ökologisch zu leben.

Lynley suchte das Grundstück allein auf, denn Daidre hatte beschlossen, im Dorf zu bleiben, bis er die Angelegenheit erledigt hatte. Er fuhr durch ein verfallenes rostiges Tor, das unverschlossen war und sich auf einen steinigen Weg öffnete. Über diesen holperte er ungefähr eine dreiviertel Meile entlang, ehe er auf halber Höhe eines Hügels eine Behausung entdeckte. Sie bestand aus einem wirren Durcheinander an Materialien: Lehm, Stein, Ziegel und Holz, war teilweise eingerüstet und in schwere Planen gehüllt. Das Haus hätte aus jedem Jahrhundert stammen können. Allein die Tatsache, dass es überhaupt noch stand, grenzte an ein Wunder.

Nicht weit entfernt befanden sich ein Wasserrad und eine hölzerne Rinne, beides grob zusammengezimmert. Ersteres schien als Stromquelle zu dienen, denn es war an einen vorsintflutlichen, ebenfalls rostigen Generator angeschlossen. Letztere sollte wohl der Umleitung eines Baches dienen, welcher aus dem Wald kam, und versorgte das Rad, einen Teich und dahinter ein Kanalsystem, das den riesigen Garten durchzog. Der Garten schien frisch bepflanzt und harrte der späten Frühlingssonne. Ein gewaltiger Komposthaufen ragte im Hintergrund auf.

Lynley parkte neben einer Ansammlung alter Fahrräder, die die Besitzer offensichtlich nicht einmal mehr für wert hielten, ordentlich in den Fahrradständer zu stellen. Nur eines der Räder hatte aufgepumpte Reifen, doch im Großen und Ganzen schienen sie alle sich im Zustand unaufhaltsamer Auflösung zu befinden. Auf den ersten Blick fand Lynley keinen direkten Weg zur Vorder- oder Hintertür des Hauses. Ein ausgetretener Pfad schlängelte sich vom Fahrradständer in Richtung Baugerüst; bei näherer Betrachtung blitzten zwischen all dem niedergetrampelten Unkraut sogar eine Handvoll Pflastersteine hervor. Lynley balancierte von einem dieser Pflastersteine zum nächsten und gelangte zu etwas, was möglicherweise der Hauseingang war: eine Tür, der Wind, Wetter und Holzwürmer derart zugesetzt hatten, dass man kaum glauben mochte, sie könne noch in Betrieb sein.

Doch das war sie. Mehrfaches vernehmliches Klopfen rief einen alten und schlecht rasierten Mann auf den Plan. Eines seiner Augen war von grauem Star getrübt. Er war nachlässig und auffallend farbenfroh gekleidet: eine alte Khakihose und eine apfelgrüne Strickjacke, bis zum Hals zugeknöpft und an den Ellbogen ausgebeult. Sandalen und darunter dicke Wollsocken in Braun und Orange. Lynley wähnte Eddie Kerne vor sich. Er zückte seinen Polizeiausweis, während er sich vorstellte.

Kerne sah vom Ausweis zu seinem Gesicht. Dann wandte er sich von der Tür ab und ging wortlos ins Innere des Hauses zurück. Die Tür blieb offen, was Lynley als Einladung auffasste; also folgte er ihm.

Innen sah das Haus nicht wesentlich besser aus als von außen. Nach dem Alter der freigelegten Balken zu urteilen, schien es sich um ein langwieriges Renovierungsprojekt zu handeln. Die Wände entlang des zentralen Flurs waren vor langer Zeit bis auf das Fachwerk abgetragen worden, und doch nahm Lynley nicht den Duft frisch eingesetzten Holzes wahr. Vielmehr bedeckte ein Schorf aus Staub die Balken, der darauf hindeutete, dass die Arbeit vor Jahren begonnen und nie vollendet worden war.

Kernes Ziel war die Werkstatt, und der Weg dorthin führte durch die Küche und eine Waschküche, in der eine Waschmaschine neben einer altmodischen Bügelpresse stand und Leinen unter der Decke kreuz und quer gespannt waren, um auch bei schlechtem Wetter die Wäsche trocknen zu können. Schwerer Schimmelgeruch hing in diesem Raum — ein Aroma, das sich nur geringfügig verbesserte, als sie die Werkstatt erreichten. Dort hinein führte eine türlose Öffnung am entlegenen Ende der Waschküche. Nur eine dicke Plastikplane trennte sie vom Rest des Hauses. Stücke derselben Plastikplane bedeckten auch die Fenster der Werkstatt — ein Raum, der jüngeren Datums war. Er bestand aus unverputzten Betonblöcken und war eisig kalt, wie eine altmodische Speisekammer.

Ein Höhlenbewohner, kam es Lynley in den Sinn, als er eintrat. Der Raum war mit einer Werkbank, schief hängenden Schränken, einem hohen Sitzhocker und mit einer Unzahl Werkzeugen vollgestopft; doch was in erster Linie ins Auge fiel, waren Sägemehl, verschüttetes Maschinenöl, Farbflecken und Schmutz. Es schien ein unzulänglicher Rückzugsort für einen Mann, der Frau und Kindern mit diesem oder jenem Heimwerkerprojekt für eine Weile zu entfliehen suchte.

Es präsentierte sich in der Tat eine Vielzahl Heimwerkerprojekte auf Eddie Kernes Werkbank: Teile eines Staubsaugers, zwei zerbrochene Lampen, ein Föhn ohne Kabel, fünf Teetassen, denen die Henkel fehlten, ein kleiner Fußhocker, aus dem die Polsterung hervorquoll. Kerne schien sich die Teetassen vorgenommen zu haben, denn eine aufgeschraubte Klebstofftube steuerte das ihre zur Geruchsmischung im Raum bei, die vornehmlich von Feuchtigkeit bestimmt schien. Tuberkulose war wohl das wahrscheinlichste Ergebnis eines längeren Aufenthalts in solch einem Raum, und Kerne hatte einen schlimmen Husten. Wie Keats, als er seine herzerweichenden Briefe an seine angebetete Fanny schrieb, dachte Lynley.

»Ich kann Ihnen nichts sagen«, sagte Kerne über die Schulter, während er eine der Teetassen aufnahm, sie betrachtete und einen abgebrochenen Henkel daranhielt, um festzustellen, ob er passte. »Ich weiß natürlich, weswegen Sie hier sind, aber ich kann Ihnen nichts sagen.«

»Sie sind über den Tod Ihres Enkels informiert worden?«

»Er hat angerufen.« Kerne zog Schleim hoch, spuckte aber gnädigerweise nicht aus. »Hat mir Bescheid gesagt. Das war aber auch schon alles.«

»Ihr Sohn? Ben Kerne? Er hat angerufen?«

»Genau der. Wenigstens dafür hat's gereicht.« Die Betonung auf dafür deutete darauf hin, dass Kerne seinen Sohn in allen anderen Lebensbereichen für unzulänglich hielt.

»Soweit ich weiß, lebt Ben schon seit einigen Jahren nicht mehr in Pengelly Cove«, bemerkte Lynley.

»Ich wollte ihn nicht mehr hierhaben.« Kerne ergriff die Klebstofftube und gab zwei großzügige Tropfen auf beide Enden des Henkels. Er hatte eine ruhige Hand, wenn auch kein gutes Auge. Der Henkel gehörte eindeutig zu einer anderen Tasse; weder Farbe noch Form passte. Trotzdem drückte Kerne ihn an und wartete darauf, dass der Klebstoff anzog. »Ich hatte ihn zu seinem Onkel nach Truro geschickt, und da ist er dann geblieben. Musste er ja auch, oder, nachdem sie ihm gefolgt war.«

»Sie?«

Kerne warf ihm einen Blick zu, eine Braue in die Höhe gezogen. Er schien zu sagen: Sie wissen es noch nicht? »Seine Frau«, antwortete er knapp.

»Die jetzige Mrs. Kerne?«

»Genau. Er mag vielleicht davongelaufen sein, aber sie war hinter ihm her. Genau wie er hinter ihr. Sie ist ein Stück Dreck, und ich will nichts mit ihr zu tun haben und mit ihm auch nicht, solange er sich mit diesem Flittchen abgibt. Dellen Nankervis trägt die Schuld an allem, was in seinem Leben schiefgelaufen ist, und zwar vom ersten Tag an. Das können Sie ruhig in Ihr Dingsda schreiben, wenn Sie wollen. Und notieren Sie ruhig auch dazu, wer's gesagt hat. Ich schäme mich nicht für meine Haltung, denn über die Jahre hat sich wieder und wieder bewiesen, dass ich recht hatte.« Er klang zornig, doch der Zorn schien nur das zu verbergen, was in seinem Innern zerbrochen war.

»Sie sind schon sehr lange zusammen«, bemerkte Lynley.

»Und jetzt Santo.« Kerne ergriff eine weitere Teetasse und einen Henkel. »Sie glauben nicht, dass das irgendwie auf sie zurückgeht? Dann schnüffeln Sie mal ein bisschen herum. Schnüffeln Sie hier, in Truro und dort. Sie werden merken, dass es da irgendetwas gibt, was abscheulich stinkt und die Fährte führt geradewegs zu ihr.« Er trug wieder Klebstoff auf, und das Ergebnis war annähernd das Gleiche: eine Teetasse und ein Henkel, wie entfernte Verwandte, die einander nicht kannten. »Sagen Sie mir, wie's passiert ist«, befahl er.

»Er hat sich abgeseilt. In Polcare Cove gibt es eine Klippe…«

»Kenn ich nicht.«

»… nördlich von Casvelyn, wo Ihr Sohn und seine Familie leben. Die Klippe ist vielleicht siebzig Meter hoch. Er hatte oben eine Schlinge angebracht an einem Mauerpfosten, glauben wir, und diese Schlinge riss, als er den Abstieg begann. Sie war manipuliert worden.«

Kerne sah Lynley nicht an, aber er hielt einen Moment mit seiner Arbeit inne. Seine Schultern bebten, dann schüttelte er langsam den Kopf.

»Es tut mir leid«, sagte Lynley. »Ich weiß, dass Santo und seine Schwester als Kinder viel Zeit bei Ihnen verbracht haben.«

»Das war nur ihretwegen.« Er spie die Worte geradezu aus. »Wenn sie sich wieder mal einen neuen Kerl geangelt hatte, ihn nach Hause brachte und es mit ihm hier und dort trieb, im Ehebett. Hat er Ihnen das nicht erzählt? Oder sonst wer? Na ja, ich schätze, nicht. Das hat sie schon als Mädchen mit ihm gemacht, und als erwachsene Frau genauso. Und hat sich anbumsen lassen. Mehr als einmal.«

»Sie wurde von anderen Männern schwanger?«, fragte Lynley.

»Er weiß ja nicht, was ich weiß«, sagte Kerne. »Aber sie hat es mir erzählt. Kerra, meine ich — die Tochter. "Mum ist von einem anderen Mann schwanger und muss es loswerden." Das hat sie uns erzählt. Ganz sachlich erzählt sie mir das, einfach so, und dabei ist sie gerade mal zehn Jahre alt. Zehn Jahre alt! Was für eine Frau ist das, die zulässt, dass ihr kleines Mädchen mitbekommt, was für einen Sauhaufen sie aus ihrem Leben gemacht hat? "Dad sagt, sie macht eine schwierige Phase durch", hat sie uns erzählt, "aber ich hab sie mit dem Makler gesehen, Granddad…" Oder mit dem Tanzlehrer oder dem Physiklehrer von der Schule. Ihr war's gleich. Wenn's sie gejuckt hat, musste irgendeiner es ihr besorgen, und wenn es nicht Ben war oder wenn er's ihr nicht besorgt hat, wann und wie sie's wollte, dann hat sie sich eben einen anderen gesucht. Also machen Sie mir nicht weis, dass sie nicht irgendwie hinter dieser Sache steckt, denn sie hat alles verbockt, was je im Leben des Jungen schiefgelaufen ist.«

Nicht in Santos Leben, gemahnte sich Lynley. Kerne sprach von seinem Sohn, und in ihm sprudelte eine Quelle aus Bitterkeit und Bedauern darüber, dass er nichts hatte sagen oder tun können, um den Kurs seines Sohnes zu korrigieren, nachdem dieser erst einmal eine falsche Entscheidung getroffen hatte. In dieser Hinsicht erinnerte Kerne ihn an seinen eigenen Vater und an all die Vorhaltungen, die er Lynley im Laufe seiner Kindheit gemacht hatte, weil er sich mit Menschen anfreundete, die sein Vater als "gewöhnlich" betrachtet hatte. Aber es hatte nichts genützt, denn Lynley hatte diese Erfahrungen immer als bereichernd empfunden.

»Ich hatte keine Ahnung«, räumte er ein.

»Na ja, woher auch? Er wird das kaum herumerzählen. Sie hat ihn in die Klauen bekommen, als er noch ein Junge war, und seither hat er Scheuklappen vor den Augen. Jahrelang ging's auf und ab mit ihnen, und jedes Mal, wenn seine Mutter und ich dachten, er hätte die Nutte endlich in die Wüste geschickt, wäre zu Verstand gekommen und wir wären sie ein für alle Mal los — er wäre sie los, und endlich könnte er ein normales Leben führen wie wir anderen auch, — da steht sie plötzlich wieder da, träufelt ihm ein, wie sehr sie ihn braucht, dass er der Einzige für sie ist, und wie schrecklich leid es ihr tut, dass sie es mit einem anderen getrieben hat, aber es wäre ja schließlich nicht ihre Schuld, denn er wäre ja nicht da gewesen, um auf sie aufzupassen, er hätte ihr nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt… Sie wackelt einmal mit dem Hintern, und er kann nicht mehr klar denken, sieht nicht, wie sie ist oder was sie tut und wie gefangen er ist. Wir haben es kommen sehen: dass sie ihn zugrunde richtet. Deswegen haben wir ihn weggeschickt. Und was macht sie? Das Miststück packt ihre Klamotten und fährt unserem Ben hinterher…« Er stellte die zweite, schlecht geflickte Tasse beiseite. Er atmete schwer, und in seiner Brust brodelte es. Lynley fragte sich, ob der Mann je zum Arzt ging.

»Wir haben uns gedacht, seine Mutter und ich, wenn wir zu ihm sagen: "Wenn du dich nicht von dem verdammten Flittchen trennst, bist du nicht mehr unser Sohn", dass er's dann tun würde. Er ist doch unser Junge, unser Ältester, und er muss schließlich an seine Geschwister denken, die ihn wirklich gernhaben und die sich alle gut verstehen. Wir haben gedacht, er muss nur für eine Weile weg, bis diese Sache ausgestanden ist, und dann kann er zurückkommen zu uns. Aber es hat nichts genützt, weil er sie nicht aufgeben wollte. Sie hat ihn völlig in Besitz genommen, er hat sie in seinem Blut, und damit Schluss.«

»Bis was ausgestanden ist?«

»Hä?« Kerne wandte sich um und sah Lynley an.

»Sie sagten, Ihr Sohn müsse nur für einige Jahre weg, bis "diese Sache ausgestanden sei". Ich habe mich gefragt, was genau.«

Kernes gesundes Auge verengte sich. »Sie reden nicht wie ein Cop«, bemerkte er. »Cops reden wie wir, aber Sie haben eine Stimme, die… Woher stammen Sie?«

Lynley hatte nicht die Absicht, sich mit einer Debatte über seine Herkunft ablenken zu lassen. »Mr. Kerne, wenn Sie etwas wissen — was offensichtlich der Fall ist, — was mit dem Tod Ihres Enkels in Verbindung steht, dann muss ich es erfahren.«

Kerne drehte sich wieder zur Werkbank um. Er sagte: »Was passiert ist, liegt Jahre zurück. Benesek war… siebzehn, achtzehn vielleicht? Es hat nichts mit Santo zu tun.«

»Bitte lassen Sie mich das entscheiden. Sagen Sie mir, was Sie wissen.«

Nachdem er die Forderung ausgesprochen hatte, wartete Lynley. Er hoffte, der Kummer des alten Mannes — der unterdrückt und doch so lebendig war — werde ihn zwingen zu reden.

Und schließlich tat Kerne das auch, selbst wenn es schien, als spräche er mehr zu sich selbst als zu Lynley. »Sie waren unten am Strand, und jemand ist verunglückt. Jeder hat mit dem Finger auf jemand anderen gezeigt, und niemand wollte die Verantwortung übernehmen. Die Sache wurde hässlich, und da haben ich und seine Mutter ihn nach Truro geschickt, bis wir nicht mehr damit rechnen mussten, dass die Leute ihn schief ansahen.«

»Wer ist verunglückt? Und wie?«

Kerne schlug mit der flachen Hand auf die Werkbank. »Ich sagte doch, es spielt keine Rolle. Was soll das mit Santo zu tun haben? Es ist Santo, der tot ist, nicht sein Vater. Irgendein verdammter Bengel hat sich eines Abends volllaufen lassen und sich in eine der Höhlen unten in der Bucht gelegt, um seinen Rausch auszuschlafen. Was bitte schön soll das mit Santo zu tun haben?«

»Sind sie nachts surfen gegangen?«, hakte Lynley nach. »Was ist passiert?«

»Was glauben Sie wohl, was passiert ist? Sie waren nicht surfen, es war eine Party. Er hatte gefeiert, genau wie alle anderen. Er hatte irgendwelche Drogen genommen, zusätzlich zu allem, was er in sich reingeschüttet hatte. Als die Flut kam, war er erledigt. Die Flut schießt schneller in die Höhlen, als ein Mann weglaufen kann, denn sie sind tief, und jeder weiß, wenn man reingeht, sollte man besser wissen, wo das Meer steht und was es tut, denn wenn nicht, kommt man nicht wieder raus. Oh, man denkt vielleicht, man schafft es noch. Man denkt vielleicht, was soll's, ich kann doch schwimmen. Aber man wird herumgeschleudert und gegen die Felsen gespült, und wer zu dämlich ist, auf einen guten Rat zu hören und nicht in die Bucht zu gehen, wenn's doch gefährlich ist, dem ist eben nicht zu helfen.«

»Und genau das ist jemandem passiert«, bemerkte Lynley.

»Das ist passiert.«

»Wem?«

»Diesem Jungen, der ein paarmal im Sommer hier war. Die Familie hatte Geld. Sie hatten immer das Cliff House gemietet. Ich kannte die Leute nicht, aber Benesek kannte sie. Das ganze junge Volk kannte sie, weil sie doch den ganzen Sommer unten am Strand verbrachten. Dieser Junge, John oder James… Ja, ich glaube, James hieß er. Der war's.«

»Der Junge, der in der Höhle verunglückt ist?«

»Nur dass seine Eltern das anders sahen. Sie wollten einfach nicht einsehen, dass es seine eigene Dummheit war. Sie brauchten einen Sündenbock, und sie haben sich unseren Benesek dafür ausgesucht. Auch noch andere, aber Benesek, haben sie gesagt, steckte hinter alldem, was passiert ist. Sie haben die Cops aus Newquay geholt und ließen uns keine Ruhe mehr. Weder die Familie noch die Cops. Du weißt doch etwas,haben sie behauptet, und das wirst du uns verdammt noch mal sagen! Aber der Junge wusste überhaupt nichts, das hat er wieder und wieder beteuert, bis die Cops ihm irgendwann einfach glauben mussten. Aber da hatte der Vater dem toten Jungen schon diese verdammte, blöde Gedenkstätte gebaut, und alle guckten unseren Ben immer so komisch an. Darum haben wir ihn zu seinem Onkel geschickt, denn der Junge musste doch eine Chance im Leben haben, und die hätte er hier nicht mehr gekriegt.«

»Eine Gedenkstätte?«, fragte Lynley. »Wo?«

»Irgendwo draußen an der Küste. Auf einer Klippe. Wahrscheinlich haben sie sich gedacht, mit so einer Gedenkstätte sorgen sie dafür, dass die Leute niemals vergessen, was passiert ist. Ich selbst wandere nicht, darum kenne ich sie nicht, aber sie ist bestimmt so geworden, wie die Eltern es wollten, und erinnert die Leute.« Er lachte unfroh. »Sie haben ein ordentliches Sümmchen dafür ausgegeben, wahrscheinlich weil sie gehofft haben, dass es unseren Ben bis ins Grab verfolgt. Sie konnten ja nicht wissen, dass er nie wieder nach Hause kommen würde. War alles umsonst…« Er nahm eine weitere Teetasse in die Hand, die weit schlimmer beschädigt war als die vorherigen. Sie hatte einen Sprung vom Rand bis zum Boden und einen Schmiss auf jeder Seite, genau an den Stellen, wo man seine Lippen ansetzte. Es schien sinnlos, sie zu kitten, nichtsdestotrotz wollte Eddie Kerne sich die Mühe machen. Leise sagte er: »Ben war ein guter Junge. Ich wollte immer nur sein Bestes. Ich hab mich bemüht, das Beste für ihn zu kriegen. Welcher Vater will nicht das Beste für seinen Sohn?«

»Jeder Vater will das«, stimmte Lynley zu.


Pengelly Cove zu erkunden, dauerte nicht lange. Nach dem Tante-Emma-Laden und den zwei Hauptstraßen blieben lediglich die Bucht selbst, eine alte Kirche am Stadtrand und das Curlew Inn, um sich die Zeit zu vertreiben. Nachdem Daidre allein im Dorf zurückgeblieben war, begann sie mit der Kirche. Sie rechnete damit, sie verschlossen vorzufinden, wie es in Zeiten religiöser Gleichgültigkeit und zunehmenden Vandalismus bei so vielen Kirchen auf dem Land der Fall war, aber sie täuschte sich. Das Kirchlein war offen. Es hieß St. Sithy und stand inmitten des Friedhofs, wo Überreste verblühter Narzissen den Pfad säumten, allmählich aber von Akelei überdeckt wurden.

Im Innern roch es nach Stein und Staub, und die Luft war kalt. Gleich neben der Tür fand sich ein Lichtschalter, und als Daidre ihn betätigte, erhellte sie ein Hauptschiff mit einem Mittelgang und eine Ansammlung vielfarbiger Seile, die vom Glockenturm herabhingen. Zu ihrer Linken stand ein grob behauener Taufstein, während rechts ein ungleichmäßig gepflasterter Gang zu Altar und Kanzel führte. Sie sah aus wie jede Kirche in Cornwall bis auf eine Kleinigkeit: ein Selbstbedienungsflohmarkt, dessen Organisatoren noch an die Ehrlichkeit der Menschen glaubten. Er bestand aus einem Tisch und Regalen gleich hinter dem Taufbecken, und darauf wurden alle möglichen Gegenstände aus zweiter Hand zum Kauf angeboten. Eine verschlossene Holzkiste diente als Kasse.

Daidre trat näher, um ihn in Augenschein zu nehmen. Sie fand keinen Hinweis auf den guten Zweck, dem all dies geschuldet sein sollte, dafür aber einen eigentümlichen Charme. Alte Spitzendeckchen mischten sich mit Einzelstücken aus Porzellan. Glasperlenketten hingen abgenutzten Kuscheltieren um die Hälse. Bücher gingen aus dem Leim, Kuchenplatten und Plätzchendosen enthielten Gartenkleingeräte statt Leckereien. Ein Schuhkarton quoll beinahe über von historischen Postkarten. Sie zog einige davon aus der Schachtel und blätterte sie durch, und sie stellte fest, dass die meisten schon beschrieben waren, vor langer Zeit gestempelt und empfangen. Darunter fand sich auch ein Bild von einem Zigeunerwagen — einer von der Sorte, wie sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte: das Dach gewölbt, die Wände bunt bemalt, eine Hommage an das Vagabundenleben. Unerwartet traten ihr Tränen in die Augen, als sie auf die Postkarte hinabblickte. Im Gegensatz zu den meisten anderen war diese nicht beschrieben.

Bis vor wenigen Tagen wäre es Daidre nie in den Sinn gekommen, eine derartige Karte zu kaufen, aber jetzt tat sie es. Sie erstand noch zwei weitere, auf denen Grüße standen. Eine war von Tante Hazel und Onkel Dan und zeigte Fischerboote in Padstow, die zweite hatten Binkie und Earl geschickt, und auf ihr war eine Gruppe Surfer mit langen Malibu-Boards zu sehen, die aufrecht im Sand von Newquay steckten. Fistral Beach stand quer über die Füße der Surfer geschrieben, und entweder Binkie oder Earl hatte erklärend ausgeführt: Hier ist es passiert!!!! Hochzeit nächsten Dezember!

Daidre verließ die Kirche mit ihren Neuerwerbungen nicht bevor sie auch noch einen Blick auf die Bitttafel geworfen hatte, wo Gemeindemitglieder ihre Anliegen an Gott angeschlagen hatten. Die meisten waren gesundheitlicher Natur, und Daidre kam in den Sinn, wie selten die Menschen sich auf Gott besannen, wenn sie oder ihre Lieben nicht gerade von einer Krankheit bedroht waren.

Sie selbst war zwar nicht religiös, aber hier bot sich eine Gelegenheit, erkannte sie. Der Gott des Zufalls hatte sie hierhergeführt. Sollte sie, oder sollte sie nicht? Immerhin hatte sie das Internet auf der Suche nach Wundern durchforstet. Denn was war dies hier, wenn nicht lediglich ein weiterer Kontext, wo man möglicherweise auf ein Wunder hoffen konnte?

Sie griff nach dem bereitliegenden Kugelschreiber und einem Stück Papier, das einmal Teil eines Werbezettels für einen wohltätigen Kuchenbasar gewesen war. Sie schrieb auf die leere Seite: Betet für… Aber dann stellte sie fest, dass sie nicht fortfahren konnte. Sie fand die Worte nicht für ihre Bitte, weil sie sich nicht einmal sicher war, ob es wirklich ihre Bitte war. Es erwies sich als zu monumentale Aufgabe, sie niederzuschreiben und an die Tafel zu hängen und überdies basierte sie auf einer Heuchelei, mit der sie sich nicht anfreunden konnte. Sie legte den Stift zurück, zerknüllte das Blatt und steckte es in die Tasche. Dann verließ sie die Kirche.

Sie weigerte sich, Gewissensbisse zu empfinden. Wut war einfacher. Mochte die Wut auch die letzte Zuflucht der Ängstlichen sein — es war ihr gleich. Sie formte Sätze, die mit Ich brauche nicht… Mir ist egal… oder Ich schulde niemandem… begannen, und diese Sätze trieben sie aus der Kirche hinaus, über den Friedhof zur Straße zurück und weiter zum Ortskern von Pengelly Cove. Als sie sich dem Curlew Inn näherte, hatte sie den Gedanken an Gebetstafeln bereits abgeschüttelt. Und dann entdeckte sie Ben Kerne, der die Gaststätte vor ihr betrat.

Sie war ihm nie vorgestellt worden. Natürlich wusste sie von ihm und hatte seinen Namen im Laufe der vergangenen zwei Jahre mehr als nur ein Mal in einem Gespräch gehört. Aber sie hätte ihn vielleicht nicht so mühelos erkannt, hätte sie nicht noch heute Morgen im Watchman den Artikel über sein Unternehmen und seine Pläne für das King-George-Hotel gelesen.

Sie hatte das Curlew Inn ohnehin aufsuchen wollen, also folgte sie dem Mann hinein. Sie war im Vorteil, weil er sie nicht kannte. Folglich war es ein Leichtes, ihn aus der Distanz zu beschatten. Sie nahm an, er wollte zu seiner Mutter, hatte Daidre doch gehört, was die Dame im Postladen Lynley über Ann Kerne erzählt hatte. Entweder das, entschied Daidre, oder er wollte etwas essen, was sie für unwahrscheinlich hielt, obwohl es bald Zeit fürs Abendessen sein würde.

Ben wandte sich jedoch nicht zum Restaurant des Gasthauses, und die Art, wie er sich hier bewegte, verriet Daidre, dass er mit diesem Haus vertraut war. Er umrundete die Rezeption und folgte einem dämmrigen Korridor zu einem Quadrat aus Licht, das durch ein Fenster im beleuchteten Büro am Ende des Hauses fiel. Ohne anzuklopfen, trat er ein, was darauf hindeutete, dass er entweder erwartet wurde oder die Person, die er aufsuchte, überraschen oder sogar überrumpeln wollte.

Daidre beeilte sich, nichts zu verpassen, und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie eine ältere Frau sich mühsam vom Schreibtischstuhl erhob. Sie war grauhaarig und auffallend blass. Einer ihrer Mundwinkel hing herab, und Daidre erinnerte sich, dass die Frau einen Schlaganfall erlitten hatte. Doch sie hatte sich gut genug erholt, um ihrem Sohn einen Arm entgegenzustrecken. Als er näher trat, umarmte sie ihn mit solcher Kraft, dass Daidre selbst auf die Entfernung die Innigkeit der Geste erkannte. Sie sprachen kein Wort, sondern ergingen sich schweigend in der Vertrautheit zwischen Mutter und Kind.

Die schiere Kraft dieses Augenblicks strömte durch das Bürofenster und ergriff auch Daidre. Doch sie fühlte sich nicht getröstet. Vielmehr überkam sie eine Trauer, der sie nicht standhalten konnte. Sie wandte sich ab.

Загрузка...