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»Wir wissen beide, dass du es sehr wohl einrichten kannst, Ray. Das ist alles, worum ich dich bitte.« Bea Hannaford hob den Becher mit ihrem Morgenkaffee und betrachtete ihren Exmann über den Rand hinweg, um zu ergründen, ob sie noch mehr sagen sollte. Ray hatte aus den verschiedensten Gründen ein schlechtes Gewissen, und Bea hatte keine Bedenken, die entsprechenden Knöpfe zu drücken, wenn es ihrer Sache dienlich war.

»Es geht nicht«, entgegnete er. »Selbst wenn es möglich wäre, kann ich die nötigen Strippen nicht ziehen.«

»Als Assistant Chief Constable? Also, ich bitte dich!« Sie konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, die Augen zu verdrehen. Sie wusste genau, dass er das verabscheute, und wenn sie es täte, würde er punkten. Es gab Gelegenheiten, da es sich als ausgesprochen nützlich erwies, jemanden aus zwanzig Jahren Ehe zu kennen, und dies war eine solche Gelegenheit. »Du kannst doch nicht allen Ernstes erwarten, dass ich dir das abkaufe.«

»Das kannst du halten, wie du willst«, erwiderte Ray. »Aber wie dem auch sei. Du weißt noch überhaupt nicht, womit du es hier eigentlich zu tun hast, und das wirst du auch nicht wissen, ehe du aus der Rechtsmedizin gehört hast. Du bist voreilig. Das bist du übrigens oft, nebenbei bemerkt.«

Das ging unter die Gürtellinie, dachte sie. Es war eine dieser Exmann-Bemerkungen, die Sorte, die zu einem Streit führte, in dessen Verlauf Dinge gesagt wurden, die verletzten. Sie gedachte nicht, sich darauf einzulassen, sondern ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich nach. Sie hob die Glaskanne in seine Richtung. Wollte er noch eine Tasse? Er wollte. Er trank seinen Kaffee schwarz, genau wie sie und das machte die Dinge so einfach, wie sie zwischen einem Mann und einer Frau eben sein konnten, die seit beinahe fünfzehn Jahren geschieden waren.

Um zwanzig nach acht hatte er vor ihrer Tür gestanden. Bea hatte in der Erwartung geöffnet, den Kurier aus London früher als angekündigt vorzufinden, doch stattdessen stand dort ihr Exmann auf der Matte. Er sah stirnrunzelnd zum Wohnzimmerfenster hinüber, wo auf einem Gestell mit drei Etagen eine Ansammlung von Topfpflanzen stand, die sich im Endstadium eines Todeskampfes der Vernachlässigung befanden. Ein Schild darüber informierte: "Spendenkasse. Erlös für Pflegebedürftige. Geld bitte in Kasten legen." Doch von Bea konnten die armen Pflegebedürftigen wohl keinen größeren Beitrag für ihre Sache erwarten.

»Du hast immer noch keinen grünen Daumen, wie ich sehe«, hatte Ray bemerkt.

»Ray! Was willst du denn hier? Wo ist Pete?«

»Wo soll er schon sein? In der Schule. Und zutiefst unglücklich darüber, dass er heute Morgen zwei Eier essen musste anstelle von… Seit wann kriegt er bei dir kalte Pizza zum Frühstück?«

»Er lügt dich an. Na ja… Es war wirklich nur ein einziges Mal. Das Problem ist, dass er ein unfehlbares Gedächtnis hat.«

»Wir wissen, von wem er das hat.«

Sie war zurück in die Küche gegangen, ohne zu antworten. Er war ihr gefolgt, eine Plastiktüte in der Hand, die er auf dem Tisch abstellte. Sie enthielt den Grund für seinen Besuch: Petes Fußballschuhe. Sie wolle doch wohl nicht, dass der Junge seine Schuhe im Haus seines Vaters ließ? Oder dass er sie mit zur Schule nahm? Darum habe besagter Vater sie vorbeibringen wollen.

Sie hatte ihm einen Kaffee angeboten. »Du weißt ja, wo die Becher stehen.« Und sofort hatte sie das Angebot bereut, denn die Kaffeemaschine stand gleich neben dem Kalender, der nicht nur Petes Termine enthielt, sondern auch ihre eigenen. Letztere waren zwar kryptisch formuliert, aber Ray war kein Idiot. Als er mit leicht gerunzelter Stirn die Eintragungen betrachtete, wusste sie genau, was er sah: MotorMaulckWichser und ProblemBärWichser. Hätte Ray die letzten drei Monate durchgeblättert, wäre er noch auf mehr gestoßen. Fünfzehn Wochen Internetdating: Es mochte Millionen von Fischen in diesem Männermeer da draußen geben, aber in Beas Netz verfingen sich immer nur rostige Töpfe und Seetang.

Um von ihrer Partnersuche abzulenken, hatte sie angefangen, über die Vorteile zu sprechen, die eine Einsatzzentrale in Casvelyn böte. Mit Bodmin wäre natürlich wesentlich weniger Aufwand verbunden. Aber Bodmin war eben auch meilenweit von Casvelyn entfernt, und nur schmale, gewundene Landsträßchen, auf denen man so gut wie nicht von der Stelle kam, verbanden die beiden Orte miteinander. Bea brauchte eine Einsatzzentrale, die näher am Tatort lag.

»Du weißt doch nicht einmal, ob es sich um einen Tatort handelt«, gab er zu bedenken. »Vielleicht war es wirklich nur ein tragischer Unfall. Was um aller Welt lässt dich annehmen, dass es ein Verbrechen war? Doch nicht etwa eines deiner Gefühle?«

Sie wollte schon erwidern: Ich habe keine Gefühle, wie du vielleicht noch weißt aber sie hielt sich zurück. Im Laufe der Jahre war sie ein wenig besser darin geworden, die Dinge loszulassen, über die sie keine Kontrolle hatte. Und die Meinung, die ihr Exmann sich von ihr machte, gehörte dazu.

»Die Blessuren. Der Junge hatte ein blaues Auge, das schon am Abheilen war. Wahrscheinlich war er letzte Woche oder vielleicht noch früher in eine Schlägerei verwickelt. Und dann ist da noch diese Schlinge: dieses Netz, das Kletterer benutzen, um es um einen Baumstamm oder ein anderes unbewegliches Objekt zu schlingen.«

»Daher der Name«, murmelte Ray.

»Hab Nachsicht mit mir, Ray. Ich weiß absolut nichts über Klettersport.« Bea versuchte, sich nicht zur Unsachlichkeit hinreißen zu lassen.

»Tut mir leid.«

»Wie auch immer. Diese Schlinge ist gerissen, und deswegen ist er abgestürzt, aber sie könnte sehr wohl auch manipuliert worden sein. Constable McNulty, der übrigens keinerlei Zukunft in der Verbrechensaufklärung hat, hat darauf hingewiesen, dass ein Riss in der Schlinge mit Isolierband überklebt gewesen und es da ja kein Wunder wäre, dass der arme Junge abgeschmiert ist. Aber dieses Isolierband klebte an jedem einzelnen Teil seiner Ausrüstung, und ich gehe davon aus, dass er es einfach dazu benutzt hatte, seine Sachen zu markieren. Wenn das der Fall ist, wie schwierig wäre es dann gewesen, das Klebeband zu entfernen, die Schlinge auf welche Art auch immer zu sabotieren und das Band wieder anzubringen, ohne dass der Junge etwas davon bemerkte?«

»Hast du dir das restliche Equipment denn schon angesehen?«

»Es ist alles bei der Kriminaltechnik, aber ich kann mir schon vorstellen, was die mir sagen werden. Und das ist der Grund, warum ich hier eine Einsatzzentrale brauche.«

»Aber es muss doch nicht direkt in Casvelyn sein.«

Bea leerte ihren Kaffeebecher und stellte ihn zu der Schale in der Spüle — ein weiterer Vorteil am Leben ohne Ehemann: Wenn ihr nicht nach Abwasch zumute war, machte sie ihn eben auch nicht, nur um Rays zwanghafte Persönlichkeit zufriedenzustellen.

»Dort sind einfach alle Beteiligten, Ray: in Casvelyn, nicht in Bodmin, nicht einmal hier in Holsworthy. Und in Casvelyn gibt es eine Polizeidienststelle — klein, aber vollkommen ausreichend, mit einem Konferenzraum in der ersten Etage, der ebenfalls ausreichen würde.«

»Du hast dich schlaugemacht.«

»Ich versuche, es für dich einfacher zu machen. Ich liefere dir Argumente, um meinen Antrag zu unterstützen. Ich weiß, dass du das kannst.«

Er betrachtete sie. Sie vermied es, ihrerseits das Gleiche mit ihm zu tun. Ray war attraktiv. Sein Haar wurde allmählich ein bisschen dünn, aber das störte nicht weiter. Sie wollte ihn lieber erst gar nicht mit MotorMaulWichser und all den anderen vergleichen. Er sollte einfach kooperieren oder verschwinden. Oder noch besser: kooperieren und verschwinden.

»Und wenn ich das für dich arrangiere, Beatrice?«, fragte er schließlich.

»Was dann?«

»Was kriege ich dafür?« Er streifte den Kalender mit einem schnellen Blick. »ProblemBärWichser«, las er vor. »MotorMaulWichser. Komm schon, Beatrice!«

»Danke, dass du Petes Fußballschuhe vorbeigebracht hast«, antwortete sie. »Hast du ausgetrunken?«

Er ließ einen Moment verstreichen. Dann nahm er den letzten Schluck, streckte ihr den Becher hin und sagte: »Es muss doch preiswertere Schuhe gegeben haben.«

»Er hat einen teuren Geschmack. Da fällt mir ein, wie läuft der Porsche?«

»Der Porsche ist ein Traum«, erwiderte er.

»Ein Porsche ist ein Auto«, rief sie ihm in Erinnerung. Sie hob die Hand, um seine Einwände abzuwehren. »Was mich zum Auto des Opfers bringt.«

»Was soll damit sein?«

»Was fällt dir zu einer ungeöffneten Schachtel Kondome im Wagen eines Achtzehnjährigen ein?«

»Ist das eine rhetorische Frage?«

»Die Schachtel war in seinem Auto. Zusammen mit einer Bluegrass-CD, einem Blanko-Rechnungsformular einer Firma namens LiquidEarth und einem zusammengerollten Poster von einem Musikfestival in Cheltenham letztes Jahr. Und zwei eselsohrigen Surfzeitschriften. Das werde ich alles genau unter die Lupe nehmen bis auf die Kondome…«

»Na, Gott sei Dank«, entgegnete Ray grinsend.

»… und ich frage mich, ob er anschließend noch eine Verabredung hatte oder vielleicht auch nur hoffte, später noch ein Mädchen abzuschleppen.«

»Oder sich vielleicht nur wie ein ganz normaler Achtzehnjähriger verhielt«, warf Ray ein. »Ich wünschte, alle Jungen in dem Alter wären für den Fall der Fälle mit Kondomen ausgerüstet. Was war mit Lynley?«

»Kondome? Lynley? Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«

»Wie war euer Gespräch?«

»Man kann kaum erwarten, dass er sich durch die Anwesenheit einer Polizistin einschüchtern lässt, also würde ich sagen, das Gespräch verlief zufriedenstellend. Ganz gleich wie ich die Fragen gestellt habe, seine Antworten hatten Hand und Fuß. Ich glaube, er sagt die Wahrheit.«

»Aber…?«, hackte Ray nach. Er kannte sie viel zu gut, ihren Tonfall und den Ausdruck, den sie offenbar vergebens von ihrem Gesicht fernzuhalten versuchte.

»Die andere Zeugin macht mir Sorgen.«

»Ah, die Frau im Cottage. Wie hieß sie doch gleich?«

»Daidre Trahair. Veterinärin aus Bristol.«

»Und was genau macht dir Sorgen an der Veterinärin aus Bristol?«

»Ich hab ein Gespür für solche Sachen.«

»Das weiß ich nur zu gut. Und was sagt dein Gespür dir dieses Mal?«

»Dass sie an irgendeinem Punkt gelogen hat. Ich will wissen, wo genau.«


Daidre parkte ihren Vauxhall ordentlich an der stadtzugewandten Seite des Parkplatzes am St. Mevan Crescent, der in einer langen Kurve am alten King-George-Hotel vorbei zum St. Mevan Beach hinab verlief. Jenseits des Hotels stand eine Reihe baufälliger blauer Strandhütten. Als sie Thomas Lynley am unteren Ende der Belle Vue Lane abgesetzt und ihm den Weg zu den Geschäften gewiesen hatte, hatten sie sich auf zwei Stunden verständigt.

»Ich hoffe, ich mache Ihnen nicht zu viele Umstände«, hatte er ein wenig verlegen gesagt.

Keineswegs, hatte sie versichert. Sie habe selber allerhand in der Stadt zu erledigen. Er solle sich Zeit lassen und all das kaufen, was er benötigte.

Zuerst hatte er gegen diesen Vorschlag protestiert, als sie ihn am Salthouse Inn abgeholt hatte. Obwohl er wesentlich besser duftete als am Tag zuvor, trug er immer noch den grässlichen Overall und hatte nichts als Socken an den Füßen. Diese hatte er in weiser Voraussicht ausgezogen, ehe er den schlammigen Pfad zu ihrem Wagen eingeschlagen hatte, und als sie ihm zweihundert Pfund aufzwingen wollte, hatte er versucht, ihr weiszumachen, die Anschaffung neuer Kleidung könnte warten.

»Bitte«, hatte sie gesagt. »Seien Sie nicht albern, Thomas. Sie können hier nicht durch die Gegend laufen wie jemand von der Seuchenckschutzbehörde oder wie immer das heißt. Zahlen Sie mir das Geld irgendwann zurück.« Und lächelnd hatte sie hinzugefügt: »Ich bedaure, dass ich diejenige sein muss, die Ihnen den Hinweis gibt, aber Weiß steht Ihnen ganz und gar nicht.«

»Wirklich nicht?« Er schmunzelte leicht.

Er hatte ein nettes Lächeln, bemerkte sie, und ihr ging auf, dass es das erste Mal war, dass sie es gesehen hatte. Es hatte am Vortag aber auch nicht allzu viel gegeben, worüber man sich hätte freuen können. Trotzdem… Ein Lächeln war für die meisten Menschen doch etwas ganz Natürliches, bedeutete nichts weiter als eine Geste der Höflichkeit, und darum erschien es ihr ungewöhnlich, dass jemand so ernst war.

»Kein bisschen«, antwortete sie. »Also, kaufen Sie sich etwas Passendes.«

»Danke«, hatte er gesagt. »Sie sind sehr freundlich.«

»Ich habe ein Herz für Verletzte«, hatte sie entgegnet. Daraufhin hatte er versonnen genickt und einen Moment durch die Windschutzscheibe auf die schmale, zum höher gelegenen Teil der Stadt ansteigende Belle Vue Lane geblickt. Schließlich hatte er gesagt: »Zwei Stunden also«, war ausgestiegen, und sie rätselte, was ihm auf der Seele liegen mochte.

Während er barfüßig auf ein Outdoor-Bekleidungsgeschäft zuging, fuhr sie davon. Sie hatte gewinkt, als sie ihn passierte, und im Rückspiegel gesehen, dass er ihr nachsah, bis eine Kurve sie von seinem Blick abschnitt, die Straße sich gabelte und von dort aus in eine Richtung zum Parkplatz, in die andere zum St. Mevan Down führte.

Dies war der höchste Punkt in Casvelyn. Von hier aus konnte man die ganze Reizlosigkeit der Kleinstadt überblicken. Ihre Glanzzeit lag mehr als siebzig Jahre zurück in einer Epoche, da es Mode gewesen war, zur Sommerfrische an die See zu fahren. Heute lebte sie hauptsächlich von den Surfern und anderen Outdoor-Sportlern. Die Cafés waren schon vor langer Zeit in T-Shirt-Läden, Souvenirgeschäfte und Surfschulen umgewandelt worden, und die post-edwardianischen Wohnhäuser dienten heute als billige Pensionen für jene Wandervögel, die dem Sommer und den Wellen rund um den Globus folgten.

Dem Parkplatz gegenüber an der Belle Vue Lane lag das Toes-on-the-Nose-Café, wo die einheimischen Surfer sich an diesem Morgen scharenweise versammelt hatten. Zwei hatten ihre Autos widerrechtlich am Straßenrand abgestellt, als hätten sie die Absicht, beim ersten Anzeichen eines Wetterumschwungs umgehend davonzubrausen. Dicht an dicht bevölkerten sie das Café. Diese Surfer waren immer im Pulk unterwegs und klebten förmlich aneinander wie Pech und Schwefel. Daidre verspürte einen kleinen Stich des Vermissens. Wie anders es sich anfühlte als der Schmerz des Verlusts!, fuhr es ihr durch den Kopf. Im Vorbeigehen sah sie die Surfer an den Tischen beisammenhocken. Zweifellos berichteten sie einander gerade von ihren Heldentaten auf dem Wasser.

Sie machte sich auf den Weg zur Redaktion des Watchman, die in einem hässlichen, blau verputzten Gebäude Ecke Princes Street und Queen Street untergebracht war. Die Einheimischen nannten dieses Viertel spaßeshalber "das königliche T". Die Princes Street bildete den Querbalken des T, die Queen Street die Versalhöhe. Unterhalb davon lag die King Street, und Duke Street und Duchy Row befanden sich ebenfalls in der Nähe. In viktorianischer Zeit und schon davor hatte Casvelyn sich um den Namenszusatz "Regis" bemüht, und diese Straßennamen waren die historischen Zeugnisse dieser Kampagne.

Als sie Thomas Lynley gesagt hatte, sie habe allerhand in der Stadt zu erledigen, hatte sie nicht gelogen. Nicht wirklich jedenfalls. Sie musste sich bei Gelegenheit um die Reparatur des zerbrochenen Fensters kümmern, aber erst einmal war da die nicht gerade unbedeutende Sache mit Santo Kernes Tod. Der Watchman würde über seinen Absturz in Polcare Cove berichten, und da Daidre hier keine Zeitung abonniert hatte, war es ein durchaus glaubhaftes Ansinnen, wenn sie in der Redaktion nachfragte, ob bald eine Ausgabe mit dem entsprechenden Artikel erscheinen würde.

Sie entdeckte Max Priestley sofort. Das war in der kleinen Redaktion nicht verwunderlich. Sie bestand lediglich aus Max' Büro, einem Layout-Raum, einem winzigen Newsdesk und dem Empfangsbereich, der gleichzeitig als Archiv diente. Max war mit einem der beiden fest angestellten Redaktionsmitarbeiter im Layout. Sie standen über den Entwurf einer Titelseite gebeugt, die Max offenbar ändern, seine Redakteurin die aussah wie ein zwölfjähriges Mädchen in Flipflops hingegen beibehalten wollte.

»Die Leute wollen das«, insistierte sie. »Das hier ist eine Gemeindezeitung, und er war ein Mitglied dieser Gemeinde.«

»Es gibt einen Zweispalter, wenn die Queen stirbt«, erwiderte Max. »In anderen Fällen lassen wir uns zu so etwas nicht hinreißen.« Dann sah er auf, und sein Blick fiel auf Daidre.

Zögernd hob sie die Hand und betrachtete ihn so eingehend, wie ihr möglich war, ohne dass es gar zu offensichtlich wurde. Der Mann hielt sich gern im Freien auf, das sah man ihm an. Sein wettergegerbtes Gesicht ließ ihn älter als seine vierzig Jahre wirken, das dichte Haar war sonnengebleicht, und die regelmäßigen Wanderungen auf dem Küstenpfad hielten ihn in Form. Er wirkte ruhig und ausgeglichen. Daidre wunderte sich darüber.

Die Dame am Empfang, die gleichzeitig als Korrektorin und Sekretärin des Chefredakteurs fungierte, erkundigte sich höflich nach Daidres Begehr, als Max aus dem Layout kam und seine Goldrandbrille an seinem Hemd polierte. »Vor nicht einmal fünf Minuten habe ich Steve Teller zu dir geschickt, um dich zu interviewen«, sagte er zu Daidre. »Es wird Zeit, dass du dir ein Telefon anschaffst wie der Rest der Welt.«

»Ich habe ein Telefon«, erwiderte sie. »Es steht nur nicht in Cornwall.«

»Dann nützt es uns nichts, Daidre.«

»Ihr arbeitet also an einer Story über Santo Kerne?«

»Ich kann die Sache wohl kaum ignorieren, wenn ich mich auch weiterhin einen Zeitungsmann nennen will, oder?« Er nickte zu seinem Büro hinüber und bat die Sekretärin: »Versuch, Steve auf dem Handy zu erreichen, Janna. Sag ihm, Dr. Trahair ist in der Stadt, und wenn er schnell genug zurückkommt, wird sie vielleicht bereit sein, ihm ein Interview zu geben.«

»Ich habe ihm nichts zu sagen«, erklärte sie Priestley.

»"Nichts" ist unsere Geschäftsgrundlage«, erwiderte er holdselig. Er wies Daidre zu seinem Büro.

Unter seinem Schreibtisch hielt ein Golden Retriever ein Nickerchen. Daidre hockte sich neben der Hündin auf den Boden und strich ihr über den seidigen Kopf. »Sie sieht gut aus«, sagte sie über die Schulter. »Die Behandlung hat angeschlagen?«

Er brummte bejahend. »Aber das hier ist kein Hausbesuch, oder?«, fragte er.

Daidre untersuchte oberflächlich den Bauch des Tieres eher eine Formsache als eine Notwendigkeit. Alle Anzeichen der Hautinfektion waren verschwunden. Daidre stand auf und sagte: »Lass es beim nächsten Mal nicht so lange schleifen. Lily könnte büschelweise Fell verlieren. Das willst du doch sicher nicht.«

»Es wird kein nächstes Mal geben. Ich lerne schnell, auch wenn meine persönliche Geschichte das kaum ahnen lässt. Also: Warum bist du hier?«

»Du weißt, wie Santo Kerne gestorben ist, nehme ich an.«

»Daidre, du weißt, dass ich es weiß. Also ist die eigentliche Frage wohl, warum du fragst. Oder feststellst. Oder was immer du machst. Was willst du? Was kann ich heute Morgen für dich tun?«

Sie hörte seine Ungeduld, und sie wusste, was sie bedeutete: Daidre war nur eine gelegentliche Urlauberin in Casvelyn. In manche Bereiche gewährte man ihr Einlass; in andere nicht. Sie versuchte es anders. »Ich war gestern Abend bei Aldara. Sie wartete auf jemanden.«

»Ach, wirklich?«

»Ich dachte, vielleicht auf dich.«

»Wohl kaum.« Er sah sich in seinem Büro um, als wäre er auf der Suche nach einer Beschäftigung. »Ist das wirklich der Grund, warum du gekommen bist? Um Aldara zu kontrollieren? Oder mich? Beides sieht dir nicht ähnlich, aber wie du weißt, bin ich kein besonders guter Frauenversteher.«

»Nein, deswegen bin ich nicht gekommen.«

»Also… Was gibt es noch? Denn wir wollen die Zeitung heute früher ausliefern…«

»Ich wollte dich eigentlich um einen Gefallen bitten.«

Er wurde schlagartig misstrauisch. »Und zwar?«

»Deinen Computer. Das Internet, um genau zu sein. Ich habe keinen anderen Zugang, und ich möchte lieber nicht den in der Bücherei benutzen. Ich muss recherchieren…« Sie zögerte. Wie viel sollte sie preisgeben?

»Was?«

Sie redete einfach drauflos, und das, was herauskam, war die Wahrheit, wenn auch die unvollständige: »Die Leiche… Santo… Max, Santo wurde am Küstenpfad von einem Wanderer gefunden.«

»Das wissen wir bereits.«

»Ja. In Ordnung. Natürlich wisst ihr das. Aber wisst ihr auch, dass dieser Wanderer ein Detective von New Scotland Yard ist?«

»Ach ja?« Max klang interessiert.

»Das behauptet er jedenfalls. Ich möchte herausfinden, ob es stimmt.«

»Warum?«

»Warum? Ja, du meine Güte, denk doch mal nach! Welche Schutzbehauptung könnte besser sein, wenn man vermeiden will, dass man allzu genau unter die Lupe genommen wird?«

»Willst du jetzt selbst anfangen zu ermitteln? Oder dich bei mir um einen Job bewerben? Denn andernfalls wüsste ich nicht, was es dich angeht, Daidre.«

»Ich habe diesen Mann in meinem Cottage überrascht. Ich wüsste gerne, ob er derjenige ist, für den er sich ausgibt.« Sie berichtete, wie sie Thomas Lynleys Bekanntschaft gemacht, erwähnte allerdings nicht, welchen Eindruck sie von ihm gewonnen hatte. Wie jemand, der ein Joch mit vorstehenden Nägeln auf den Schultern trug.

Der Zeitungsmann fand die Erklärung offenbar einleuchtend. Er ruckte mit dem Kinn zu seinem Computer hinüber. »Dann nur zu. Druck aus, was du findest, denn es könnte sein, dass wir es gebrauchen könnten. Und jetzt muss ich wieder zurück an die Arbeit. Lily wird dir Gesellschaft leisten.« Er wollte gehen, hielt aber noch einmal inne, eine Hand am Türpfosten. »Übrigens, du hast mich nicht gesehen.«

Sie war an den Computer getreten und schaute stirnrunzelnd auf.

»Was?«

»Falls jemand fragt, hast du mich nicht gesehen. Ist das klar?«

»Du weißt, wie sich das anhört, oder?«

»Offen gestanden, ist es mir völlig egal, wie es sich anhört.«

Damit ging er hinaus, und sie ließ sich durch den Kopf gehen, was er gesagt hatte. Nur Tieren konnte man gefahrlos seine Hingabe schenken, schloss sie.

Sie ging online und gab die Adresse einer Suchmaschine ein. Dann tippte sie Thomas Lynleys Namen.


Er wartete am unteren Ende der Belle Vue Lane auf Daidre. Er sah vollkommen anders aus als der bärtige Fremde, den sie in die Stadt gefahren hatte. Trotzdem hatte sie keine Schwierigkeiten, ihn wiederzuerkennen, hatte sie doch die letzte Stunde damit verbracht, ein gutes Dutzend Pressefotos von ihm zu betrachten, die während der Ermittlungen in einer Mordserie in London entstanden waren und infolge der Tragödie, die über sein Leben hereingebrochen war. Jetzt wusste sie, warum er ihr so verletzt erschienen war. Sie wusste nur nicht, was sie mit diesem Wissen anfangen sollte. Oder mit dem Rest: Wer er war, was sein soziales Umfeld ausmachte — der Titel, das Geld, die Insignien einer Welt, die sich von der ihren so grundlegend unterschied, dass sie von verschiedenen Planeten hätten stammen können, nicht nur aus unterschiedlichen Milieus in unterschiedlichen Regionen ein und desselben Landes.

Er hatte sich rasieren und die Haare schneiden lassen. Er trug eine Regenjacke über einem T-Shirt und Pullover. Er hatte feste Schuhe und eine Cordhose gekauft. Und in der Hand hielt er einen gewachsten Regenhut — nicht gerade die Aufmachung, die man von einem Aristokraten erwarten würde, dachte sie grimmig. Doch genau das war er. Lord Sowieso mit einer Frau, die auf offener Straße von einem Zwölfjährigen erschossen worden war. Obendrein war sie schwanger gewesen. Kein Wunder, dass Daidre Lynley als versehrt empfunden hatte. Ein Wunder war allenfalls, dass der Mann überhaupt noch in der Lage war zu funktionieren.

Als sie am Straßenrand hielt, stieg er ein. Er habe auch noch ein paar Sachen in der Drogerie besorgt, berichtete er und zeigte ihr eine Plastiktüte, die er aus der großräumigen Innentasche seiner Jacke hervorholte. Rasierer, Zahnbürste, Zahnpasta, Rasierschaum…

»Sie müssen mir nicht Rechenschaft ablegen«, versicherte sie. »Ich bin nur froh, dass das Geld gereicht hat.«

Er wies auf seine Kleidung. »Schlussverkauf. Echte Schnäppchen. Es ist sogar noch etwas übrig.« Er steckte die Hand in die Tasche und förderte ein paar Scheine und Münzen zutage. »Ich hätte nie gedacht, dass ich…« Er brach ab.

»Was?« Sie stopfte das Wechselgeld in den unbenutzten Aschenbecher. »Dass Sie einmal selber für sich einkaufen würden?«

Er sah sie an, und sein Blick sagte, dass er wusste, was ihre Worte verrieten.

»Nein«, erwiderte er. »Ich hätte nie gedacht, dass es mir Spaß machen würde.«

»Ach so. Na ja. Das ist die sogenannte Shopping-Therapie. Aufheiterung garantiert. Irgendwie wissen Frauen das von Geburt an. Männer müssen es erst lernen.«

Er schwieg einen Moment, und sie ertappte ihn dabei, wie er wieder durch die Windschutzscheibe auf die Straße hinausstarrte, eine andere Zeit und einen anderen Ort erblickte. Ihr wurde bewusst, was sie gesagt hatte, und sie biss sich auf die Unterlippe. Hastig fügte sie hinzu: »Wollen wir Ihre Erfahrung irgendwo mit einem Kaffee krönen?«

Er dachte darüber nach. Dann antwortete er langsam: »Ja. Ich glaube, ich hätte gern einen Kaffee.«


Detective Inspector Hannaford wartete bei ihrer Rückkehr zum Salthouse Inn bereits auf sie. Lynley schloss, dass die Beamtin nach Daidres Wagen Ausschau gehalten hatte, denn kaum waren sie in den ungepflasterten Parkplatz des kleinen Hotels eingebogen, kam sie zur Tür heraus. Es hatte wieder zu regnen begonnen; das schlechte Wetter hielt nun schon seit März ununterbrochen an. Hannaford streifte die Kapuze ihrer Regenjacke über und marschierte entschlossenen Schrittes auf sie zu.

Sie klopfte an Daidres Seitenfenster, und als es herabglitt, sagte sie: »Ich hätte Sie gern gesprochen. Alle beide.« Und dann an Lynley gewandt: »Sie sehen menschlicher aus. Das ist ein Fortschritt.« Sie machte kehrt und flüchtete sich zurück ins Gasthaus.

Lynley und Daidre folgten. Sie fanden Hannaford im Schankraum, wo sie, so mutmaßte Lynley, an einem Fensterplatz gesessen hatte. Sie zog die Regenjacke aus, warf sie auf eine der Bänke und bedeutete ihnen, ihrem Beispiel zu folgen. Dann führte sie sie zu einem der größeren Tische, wo ein Straßenverzeichnis von der Größe einer Zeitschrift aufgeschlagen lag.

Ihr Auftreten Lynley gegenüber war leutselig, und das stimmte ihn schlagartig misstrauisch. Er wusste nur zu gut: Wenn Cops freundlich waren, dann aus einem bestimmten Grund, und nicht zwangsläufig war es ein guter. Sie fragte, wo er am Tag zuvor seine Küstenwanderung aufgenommen habe. Ob er ihr die Stelle im Straßenatlas zeigen könne?

»Sehen Sie, hier, der Pfad ist als grün gepunktete Linie gekennzeichnet. Wenn Sie so freundlich wären, mir die Stelle zu zeigen… Es geht nur darum, ein paar lose Enden Ihrer Geschichte abzuklären. Sie wissen ja, wie das läuft.«

Lynley beugte sich über den Straßenatlas. Die Wahrheit war, dass er nicht den Schimmer einer Ahnung hatte, wo er am Vortag seine Wanderung begonnen hatte. Falls eine Landmarke in der Nähe gewesen war, hatte er sie nicht wahrgenommen. Er erinnerte sich an die Namen verschiedener Dörfer und Weiler, durch die er gekommen war, aber wann, hätte er nicht zu sagen vermocht. Außerdem sah er auch nicht, welche Rolle das spielen sollte, doch DI Hannaford ließ keinen Zweifel daran, dass ihr an einer Antwort gelegen war. Er entschied sich dafür, einen Punkt rund zwölf Meilen südwestlich von Polcare Cove auszuwählen. Er hatte keine Ahnung, ob das zutraf.

Hannaford sagte: »In Ordnung«, machte sich aber keinerlei Notizen bezüglich seines Ausgangspunktes. Stattdessen wandte sie sich ebenso liebenswürdig an Daidre: »Und was ist mit Ihnen, Dr. Trahair?«

Lynley sah aus dem Augenwinkel, dass die Tierärztin sich versteifte.

»Ich sagte Ihnen doch schon, ich bin aus Bristol gekommen.«

»Ja, das sagten Sie. Wären Sie so nett, mir die Route zu zeigen? Und kann ich davon ausgehen, dass Sie jedes Mal dieselbe Strecke nehmen?«

»Nicht zwingend.«

Lynley bemerkte, wie sie das letzte Wort in die Länge zog, und er wusste, es würde auch Hannaford nicht entgangen sein. Eine Antwort in dieser Weise herauszuzögern, bedeutete in der Regel, dass der Befragte im Geiste durch verschiedene Reifen sprang. Welcher Art diese Reifen waren und warum sie existierten… Hannaford würde es herausfinden wollen.

Lynley nahm sich einen Moment, um die beiden Frauen einzuschätzen. Sie hätten kaum verschiedener sein können: Hannafords flammender Schopf war zu wilden Stacheln hochgegelt, Daidres mittelblondes Haar war aus dem Gesicht gekämmt und wurde von einer Perlmuttspange zu einem Pferdeschwanz zusammengehalten. Hannaford trug Bürokleidung, bestehend aus Kostüm und Pumps, Daidre Jeans, Pullover und Stiefel. Daidre war schlank wie eine Frau, die regelmäßig Sport trieb und darauf achtete, was sie aß. Hannaford war anzusehen, dass ihr Berufsalltag regelmäßige Mahlzeiten ebenso verhinderte wie jedwedes Fitnessprogramm. Außerdem trennten sie mehrere Jahrzehnte im Alter. Die Beamtin hätte Daidres Mutter sein können.

Doch gerade trat sie mitnichten mütterlich auf. Sie wartete auf die Antwort, während Daidre den Atlas studierte, um ihre Route von Bristol nach Polcare Cove zu rekonstruieren. Lynley wusste, warum die Polizistin sich danach erkundigt hatte. Er überlegte, ob Daidre die gleichen Schlüsse gezogen hatte.

»Die M5 runter bis Exeter«, erklärte sie schließlich. »Hinüber nach Okehampton und von dort in nordwestlicher Richtung.« Es gebe keine schnellere Strecke nach Polcare Cove, erklärte sie. Meistens fahre sie über Exeter, manchmal komme sie aber auch von Tiverton herüber.

Hannaford studierte die Karte eingehend, ehe sie fragte: »Und von Okehampton?«

»Wie meinen Sie das?«

»Man kommt nicht eben von Okehampton nach Polcare Cove, Dr. Trahair. Sie sind doch sicher nicht mit dem Helikopter herübergeflogen, oder? Welche Strecke sind Sie gefahren? Den exakten Verlauf bitte.«

Lynley sah, dass Daidres Hals sich rötete. Sie konnte von Glück sagen, dass sie Sommersprossen hatte, andernfalls hätte ihre Haut wohl eine purpurne Tönung angenommen.

Sie fragte: »Wollen Sie das wissen, weil Sie glauben, ich hätte etwas mit dem Tod des Jungen zu tun?«

»Haben Sie denn etwas damit zu tun?«

»Nein.«

»Dann macht es Ihnen doch bestimmt nichts aus, mir Ihre Route zu zeigen.«

Daidre presste die Lippen zusammen. Sie strich sich eine lose Haarsträhne hinter das linke Ohr. Das Ohrläppchen war dreimal durchstochen, bemerkte Lynley. Eine winzige Kreole, ein Stecker, sonst nichts.

Sie fuhr die Strecke mit dem Finger nach: A3079, A3072, A39 und dann eine Reihe kleinerer Sträßchen bis nach Polcare Cove, das lediglich ein Pünktchen im Straßenatlas war. Während Daidre die Route erläuterte, machte Hannaford sich Notizen. Sie nickte versonnen, und als Daidre ihre Ausführungen beendete, bedankte sie sich.

Daidre sah aus, als lege sie keinen gesteigerten Wert auf den Dank der Polizistin. Sie wirkte vielmehr zornig und als sei sie bemüht, ihren Groll unter Kontrolle zu bringen. Das verriet Lynley, dass Daidre wusste, was Detective Inspector Hannaford im Schilde führte. Was es ihm hingegen nicht verriet, war, gegen wen dieser Zorn sich richtete: gegen Hannaford oder sie selbst.

»Sind wir jetzt entlassen?«, fragte Daidre.

»Sie schon, Dr. Trahair«, antwortete Hannaford. »Aber Mr. Lynley und ich haben noch etwas zu erledigen.«

»Sie können doch nicht glauben, dass er…« Sie brach ab. Ihr Gesicht hatte sich erneut gerötet. Sie schaute zu Lynley und wandte dann hastig den Blick ab.

»Dass er was?«

»Er ist fremd in dieser Gegend. Woher sollte er den Jungen gekannt haben?«

»Heißt das, dass Sie ihn kannten, Dr. Trahair? Diesen Jungen? Er hätte doch selbst ein Fremder in dieser Gegend sein können. Es wäre doch immerhin möglich, dass unser Mr. Lynley hier eigens zu dem Zweck angereist ist, Santo Kerne, so hieß er übrigens, von der Klippe zu stoßen.«

»Das ist doch lächerlich. Hat er nicht gesagt, er sei Polizist?«

»Das hat er gesagt, ja. Aber noch habe ich keinerlei Beweis dafür. Sie vielleicht?«

»Ich… Ach, egal.« Sie hatte ihre Schultertasche auf einem Stuhl abgestellt und nahm sie nun auf. »Sie haben gesagt, dass Sie fertig mit mir sind, Inspector. Ich gehe dann jetzt.«

»Ja, ich bin fertig mit Ihnen«, versicherte Bea Hannaford höflich. »Fürs Erste.«


Während der anschließenden Autofahrt tauschten sie nur wenige Sätze. Lynley fragte Hannaford, wohin sie ihn bringe, und sie antwortete: »Nach Truro. Ins Royal Cornwall Hospital, um genau zu sein.«

»Sie wollen die Pubs entlang der Route überprüfen, richtig?«

»Alle Pubs auf dem Weg nach Truro?«, entgegnete sie verschmitzt. »Wohl kaum, mein Lieber.«

»Ich rede nicht von dem Weg nach Truro, Inspector«, gab er zurück.

»Ich weiß. Und erwarten Sie im Ernst, dass ich Ihre Frage beantworte? Sie haben den Leichnam gefunden. Sie wissen doch, wie es läuft, wenn Sie wirklich derjenige sind, für den Sie sich ausgeben.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Sie hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt, obwohl keine Sonne schien, es vielmehr immer noch regnete. Er rätselte, was es damit auf sich hatte, und sie beantwortete seine ungestellte Frage: »Sehhilfe. Ich brauche zum Fahren eine Brille. Die andere ist zu Hause. Oder vielleicht auch im Schulrucksack meines Sohnes. Oder womöglich hat einer der Hunde sie gefressen, ich weiß es nicht.«

»Sie haben Hunde?«

»Drei schwarze Labradore. Hund Eins, Zwei und Drei.«

»Interessante Namen.«

»Zu Hause halte ich die Dinge gern einfach. Als Ausgleich dafür, dass sie im Job niemals einfach sind.«

Das war alles, was sie zueinander sagten. Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, die Stille nur unterbrochen von Satzfetzen aus dem Funkgerät und zwei Anrufen, die Hannaford auf dem Handy entgegennahm. Der erste kam offenbar aus Truro, wo man ihre ungefähre Ankunftszeit in Erfahrung bringen wollte, immer vorausgesetzt, dass sie in keinen Stau geriet. Der zweite Anrufer machte eine kurze Mitteilung, worauf sie barsch erwiderte: »Ich hatte ihm doch gesagt, er soll es zu mir bringen. Was zum Henker hat er bei dir in Exeter verloren?… Und wie soll ich… Das ist absolut nicht nötig, und ja, bevor du es sagst: Du hast recht. Ich will nicht in deiner Schuld stehen… Oh, super. Mach doch, was du willst, Ray.«

In Truro führte Hannaford Lynley in die Pathologie des Krankenhauses, wo der Geruch nach Desinfektionsmittel so intensiv war, dass er einem sofort zu Kopf stieg. Ein Assistent war gerade dabei, eine Rollliege abzuspritzen, auf der zuvor ein Leichnam aufgeschnitten worden war. Der Rechtsmediziner — schmal wie die Heiratschancen einer alternden Jungfer — stand über eine Edelstahlspüle gebeugt und leerte ein großes Glas Tomatensaft. Der Mann musste einen Magen aus Eisen und die Sensibilität eines Felsbrockens besitzen, dachte Lynley.

»Das ist Gordie Lisie«, stellte Hannaford vor. »Niemand auf der Welt macht den Y-Schnitt so zackig wie er, und Sie wollen gar nicht wissen, wie schnell er Rippen zersägt.«

»Zu viel der Ehre«, sagte Lisie.

»Ich weiß. Das hier ist Thomas Lynley. Was haben wir?«

Lisie stellte sein Saftglas beiseite, trat an seinen Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier auf, das er überflog, und begann seinen Bericht. Die Verletzungen stammten eindeutig von einem Sturz, sagte er einleitend. Er zählte sie auf: gebrochene Hüfte, der rechte Malleolus medialis zertrümmert. »Für den Laien: Das ist der Knöchel«, fügte er hinzu.

Hannaford nickte wissend.

»Rechtes Schien- und Wadenbein gebrochen«, fuhr Lisie fort. »Mehrfache Brüche der rechten Elle und Speiche. Ebenfalls rechts sechs Rippenbrüche. Und die rechte Scapula zertrümmert, beide Lungen durchstoßen, Milzriss.«

»Was zum Henker ist eine Scapula?«, wollte Hannaford wissen.

»Schulterblatt«, erklärte er.

»Böse Sache, aber hätte das ausgereicht, um ihn umzubringen? Was hat ihn denn nun ins Jenseits befördert? Schock?«

»Ich habe uns natürlich das Beste für den Schluss aufgehoben: eine massive Fraktur des Schläfenbeins. Sein Schädel ist aufgeplatzt wie ein Ei. Sehen Sie hier.« Lisie legte das Schriftstück auf den Tisch und schlenderte zur Wand hinüber, wo eine großformatige Darstellung des menschlichen Skeletts hing. »Er muss während seines Sturzes an einen vorstehenden Felsen angeschlagen sein. Er wurde mindestens einmal herumgeschleudert, nahm im Lauf des Sturzes weiter Tempo auf, landete hart auf der rechten Seite und schlug sich den Schädel auf dem Schiefer ein. Als der Knochen brach, ist er wie ein Messer in die Schädelbasisarterie gestoßen. Das hat ein akutes epidurales Hämatom hervorgerufen. Es entstand Druck auf das Gehirn, der nirgendwohin entweichen konnte, ohne den Jungen umzubringen. Er dürfte innerhalb von fünfzehn Minuten gestorben sein, war aber sicher die ganze Zeit bewusstlos. Lag denn kein Helm in der Nähe? Irgendeine andere Kopfbedeckung?«

»Kinder«, entgegnete Hannaford. »Sie glauben, sie sind unsterblich.«

»Dieses hier war es nicht. Wie dem auch sei. Die Schwere der Verletzungen deutet darauf hin, dass er abgestürzt ist, sowie er begann, sich abzuseilen.«

»Was wiederum bedeutet, die Schlinge ist gerissen, sowie sie mit seinem Gewicht belastet wurde.«

»Dem stimme ich zu.«

»Was ist mit dem blauen Auge? Es war schon abgeheilt, oder? Womit passt das zusammen?«

»Mit einem verdammt gut platzierten Fausthieb. Irgendwer hat ihm ein ordentliches Ding verpasst, das ihn zu Boden geschickt haben dürfte. Man kann die Knöchelabdrücke immer noch sehen.«

Hannaford nickte. Sie blickte zu Lynley, der aufmerksam zugehört und sich gleichzeitig gefragt hatte, warum Hannaford ihn hieran Anteil nehmen ließ. Das war vollkommen ungewöhnlich obendrein sogar unverantwortlich, wenn man seine Rolle in diesem Fall berücksichtigte. Und sie machte eigentlich nicht den Eindruck, als wäre sie eine verantwortungslose Frau. Sie hatte irgendeinen Plan. Darauf hätte er gewettet.

»Wann?«, fragte Hannaford.

»Der Faustschlag?«, erwiderte Lisie. »Ich würde sagen, vor einer Woche.«

»Sieht es so aus, als hätte er eine Schlägerei gehabt?«

Lisie schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Er weist keine weiteren Blessuren auf, die zur selben Zeit entstanden sein könnten«, mischte Lynley sich ein. »Irgendwer hat ein einziges Mal ordentlich hingelangt, und das war alles.«

Hannaford sah ihn an, als hätte sie völlig vergessen, dass sie ihn mitgebracht hatte. Lisie stimmte zu: »Das würde ich auch sagen. Jemand hat für einen Moment die Kontrolle verloren oder wollte ihn bestrafen. Entweder war die Angelegenheit damit erledigt, oder ihm ist die Lampe ausgegangen, oder er war einfach nicht der Typ, der sich provozieren ließ, nicht einmal durch einen Fausthieb ins Gesicht.«

»Wie steht es mit Sadomasochismus?«, fragte Hannaford.

Lisie wirkte nachdenklich, und Lynley antwortete: »Ich glaube nicht, dass Sadomasochisten eine Vorliebe für Faustschläge ins Gesicht hegen.«

»Hm. Ja«, stimmte Lisie zu. »Ich schätze, der handelsübliche SM-Freak lässt sich lieber in die Genitalien zwicken. Oder den Hintern versohlen oder obendrein auspeitschen. Aber wir haben keinerlei Spuren an der Leiche, die auf dergleichen hindeuten.« Er kehrte zu seinem Sandwich zurück. Sie standen alle drei einen Moment da und betrachteten die Schautafel mit dem Skelett. Völlig unvermittelt fragte Lisie Hannaford: »Wie sieht es an der Datingfront aus? Hat das Internet Ihre Träume schon erfüllt?«

»Täglich«, versicherte sie ihm. »Sie müssen es unbedingt noch einmal probieren, Gordie. Sie haben viel zu schnell das Handtuch geworfen.«

Er schüttelte den Kopf. »Damit bin ich fertig. Das Internet ist nicht der richtige Ort, um nach der Liebe zu suchen.« Er schaute sich betrübt in der Pathologie um. »Das hier schreckt sie einfach ab, da muss man gar nicht drumherumreden. Sobald ich damit herausrücke, ist alles gelaufen.«

»Was meinen Sie?«

Er umschrieb den Raum mit einer Geste. Eine weitere von einem Laken bedeckte Leiche mit einem Schild am Zeh wartete bereits auf ihn. »Wenn sie erfahren, was ich beruflich mache. Darauf stehen sie nicht besonders.«

Hannaford tätschelte ihm die Schulter. »Das macht nichts, Gordie. Sie stehen darauf, und das allein zählt.«

»Wie wär's denn mit uns zwei Hübschen?« Er sah sie mit musterndem Blick an, abschätzend und abwägend.

»Führen Sie mich nicht in Versuchung, mein Lieber. Sie sind viel zu jung, und außerdem bin ich im Grunde meines Herzens eine Sünderin. Ich brauche den schriftlichen Bericht hierüber so schnell wie möglich.« Mit dem Kinn wies sie auf die frisch gesäuberte Rollliege.

»Ich werde dafür eine der Schreibkräfte bestechen«, versprach Lisie.

Als sie die Pathologie hinter sich gelassen hatten, schritt Hannaford auf einen Lageplan des Krankenhauses in der Vorhalle zu, studierte ihn kurz und führte Lynley dann in die Cafeteria. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie nach dem Besuch im Sektionssaal etwas essen wollte, und wie sich herausstellte, hatte er recht. Hannaford blieb am Eingang stehen und sah sich um, bis sie an einem Tisch einen Mann entdeckte, der eine Zeitung las.

Lynley erkannte den Mann, der am Abend zuvor in Daidre Trahairs Cottage aufgetaucht war und ihn nach New Scotland Yard gefragt hatte. Gestern hatte er sich nicht vorgestellt, aber Hannaford holte das nun nach: Dies sei Assistant Chief Constable Ray Hannaford von der Polizei in Middlemore, erklärte sie. Der Mann erhob sich und streckte Lynley höflich die Hand entgegen.

»Ja«, fügte Detective Inspector Hannaford erklärend hinzu.

»Ja?«, fragte Lynley verdutzt.

»Familie«, warf sie ein.

»Ehemals«, ergänzte Ray Hannaford. »Bedauerlicherweise.«

»Du schmeichelst mir, Liebling«, frotzelte sie.

Keiner von beiden ging näher darauf ein, doch das Wort "ehemals" räumte alle Zweifel aus. Mehr als ein Cop in der Familie, schloss Lynckley. Das dürfte nicht einfach gewesen sein.

Ray Hannaford griff nach einem großen Umschlag, der auf dem Tisch gelegen hatte. »Hier ist er«, sagte er zu seiner Exfrau. »Wenn du das nächste Mal auf einem Kurier bestehst, lass ihn wissen, wo er dich findet, Beatrice.«

»Das hab ich ihnen gesagt«, entgegnete sie. »Offenbar hatte der Mistkerl, der diesen Umschlag aus London gebracht hat, keine Lust, bis nach Holsworthy oder Casvelyn zu fahren. Oder hattest du auch noch mal angerufen und die Sachen angefordert?«, fragte sie argwöhnisch. Sie wedelte mit dem Umschlag.

»Nein«, versicherte er. »Aber wir sollten langsam über eine Art Gegenleistung reden. Dein Schuldensaldo wächst. Die Fahrt von Exeter hierher war die Hölle. Jetzt schuldest du mir in zweierlei Hinsicht etwas.«

»Zweierlei? Wofür denn noch?«

»Dafür, dass ich Pete gestern Abend abgeholt habe. Klaglos, wie ich mich erinnere.«

»Musstest du dich zu dem Zweck aus den Armen irgendeiner Zwanzigjährigen reißen?«

»Ich glaube, sie war mindestens dreiundzwanzig.«

Bea Hannaford lachte leise. Sie öffnete den Umschlag und spähte hinein. Dann sagte sie: »Gut. Ich nehme an, du hast selbst einen Blick hineingeworfen, Ray?«

»Schuldig im Sinne der Anklage.«

Sie zog den Inhalt hervor. Lynley erkannte seinen Polizeiausweis von New Scotland Yard auf einen Blick.

»Den habe ich zurückgegeben«, sagte er. »Er hätte eigentlich… Was passiert mit diesen Dingern, wenn jemand kündigt? Sie werden vernichtet, nehme ich an.«

Es war Ray Hannaford, der antwortete: »Anscheinend war man nicht gewillt, ihn zu vernichten.«

»"Voreilig" nannten sie es«, fügte Bea hinzu. »Eine überstürzte Entscheidung, die zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt gefällt wurde.« Sie hielt Lynley den Scotland-Yard-Ausweis hin.

Doch er nahm ihn nicht entgegen. Stattdessen sagte er: »Mein Pass ist mit der Post unterwegs. Das habe ich Ihnen doch erklärt. Meine Brieftasche mitsamt Inhalt wird morgen hier sein. Dies hier«, er blickte auf den Dienstausweis hinab, »war überflüssig.«

»Ganz im Gegenteil«, widersprach Detective Inspector Hannaford. »Es war absolut notwendig. Sie wissen selber, dass gefälschte Ausweispapiere heutzutage leicht zu beschaffen sind. Wer weiß, vielleicht haben Sie den Vormittag damit verbracht, sich welche zu besorgen.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Ich nehme an, das können Sie sich selbst beantworten, Superintendent Lynley. Oder ziehen Sie den Adelstitel vor? Und was zum Henker hat jemand wie Sie überhaupt bei der Polizei verloren?«

»Dort bin ich ja nicht mehr.«

»Erzählen Sie das mal Scotland Yard. Sie haben nicht geantwortet. Wie wollen Sie angesprochen werden? Mit dem beruflichen oder mit dem Adelstitel?«

»Mit "Thomas". Und jetzt, da Sie wissen, dass ich derjenige bin, für den ich mich gestern Abend ausgegeben habe, was Sie vermutlich schon vorher wussten, denn warum hätten Sie mich sonst mit in die Pathologie genommen, darf ich davon ausgehen, dass es mir freisteht, meine Wanderung wieder aufzunehmen?«

»Das ist das Allerletzte, wovon Sie ausgehen dürfen. Sie gehen nirgendwohin, bis ich es Ihnen erlaube. Und wenn Sie damit liebäugeln, sich bei Nacht und Nebel davonzuschleichen, rate ich Ihnen, sich das noch einmal gut zu überlegen. Sie können sich nützlich machen, jetzt da ich den Beweis habe, dass Sie derjenige sind, der zu sein Sie behauptet haben.«

»Nützlich als Polizist oder als Privatperson?«, fragte Lynley.

»Was immer besser funktioniert, Detective.«

»Funktioniert in Bezug worauf?«

»Auf unsere Tierärztin.«

»Bitte?«

»In Bezug auf Dr. Trahair. Sie und ich wissen, dass sie lügt. Und Ihr Job wird es sein herauszufinden, warum.«

»Sie können unmöglich von mir verlangen…«

Hannafords Handy klingelte. Sie hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, fischte das Telefon aus der Tasche und entfernte sich ein paar Schritte. »Ich höre«, sagte sie, als sie das Handy aufgeklappt hatte. Sie senkte den Kopf, während sie lauschte, und tippte mit der Fußspitze auf den Boden.

»Die Arbeit ist ihr Lebensinhalt«, erklärte Ray Hannaford. »Früher war das anders. Aber jetzt ist sie es, die ihr das Gefühl gibt, am Leben zu sein. Ziemlich dumm, oder?«

»Dass der Tod jemandem das Gefühl gibt, lebendig zu sein?«

»Nein. Dumm von mir, dass ich sie habe gehen lassen. Sie wollte eine Sache, ich etwas anderes.«

»Das kommt vor.«

»Hätte ich nur einen Funken Verstand gehabt!«

Lynley betrachtete Hannaford. Vorhin hatte er seinen Status als Exmann der Polizistin als bedauerlich bezeichnet. »Vielleicht sagen Sie es ihr einmal«, schlug Lynley vor.

»Das habe ich bereits getan. Aber manchmal, wenn man sich in den Augen eines anderen herabgewürdigt hat, kann man es nicht wiedergutmachen. Ich gäbe etwas darum, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte.«

»Ja«, erwiderte Lynley. »Da geht es uns beiden ähnlich.«

Bea Hannaford kehrte zu ihnen zurück. Ihre Miene war grimmig. Sie fuchtelte mit dem Handy herum und sagte zu ihrem Exmann: »Es war Mord. Ray, ich will diese Einsatzzentrale in Casvelyn. Mir ist egal, was du tun musst, um das für mich zu regeln, und mir ist auch egal, welche Gegenleistung du dafür forderst. Ich will Zugang zur HOLMES-Datenbank und ein ausgebildetes Ermittlerteam als Mordkommission. Und einen Beamten für die Aktenführung. Kapiert?«

»Das ist ja auch alles andere als zu viel verlangt, nicht wahr, Beatrice?«

»Ganz im Gegenteil, Raymond«, erwiderte sie gelassen. »Wie du sehr wohl weißt.«


»Wir besorgen Ihnen einen Wagen«, teilte Bea Hannaford Lynley mit. »Den werden Sie brauchen.«

Sie standen vor dem Portal des Royal Cornwall Hospital. Ray hatte sich mit den Worten verabschiedet, er könne ihr nichts versprechen. Nur zu wahr, hatte sie geantwortet. Sie wusste, das war unfair, aber sie hatte es dennoch gesagt, denn sie hatte vor langer Zeit gelernt, dass in einem Mordfall der Zweck einer Verhaftung und Anklage jedes notwendige Mittel heiligte.

»Ich glaube nicht, dass Sie dies von mir verlangen können«, sagte Lynley in einem Tonfall, der so etwas wie Vorsicht auszudrücken schien.

»Weil Sie ranghöher sind als ich? Das spielt hier bei uns in der Provinz keine Rolle, Superintendent.«

»Das war nur eine Interimslösung.«

»Was?«

»Ich war lediglich "Acting Superintendent". Es war keine Beförderung auf Dauer. Ich habe nur in einer Notlage ausgeholfen.«

»Wie reizend von Ihnen. Genau die Sorte Mann, die ich brauche. Sie können auch jetzt bei einer ziemlich dringenden Notlage aushelfen.« Sie spürte seinen Blick auf sich, während sie den Parkplatz überquerten, und sie lachte laut auf. »Nicht so eine Notlage«, versicherte sie ihm. »Obwohl ich schätze, dass Sie ganz ordentlich im Bett sind, wenn eine Frau Ihnen die Pistole auf die Brust setzt. Wie alt sind Sie?«

»Das hat man Ihnen bei Scotland Yard nicht verraten?«

»Stillen Sie doch einfach meine Neugier.«

»Achtunddreißig.«

»Sternzeichen?«

»Wie bitte?«

»Zwilling? Stier? Jungfrau? Was?«

»Ist das irgendwie wichtig?«

»Wie ich sagte: Stillen Sie meine Neugier. Es kostet doch nichts, sich einfach auf den Moment einzulassen, Thomas.«

Er seufzte.

»Fische.«

»Da haben Sie's. Es würde niemals klappen mit uns. Außerdem sind Sie zwanzig Jahre jünger als ich, und auch wenn ich jüngere Männer gernhabe, sollten sie doch nicht gleich so viel jünger sein. Sie sind also absolut sicher in meiner Gesellschaft.«

»Das ist irgendwie kein beruhigender Gedanke.«

Sie lachte wieder und schloss den Wagen auf. Sie stiegen beide ein, aber Bea steckte den Schlüssel nicht gleich ins Zündschloss. Stattdessen sah sie ihn ernst an.

»Sie müssen das für mich tun«, erklärte sie. »Sie will Sie beschützen.«

»Wer?«

»Sie wissen genau, von wem ich rede. Dr. Trahair.«

»Wohl kaum. Ich bin in ihr Haus eingebrochen. Sie will mich im Auge behalten, bis ich den Schaden bezahlt habe. Außerdem schulde ich ihr Geld für diese Kleidungsstücke.«

»Stellen Sie sich nicht dumm. Sie ist vorhin in die Bresche gesprungen, um Sie zu verteidigen, und dafür gibt es einen Grund. Sie hat einen wunden Punkt. Vielleicht hat er mit Ihnen zu tun. Vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht, wo er liegt oder warum es ihn gibt, aber Sie werden ihn finden.«

»Wieso?«

»Weil Sie es können. Weil das hier eine Mordermittlung ist und all die schönen Benimmregeln vollkommen belanglos werden, sobald wir einen Mörder suchen. Und das wissen Sie so gut wie ich.«

Lynley schüttelte den Kopf, aber Bea Hannaford schien es weniger eine Verneinung zu sein als vielmehr die unwillige Anerkennung einer unverrückbaren Tatsache: Sie hatte ihn am Wickel. Wenn er davonlief, würde sie ihn zurückholen, und das war ihm klar.

Schließlich fragte er: »Wurde die Netzschlinge eingeschnitten?«

»Was?«

»Der Anruf, den Sie vorhin bekamen. Als Sie auflegten, sagten Sie, es handele sich um Mord. Also frage ich mich, ob die Schlinge manipuliert wurde oder ob die Kriminaltechnik etwas anderes gefunden hat.«

Bea überlegte, ob sie ihm antworten sollte und was es ihm signalisieren würde, wenn sie es täte. Sie wusste so gut wie nichts über diesen Mann, aber sie verließ sich auf ihre Intuition.

»Sie wurde eingeschnitten«, sagte sie.

»War es offensichtlich?«

»Unter dem Mikroskop war es deutlich sichtbar.«

»Es war also nicht so ohne Weiteres zu erkennen, jedenfalls nicht mit bloßem Auge. Wieso glauben Sie, dass es Mord war?«

»Und nicht was?«

»Ein Selbstmord, der nach Unfall aussehen sollte, um der Familie zusätzlichen Schmerz zu ersparen.«

»Was wissen wir bisher, was Sie zu dieser Annahme führen könnte?«

»Er wurde niedergeschlagen. Der Fausthieb.«

»Und weiter?«

»Es ist nur so eine Idee, aber vielleicht war er nicht in der Lage, sich zu verteidigen. Er wollte, aber er konnte nicht. Wer weiß, warum. Er war unfähig oder zumindest unwillig, was zu einem Gefühl des Versagens führte. Dieses Versagen projiziert er auf sein gesamtes Leben und all seine Beziehungen, ganz gleich wie unlogisch diese Projektion sein mag…«

»Und schwups — er bringt sich um? Das glaube ich nicht und Sie ebenso wenig.« Bea steckte den Schlüssel ins Zündschloss und dachte darüber nach, was diese Bemerkungen ihr verrieten, nicht so sehr über das Opfer, sondern über Thomas Lynley selbst. Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu und fragte sich, ob sie ihn falsch eingeschätzt hatte. »Wissen Sie, was ein Klemmkeil ist?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Sollte ich? Was ist es?«

»Es ist das, was aus dieser Sache eine Mordermittlung macht.«

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