23

Als Sergeant Havers am nächsten Morgen in die Einsatzzentrale kam, lag auf Beas Schreibtisch ein Klemmkeil, daneben die Originalverpackung. Sie hatte die steife Plastikhülle vorsichtig mit einem neuen und daher sehr scharfen Federmesser entfernt, was ihr weder besondere Fertigkeit noch große Mühe abverlangt hatte. Nun war sie dabei, den Klemmkeil mit der Auswahl an Schneidegeräten zu vergleichen, die ebenfalls vor ihr auf dem Schreibtisch lag.

»Was tun Sie da?«, fragte Havers. Sie war offenbar zuvor bei der Bäckerei vorbeigefahren, denn von der gegenüberliegenden Seite des Raums schwebte der Duft von Pasteten heran, und Bea brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass Sergeant Havers eine Tüte voller Backwerk bei sich trug.

»Zweites Frühstück?«, fragte sie.

»Das erste ist ausgefallen«, erklärte Havers. »Nur eine Tasse Kaffee und ein Glas Saft. Da hab ich mir gedacht, ich hab ein Anrecht auf einen kleinen Ausflug in die festeren Nahrungsgruppen.« Aus ihrer riesigen Schultertasche förderte sie die Dickmacher hervor, für die diese Gegend so berühmt war — sie waren gut verpackt, und doch verströmten sie ihr verräterisches Aroma.

»Ein paar davon, und Sie gehen auf wie ein Hefekloß«, warnte Bea. »Seien Sie vorsichtig damit.«

»Klar doch. Aber man muss schließlich die lokale Küche ausprobieren, wenn es einen woandershin verschlägt.«

»Dann können Sie sich ja glücklich schätzen, dass wir hier keine Ziegenköpfe essen.«

Havers johlte, was Bea als Lachen interpretierte. »Außerdem fühlte ich mich verpflichtet, unserer Madlyn Angarrack ein bisschen Mut zuzusprechen«, bemerkte Havers. »Sie wissen schon: "Keine Bange, Mädchen, das wird schon alles wieder, heile, heile, Gänschen und so weiter. Halt die Ohren steif, und am Ende wird alles wieder gut." Ich bin ein niemals versiegender Quell an Klischees.«

»Das war sehr nett von Ihnen. Ich bin sicher, sie wusste es zu schätzen.« Bea ergriff einen der schwereren Bolzenschneider und rückte damit dem Kabel des Klemmkeils zu Leibe vergebens. Allerdings schoss ihr ein scharfer Schmerz den Arm hinauf, sodass sie davon abließ. »Ich komm hier keinen Schritt weiter«, beklagte sie sich.

»Ach, sie war nicht übermäßig freundlich, aber ein kleines Schulterklopfen hat sie sich doch gefallen lassen. Es blieb ihr wohl kaum etwas anderes übrig. Sie war gerade dabei, das Schaufenster zu befüllen.«

»Hm. Und wie hat Miss Angarrack auf Ihre Liebkosung reagiert?«

»Sie ist nicht von gestern, das muss man ihr lassen. Sie wusste genau, dass ich etwas im Schilde führte.«

»Und war das der Fall?« Beas Neugier war geweckt.

Ein schadenfrohes Grinsen huschte über Havers' Gesicht. Dann angelte sie behutsam eine Papierserviette aus ihrer Schultertasche, brachte sie zu Beas Schreibtisch und legte sie dort vorsichtig ab. »Vor Gericht würde es natürlich nicht zugelassen«, sagte sie. »Aber wenigstens können Sie es benutzen, um einen Abgleich machen zu lassen, wenn Sie wollen. Keinen regulären DNA-Abgleich; es hängt keine Haut daran. Aber diesen anderen, diesen mitochondrialen DNA-Test. Ich schätze, dafür reicht es, wenn's nötig sein sollte.«

Als Bea die Serviette auseinanderfaltete, erkannte sie, was Havers meinte. Sie zog eine Augenbraue hoch. »Sie gerissenes Früchtchen. Von ihrer Schulter, nehme ich an?« Auf dem blütenweißen Papier lag ein einzelnes Haar, sehr dunkel und leicht gewellt.

»Man sollte doch meinen, sie müssten Mützen oder Haarnetze tragen, wenn sie mit Lebensmitteln hantieren.« Havers schauderte gekünstelt und biss dann herzhaft in ihre Pastete. »Ich dachte mir, ich müsste dringend etwas tun, um den Hygienestandard in Casvelyn zu heben. Und darüber hinaus dachte ich, Sie hätten es vielleicht gern.«

»Niemand hat mir je ein so meisterhaft erwähltes Geschenk gebracht«, beteuerte Bea. »Ich könnte mich glatt in Sie verlieben, Sergeant.«

»Bitte, Detective.« Havers hob eine Hand. »Sie müssen sich schon hinten anstellen.«

Das Haar wäre als Beweismittel in einem möglichen Gerichtsverfahren gegen Madlyn Angarrack in der Tat wertlos, bedachte man, wie Havers es beschafft hatte. Bea würde nichts weiter damit tun können, als durch einen Vergleichstest feststellen zu lassen, ob das Haar, das in Santo Kernes Kletterausrüstung gefunden worden war, ebenfalls von seiner Exfreundin stammte. Doch immerhin war dies genau die Art Aufmunterung, die sie hier dringend benötigten. Bea steckte das Haar in einen Umschlag und beschriftete ihn sorgfältig, um ihn an Duke Clarence Washoe nach Chepstow zu schicken.

»Ich glaube, dass es hier um Sex und Rache geht«, sagte Bea, nachdem das Haar versandfertig war.

Havers zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr, während sie sich mit sichtlichem Genuss über den Rest ihrer Pastete hermachte. Sie schob sich einen Bissen in die Backentasche und fragte: »Sex und Rache? Was hat sich denn Ihrer Meinung nach abgespielt?«

»Ich habe mehr oder minder die ganze Nacht darüber nachgegrübelt, und immer wieder bin ich bei diesem Betrug gelandet.«

»Santo Kerne und Dr. Trahair?«

»Wofür entweder Madlyn selbst Rache geübt hat, und zwar hiermit.« Sie hielt Klemmkeil und Bolzenschneider hoch. »Oder einer der Männer hat es getan, nachdem sie ihm aus Santos Kofferraum zwei Klemmkeile besorgt hatte. Die Schlinge hat sie vermutlich selbst manipuliert; nichts leichter als das. Aber für einen Klemmkeil braucht man mehr Kraft, als sie sie hätte. Also suchte sie sich einen Helfer. Sie muss gewusst haben, wo Santo seine Ausrüstung verwahrte. Alles, was sie brauchte, war ein williger Komplize.«

»Und zwar am besten jemanden, der ebenfalls eine Rechnung mit Santo Kerne zu begleichen hatte.«

»Oder jemanden, der hoffte, auf diese Weise Madlyns Sympathie zu gewinnen.«

»Klingt nach Will Mendick. Santo hat Madlyn schlecht behandelt, und Will beschließt, ihm um ihretwillen eine Lektion zu erteilen. Vielleicht kann er ja so bei Madlyn punkten.«

»Genau so stelle ich es mir vor.« Bea legte den Klemmkeil beiseite. »Haben Sie Ihren Superintendent Lynley heute Morgen eigentlich schon gesehen?«

»Er ist nicht mein…«

»Ja, ja. Das hatten wir alles schon. Er sagt das Gleiche von Ihnen.«

»Wirklich?« Havers runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob mir das gefällt.«

»Zerbrechen Sie sich später den Kopf darüber. Also, was ist mit ihm?«

»Er ist nach Exeter gefahren. Um fortzusetzen, was immer er gestern getan hat, sagte er. Aber…«

Bea verengte die Augen. »Aber?«

Havers schien zu bedauern, dass sie fortfahren musste. »Dr. Trahair hat ihn aufgesucht. Gestern am späten Nachmittag.«

»Und Sie haben sie nicht hierhergebracht?«

»Ich wusste nichts davon, Inspector. Ich selbst habe sie nicht gesehen. Und da ich sie überhaupt noch nie gesehen habe, würde ich sie nicht einmal erkennen, wenn sie mir auf einem Besen vor die Windschutzscheibe flöge. Er hat es mir erst heute Morgen gesagt.«

»Haben Sie ihn gestern Abend beim Essen getroffen?«

Havers nickte unglücklich und sagte: »Ja, ich fürchte, das habe ich.«

»Und er hat Ihnen gegenüber nichts von ihrem Besuch erwähnt?«

»So sieht's aus, ja. Aber es gibt im Moment so viel, was ihn beschäftigt. Vielleicht hat er einfach nicht daran gedacht, es mir zu sagen.«

»Seien Sie nicht albern, Barbara! Er wusste ganz genau, dass wir sie sprechen wollten. Er hätte es Ihnen sagen müssen. Er hätte mich anrufen sollen. Er hätte praktisch alles tun können, nur nicht das, was er getan hat. Dieser Mann bewegt sich auf sehr dünnem Eis.«

Havers nickte. »Darum erzähle ich es Ihnen ja. Ich meine, nicht weil er sich auf dünnem Eis bewegt, sondern weil ich weiß, dass es wichtig ist. Also, es ist nicht wichtig, weil er es Ihnen nicht gesagt hat, sondern weil… auch nicht dass sie zu ihm gegangen ist. Was ich meine, ist… dass sie überhaupt wieder aufgetaucht ist, und ich dachte…«

»Schon gut, schon gut! Lieber Himmel, Schluss damit! Ich sehe, ich kann nicht von Ihnen erwarten, dass Sie Seine Lordschaft ans Messer liefern, ganz gleich wie die Situation sich darstellt. Also werde ich jemanden finden müssen, der bereit ist, sie ans Messer zu liefern. Nun ist es aber ja nicht so, als hätten wir Personal für so etwas, nicht wahr, Sergeant? Was ist denn jetzt schon wieder, Herrgott noch mal?«

Letzteres galt Paddy Collins, der an die Tür der Einsatzzentrale gekommen war. Er bemannte unten die Telefone auch wenn der Nutzen dieser Tätigkeit höchst fragwürdig war, während das restliche Team mit den Aufgaben beschäftigt war, die Bea zuteilte und die großteils darin bestanden, die bisherigen Ermittlungen nochmals durchzugehen.

»Dr. Trahair ist hier, Chef«, meldete Collins. »Sie sagt, Sie wollten sie sprechen?«

Bea schob ihren Stuhl zurück und erwiderte: »Gott sei Dank. Lassen Sie uns hoffen, dass wir endlich einmal weiterkommen.«


Nach einer geschlagenen Stunde Recherche in Exeter hatte Lynley den Namen der Immobilienverwaltungsfirma eruiert, die jedoch, wie er ebenfalls herausfand, nicht mehr im Besitz von Jonathan Parsons war, dem Vater des vor so langer Zeit in Pengelly Cove ertrunkenen Opfers. Früher einmal Parsons, Larson & Waterfield, hieß sie nun R. Larson Immobilienverwaltung, und sie lag in der Nähe der mittelalterlichen Kathedrale in einem Viertel, das so aussah, als sei es eine gefragte Geschäftsadresse. Der Inhaber war ein graubärtiger, sonnenbankgebräunter Mittsechziger. Er schien eine Vorliebe für Bluejeans, kostspieligen Zahnersatz und blendend weiße Hemden ohne Krawatte zu haben. Das "R" stand für den ungewöhnlichen und äußerst unbritischen Namen Rocco. Seine Mutter, vor langer Zeit verschieden, habe eine Vorliebe für die eher obskuren katholischen Heiligen besessen, erklärte Larson, und zudem sei es eine Frage der Gleichberechtigung gewesen; seine Schwester heiße nämlich Perpetua. Er selbst führe den Namen Rocco nicht, sondern ziehe Rock vor, und so dürfe Lynley ihn gern nennen.

Lynley dankte ihm und erwiderte, wenn es recht sei, ziehe er Mr. Larson vor. Er zeigte ihm seinen Dienstausweis von New Scotland Yard, und Larson schien dankbar, dass Lynley beschlossen hatte, eine gewisse Förmlichkeit zu wahren. »Ich nehme nicht an, dass Sie mir eine Immobilie zur Betreuung anbieten möchten.«

»Völlig richtig«, bestätigte Lynley. »Ich würde gerne mit Ihnen über Jonathan Parsons reden. Sie waren einmal sein Partner, wenn ich recht informiert bin.«

Larson war durchaus gewillt, über den "armen Jon" zu reden, wie er ihn nannte, und führte Lynley in sein Büro. Der Raum war spärlich eingerichtet und maskulin. Leder und Metall und Familienfotos in nüchternen schwarzen Rahmen. Eine wesentlich jüngere blonde Gattin, zwei Kinder in adretten Schuluniformen, ein Pferd, ein Hund, eine Katze und eine Ente, allesamt ein bisschen zu glatt und statisch, sodass Lynley sich fragte, ob sie wirklich echt waren oder ob Larson die Fotos, die man in solchen Bilderrahmen vorfand, wenn man sie kaufte, einfach darin hatte stecken lassen.

Larson brauchte wenig Ermunterung. Noch bevor Lynley seine erste Frage gestellt hatte, hob sein Gegenüber bereits zu seiner Geschichte an. Larson war eine Firmenpartnerschaft mit Jonathan Parsons und einem Mann namens Henry Waterfield eingegangen, der inzwischen verstorben war. Beide seien rund zehn Jahre älter gewesen als er, und deswegen habe Larson zunächst die Rolle des Juniorpartners innegehabt. Aber er sei nun mal ein Gewinnertyp, auch wenn es unbescheiden klingen mochte, wenn er selbst dies von sich behaupte. In kürzester Zeit sei er zum vollwertigen Partner aufgestiegen. Von da an seien sie zu dritt gewesen, bis zu Waterfields Tod. Übrig geblieben seien Parsons und Larson, aber das habe wie ein Zungenbrecher geklungen, und so hätten sie den ursprünglichen Firmennamen weitergeführt.

Alles sei glatt verlaufen bis der Parsons-Junge starb, erzählte Larson. Von da an sei es bergab gegangen. »Der arme Jon konnte seinen Teil der Arbeit nicht mehr leisten, aber wer wollte ihm daraus schon einen Vorwurf machen? Er verbrachte immer mehr Zeit unten in Pengelly Cove. Dort ist der Unfall… der Todesfall…«

»Ja, ich weiß«, sagte Lynley. »Er hat anscheinend geglaubt, er wüsste, wer seinen Sohn in die Strandhöhle gelockt hat.«

»Genau. Aber er konnte die Polizei nicht dazu bewegen, den Täter einzukassieren. Keine Beweise, haben sie ihm gesagt. Keine Beweise, keine Zeugen, und niemand, der gewillt war zu reden, ganz gleich wie viel Druck sie ausübten… Sie konnten einfach nichts tun. Also heuerte Jon seine eigenen Ermittler an, und als die auch nichts zustande brachten, verpflichtete er andere. Und danach wieder andere und wieder andere. Schließlich ist er ganz dorthin gezogen…« Larson betrachtete ein Foto an der Wand eine Luftaufnahme von Exeter, als könnte ihn das in die Vergangenheit zurückversetzen. »Ich glaube, es war zwei Jahre nach Jamies Tod. Vielleicht drei? Er sagte, er wolle dorthin, um die Menschen daran zu erinnern, dass der Mord — er nannte es immer Mord, ganz gleich was irgendwer sagte — ungesühnt geblieben sei. Er warf der Polizei vor, sie hätte die Sache von vorne bis hinten vermasselt. Er war… besessen, wenn ich ehrlich sein soll. Aber das kann man ihm wohl kaum verübeln. Das habe ich damals nicht getan und tu es auch heute nicht. Aber er brachte der Firma kein Geld mehr ein. Ich hätte ihn eine Zeit lang unterstützen können, aber dann fing er an, Geld zu… Er nannte es "borgen". Er hatte ein Haus hier in Exeter und eine Familie zu unterhalten — er hat noch drei Kinder, allesamt Töchter — und ein Haus in Pengelly Cove, und er verpflichtete eine Ermittlerfirma nach der anderen, die alle für ihre Mühen bezahlt werden wollten. Das ist ihm irgendwann alles über den Kopf gewachsen. Er brauchte Geld und hat es sich genommen.« Larson saß hinter seinem Schreibtisch und faltete die Hände. »Ich habe mich furchtbar gefühlt, aber ich hatte genau zwei Alternativen: Ich konnte dabei zusehen, wie Jon uns in den Ruin führte, oder aber ihn damit konfrontieren, was er tat. Ich habe meine Wahl getroffen. Es war nicht angenehm, glauben Sie mir, aber ich sah keine andere Möglichkeit.«

»Er hat Geld unterschlagen.«

Larson hob beschwichtigend eine Hand. »So weit konnte ich nicht gehen. Konnte und wollte nicht, nicht nach dem, was dem armen Kerl passiert war. Aber ich habe ihm mitgeteilt, er müsse mir seine Anteile überlassen, denn nur so konnte ich die Firma retten. Er hätte nie damit aufgehört.«

»Womit aufgehört?«

»Zu versuchen, den Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen.«

»Die Polizei glaubt, es sei ein dummer Streich gewesen, der schiefgegangen ist, kein vorsätzlicher Mord.«

»Gut möglich, aber Jon konnte es so nicht betrachten. Er hat diesen Jungen vergöttert. Er hat all seine Kinder geliebt, aber nach Jamie war er schier verrückt. Er war ein Vater, wie wir alle es gern wären und alle gern einen gehabt hätten, wenn Sie wissen, was ich meine. Sie sind zusammen zum Hochseefischen gefahren, in den Skiurlaub, zum Surfen, mit dem Rucksack durch Asien. Wenn Jon den Namen des Jungen aussprach, leuchteten seine Augen vor Stolz.«

»Ich habe gehört, der Junge war…« Lynley suchte nach dem richtigen Wort. »Ich habe gehört, er war schwierig im Umgang mit den anderen Jugendlichen in Pengelly Cove.«

Larson runzelte die Stirn. Seine Brauen waren dünn, beinah fraulich. Lynley fragte sich, ob er sie in Form zupfte. »Dazu kann ich nichts sagen. Er war eigentlich ein guter Junge. Na ja, vielleicht ein bisschen zu sehr von sich eingenommen, wenn man bedenkt, dass seine Familie vermutlich viel mehr Geld hatte als die der Dorfkinder und dass sein Vater ihn immer so offen vorgezogen hat. Aber welcher Junge in dem Alter wäre nicht von sich eingenommen?«

Larson erzählte weiter, und der Fortgang der Geschichte war traurig, aber, wie Lynley wusste, nicht ungewöhnlich für Familien, die das Trauma erlitten hatten, ein Kind zu verlieren. Nicht lange nachdem Parsons die Firma verloren hatte, ließ seine Frau sich von ihm scheiden. Sie ging zurück an die Universität, holte ihren Abschluss nach und wurde schließlich Direktorin einer Gesamtschule. Larson meinte sich zu erinnern, dass sie irgendwann auch wieder geheiratet habe, aber er war sich dessen nicht hundertprozentig sicher. Aber an der Gesamtschule könne man Lynley bestimmt Näheres sagen. »Und was ist aus Jonathan Parsons geworden?«, fragte Lynley. Soweit Larson wusste, war er immer noch in Pengelly Cove. »Und die Töchter?«, fragte Lynley. Larson hatte keine Ahnung.


Daidre hatte den Morgen damit zugebracht, über Loyalitäten nachzudenken. Sie wusste, manche Leute glaubten fest an das Prinzip, dass jeder sich selbst der Nächste war. Doch ihr Problem war seit jeher ihre Unfähigkeit gewesen, an diesem Prinzip festzuhalten.

Sie hatte sich gefragt, was sie anderen schuldete und was sie sich selbst schuldete. Sie hatte über Pflichtgefühl nachgedacht und über Rache. Sie hatte überlegt, inwieweit "jemandem etwas heimzahlen" nur ein fragwürdiger Euphemismus für "nichts dazulernen" war. Sie hatte versucht zu entscheiden, ob man wirklich etwas aus seinen Erfahrungen lernen konnte oder ob das Leben nur ein sinnloses Verstreichen der Jahre war, ohne jede Bedeutung.

Letztlich hatte sie sich der Erkenntnis stellen müssen, dass sie auf die großen philosophischen Fragen des Lebens keine Antworten wusste, und beschlossen, das Nächstliegende zu tun: nach Casvelyn zu fahren und Detective Inspector Hannafords Bitte um ein Gespräch zu folgen.

Hannaford holte sie persönlich am Empfang ab. In ihrem Gefolge befand sich die schlecht gekleidete Fahrerin des Mini, die am Abend zuvor auf dem Parkplatz des Salthouse Inn mit Thomas Lynley gesprochen hatte. Hannaford stellte sie als Detective Sergeant Barbara Hackvers vor. »New Scotland Yard«, fügte sie hinzu, und Daidre verspürte einen eisigen Schauer. Ihr blieb indessen keine Zeit, darüber zu spekulieren, was das bedeuten mochte, denn nach einem andeutungsweise feindseligen »Kommen Sie mit!« von Hannaford wurde sie ins Innere der Polizeiwache geführt. Es war ein kurzer Weg von vielleicht fünfzehn Schritten, der sie in das vermutlich einzige Verhörzimmer der Wache brachte.

Offensichtlich wurden in Casvelyn nicht viele Verhöre durchgeführt. An der Wand stapelten sich Kartons mit Toilettenpapier und Küchenrollen. Auf einem wackligen Klapptisch stand ein Kassettenrekorder mit einer derart dicken Staubschicht, dass man Gemüse darauf hätte säen können. Es gab keine Stühle, nur eine niedrige Trittleiter, aber es blieb ihnen erspart, die Toilettenpapierkartons als Sitzmöbel hernehmen zu müssen. Mit einem wütenden Ausruf in Richtung Treppe befahl Hannaford Sergeant Collins herbei, der ihnen im Nu ein paar unbequeme Plastikstühle herbeischaffte, Batterien für den Rekorder und eine Kassette "Lulu's Greatest Hits" von 1970. Nach all den Jahren musste Lulu jetzt auch noch für polizeiliche Zwecke herhalten.

Daidre hätte gerne gefragt, was es für einen Sinn haben sollte, ihr Gespräch aufzunehmen, aber sie wusste, die Frage hätte man ihr als Arglist ausgelegt. Also setzte sie sich und wartete ab, was als Nächstes passieren würde. Sergeant Havers zog ein eselsohriges Notizbuch aus der Jackentasche. Aus einem Daidre nicht ersichtlichen Grund hatte sie ihre Steppjacke trotz der beinah tropischen Temperatur im Gebäude nicht abgelegt.

Detective Inspector Hannaford erkundigte sich, ob Daidre irgendetwas wünsche, bevor sie anfingen: Kaffee, Tee, Saft, Wasser? Doch Daidre lehnte ab. Alles in Ordnung, sagte sie, und dann rätselte sie, warum sie es genau so formuliert hatte. Denn nichts war in Ordnung. Sie war unruhig, ihre Hände waren fahrig, aber sie war entschlossen, sich das nicht anmerken zu lassen, und es schien nur einen Weg zu geben, dies zu bewerkstelligen: nämlich sogleich in die Offensive zu gehen.

»Sie haben mir eine Nachricht hinterlassen«, eröffnete sie selbst die Befragung und kramte Hannafords Karte mit der handschriftlichen Notiz auf der Rückseite hervor. »Worüber wollen Sie mit mir reden?«

»Ich hätte gedacht, das wäre offensichtlich. Immerhin stecken wir mitten in einer Mordermittlung«, konterte Hannaford.

»Nun, für mich ist es keineswegs offensichtlich.«

»Dann werden wir die Dinge rasch klarstellen.« Hannaford war geschickt beim Einlegen der Kassette, aber ihre Miene verriet, dass sie an der Funktionsfähigkeit des Geräts ihre Zweifel hatte. Sie drückte einen Knopf, betrachtete einen Moment die sich drehenden Spulen und nannte Datum, Uhrzeit und Namen der anwesenden Personen. Dann forderte sie Daidre auf: »Erzählen Sie uns von Santo Kerne, Dr. Trahair.«

»Was soll ich Ihnen denn erzählen?«

»Was immer Sie wissen.«

Das war alles Routine, die ersten Züge im Katz-und-Maus-Spiel eines Verhörs. Daidre antwortete so einfach wie möglich: »Ich weiß, dass er bei einem Sturz von der nördlichen Klippe in Polcare Cove ums Leben gekommen ist.«

Das schien Hannaford nicht zufriedenzustellen. »Wie freundlich von Ihnen, uns daran zu erinnern. Sie wussten, wer er war, als Sie ihn gesehen haben, nicht wahr?« Es war eine Aussage, keine Frage. »Also basierte bereits unsere allererste Interaktion auf einer Lüge. Richtig?«

Havers schrieb mit einem Bleistift, sah Daidre. Die Spitze rieb leise quietschend über das Papier, und war der Laut auch normalerweise harmlos, hatte er in dieser Situation eine Wirkung auf sie wie Fingernägel, die über eine Schultafel kratzten.

»Ich hatte ihn nicht richtig ansehen können«, antwortete Daidre zögerlich. »Dafür blieb gar keine Zeit.«

»Aber Sie haben ihn auf Lebenszeichen untersucht, oder nicht? Sie waren als Erste vor Ort. Wie konnten Sie feststellen, ob er noch lebte, ohne ihn anzusehen?«

»Man muss nicht in das Gesicht eines Opfers blicken, um es auf Lebenszeichen zu untersuchen, Inspector.«

»Was für eine drollige Antwort! Wie realistisch ist die Vorstellung, nach Lebenszeichen zu suchen, ohne jemanden anzusehen? Als Erste am Unglücksort, und selbst im schwindenden Tageslicht…«

»Ich war als Zweite am Unglücksort«, unterbrach Daidre. »Thomas Lynley war der Erste.«

»Aber Sie wollten die Leiche sehen. Sie haben darauf bestanden. Sie wollten sich nicht auf Superintendent Lynleys Wort verlassen, dass der Junge tot war.«

»Ich wusste ja nicht, dass er Superintendent Lynley war«, gab Daidre zurück. »Ich kam zu meinem Cottage und fand ihn dort vor. Er hätte auch irgendein Einbrecher sein können. Er war ein Fremder, sah völlig verwahrlost aus wie Sie selbst gesehen haben, ein ziemlich wilder Geselle, der behauptete, in der Bucht liege eine Leiche und er müsse sofort irgendwohin gebracht werden, um zu telefonieren. Es schien mir wenig sinnvoll, ihn zum nächsten Telefon zu kutschieren, ohne mich vorher zu vergewissern, dass er die Wahrheit sagte.«

»Oder nachzusehen, wer der Tote war. Haben Sie vermutet, es könnte Santo sein?«

»Ich hatte keine Ahnung! Woher denn auch? Ich wollte nur feststellen, ob ich irgendwie würde helfen können.«

»Auf welche Weise?«

»Wenn er verletzt gewesen wäre…«

»Sie sind Veterinärin, Dr. Trahair. Keine Unfallärztin. Wie hätten Sie ihm helfen wollen?«

»Verletzungen sind Verletzungen. Knochen sind Knochen. Wenn ich hätte helfen können…«

»Als Sie ihn gesehen haben, wussten Sie, um wen es sich handelte. Der Junge war Ihnen doch bestens bekannt…«

»Ich wusste, wer Santo Kerne war, wenn Sie das meinen. Das hier ist keine dicht besiedelte Gegend. Früher oder später kennt man jeden, wenn auch nur vom Sehen.«

»Aber ich schätze, Sie kannten ihn ein bisschen besser als nur vom Sehen.«

»Dann ist Ihre Einschätzung falsch.«

»Das deckt sich nicht mit dem, was mir berichtet wurde, Dr. Trahair. Und auch nicht damit, was bezeugt wurde.«

Daidre schluckte. Mit einem Mal fiel ihr auf, dass Sergeant Havers aufgehört hatte zu schreiben. Aber wann? Sie war unaufmerksamer gewesen, als sie es hätte sein dürfen, und sie wollte wieder den Kurs einschlagen, mit dem sie begonnen hatte. Trotz ihres heftig klopfenden Herzens sagte sie zu Havers: »New Scotland Yard. Sind Sie die einzige Beamtin aus London, die hier an diesem Fall arbeitet? Außer Superintendent Lynley natürlich.«

Hannaford ging dazwischen: »Dr. Trahair, das hat nichts mit meiner Frage…«

»New Scotland Yard. Die Londoner Polizeibehörde. Aber Sie müssen zur… Wie nennt man das? Kriminalpolizei? Mordkommission? Oder heißt das heutzutage anders?«

Havers warf Hannaford einen hilfesuchenden Blick zu.

»Dann nehme ich an, dass Sie Thomas Lynley kennen. Da er von New Scotland Yard ist und Sie ebenfalls und sie beide in derselben — soll ich sagen, auf demselben Gebiet? — arbeiten, müssen Sie einander doch kennen, oder?«

»Ob Superintendent Lynley und Detective Sergeant Havers einander kennen, braucht Sie nicht zu kümmern«, erklärte Hannaford. »Wir haben einen Zeugen, der Santo Kerne vor Ihrer Haustür gesehen hat, Dr. Trahair. Wir haben einen Zeugen, der ihn sogar in Ihrem Cottage gesehen hat. Wenn Sie eine Erklärung haben, wie jemand, den Sie angeblich nur vom Sehen kannten, an Ihre Tür klopfen und Einlass finden konnte, dann würden wir sie sehr gerne hören.«

»Ich nehme an, Sie waren diejenige, die in Falmouth Fragen über mich gestellt hat«, sagte Daidre zu Havers.

Havers sah sie ausdruckslos an — ein gutes Pokerface. Überraschenderweise lüftete Hannaford das Geheimnis. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit unvermittelt, wenn auch nur kurz, auf Havers, und ihr Blick war fragend. Daidre zog den naheliegenden Schluss.

»Und ich nehme weiter an, es war Thomas Lynley, nicht Detective Inspector Hannaford, der Ihnen den Auftrag dazu erteilt hat.« Sie stellte es nüchtern fest. Sie wusste, dass sie recht hatte; doch darüber, was diese Erkenntnis für sie bedeuten mochte, wollte sie im Augenblick lieber nicht nachdenken.

Was sie hingegen wollte, war, die Polizei abzuschütteln, sie aus ihrem Leben zu vertreiben. Unglücklicherweise gab es nur einen Weg, das zu erreichen, und dieser Weg führte über die Preisgabe von Informationen. Über einen Namen, der den Ermittlern eine andere Richtung weisen würde. Und Daidre war bereit, diesen Namen zu nennen.

»Sie sollten mit Aldara Pappas sprechen. Sie finden Sie auf einer Farm namens Cornish Gold. Eine Ciderfarm.«


Jonathan Parsons' Exfrau ausfindig zu machen, kostete Lynley weitere neunzig Minuten. Nachdem er Rock Larsons Büro verlassen hatte, suchte er die Gesamtschule auf, wo er erfuhr, dass Niamh Parsons schon seit Langem Niamh Triglia hieß und noch nicht ganz so lange im Ruhestand war. Über Jahre hatte sie in unmittelbarer Nähe der Schule gewohnt, aber ob sie dort noch immer lebte, nachdem sie aus dem Schuldienst ausgeschieden war, konnte man ihm nicht sagen.

Er stattete dem Stadtarchiv einen Besuch ab und fand dort schnell heraus, dass die Triglias nicht mehr in Exeter wohnten, aber auch diese Hürde nahm er im Handumdrehen, indem er ein paar Nachbarn befragte und ihnen seinen Dienstausweis zeigte. Mühelos erfuhr er, dass die Triglias wie schon so viele andere vor ihnen in sonnigere Gefilde aufgebrochen waren nicht jedoch etwa an die spanische Küste. Glücklicherweise waren sie in Cornwall geblieben, wo zwar kein mediterranes Klima herrschte, doch boten bestimmte Landstriche immerhin bessere Wetterbedingungen als der Rest des englischen Festlands. Wenn man nur von ausreichend froher Natur war, konnte man das Klima durchaus als mild bezeichnen. Und froher Natur waren die Triglias offenbar. Inzwischen wohnten sie in Boscastle.

Er würde also erneut eine längere Strecke fahren müssen, aber es war ein trockener Tag, und der Frühling war noch nicht weit genug fortgeschritten, als dass bereits jetzt scharenweise Touristen die Straßen verstopften und die Küste in einen einzigen lang gezogenen Parkplatz vor spektakulärer Kulisse verwandelten.

Lynley schaffte die Strecke nach Boscastle in relativ guter Zeit. Er stellte seinen Wagen ab und stieg zu Fuß einen steilen Pfad zu einer Reihe Cottages hinauf, die sich oberhalb des uralten Fischerhafens einen Meeresarm, umschlossen von hohen Schiefer- und Lavaklippen über einen Hügel verteilten. Sein Weg führte ihn zunächst über die bescheidene Hauptstraße ein paar Geschäfte in unverputzten Häusern, die in erster Linie Souvenirs anboten, und einige wenige, die den alltäglichen Bedarf der Dorfbewohner deckten. Dahinter lag die Old Street. Dort wohnten die Triglias, nicht weit von einem Obelisken entfernt, einem Mahnmal für die Toten der beiden Weltkriege. Ihr Haus, das Lark Cottage, war weiß gekalkt und hätte ebenso gut auf Santorin stehen können. Dicke Heidekrautbüschel wuchsen im Vorgarten, und üppige Primeln schmückten die Pflanzkästen an den Fenstern, hinter denen frische weiße Gardinen hingen. Die Haustür war leuchtend grün lackiert. Lynley überquerte eine Schieferbrücke, die einen tiefen Abzugsgraben vor dem Häuschen überspannte, und als er anklopfte, dauerte es nur einen Moment, bis eine Frau öffnete. Sie trug eine Schürze, und ihre Brille war fettbesprenkelt. Das graue Haar war streng nach oben gesteckt.

»Ich backe gerade Krabbenküchlein«, sagte sie, offenbar als Erklärung für ihren Aufzug und ihren gehetzten Ausdruck. »Tut mir leid, aber ich kann sie keine Sekunde aus den Augen lassen.«

»Mrs. Triglia?«, fragte er.

»Ja. Ja. Oh, bitte beeilen Sie sich. Es tut mir leid, wenn ich unhöflich bin, aber sie saugen sich voll Fett, wenn man sie zu lange darin schwimmen lässt.«

»Thomas Lynley. New Scotland Yard.« Er verharrte einen winzigen Moment, als ihm schlagartig aufging, dass dies das erste Mal seit Helens Tod war, dass er sich derart vorgestellt hatte. Er blinzelte ob dieser Erkenntnis und des schmerzhaften Stichs, den sie mit sich brachte. Dann zeigte er der Frau seinen Dienstausweis. »Niamh Triglia? Ehemals Parsons?«

Sie antwortete: »Ja, das bin ich.«

»Ich muss mit Ihnen über Ihren Mann sprechen. Jonathan Parsons. Darf ich hereinkommen?«

»O ja, sicher.« Sie trat von der Tür zurück, um ihn einzulassen. Dann führte sie ihn durch ein Wohnzimmer, das von Bücherregalen voll zerlesener Taschenbücher dominiert wurde aufgelockert nur durch einige wenige Familienfotos, ein paar Muscheln, interessante Steine oder Treibholzstücke, in die Küche. Das Küchenfenster öffnete sich zu einem kleinen Garten: ein Stück Rasen, umgeben von ordentlichen Blumenbeeten, mit einem Laubbaum in der Mitte.

Krabbenküchlein herzustellen, brachte offenkundig ein beachtliches Chaos mit sich. Heißes Öl hatte sich in Spritzern auf dem Herd verteilt, Schüsseln und Dosen standen dicht an dicht auf der Spüle, Holzlöffel, ein Eierkarton und eine Kaffeepresse, die keinen Kaffee mehr, dafür aber uralten Kaffeesatz enthielt. Niamh Triglia trat an den Herd und wendete die Küchlein, was eine erneute Ölfontäne auslöste. »Das Schwierigste an der Sache ist, den Teig zu bräunen, ohne so viel Öl zu verbrauchen, dass man hinterher das Gefühl hat, schlecht gemachte Pommes frites zu essen. Kochen Sie, Mr.… Nein, es war Superintendent, oder?«

»Ja«, antwortete er. »Was den Superintendent betrifft. Aber Kochen gehört nicht gerade zu meinen Stärken.«

»Es ist meine Leidenschaft«, gestand sie. »Ich hatte viel zu wenig Zeit dafür, als ich noch im Schuldienst war, aber seit ich in Rente bin, kann ich nicht genug davon bekommen. Kochkurse im Gemeindehaus, Kochsendungen im Fernsehen, solche Sachen. Das Problem ist das Essen.«

»Sie sind unzufrieden mit den Früchten Ihrer Bemühungen?«

»Im Gegenteil, ich bin bei Weitem zu zufrieden.« Sie tätschelte mit beiden Händen ihren Leib, der von der Schürze allerdings weitgehend verhüllt war. »Ich versuche, die Rezepte auf eine Portion herunterzurechnen, aber Mathematik war nie meine Stärke, und meistens koche ich genug für vier.«

»Das heißt, Sie leben allein?«

»Hm. Ja.« Mit dem Pfannenheber lüpfte sie behutsam eine Ecke des Krabbenkuchens, um den Bräunungsgrad zu begutachten. »Perfekt«, murmelte sie, nahm einen Teller von einem nahen Schrank und legte mehrere Lagen Küchenpapier darauf. Vom Kühlschrank nahm sie eine kleine Rührschüssel. »Aioli«, erklärte sie und wies mit dem Kinn auf das Gemisch. »Roter Pfeffer, Knoblauch, Zitrone und so weiter. Bei einer guten Aioli ist das ausgewogene Verhältnis der verschiedenen Geschmacksrichtungen entscheidend. Das und natürlich das Olivenöl. Sehr gutes Extra ist unerlässlich.«

»Entschuldigung. Extra?«, fragte Lynley verständnislos.

»Extra natives Olivenöl. Das jungfräulichste, das es gibt. Wenn man Jungfräulichkeit bei Oliven überhaupt abstufen kann. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe nie so ganz verstanden, was es heißt, wenn ein Olivenöl jungfräulich ist. Sind Oliven Jungfrauen? Werden sie von Jungfrauen geerntet? Oder gepresst?« Sie trug die Aioli zum Küchentisch, wandte sich wieder zum Herd um und verfrachtete ihre Krabbenkuchen behutsam auf den Teller mit dem Küchenpapier. Dann rollte sie weitere Blätter ab, legte sie obenauf und betupfte die Küchlein vorsichtig, um möglichst viel des überschüssigen Öls aufzusaugen. Schließlich holte sie drei weitere Teller aus dem Ofen, und Lynley verstand, was sie gemeint hatte, als sie sagte, sie sei unfähig, ihre Rezepte auf eine Person herunterzurechnen. Jeder der Teller enthielt sowohl Küchenpapier als auch Krabbenküchlein. Sie schien mehr als ein Dutzend gebacken zu haben.

»Man muss dafür nicht unbedingt frische Krabben verwenden«, belehrte sie ihn. »Man kann auch die aus der Dose nehmen. Ehrlich gesagt, ich finde, wenn die Krabben gekocht werden, kann man den Unterschied ohnehin nicht mehr schmecken. Isst man sie jedoch zu einem kalten Gericht, zu einem Salat oder Dip, ist man mit frischen besser bedient. Aber Sie müssen sich vergewissern, dass es wirklich frische Frische sind. Noch am selben Tag gefangen, meine ich.« Sie stellte die Teller auf den Tisch und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Er werde sich doch sicher verführen lassen, hoffe sie. Sonst stehe zu befürchten, dass sie sie alle selbst essen werde, da ihre Nachbarn ihre kulinarischen Bemühungen nicht in dem Maße zu würdigen wüssten, wie sie es sich wünschte. »Ich habe keine Familie mehr, die ich bekochen könnte«, fügte sie hinzu. »Die Mädchen haben sich in alle Winde zerstreut, und mein Mann ist letztes Jahr gestorben.«

»Tut mir leid, das zu hören.«

»Danke. Es kam ganz plötzlich, darum war es ein furchtbarer Schock. Bis zu dem Tag vor seinem Tod ging es ihm großartig. Und er war immer so sportlich! Dann klagte er über Kopfschmerzen, die sich nicht vertreiben ließen, und am nächsten Morgen starb er, als er gerade dabei war, sich die Socken anzuziehen. Ich hörte ein Geräusch und bin nachsehen gegangen, und da lag er auf dem Fußboden. Aneurysma.« Sie senkte den Blick, die Augenbrauen zusammengezogen. »Schwierig, sich nicht verabschieden zu können.«

Lynley fühlte, wie die Stille des Erinnerns sich um ihn herabsenkte. Kerngesund am Morgen, tot, aus und vorbei am Nachmittag. Er räusperte sich rau. »Ja. Das kann ich mir vorstellen.«

»Na ja. Irgendwann kommt man darüber hinweg«, sagte sie mit einem brüchigen Lächeln. »Jedenfalls hofft man das.« Sie ging zum Schrank und nahm zwei Teller heraus und aus einer Schublade Besteck. Dann deckte sie den Tisch. »Bitte, setzen Sie sich, Superintendent.«

Sie fand eine Leinenserviette für ihn und benutzte ihre eigene, um ihre Brille zu säubern. Ohne die Brille hatte sie den vagen Blick der lebenslang Kurzsichtigen. »Na bitte«, sagte sie, als sie fertig war. »Jetzt kann ich Sie richtig sehen. Meine Güte, was für ein gut aussehender Mann Sie sind! Wenn ich in Ihrem Alter wäre, würde es mir die Sprache verschlagen. Wie alt sind Sie?«

»Achtunddreißig.«

»Was ist ein Altersunterschied von dreißig Jahren schon unter Freunden?«, fragte sie lächelnd. »Sind Sie verheiratet?«

»Meine Frau… Ja. Ja, das bin ich.«

»Und ist Ihre Frau eine Schönheit?«

»Allerdings.«

»Blond wie Sie?«

»Nein. Dunkelhaarig.«

»Dann müssen Sie ein hübsches Paar abgeben. Francis — das war mein Mann — und ich sahen einander so ähnlich, dass wir früher oft für Bruder und Schwester gehalten wurden, als wir noch jünger waren.«

»Also waren Sie lange verheiratet?«

»Fast genau zweiundzwanzig Jahre. Aber ich kannte ihn schon, lange bevor meine erste Ehe geschieden wurde. Wir waren zusammen zur Grundschule gegangen. Ist es nicht seltsam, wie etwas so Simples — zusammen zur Schule gegangen zu sein — die Dinge einfacher macht, wenn man sich später im Leben wiederbegegnet, selbst wenn man sich jahrelang nicht gesehen hat? Es gab keine Verlegenheit zwischen uns, als wir nach meiner Scheidung von Jon anfingen, miteinander auszugehen.« Sie nahm sich einen Löffel Aioli und reichte die Schüssel dann an ihn weiter. Dann kostete sie den Krabbenkuchen. »Passabel. Was meinen Sie?«

»Ich finde sie ausgezeichnet.«

»Schmeichler! Gut aussehend und gut erzogen, merke ich. Ist Ihre Frau eine gute Köchin?«

»Absolut grässlich!«

»Dann muss sie andere Stärken haben.«

Er dachte an Helen: ihr Lachen, diese unbändige Fröhlichkeit und ihre große Fähigkeit zum Mitgefühl. »Sie hat Hunderte Stärken.«

»Was mangelnde Fähigkeiten in der Küche…«

»… vollkommen irrelevant macht. Es gibt ja glücklicherweise Fastfood.«

»Genau.« Sie lächelte und fügte dann hinzu: »Ich versuche, vom Thema abzulenken, wie Sie vermutlich bemerkt haben. Ist Jon etwas zugestoßen?«

»Wissen Sie, wo er ist?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe seit Jahren nicht mit ihm gesprochen. Unser ältestes Kind…«

»Jamie.«

»Ah. Sie wissen also Bescheid über Jamie?« Und als Lynley nickte, fuhr sie versonnen fort: »Ich denke, wir alle tragen aus diesem oder jenem Grund irgendwelche Narben aus der Kindheit mit uns herum. Auch Jon hatte welche. Sein Vater war ein harter Mann gewesen, mit fest geformten Vorstellungen, was seine Söhne mit ihrem Leben anfangen sollten. Er hatte beschlossen, sie sollten alle beide Naturwissenschaftler werden. Ich für meinen Teil finde, es ist ziemlich unklug, Kindern ihren Lebensweg vorzuschreiben, aber so war er nun einmal. Leider hatte keiner der Jungen das geringste Interesse an Naturwissenschaften, also haben sie ihn beide enttäuscht, und das hat er sie nie vergessen lassen. Jon war fest entschlossen, unseren Kindern kein solcher Vater zu sein — vor allem Jamie, und ich muss sagen, das ist ihm gelungen. Wir waren beide gute Eltern. Ich bin zu Hause bei den Kindern geblieben, weil er darauf bestanden hat, und ich war durchaus seiner Meinung. Ich glaube, das hat eine wichtige Rolle gespielt. Wir standen unseren Kindern nahe. Und die Kinder standen einander nahe, selbst wenn die Altersunterschiede groß waren. Jedenfalls waren wir ein vertrauter, glücklicher kleiner Verein.«

»Und dann starb Ihr Sohn.«

»Und dann starb Jamie.« Sie legte das Besteck beiseite und faltete die Hände im Schoß. »Jamie war ein wunderbarer Junge. Oh, er hatte seine Macken. Welcher Junge in dem Alter hat die nicht? Aber im Grunde war er ein lieber Kerl. Liebenswert und liebevoll. Und einfach wunderbar zu seinen kleinen Schwestern. Sein Tod hat uns alle in den Grundfesten erschüttert, aber Jon konnte ihn einfach nicht verwinden. Ich dachte, irgendwann würde er es schaffen. Gib ihm Zeit, habe ich mir gesagt. Aber wenn das Leben eines Menschen nur noch vom Tod eines anderen bestimmt wird und es nichts anderes mehr für ihn gibt… Ich musste an die Mädchen denken, verstehen Sie? Und an mich selbst. Ich konnte so nicht länger leben.«

»Wie konnten Sie nicht leben?«

»Es war das Einzige, worüber er sprach, und, soweit ich sagen konnte, das Einzige, woran er dachte. Als hätte Jamies Tod sein Gehirn infiziert und alles aufgefressen, was nicht damit in Verbindung stand.«

»Er war mit der polizeilichen Ermittlung unzufrieden und hat deshalb eine eigene in Auftrag gegeben.«

»Er muss ein halbes Dutzend in Auftrag gegeben haben! Aber es führte zu nichts. Und jedes Mal, wenn eine Untersuchung ergebnislos endete, wurde er ein bisschen verrückter. Natürlich hatte er da auch schon sein Geschäft verloren, unsere Ersparnisse waren dahin, unser Haus ebenfalls, und das hat für ihn natürlich alles nur noch schlimmer gemacht, weil er wusste, dass er die Verantwortung dafür trug. Trotzdem konnte er nicht damit aufhören. Ich habe versucht, ihm klarzumachen, dass es an seiner Trauer und seinem Verlust nichts ändern würde, wenn jemand zur Rechenschaft gezogen würde, aber er glaubte mir nicht. Er war sicher, es würde etwas ändern. So wie die Leute glauben, wenn der Mörder eines geliebten Menschen hingerichtet wird, würde das ihre Trostlosigkeit irgendwie lindern. Aber wie kann es das je? Der Tod eines Mörders macht niemand anderen wieder lebendig, dabei ist es doch das, was wir wollen, aber nie bekommen können.«

»Was wurde nach Ihrer Scheidung aus Jonathan?«

»Während der ersten drei Jahre etwa hat er mich manchmal angerufen. Um mich auf dem Laufenden zu halten, wie er sagte. Natürlich gab es nie nennenswerte Neuigkeiten, aber er musste daran glauben, dass er Fortschritte machte, statt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.«

»Und was war die Wahrheit?«

»Er selbst sorgte dafür, dass es immer unwahrscheinlicher wurde, irgendwen, der mit Jamies Tod in Verbindung stand, dazu zu bewegen… umzukippen, würde man wohl sagen. Er sah das Ganze als eine ungeheure Verschwörung, an der ganz Pengelly Cove beteiligt war, er selbst der Außenseiter, sie die konspirative Gemeinschaft, fest entschlossen, die ihren zu schützen.«

»Und Sie sahen es nicht so?«

»Ich wusste nicht, wie ich es sehen sollte. Ich wollte Jon gern unterstützen, und das habe ich zunächst auch versucht, aber für mich ging es eigentlich darum, dass Jamie tot war. Wir hatten ihn verloren — wir alle hatten ihn verloren, und nichts, was Jon tat, hätte je irgendetwas daran geändert. Mein… Ich nehme an, man könnte sagen, mein Fokus lag auf dieser Tatsache, und mir schien fälschlicher- oder richtigerweise, dass das, was Jon tat, verhinderte, dass wir über Jamies Tod hinwegkamen. Wie eine Wunde, an die man immer wieder rührt, sodass sie weiter blutet, statt zu heilen. Und ich war der Ansicht, dass es vor allem dieses Heilen war, das wir alle brauchten.«

»Haben Sie ihn noch mal gesehen? Oder Ihre Töchter?«

Sie schüttelte den Kopf. »Und heißt das nicht, dass auf die erste Tragödie die nächste folgte? Eines unserer Kinder war auf furchtbare Weise gestorben, aber Jon hat sie alle vier verloren, und zwar sehenden Auges, weil er dem Toten den Vorzug vor den Lebenden gab. Meiner Meinung nach ist das eine noch viel größere Tragödie als der Verlust unseres Sohnes.«

»Manche Menschen können einfach nicht anders auf einen plötzlichen, unerklärlichen Verlust reagieren«, erwiderte Lynley leise.

»Ich nehme an, Sie haben recht. Aber ich glaube, in Jons Fall war es eine bewusste Entscheidung. Gerade weil er sie traf, hat er so weitergelebt, wie er immer schon gelebt hatte: nämlich indem er Jamie den Vorzug vor den anderen gab. Augenblick! Ich zeige Ihnen, was ich meine.«

Sie stand auf, wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging ins Wohnzimmer. Lynley sah sie zu einem der Bücherregale hinübergehen und eine Fotografie auswählen. Sie brachte sie zurück in die Küche, reichte sie ihm und sagte: »Manchmal sagen Bilder mehr, als Worte je ausdrücken könnten.«

Es war ein Familienfoto. Eine vielleicht dreißig Jahre jüngere Version von ihr posierte darauf mit Mann und vier hinreißenden Kindern. Es war eine Winterszene — Tiefschnee, eine Hütte und ein Skilift im Hintergrund. Im Vordergrund stand die Familie, die Skier startbereit geschultert, fröhlich und erwartungsvoll. Niamh hielt die Kleinste auf dem Arm, die beiden anderen Töchter klammerten sich lachend an sie, und vielleicht einen Meter entfernt stand Jamie mit seinem Vater. Jonathan Parsons hatte den Arm liebevoll um Jamies Schultern gelegt und zog ihn an sich. Sie lächelten beide.

»So war er«, sagte Niamh. »Es schien nicht so viel auszumachen, denn die Mädchen hatten ja mich. Ich habe mir eingeredet, das wäre normal: Vater und Sohn, Mutter und Töchter. Und dass ich doch froh sein könnte, dass Jon und Jamie sich so nahestanden und die Mädchen und ich auch. Aber als Jamie starb, hatte Jon das Gefühl, alles verloren zu haben. Drei Viertel seines Lebens standen direkt vor seiner Nase, aber er konnte sie nicht sehen. Das war seine Tragödie. Und ich wollte sie nicht zu meiner machen.«

Lynley hatte das Bild eingehend studiert und sah nun auf. »Darf ich das eine Weile behalten? Natürlich bekommen Sie es zurück.«

Die Bitte schien sie zu überraschen. »Behalten? Wofür, in aller Welt?«

»Ich würde es gern jemandem zeigen. Ich bringe es Ihnen in ein paar Tagen zurück. Oder schicke es mit der Post, ganz wie Sie möchten. Ich werde gut darauf aufpassen.«

»Natürlich können Sie es mitnehmen«, antwortete sie. »Aber… Ich habe gar nicht gefragt, dabei sollte ich das. Warum sind Sie hier und stellen Fragen über Jon?«

»Kurz außerhalb von Casvelyn ist ein Junge ums Leben gekommen.«

»In einer Strandhöhle? So wie Jamie?«

»Er ist von einer Klippe gestürzt.«

»Aber Sie glauben, es hat etwas mit Jamies Tod zu tun?«

»Ich bin nicht sicher.« Lynley sah das Bild noch einmal an. »Wo sind Ihre Töchter heute, Mrs. Triglia?«

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