»Ich weiß, es ist gerade kein guter Zeitpunkt, um darüber zu reden«, sagte Alan Cheston. »Es wird lange keinen guten Zeitpunkt geben, um irgendetwas zu besprechen, und ich schätze, das wissen wir beide. Aber die Sache ist die… Diese Jungs haben einen engen Terminplan. Wenn wir ihnen den Auftrag geben wollen, müssen wir es sie bald wissen lassen, sonst gucken wir in die Röhre.«
Ben Kerne nickte mechanisch. Er konnte sich nicht vorstellen, irgendein Thema rational zu erörtern, ganz zu schweigen von einem geschäftlichen Thema. Das Einzige, was er sich vorstellen konnte, war, seine Wanderung durch die Flure des King-George-Hotels wieder aufzunehmen, eine Schulter an der Wand, den Kopf gesenkt, um den Fußboden zu studieren. Einen Flur hinunter, den nächsten hinauf, durch eine Feuertür und die Treppe nach oben, um mit einem neuen Flur zu beginnen. Weiter und immer weiter, wie ein Gespenst, bis in alle Ewigkeit. Manchmal dachte er daran, wie viel sie ausgegeben hatten, um das alte Hotel umzubauen, und er fragte sich, welchen Sinn es hatte, noch mehr zu investieren. Er fragte sich, welchen Sinn überhaupt irgendetwas noch hatte, und dann versuchte er, gar nicht mehr zu denken.
So hatte er es am gestrigen Abend getan. Dellen hätte Tabletten gehabt, aber er weigerte sich, sie zu nehmen.
Ben sah Alan an. Er nahm ihn wie durch einen Nebel wahr, so als existierte ein Schleier zwischen seinen Augen und dem Hirn. Er hörte den jüngeren Mann, war jedoch unfähig zu verarbeiten, was er da hörte. Also sagte er: »Sprich weiter. Ich verstehe«, obwohl er Ersteres nicht wollte und Letzteres nicht der Wahrheit entsprach.
Sie befanden sich im Marketingbüro, das einmal ein kleiner Konferenzraum gewesen war und hinter der Rezeption lag. Vermutlich war es für Dienstbesprechungen genutzt worden, als das Hotel noch in Betrieb war. Eine uralte Tafel hing an der Wand, und darauf waren noch immer geisterhafte Spuren einer Handschrift zu erkennen zweifellos die eines Managers, der seine Mitarbeiter gern auf Kurs gebracht hatte, indem er einzelne Worte emphatisch unterstrich. Unterhalb der Tafel und umlaufend an allen vier Wänden befand sich eine verschrammte Holztäfelung, darüber eine Tapete mit verblassten Jagdszenen. Als sie das Hotel übernommen hatten, hatten die Kernes beschlossen, den Raum so zu belassen. Niemand außer ihnen würde ihn je zu Gesicht bekommen, und sie waren übereingekommen, dass man das Geld anderweitig profitabler anlegen konnte.
Und das war auch der Grund für diese Besprechung mit Alan. Ben konzentrierte sich auf das, was der junge Mann ihm erzählte: »… müssen die Kosten als gewinnträchtige Investition betrachten. Außerdem fallen diese Kosten nur einmalig an, aber wir haben die Möglichkeit einer mehrmaligen Nutzung, also wird es sich schnell amortisieren. Wir müssen nur darauf achten, alles zu vermeiden, was das Entstehungsdatum verrät. Du weißt, was ich meine: Aufnahmen von Autos oder andere Motive, die in fünf Jahren anachronistisch erscheinen könnten. Vielmehr sollten wir zeitlos historische Motive wählen. So was in dieser Art. Hier. Dieses Beispiel haben sie vor ein paar Tagen geschickt. Ich habe es Dellen schon gezeigt, aber wahrscheinlich hat sie… Nun, verständlicherweise hat sie nicht mit dir darüber gesprochen.« Alan stand vom Konferenztisch auf einem verschrammten Kiefernholzmöbel mit zahllosen Brandflecken von vergessenen Zigaretten und schritt zum Videorekorder hinüber. Sein Gesicht war wie von Fieber gerötet, und nicht zum ersten Mal fragte sich Ben, welche Art Beziehung seine Tochter mit diesem Mann hatte. Er nahm an, er wusste den Grund, warum Kerra Alan gewählt hatte, aber er war einigermaßen sicher, dass sie sich in mehr als einem Punkt in ihm irrte.
Ben war unfähig gewesen, die nötige Willenskraft aufzubringen, um das Marketingmeeting abzusagen. Schweigend saß er nun da und fragte sich, wer von ihnen beiden der herzlosere Bastard war: Alan, weil er scheinbar weitermachte, als wäre nichts passiert, oder er selbst, weil er jetzt hier war. Dellen hätte eigentlich auch an dem Meeting teilnehmen sollen, weil sie ebenfalls im Marketing arbeitete, aber sie war nicht einmal aufgestanden.
Auf dem Fernsehschirm begann ein Werbefilm über eine Ferienanlage auf den Scilly-Inseln: ein Luxushotel mit Wellnessbereich und Golfplatz. Es sprach nicht dieselbe Klientel an wie Adventures Unlimited, aber das war ja auch nicht der Grund, warum Alan es ihm vorführte.
Eine sonore Stimme sprach die Kommentare, die das Hotel dem Publikum schmackhaft machen sollten. Während die Stimme die Vorzüge der Anlage aufzählte, zeigten die Bilder das Hotel oberhalb eines weißen Strandes, Besucher des Wellnessbereichs, die sich von geschickten, sonnengebräunten Masseurinnen verwöhnen ließen, Golfer, die auf Bälle eindroschen, Restaurantgäste auf Terrassen oder in kerzenbeleuchteten Sälen. Dies sei die Art Film, die auf Reisemessen gezeigt werde, erklärte Alan. Das könnten sie auch, wobei sie ein wesentlich breiteres Publikum anzusprechen vermochten. Das war es also, was Alan wollte: Bens Zustimmung, im Marketing für Adventures Unlimited neue Wege einzuschlagen.
»Wie du sagtest, kommen jetzt verstärkt Buchungen rein«, bemerkte Alan, als der Film zu Ende war. »Und das ist großartig, Ben. Der Bericht, den die Mail on Sunday über dich und deine Pläne gebracht hat, war eine enorme Verkaufshilfe. Aber es wird Zeit, dass wir uns dem Potenzial für einen größeren Markt zuwenden.« Er zählte die Möglichkeiten an den Fingern ab. »Familien mit Kindern zwischen sechs und sechzehn. Privatschulen, die ihre Schüler auf einwöchige Erlebnisfreizeiten schicken. Singles auf Partnersuche. Rüstige Rentner, die ihren Lebensabend nicht in irgendeinem Schaukelstuhl verbringen wollen. Und dann gibt es da noch Drogenentzugsprogramme, Rehabilitation für jugendliche Straftäter und Programme für Großstadtkinder. Wir haben einen riesigen Markt da draußen, und ich kann dafür sorgen, dass er sich uns öffnet.«
Alans Gesicht leuchtete, seine Ohren waren rot, seine Augen strahlten. Enthusiasmus und Hoffnung, dachte Ben. Entweder das oder Nervosität. »Du hast große Pläne«, bemerkte er.
»Ich hoffe, das ist der Grund, warum du mich eingestellt hast. Ben, was ihr hier habt… Dieses Objekt. Seine Lage. Deine Ideen. Mit den richtigen Investitionen in lohnenden Bereichen könnte dies die Gans werden, die goldene Eier legt, ich schwör's.«
Dann schien Alan sein Gesicht zu studieren, so wie Ben es zuvor mit Alans getan hatte. Er holte die Kassette aus dem Rekorder und reichte sie Ben, legte ihm einen Moment die Hand auf die Schulter. »Sieh es dir noch einmal mit Dellen an, wenn ihr beide euch dazu in der Lage fühlt«, sagte er. »Wir müssen die Entscheidung nicht heute treffen. Aber… bald.«
Bens Finger schlossen sich um das Plastikgehäuse. Er fühlte, wie die feinen Rillen sich in seine Haut drückten. »Du machst deine Sache gut«, sagte er. »Diesen Artikel in der Mail on Sunday zu lancieren… Das war genial.«
»Ich wollte dir zeigen, wozu ich in der Lage bin«, erwiderte Alan. »Ich bin dankbar, dass du mich eingestellt hast. Andernfalls hätte ich wahrscheinlich nach Truro oder Exeter ziehen müssen, was ich nicht besonders reizvoll gefunden hätte.«
»Es sind aber viel größere Städte als Casvelyn.«
»Zu groß für mich, wenn Kerra nicht da ist.« Alan lachte, und es klang verlegen. »Sie wollte nicht, dass ich hier arbeite, weißt du. Sie hat gesagt, es würde nicht klappen, aber ich habe die Absicht, ihr das Gegenteil zu beweisen. Diese Anlage…« Er vollführte eine Geste, die das gesamte Hotel einschloss. »Diese Anlage hier bringt mich auf immer neue Ideen. Alles, was ich brauche, ist jemand, der mir zuhört und seine Zustimmung gibt, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Ich meine, hast du je darüber nachgedacht, was dieses Hotel in der Nebensaison alles leisten könnte? Es hat Platz genug für Tagungen, und wenn wir mit einem Promotionfilm ein bisschen nachhelfen…«
Ben blendete die Stimme aus, nicht weil es ihn nicht interessierte, sondern weil die Diskrepanz ihn schmerzte, die er zwischen Alan Cheston und Santo erkannte. Hier war der Eifer, den Ben sich von Santo erhofft hatte: vorbehaltloses Engagement für das, was Santos Erbe und das seiner Schwester hätte werden können. Aber so hatte der Junge die Dinge nicht gesehen. Er hatte sich danach gesehnt, das Leben einfach nur zu erfahren, statt es sich mühsam aufzubauen. Und das war auch der grundlegende Unterschied zwischen ihm und seinem Vater gewesen. Sicher, er war erst achtzehn gewesen. Mit zunehmender Reife wären vielleicht auch Interesse und Einsatz in ihm erwacht. Doch wenn man von der Vergangenheit auf die Zukunft schließen konnte, war es dann nicht wahrscheinlicher, dass Santo einfach immer mit dem weitergemacht hätte, was seine Persönlichkeit bereits definierte? Charme und Eroberung, Charme und Vergnügen, Charme und Enthusiasmus für das, was sein Enthusiasmus ihm einbringen, nur nicht für all das, was dieser Enthusiasmus zu erschaffen vermochte.
Ben fragte sich, ob Alan all das durchschaut hatte, als er sich um die Anstellung bei Adventures Unlimited beworben hatte. Denn Alan hatte Santo gekannt, mit ihm gesprochen, ihn beobachtet. Vielleicht hatte Alan erkannt, dass hier eine Lücke klaffte und er der richtige Mann war, um sie zu füllen.
Alan hob erneut an: »Also, wenn wir unsere Vorteile richtig nutzen und der Bank einen Plan vorlegen…«, als Ben ihn unterbrach, weil das Wort "unser" in seine Gedanken eingedrungen war wie ein lautes Klopfen.
»Weißt du, wo Santo seine Kletterausrüstung aufbewahrt hat?«
Alan hielt mitten im Satz inne. Verwirrt sah er Ben an. Ob diese Verwirrung gespielt war oder nicht, vermochte Ben nicht zu sagen.
Alan fragte: »Wie bitte?« Und als Ben die Frage wiederholte, schien Alan seine Antwort genau abzuwägen, ehe er sie gab: »Ich nehme an, er hat sie in seinem Zimmer aufbewahrt? Oder vielleicht da, wo du deine verwahrst?«
»Weißt du denn, wo meine ist?«
»Woher sollte ich das wissen?« Alan machte sich daran, den Videorekorder abzubauen. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, sodass sie das Herannahen eines Wagens hören konnten. Alan trat ans Fenster und sagte: »Es sei denn…« Aber seine Antwort verlor sich, als draußen zwei Autotüren zuschlugen. »Polizei«, bemerkte er. »Es ist wieder dieser Constable. Der vorhin schon mal hier war. Diesmal hat er eine Frau dabei.«
Ben verließ das Marketingbüro umgehend und betrat gerade den Eingangsbereich, als die Tür aufging und Constable McNulty hereinkam. Neben ihm ging eine energische Frau mit fast schon purpurroten Haaren, die zu Igelstacheln gegelt waren, ganz so als wäre sie ein Bandmitglied der Sex Pistols. Sie war nicht mehr jung, aber sie war auch nicht alt. Sie sah ihm direkt in die Augen, jedoch nicht ohne Mitgefühl.
»Mr. Kerne?«, fragte sie, stellte sich als Detective Inspector Hannaford vor und erklärte, sie sei gekommen, um die Familie zu befragen.
»Die ganze Familie?«, fragte Ben. »Denn meine Frau liegt im Bett, und meine Tochter ist mit dem Fahrrad unterwegs.« Er hatte das Gefühl, das könnte Kerra herzlos wirken lassen, darum fügte er schnell hinzu: »Stress. Wenn sie unter Druck steht, braucht sie ein Ventil.« Und dann schien es ihm, als hätte er bereits zu viel gesagt.
Sie werde die Tochter später befragen, erwiderte Hannaford. Unterdessen würden sie warten, während er seine Frau weckte. Es gehe erst einmal nur um einige Formalitäten. Es werde nicht lange dauern.
Erst einmal hieß, dass sie wiederkommen würden. Bei der Polizei war das, was angedeutet wurde, zumeist wichtiger als das, was ausgesprochen wurde.
»Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen?«, fragte er.
»Das hier ist der erste Schritt, Mr. Kerne, abgesehen von der Kriminaltechnik. Sie fangen mit Fingerabdrücken an: seine Kletterausrüstung, sein Wagen und alles, was sich im Auto befand. Von da geht es weiter.« Sie vollführte eine Geste über die Hotelhalle. »Sie alle müssen Ihre Fingerabdrücke nehmen lassen. Aber zunächst habe ich nur einige Fragen. Wenn Sie also Ihre Frau holen würden…«
Er hatte keine Wahl. Alles andere hätte unkooperativ gewirkt; er konnte keine Rücksicht auf Dellens Zustand nehmen. Ben nahm die Treppe, nicht den Aufzug. Er brauchte einen Moment Zeit zum Nachdenken. Es gab so vieles, was er vor der Polizei verbergen wollte, Dinge, die entweder tief begraben oder sehr privat waren.
An der Schlafzimmertür klopfte er leise an, wartete aber nicht darauf, die Stimme seiner Frau zu hören. Er betrat den dunklen Raum, ging zum Bett hinüber und schaltete eine Lampe ein. Dellen lag noch genauso da wie zuvor, als er sie zuletzt gesehen hatte: auf dem Rücken ausgestreckt, einen Arm über die Augen gelegt. Auf dem Nachttisch standen zwei Röhrchen mit Pillen und ein Wasserglas mit einem roten Lippenstiftabdruck.
Er setzte sich auf die Bettkante. Dellen blieb reglos liegen, obwohl ein Zucken ihrer Lippen ihm verriet, dass sie nicht schlief. »Die Polizei ist hier«, sagte er. »Sie wollen mit uns reden. Du musst mit nach unten kommen.«
Ihr Kopf bewegte sich fast unmerklich. »Ich kann nicht.«
»Du musst.«
»Ich kann nicht zulassen, dass sie mich so sehen. Das weißt du doch.«
»Dellen…«
Sie nahm den Arm vom Gesicht, blinzelte gegen das Licht und wandte dann den Kopf ab. »Ich kann nicht, und das weißt du auch«, wiederholte sie. »Willst du vielleicht, dass sie mich so sehen? Ist es das?«
»Wie kannst du so etwas nur sagen, Del.« Er legte die Hand auf ihre Schulter und spürte die Spannung, mit der ihr Körper auf die Berührung reagierte.
»Bestimmt willst du, dass sie mich so sehen«, beharrte sie und wandte sich ihm zu. »Denn wir wissen doch, dass du es so vorziehst. Du hast mich so am liebsten. So willst du mich haben. Man könnte fast glauben, du hast Santos Tod herbeigeführt, um mich auf Kurs zu bringen. Das kommt dir ja so entgegen, nicht wahr?«
Ben stand abrupt auf. Er wandte sich ab, damit sie sein Gesicht nicht sah.
Sofort sagte sie: »Es tut mir leid. O Gott, Ben! Ich weiß gar nicht, was ich rede! Warum verlässt du mich nicht? Ich weiß, dass du das willst. Das willst du schon seit Ewigkeiten. Du trägst unsere Ehe wie ein härenes Gewand. Warum?«
»Bitte, Del«, erwiderte er, ohne zu wissen, worum er sie bat. Er wischte sich die Nase am Ärmel seines Hemdes ab und ging zu ihr zurück. »Lass mich dir helfen. Sie werden nicht gehen, ehe sie mit uns gesprochen haben.« Wohlweislich verschwieg er, dass die Beamten sicher noch einmal wiederkommen würden, um mit Kerra zu sprechen, und ebenso gut dann mit Dellen würden reden können. Doch das durfte nicht passieren, beschloss er. Er musste dabei sein, wenn sie Dellen vernahmen, und kamen sie später zurück, bestand die Gefahr, dass sie sie allein antrafen.
Er trat an den Schrank und holte Kleidungsstücke für sie heraus. Schwarze Hose, schwarzer Pulli, schwarze Sandalen. Er suchte Unterwäsche zusammen und trug alles zum Bett hinüber.
»Lass mich dir helfen«, sagte er.
Es war der Imperativ all ihrer gemeinsamen Jahre gewesen: Er lebte, um ihr zu dienen. Sie lebte, um sich bedienen zu lassen.
Er schlug Decke und Laken zurück. Dellen war nackt, ihr Geruch säuerlich, und er betrachtete sie ohne das geringste Flackern der Begierde. Sie hatte nicht mehr die Figur der Fünfzehnjährigen, mit der er zwischen den Dünen im Strandhafer herumgetollt war. Ihr Körper drückte den Abscheu aus, den ihre Stimme nicht aussprach. Sie war angespannt, das Haar gebleicht, das Gesicht bemalt — sie war im selben Maße beinahe irreal und gar zu körperlich. Sie war die fleischgewordene Vergangenheit, Verstrickung und Entfremdung.
Er schob einen Arm unter ihre Schultern und richtete sie auf. Sie hatte zu weinen begonnen. Es war ein stummes Weinen, hässlich anzusehen. Es verzerrte ihren Mund, rötete ihre Nase und ließ ihre Augenlider anschwellen.
Sie sagte: »Das willst du doch. Also tu es. Ich halte dich nicht hier. Ich habe dich nie gehalten.«
Er murmelte: »Sch-sch. Zieh das an.« Er streifte ihr die BH-Träger über die Arme. Trotz seiner Ermunterung half sie ihm nicht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihre schweren Brüste zu umfassen und in die Körbchen zu führen, ehe er den BH hinter ihrem Rücken zuhaken konnte. So zog er sie an, und als er fertig war und sie auf die Füße hob, erwachte sie endlich zum Leben.
Sie sagte wieder: »Ich kann nicht zulassen, dass sie mich so sehen.« Aber ihr Tonfall hatte sich geändert. Sie trat an die Frisierkommode und zog aus dem Wirrwarr von Kosmetika und Modeschmuck eine Bürste hervor. Damit fuhr sie sich emsig durch das lange blonde Haar, bis es entwirrt war. Dann schlang sie es zu einem passablen Knoten zusammen. Sie schaltete die kleine Messinglampe ein, die Ben ihr vor vielen Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, und beugte sich vor, um ihr Gesicht zu begutachten. Sie legte Puder und ein bisschen Mascara auf, dann wühlte sie in den Lippenstiften, fand die Farbe, die sie wollte, und trug sie auf.
»In Ordnung«, sagte sie, als sie sich zu ihm umwandte.
Von Kopf bis Fuß in Schwarz, aber ihre Lippen waren rot. Rosenrot. Blutrot.
Während sie gemeinsam mit Constable McNulty und Sergeant Collins die Ermittlungen vorbereitete, war Bea Hannaford schnell zu dem Schluss gekommen, dass sie es bei diesen beiden mit den polizeilichen Äquivalenten von Stan Laurel und Oliver Hardy zu tun hatte. Diese Erkenntnis war relativ plötzlich über sie hereingebrochen, als Constable McNulty ihr mit kummervoller Miene eröffnet hatte, er habe die Familie darüber informiert, dass es sich bei Santo Kernes Tod wahrscheinlich um einen Mord handelte. Das an sich war noch keine miserable Polizeiarbeit, wohl aber die Tatsache, dass er den Angehörigen bedenkenlos die Fakten bezüglich der Kletterausrüstung des toten Jungen offenbart hatte.
Bea hatte den Constable ungläubig angestarrt. Dann hatte sie erkannt, dass sie ihn nicht missverstanden hatte, sondern er tatsächlich entscheidende Informationen an Personen weitergegeben hatte, die zum Kreis der Verdächtigen zählten. Zuerst war sie explodiert. Dann hatte sie den Wunsch verspürt, ihn zu erwürgen. Schließlich hatte sie sich in schneidendem Tonfall erkundigt: »Was genau tun Sie eigentlich den ganzen Tag? Sich auf öffentlichen Toiletten einen runterholen? Denn Sie sind das traurigste Exemplar eines Polizeibeamten, das mir je unter die Augen gekommen ist. Ist Ihnen eigentlich klar, dass es jetzt kein Detail mehr gibt, das ausschließlich wir und der Mörder kennen? Verstehen Sie, in welche Situation uns das bringt?« Danach hatte sie ihm befohlen, sie zu begleiten und den Mund zu halten, bis ihm ausdrücklich Redeerlaubnis erteilt wurde.
Wenigstens in dieser Hinsicht hatte er Verstand bewiesen. Von dem Moment an, da sie zum King-George-Hotel gekommen waren — einem baufälligen Art-déco-Kasten, der nach Beas Ansicht reif für die Abrissbirne war, hatte Constable McNulty kein Wort gesprochen. Er hatte sich sogar Notizen gemacht und kein einziges Mal von seinem Schreibblock aufgesehen, als sie sich mit Alan Cheston unterhalten hatte, während sie auf Ben Kernes Rückkehr wartete. In Begleitung seiner Frau, stand zu hoffen.
Cheston geizte nicht mit Details. Er sei fünfundzwanzig, Partner der Kerne-Tochter, in Cambridge als einziges Kind einer Physikerin und eines Unibibliothekars aufgewachsen. Er hatte an der Trinity Hall studiert, dann weiter an der London School of Economics, in Birmingham bei einer Unternehmensberatung gearbeitet, bis seine Eltern sich in Casvelyn zur Ruhe gesetzt hatten und er ebenfalls nach Cornwall gezogen war, um in ihrer Nähe zu sein, wenn sie älter wurden. Er besaß ein Reihenhaus am Lansdown Close, das derzeit saniert wurde, auf dass es eines fernen Tages für die Frau und die Kinder angemessen sei, die er sich erhoffte. Bis es jedoch so weit war, wohnte er in einem Apartment am Ende der Breakwater Road.
»Nun ja, Apartment ist nicht ganz richtig«, fügte er hinzu, nachdem er Constable McNultys emsiges Kritzeln einen Moment lang beobachtet hatte. »Es ist eher ein möbliertes Zimmer in dem großen rosa Cottage am Ende der Straße, gegenüber dem Kanal. Ich kann die Küche mitbenutzen und… Na ja, die Vermieterin ist sehr großzügig.«
Womit er sicherlich meinte, die Vermieterin habe moderne Ansichten, nahm Bea an. Was wiederum wohl hieß, dass er und das Kerne-Mädchen es dort nach Herzenslust trieben.
»Kerra und ich wollen heiraten«, fügte er hinzu, als befürchtete er, Bea wäre in Sorge um die Tugend der jungen Frau.
»Ah. Wie nett. Und Santo?«, fragte sie. »Welche Art von Beziehung hatten Sie zu ihm?«
»Großartiger Junge«, lautete Alans Antwort. »Es war schwer, ihn nicht zu mögen. Er war vielleicht kein Intellektueller, aber er strahlte so etwas Glückliches aus. Etwas Unbekümmertes. Das hatte eine ansteckende Wirkung, und soweit ich sehen konnte, waren die Menschen gern in seiner Nähe. Menschen ganz allgemein.«
Joie de vivre, dachte Bea. Sie hakte nach. »Und wie stand es mit Ihnen im Besonderen? Waren Sie auch gern in seiner Nähe?«
»Wir waren nicht oft zusammen. Ich bin Kerras Freund, Santo und ich waren also… eher so etwas wie Schwäger, nehme ich an. Herzlich und verbindlich, wenn wir uns unterhalten haben, aber nicht viel mehr. Wir hatten keinerlei gemeinsame Interessen. Er war sehr körperlich. Ich bin eher… ein Kopfmensch.«
»Ich schätze, das bedeutet, Sie sind eher geeignet, ein Unternehmen zu führen«, bemerkte Bea.
»Ja, natürlich.«
»Dieses Unternehmen, zum Beispiel.«
Der junge Mann war kein Idiot. Anders als die Laurel- und Hardy-Imitate, mit denen sie geschlagen war, erkannte Alan Cheston messerscharf, worauf sie hinauswollte. Er erklärte: »Tatsächlich war Santo ein bisschen erleichtert, als er erfahren hat, dass ich hier arbeiten würde. Es befreite ihn von unliebsamem Druck.«
»Was für ein Druck?«
»Er hätte mit seiner Mutter zusammenarbeiten müssen, und das wollte er nicht. Oder zumindest hat er mich das glauben lassen. Er war für diesen Bereich des Unternehmens nicht geeignet.«
»Aber Sie schon? Ihnen gefällt dieser Bereich? Und die Tatsache, dass Sie mit ihr zusammenarbeiten?«
»Absolut.« Er sah Bea in die Augen, während er das sagte, und hielt seinen Körper vollkommen reglos. Sie fragte sich unwillkürlich, welcher Art die Lüge war, die er soeben offenkundig ausgesprochen hatte.
»Ich würde mir gern Santos Kletterausrüstung ansehen. Wenn Sie sie mir zeigen könnten, Mr. Cheston«, bat sie.
»Tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, wo er sie aufbewahrt hat.«
Auch das musste sie infrage stellen. Die Antwort war so prompt gekommen, als hätte er mit der Bitte gerechnet.
Sie war im Begriff, noch einmal nachzuhaken, als er sagte: »Da kommt Ben — mit Dellen.« Sie hörten die alte Liftkabine herunterkommen. Bea stellte dem jungen Mann in Aussicht, dass sie sich bestimmt noch einmal sprechen würden.
»Jederzeit«, antwortete er. »Wann immer Sie wünschen, Inspector.«
Er kehrte in sein Büro zurück, noch ehe der Aufzug das Erdgeschoss erreichte und die Kernes ausspuckte. Ben trat zuerst heraus und streckte die Hand aus, um seiner Frau behilflich zu sein. Sie kam langsam, wirkte wie eine Schlafwandlerin. Medikamente, dachte Bea. Die Frau hatte Beruhigungsmittel eingenommen; bei der Mutter eines toten Kindes kaum überraschend.
Unerwartet war hingegen ihre Erscheinung. Die höfliche Umschreibung hätte "verblasste Schönheit" gelautet. Dellen Kerne war irgendwo Mitte vierzig und litt unter dem Fluch üppiger Frauen: Die Kurven und Rundungen ihrer Jugend waren mit den Jahren aus dem Leim gegangen. Außerdem hatte sie geraucht oder tat es womöglich immer noch, denn sie hatte deutliche Krähenfüße um die Augen und Furchen um den Mund. Sie war nicht dick, aber sie hatte auch nicht den durchtrainierten Körper ihres Mannes. Zu wenig Sport und Selbstbeherrschung, schloss Bea.
Und trotzdem achtete diese Frau auf ihr Äußeres: pedikürte Füße. Manikürte Hände. Volles blondes Haar mit einem hübschen Glanz, große veilchenblaue Augen mit dichten, dunklen Wimpern und eine Art, sich zu bewegen, die um Hilfe bettelte. Troubadoure hätten sie eine Maid genannt. Für Bea war sie eine tickende Zeitbombe, und sie war entschlossen herauszufinden, warum.
»Mrs. Kerne. Danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen«, sagte sie. Und an Ben Kerne gewandt, fügte sie hinzu: »Können wir irgendwo in Ruhe reden? Es sollte nicht gar zu lange dauern.« Letzteres war typischer Polizeijargon. Es würde genau so lange dauern, bis Bea zufrieden war.
Ben Kerne schlug vor, in den ersten Stock des Hotels hinaufzugehen. Die dortige Gästelounge sei wohl am geeignetsten.
Das war sie in der Tat. Der Raum bot einen Ausblick auf St. Meckvan Beach und war mit plüschigen, aber strapazierfähigen neuen Sofas ausgestattet, einem Großbildfernseher, einem DVD-Player, Stereoanlage, einem Billardtisch und einer Kochnische. Letztere sollte wohl vornehmlich zum Teekochen dienen und verfügte außerdem über eine glänzende Cappuccinomaschine aus Edelstahl. Die Wände zierten Poster mit alten Sportszenen aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren: Skifahrer, Wanderer, Radfahrer, Schwimmer und Tennisspieler. Die Einrichtung war gut durchdacht und ansprechend ausgeführt. Hier war viel Geld hineingesteckt worden.
Bea hätte gerne gewusst, woher das Geld für dieses Projekt gekommen sein mochte, und sie scheute sich nicht, danach zu fragen.
Statt zu antworten, erkundigte Ben Kerne sich jedoch, ob die Beamten einen Kaffee wünschten. Bea lehnte für sie beide ab, noch ehe Constable McNulty, der hoffnungsvoll von seinem Notizblock aufgeblickt hatte, das Angebot annehmen konnte. Kerne trat trotzdem an die Maschine und sagte: »Wenn Sie nichts dagegen haben…« Er drückte einen Knopf, es brauste, und dann drängte er das Gebräu seiner Frau auf. Teilnahmslos nahm sie die Tasse entgegen. Er bat sie, einen Schluck zu trinken, und er klang besorgt. Dellen erwiderte, sie wolle nichts, aber Ben beharrte: »Du musst.« Sie sahen sich an, und in ihren Blicken lag für einen Moment ein Ausdruck von Kräftemessen. Dellen war diejenige, die als Erste blinzelte. Sie führte die Tasse an die Lippen und setzte nicht wieder ab, ehe sie sie ganz geleert hatte. Ein verstörend roter Abdruck blieb dort zurück, wo ihre Lippen das Steingut berührt hatten.
Bea fragte, wie lange sie schon in Casvelyn lebten, und Ben antwortete, seit zwei Jahren. Vorher hätten sie in Truro gewohnt, wo er zwei Sportgeschäfte besessen habe. Die habe er zusammen mit ihrem Privathaus verkauft, um wenigstens teilweise das nötige Startkapital für Adventures Unlimited zusammenzubringen. Natürlich habe er weiteres Geld von der Bank geliehen. Ein solches Projekt stemme man nicht mit nur einer Finanzquelle. Mitte Juni wollten sie eröffnen, erklärte er. »Zumindest war das unsere Absicht. Jetzt… weiß ich nicht mehr.«
Bea ging für den Moment nicht darauf ein. »Sind Sie in Truro aufgewachsen, Mr. Kerne?«, fragte sie. »War die Sache mit Ihnen und Ihrer Frau eine Sandkastenliebe?«
Er zögerte aus irgendeinem Grund und sah zu Dellen hinüber, als überlegte er, wie er seine Antwort am besten formulieren sollte. Bea fragte sich, was genau ihn ins Stocken gebracht hatte: die Frage nach Truro oder die nach der Sandkastenliebe.
»Nicht in Truro, nein«, antwortete er schließlich. »Aber was die Sandkastenliebe betrifft…« Er sah wieder zu seiner Frau, und sein Ausdruck war unzweifelhaft liebevoll. »Wir sind mehr oder weniger seit unserer Jugendzeit zusammen. Fünfzehn und sechzehn waren wir, oder, Del?« Er wartete ihren Kommentar nicht ab. »Aber es ging wie bei den meisten Kids. Ein Weilchen zusammen, dann ein Weilchen getrennt. Dann kam die Versöhnung, und wir waren wieder zusammen. So ging es sechs oder sieben Jahre lang, ehe wir geheiratet haben, stimmt's nicht, Del?«
Dellen sagte: »Ich weiß es nicht. Ich habe das alles vergessen.« Sie hatte eine raue Stimme — eine Raucherstimme. Sie passte zu ihr. Alles andere wäre überraschend gewesen.
»Wirklich?« Er sah von ihr zu Bea. »Es schien ewig zu gehen, das Drama unserer Teenagerzeit. Wie das eben so ist, wenn man an jemandem hängt.«
»Was für ein Drama?«, fragte Bea, während Constable McNulty an ihrer Seite mit befriedigendem Eifer vor sich hin kritzelte.
»Ich hab rumgevögelt«, erklärte Dellen unverblümt.
»Del…«
»Sie wird die Wahrheit vermutlich sowieso rausfinden, also können wir sie ihr auch gleich sagen«, entgegnete Dellen. »Ich war die Dorfschlampe, Inspector.« Und dann zu ihrem Mann: »Kannst du mir noch einen Kaffee machen, Ben? Aber bitte heißer. Der hier war nur lauwarm.«
Bens Miene hatte sich versteinert, während sie sprach. Nach einem winzigen Zögern stand er von dem Sofa auf, wo er neben seiner Frau gesessen hatte, und ging zurück zur Cappuccinomaschine. Bea ließ zu, dass das Schweigen sich in die Länge zog, und als Constable McNulty sich räusperte, als wollte er etwas sagen, trat sie ihn auf den Fuß, damit er die Klappe hielt. Sie hatte ganz und gar nichts einzuwenden gegen Spannungen während eines Verhörs, vor allem dann, wenn einer der Verdächtigen den anderen damit unbeabsichtigt unter Druck setzte.
Dellen sprach schließlich weiter, aber es war Ben, den sie dabei ansah, als beinhalteten ihre Worte eine geheime Botschaft an ihn: »Wir haben unten an der Küste gelebt, Ben und ich, nicht in Newquay oder so, wo einem wenigstens ein bisschen was geboten worden wäre. Wir stammen aus einem Dorf, wo es nichts anderes gab als den Strand im Sommer und Sex im Winter. Manchmal auch Sex im Sommer, wenn das Wetter nicht gut genug war für den Strand. Wir waren immer in einer Gruppe unterwegs, einer Jugendclique, und da ging es eben ziemlich hoch her. Mal war man mit dem zusammen, mal mit jenem. Das heißt, bis wir nach Truro kamen. Ben ist zuerst gegangen, und ich — kluges Mädchen — bin ihm nachgefolgt. Von da an war alles anders. In Truro hat sich das Leben für uns verändert.«
Ben kam mit ihrem Kaffee zurück. Er brachte auch eine Schachtel Zigaretten mit, die er irgendwo in der Kochnische gefunden hatte, zündete eine an und reichte sie ihr. Dann setzte er sich ganz nah neben sie.
Dellen schüttete den Kaffee ebenso hinunter wie den ersten, als wäre ihr Mund mit Asbest ausgepolstert. Dann zog sie tief an der Zigarette. Sie inhalierte doppelt, bemerkte Bea: Sie zog den Rauch ein, ließ ein bisschen wieder heraus und sog alles wieder ein. An Dellen Kerne sah es aus wie ein Kunststück. Bea versuchte, sich auf die Frau zu fokussieren. Dellens Hände bebten.
»Die Großstadtlichter?«, fragte Bea die Kernes. »War es das, was Sie nach Truro gelockt hat?«
»Wohl kaum«, entgegnete Dellen. »Ben hatte einen Onkel, der ihn bei sich aufgenommen hat, als er achtzehn war. Ben hatte immerzu Streit mit seinem Vater. Meinetwegen. Dad dachte — Bens Dad, meine ich, nicht meiner, wenn er seinen Sohn aus dem Dorf schafft, würde er ihn auch aus meinen Fängen befreien. Oder mich aus seinen. Er hat nicht damit gerechnet, dass ich Ben folgen würde. War's nicht so, Ben?«
Ben legte seine Hand über ihre. Sie sagte zu viel, und das war ihnen allen klar, aber allein Ben und seine Frau wussten, warum sie das tat. Bea überlegte, was all das wohl mit Santo zu tun hatte, als Ben den Versuch unternahm, das Gespräch wieder unter seine Kontrolle zu bringen, indem er erklärte: »Das ist nicht ganz richtig. Vielmehr war es so, dass mein Vater und ich nie besonders gut miteinander ausgekommen sind. Sein Traum war es, völlig autark nur von dem zu leben, was das Land zu geben hatte, und nach achtzehn Jahren hatte ich die Nase voll davon. Also bin ich zu meinem Onkel nach Truro gezogen. Dellen folgte mir… ich weiß nicht mehr. Wie lange war es? Acht Monate später?«
»Mir kam es vor wie acht Jahrhunderte«, erwiderte Dellen. »Bei allem, was man mir vorwerfen kann, aber ich konnte eine Chance erkennen, wenn sie sich mir bot. Das kann ich immer noch.« Sie hielt den Blick auf Ben gerichtet, während sie zu Bea sagte: »Ich habe einen wundervollen Mann, dessen Geduld ich jahrelang auf die Probe gestellt habe, Inspector Hannaford. Kann ich noch einen Kaffee haben, Ben?«
»Bist du sicher, dass das klug ist?«, fragte er.
»Aber mach ihn bitte noch heißer. Ich glaube, die Maschine funktioniert nicht richtig.«
Und Bea ging ein Licht auf. Sie verstand plötzlich, was der Kaffee symbolisierte. Dellen hatte ihn nicht gewollt, aber er hatte darauf bestanden. Der Kaffee war eine Metapher, und Dellen Kerne ließ ihren Mann nicht vergessen, wofür er stand.
»Ich hätte gern das Zimmer Ihres Sohnes gesehen«, bat Bea. »Natürlich erst, wenn Sie Ihren Kaffee getrunken haben.«
Daidre Trahair kam entlang der Klippe zurück nach Polcare Cove, als sie ihn entdeckte. Ein frischer Wind wehte, und sie war stehen geblieben, um ihr Haar mit der Perlmuttspange zu bändigen. Den Großteil hatte sie erwischt, die restlichen Strähnen steckte sie sich hinter die Ohren. Und da sah sie ihn, vielleicht hundert Meter südlich von ihr. Offenbar kam er gerade von der Bucht herauf, sodass sie annahm, er wollte seine Wanderung wieder aufnehmen, nachdem Detective Inspector Hannaford jeden Verdacht gegen ihn hatte fallen lassen. Das war ja auch kein Wunder: Sowie er gesagt hatte, er sei von New Scotland Yard, war er über jeden Zweifel erhaben gewesen. Wäre sie selbst nur auch so schlau gewesen…
Doch sie musste ehrlich sein, wenigstens sich selbst gegenüber. Thomas Lynley hatte nie behauptet, er sei von New Scotland Yard. Es waren die beiden Polizisten selbst gewesen, die diesen Schluss gezogen hatten, nachdem er seinen Namen preisgegeben hatte.
»Thomas Lynley«, hatte er gesagt. Und da hatte einer von ihnen — sie wusste nicht mehr, wer — gefragt: »New Scotland Yard?« In einem Tonfall, der Bände zu sprechen schien. Er hatte etwas gesagt, was darauf hindeutete, diese Annahme sei korrekt, und damit war die Sache erledigt gewesen.
Jetzt wusste sie, warum. Denn wenn er Thomas Lynley von New Scotland Yard war, dann war er auch der Thomas Lynley, dessen Frau auf offener Straße vor ihrem Haus in Belgravia erschossen worden war. Jeder Polizist im ganzen Land musste davon gehört haben. Schließlich war die Polizei doch so eine Art Bruderschaft. Daidre wusste, das bedeutete auch, dass landesweit sämtliche Beamten irgendwie miteinander in Verbindung standen. Das durfte sie nicht vergessen. Und sie musste sich in seiner Nähe vorsehen, ganz gleich wie groß sein Schmerz sein mochte oder ihr Drang, diesen Schmerz zu lindern. Jeder trug Schmerz in sich, das wusste sie. Damit fertig zu werden, das war es, worum es im Leben ging.
Er hob einen Arm und winkte. Sie winkte zurück. Sie gingen aufeinander zu. Der Küstenpfad hier oben auf der Klippe war schmal, uneben und mit Steinen übersät. Ginsterbüsche standen dicht an dicht auf der Ostseite, eine gelbe Phalanx, die sich tapfer gegen den Wind stemmte. Jenseits der Ginsterlinie erstreckte sich eine üppige Wiese. Das Gras war kurz, weil hier oft Schafe weideten.
Als sie sich nahe genug waren, um einander über den Wind hinweg hören zu können, fragte Daidre: »Sie brechen wieder auf?« Aber noch während sie sprach, erkannte sie ihren Irrtum und fuhr fort: »Aber Sie haben Ihren Rucksack gar nicht dabei. Also lautet die Antwort wohl: Nein.«
Er nickte ernst. »Sie gäben eine gute Polizistin ab.«
»Ich fürchte, das war eine ziemlich simple Schlussfolgerung. Alles darüber hinaus würde meiner Aufmerksamkeit entgehen. Machen Sie einen Spaziergang?«
»Ich habe Sie gesucht.« Der Wind zerzauste sein Haar genauso wie ihres, und er strich es sich aus der Stirn. Wieder fiel ihr auf, wie ähnlich seine Haarfarbe der ihren war. Vermutlich wurde er im Sommer hellblond.
»Mich?«, fragte sie. »Woher wussten Sie, wo ich zu finden bin? Nachdem Sie erfolglos am Cottage angeklopft hatten, meine ich. Ich hoffe zumindest, ich darf davon ausgehen, dass Sie dieses Mal angeklopft haben. Viel mehr Fenster habe ich nämlich nicht zu bieten.«
»Ich habe angeklopft«, versicherte er. »Als niemand öffnete, habe ich mich umgeschaut und die frischen Fußspuren entdeckt, denen ich dann gefolgt bin. Es war ganz einfach.«
»Und hier bin ich«, bemerkte sie.
»Und hier sind Sie.«
Er lächelte und schien einen Moment zu zaudern. Das überraschte Daidre, denn er kam ihr nicht wie ein Mann vor, der jemals zauderte. »Und?«, fragte sie und neigte den Kopf zur Seite. Ihr fiel auf, dass er eine Narbe an der Oberlippe hatte, ein wohltuender kleiner Makel in seinem ansonsten so klassisch gut aussehenden Gesicht mit den ausgeprägten, markanten Zügen.
»Ich wollte Sie zum Essen einladen«, erklärte er. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nur das Salthouse Inn anbieten, denn ich habe immer noch kein Geld und kann Sie schwerlich einladen, um Sie anschließend zu bitten, die Rechnung zu begleichen. Aber im Hotel kann ich es anschreiben lassen, und da das Frühstück gut war — nun, sagen wir, annehmbar, — nehme ich an, dass auch das Abendessen genießbar sein wird.«
»Was für eine zweifelhafte Einladung«, bemerkte sie.
Er schien darüber nachzudenken. »Meinen Sie das "genießbar"?«
»Ja. "Erlauben Sie mir, Sie zu einem genießbaren, wenn auch alles andere als schmackhaften Dinner einzuladen?" Das ist genau so ein galantes, postviktorianisches Ansinnen, auf das man nur antworten kann: "Es wäre mir beinahe ein Vergnügen."«
Er lachte. »Tut mir leid! Meine Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie tot wäre, was allerdings zum Glück nicht der Fall ist. Also lassen Sie es mich so sagen: Ich habe mir die Speisekarte von heute Abend angeschaut, und sie scheint… wenn vielleicht nicht gerade sagenhaft, so doch immerhin… ganz schick.«
Dieses Mal lachte sie. »Schick? Wo in aller Welt kam das jetzt her? Egal. Sagen Sie nichts! Essen Sie einfach bei mir! Ich habe etwas vorbereitet, und für zwei reicht es allemal. Ich muss es nur noch aufbacken.«
»Aber dann werde ich doppelt in Ihrer Schuld stehen.«
»Und das ist genau, wo ich Sie haben will, Mylord.«
Sein Ausdruck veränderte sich; ihr Lapsus hatte alle Heiterkeit fortgewischt. Sie verfluchte sich für ihre mangelnde Umsicht. Hoffentlich verhieß diese Unachtsamkeit nicht, dass sie auch andere Dinge in seiner Gegenwart nicht für sich behalten konnte.
»Ah. Sie wissen es also«, sagte er.
Sie suchte nach einer Erklärung und entschied sich für eine, die selbst in seinen Augen plausibel klingen musste. »Als Sie gestern Abend sagten, Sie seien von Scotland Yard, wollte ich wissen, ob das stimmt. Also habe ich mich darangemacht, es herauszufinden.« Sie wandte einen Moment den Blick ab. Sie sah, dass die Möwen sich auf der nahen Klippe für die Nacht versammelten. Paarweise ließen sie sich auf Vorsprüngen und in Felsspalten nieder und sträubten die Federn, dicht zusammengedrängt gegen den Wind. »Es tut mir furchtbar leid, Thomas«, sagte sie.
Nach einem kurzen Schweigen, währenddessen weitere Möwen landeten und andere kreischend davonflogen, erwiderte er: »Sie haben keine Veranlassung, sich zu entschuldigen. Ich hätte in Ihrer Situation das Gleiche getan. Ein Fremder in Ihrem Haus, der behauptet, ein Polizist zu sein. Draußen ein Toter. Was sollten Sie da glauben?«
»Das meinte ich nicht.« Sie sah ihn wieder an. Er stand mit dem Gesicht, sie mit dem Rücken zum Wind, und trotz der Spange schlugen ihr die Haare ins Gesicht.
»Was sonst?«, fragte er.
»Ihre Frau«, antwortete sie. »Es tut mir so furchtbar leid, was mit ihr passiert ist. Grauenhaft, was Sie durchmachen mussten.«
»Ah«, sagte er. »Ja.« Sein Blick schweifte zu den Seevögeln. Daidre wusste, er betrachtete jene genauso wie sie selbst: Die Möwen schlossen sich zusammen, nicht weil sie sich in der Masse sicherer fühlten, sondern weil eine bestimmte zweite Möwe Geborgenheit versprach.
»Für sie war es noch weitaus grauenhafter als für mich«, bemerkte er.
»Nein«, entgegnete Daidre. »Das glaube ich nicht.«
»Wirklich nicht? Ich würde sagen, es gibt kaum etwas Grauenhafteres, als durch eine Schussverletzung zu sterben. Vor allem wenn der Tod nicht sofort eintritt. Das musste ich nicht durchmachen. Helen schon. Gerade steht sie noch da und versucht, ihre Einkäufe durch die Haustür zu bugsieren, und im nächsten Moment wird sie angeschossen. Ziemlich erschreckend, denken Sie nicht?« Er klang bitter, und er schaute sie nicht an, während er sprach. Aber er hatte sie missverstanden, und das wollte Daidre aufklären.
»Ich glaube, der Tod ist lediglich das Ende dieses Teils unserer Existenz, Thomas. Die menschliche Erfahrung des spirituellen Wesens. Dann verlässt der Geist den Körper und wandert zur nächsten Ebene. Und was immer diese nächste Ebene ist, sie ist besser als das hier, denn wo läge sonst der Sinn?«
»Glauben Sie das wirklich?« Sein Tonfall lag irgendwo zwischen verdrossen und ungläubig. »Himmel und Hölle und dieser ganze Unsinn?«
»Nicht Himmel und Hölle. Das kommt einem doch alles ziemlich albern vor. Gott oder wer auch immer soll da oben auf seinem Thron sitzen, die eine Seele hinabstürzen in die ewige Verdammnis, die andere emporheben, auf dass sie mit den Engelein jubiliere? Das kann es nicht sein, was all das hier zu bedeuten hat.« Sie wies über die Klippen und das Meer. »Aber dass es etwas gibt, was über das alles hier hinausgeht, was wir in diesem Moment begreifen können? Ja, daran glaube ich allerdings. Sie… Sie sind immer noch das spirituelle Wesen, das die menschliche Erfahrung durchläuft, während Ihre Frau jetzt weiß…«
»Helen«, unterbrach er. »Ihr Name war Helen.«
»Helen, ja. Entschuldigung. Helen weiß jetzt, was all das zu bedeuten hatte. Aber für Sie ist das ein schwacher Trost. Ich meine… zu wissen, dass Helen weitergezogen ist.«
»Es war nicht ihre Entscheidung«, wandte er ein.
»Ist es das denn jemals, Thomas?«
»Freitod.« Er sah ihr direkt ins Gesicht.
Sie schauderte. »Das ist kein Ausweg. Es ist eine Entscheidung, die auf der Überzeugung basiert, dass es keinen Ausweg gibt.«
»Gott.« In seiner Wange zuckte ein Muskel.
Sie bereute ihre Indiskretion bitterlich. Ein einziges Wort Mylord hatte ihn auf seinen Schmerz reduziert. So etwas brauche Zeit, wollte sie ihm sagen. Nur ein Klischee, aber es lag so viel Wahrheit darin.
Sie fragte: »Thomas, hätten Sie Lust, einen Spaziergang zu machen? Es gibt da etwas, was ich Ihnen gerne zeigen möchte. Es ist ein Stück zu laufen… vielleicht eine Meile den Küstenpfad entlang. Aber das macht uns ordentlichen Appetit aufs Abendessen.«
Sie dachte schon, er würde ablehnen, aber das tat er nicht. Stattdessen nickte er, und sie bedeutete ihm mit einer Geste, ihr zu folgen. Sie gingen in die Richtung, aus der sie gerade gekommen war, stiegen zuerst hinab in eine weitere Bucht, wo große Schieferflossen aus der Brandung ragten und sich einer tückischen Klippe aus Sandstein und Ton entgegenreckten. Der Wind und die Wellen machten das Sprechen schwierig, genau wie die Tatsache, dass sie hintereinander gingen, also sagte Daidre nichts, und auch Thomas Lynley schwieg. Es war besser so, befand Daidre. Einen Augenblick kommentarlos verstreichen zu lassen, war manchmal eine heilsamere Methode, als an eine frische Wunde zu rühren.
An einigen windgeschützten Stellen hatte der Frühling Wildblumen hervorgelockt. Der Pfad war vom Gelb des Jakobskrauts gesäumt, durchbrochen vom Rosa der Grasnelken und Erika. Traubenhyazinthen zeigten an, wo in grauer Vorzeit Wälder gestanden hatten. In unmittelbarer Nähe der Klippen, wo sie kletterten, gab es kaum Bauwerke. Doch in der Ferne duckten sich steinerne Farmhäuser neben einer Handvoll größerer Scheunen, und die dazugehörigen Rinder grasten auf Weiden, umgeben von Cornwalls typischen Hecken, in denen Wildröschen und Nabelkraut wuchsen.
Das nächstgelegene Dorf war Alsperyl, wo sich auch ihr Ziel befand. Das Örtchen bestand aus einer Kirche, dem Pfarrhaus, einer Ansammlung von Cottages, einer uralten Schule und einem Pub: allesamt aus dem typischen Stein dieser Gegend erbaut und unverputzt und etwa eine halbe Meile östlich des Küstenpfads jenseits einer buckligen Weide gelegen. Nur der Kirchturm war von ihrer derzeitigen Position aus sichtbar. Daidre zeigte in die Richtung und erklärte: »St. Morwenna. Aber wir gehen noch ein Stück weiter, wenn Sie können.«
Er nickte, und sie kam sich ob ihrer letzten Bemerkung albern vor. Er war kein Invalide; Trauer nahm einem schließlich nicht die Fähigkeit zu laufen. Sie nickte ihrerseits und führte ihn vielleicht noch zweihundert Meter weiter, wo eine Unterbrechung in der windzerzausten Heide auf der Seeseite des Pfades eine grob gehauene Steintreppe enthüllte.
»Es ist kein langer Abstieg, aber seien Sie vorsichtig«, mahnte sie. »Es ist ein tückischer Abgrund, und wir sind an die fünfzig Meter oberhalb der Wasserlinie.«
Die Treppe schmiegte sich an die Rundung der Klippe und führte zu einem weiteren schmalen Pfad, der mit Ginster und Mauerpfeffer überwuchert war, der hier trotz des Windes gedieh. Nach weiteren zwanzig Metern endete der Weg abrupt, jedoch nicht an einem plötzlichen Abgrund, wie man hätte annehmen können. Vielmehr war hier ein Unterstand in den Fels geschlagen worden. Die Vorderseite war aus dem Treibholz gesunkener Schiffe gezimmert, und die Seitenwände, die aus der Klippe ragten, waren aus kleinen Sandsteinblöcken aufgeschichtet worden. Die Holzfront war altersgrau. Die Scharniere der groben zweigeteilten Tür bluteten Rost auf die schartigen Bohlen.
Daidre wandte sich zu Thomas Lynley um, um seine Reaktion auszuloten. Solch ein Bauwerk an einem so entlegenen Ort? Seine Augen hatten sich geweitet, und ein Lächeln lauerte in seinen Mundwinkeln. Sein Ausdruck schien zu fragen: Was ist das hier?
Sie beantwortete seine ungestellte Frage und hob die Stimme, um den Wind zu übertönen, der immer noch an ihnen zerrte. »Ist sie nicht wunderbar, Thomas? Sie heißt "Hedras Hütte". Den Aufzeichnungen von Reverend Walcombe zufolge steht sie hier schon seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts.«
»Hat er sie erbaut?«
»Walcombe? Nein, nein. Er war kein Baumeister, sondern Chronist. Ein ziemlich guter, wenn Sie mich fragen. Er hat niedergeschrieben, was sich in und um Alsperyl zugetragen hat. Ich habe das Buch irgendwann einmal zufällig in der Bibliothek von Casvelyn gefunden. Er war… ich weiß nicht genau, vielleicht vierzig Jahre lang Vikar in St. Morwenna. Er hat versucht, die gequälte Seele zu erretten, die diese Hütte gebaut hat.«
»Ah. Das war dann wohl besagte Hedra?«
»Genau die. Sie war verwitwet. Ihr Mann — der in den Gewässern vor Polcare Cove fischte — geriet in einen Sturm und ertrank. Er ließ sie allein mit einem kleinen Sohn zurück. Wenn man Reverend Walcombe glauben will und er neigte nicht dazu, seine Berichte auszuschmücken, verschwand der Junge eines Tages. Vermutlich ist er zu nahe an den Rand einer Klippe geraten, die zu brüchig war, um sein Gewicht zu tragen. Statt den Verlust von Mann und Sohn innerhalb von sechs Monaten zu akzeptieren, beschloss die arme Hedra zu glauben, ein Selchie hätte den Jungen geholt. Sie redete sich ein, der Kleine wäre zum Wasser hinuntergegangen — Gott allein weiß, wie er das aus dieser Höhe geschafft haben sollte, und dort hätte die Robbenfrau auf ihn gewartet und ihn ins Wasser gelockt, um ihn dem Rest der…« Sie runzelte die Stirn. »Mist. Ich habe vergessen, wie man eine Robbengruppe nennt. Herde kann nicht stimmen. Schule? Aber das sagt man bei Delfinen. Na ja, spielt ja im Moment keine Rolle. Das war es jedenfalls, was passiert ist. Hedra hat diese Hütte gebaut, um auf seine Rückkehr zu warten, und das tat sie für den Rest ihres Lebens. Eine ziemlich ergreifende Geschichte, was?«
»Ist sie wahr?«
»Wenn man diesem Walcombe glauben kann. Kommen Sie mit rein! Es gibt noch mehr zu entdecken. Wir sollten zusehen, dass wir aus dem Wind herauskommen.«
Die obere und untere Türhälfte wurden von rauen Holzriegeln verschlossen gehalten, die durch ebenso raue Holzgriffe gesteckt waren und auf Haken ruhten. Während Daidre sie zurückschob und die Türen öffnete, sagte sie über die Schulter: »Hedra wusste genau, was sie tat. Sie hat sich eine ziemlich solide Hütte gebaut, um auf ihren Sohn zu warten. Mit einer Rahmenkonstruktion aus Holz. Drinnen gibt es eine umlaufende Bank, das Dach liegt auf stabilen Balken, und der Boden ist aus Schiefer. Es ist, als hätte sie gewusst, dass ihr eine lange Wartezeit bevorstand.«
Sie ging voraus, doch dann hielt sie abrupt inne. Sie hörte, wie er hinter ihr durch die niedrige Tür kam. »O verdammt«, rief sie verärgert, und er sagte: »Was für ein Jammer.«
Die Wand genau vor ihnen war verunstaltet worden, und nach den frischen Kratzern und Einschnitten im Holz der kleinen Hütte zu urteilen, war es erst kürzlich geschehen. Die Überreste eines eingeritzten Herzens — welches zweifellos die Initialen eines Liebespaares enthalten hatte — bildeten jetzt einen gerundeten Rahmen für eine Reihe tiefer Kerben, die beinah wie eine Fleischwunde aussahen. Von den Initialen war nichts mehr zu sehen.
»Nun ja«, sagte Daidre und bemühte sich, gelassen zu klingen. »Es ist ja nicht so, als wären die Wände nicht vorher schon verunstaltet worden. Wenigstens sind es keine Graffiti. Aber trotzdem fragt man sich… Warum tut jemand so was?«
Thomas nahm den Rest der Hütte mit ihren Schnitzereien aus mehr als zweihundert Jahren in Augenschein: Initialen, Daten, noch mehr Herzen, dann und wann ein Name. »Wo ich zur Schule gegangen bin«, sagte er nachdenklich, »gibt es eine Mauer. Sie ist nicht weit vom Eingang entfernt, sodass kein Besucher sie übersehen kann. Schüler haben dort ihre Initialen eingeritzt seit… ich weiß nicht… ich nehme an, seit der Regentschaft von Henry VI. Wenn ich dorthin zu Besuch fahre — das tue ich hin und wieder, das tut wohl jeder, dann suche ich nach meinen. Sie sind immer noch da. Irgendwie sagen sie mir, dass ich real bin. Ich existierte damals, ich existiere immer noch. Aber wenn ich all die anderen ansehe… und es sind Hunderte, wahrscheinlich Tausende… muss ich immer daran denken, wie flüchtig das Leben ist. Hier ist es dasselbe, finden Sie nicht?«
»Ich schätze schon.« Sie fuhr mit den Fingern über einige der älteren Schnitzereien: ein keltisches Kreuz, der Name Daniel, B.J. + S.R. »Ich komme gerne hierher, um nachzudenken«, gestand sie. »Manchmal frage ich mich, wer all diese Menschen waren, die sich so vertrauensvoll zusammengeschlossen haben. Und war ihre Liebe von Dauer? Das frage ich mich auch.«
Lynley berührte das entstellte Herz. »Nichts ist von Dauer«, sagte er. »Das ist unser Fluch.«