Kerra hatte eine schlaflose Nacht verbracht, und auch der darauffolgende Tag war bislang großteils ungenutzt verstrichen. Sie hatte zwar versucht, so gut wie möglich weiterzumachen, und sogar die Termine für die Vorstellungsgespräche eingehalten, die sie im Laufe der vergangenen Wochen mit einigen potenziellen Kursleitern vereinbart hatte. Sie hatte gehofft, sie könnte sich wenigstens mit der tröstlichen Illusion ablenken, dass Adventures Unlimited in naher Zukunft seine Türen öffnete. Aber der Plan war nicht aufgegangen.
Hier ist es. Dieser schlichte Satz, der Pfeil zu der großen Strandhöhle, die auf der Postkarte abgebildet war, und die Implikation, dass Unterhaltungen stattgefunden hatten zwischen der Verfasserin und dem Leser dieser Worte, die nichts mit der Geschäftsbeziehung zu tun hatten, die hinter, unter und jenseits dieser Unterhaltungen lag… Diese beunruhigenden und turbulenten Gedanken hatten Kerras Tag und die schlaflose Nacht zuvor bestimmt.
Die Postkarte steckte nun schon seit Stunden in ihrer Tasche und schien ein kleines rechteckiges Mal in ihre Haut zu brennen. Immer wenn sie sich bewegte, fühlte sie es, und es schien sie zu verhöhnen. Früher oder später würde sie irgendetwas unternehmen müssen. Dieses dumpfe Brennen gemahnte sie unablässig daran.
Obwohl sie es an diesem Tag nur zu gern getan hätte, hatte Kerra Alan nicht ausweichen können. Das Marketingbüro lag nun einmal nicht weit von ihrem eigenen Kämmerchen entfernt, und da sie die Bewerber um die Kursleiterpositionen einen nach dem anderen in die Lounge im ersten Stock geführt hatte, statt die Vorstellungsgespräche in besagtem Kämmerchen zu führen, hatten die Begrüßungen stets in unmittelbarer Nähe des Marketingbüros stattfinden müssen. Mehr als einmal war Alan herausgekommen, um sie zu beobachten, und Kerra hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, was diese Beobachtung und sein Schweigen implizierten.
Es war mehr als nur die Missbilligung ihrer Kandidaten gewesen — ausnahmslos junge Frauen. Er hatte seine diesbezügliche Meinung bereits zu einem früheren Zeitpunkt zum Ausdruck gebracht, und Alan war keiner von der Sorte, die ihren Standpunkt wieder und wieder betonten, wenn ihr Gegenüber ihrer Meinung nach auf stur geschaltet hatte. Vielmehr hatten ihr seine stummen Blicke gesagt, dass Busy Lizzie ihm von Kerras Besuch im Pink Cottage berichtet hatte. Wahrscheinlich hatte sie auch Kerras Vorwand erwähnt, einen persönlichen Gegenstand in Alans Zimmer suchen zu müssen, und nun fragte er sich natürlich, warum Kerra ihm selbst nichts davon erzählt hatte. Hätte er sich die Mühe gemacht zu fragen, hätte sie eine Antwort parat gehabt. Aber er hatte lediglich geschwiegen und beobachtet.
Sie fragte sich, wo ihr Vater steckte. Sie hatte ihn vor ein paar Stunden das Haus verlassen und Richtung St. Mevan Beach gehen sehen, und soweit sie wusste, war er noch nicht wieder zurückgekommen. Zuerst hatte sie angenommen, er wollte den Surfern zuschauen, denn die Wellen waren gut und der Wind ablandig, und sie hatte die stetige Karawane von Surfern mit eigenen Augen in Richtung Strand ziehen sehen. Hätten die Dinge anders gelegen, wäre womöglich auch ihr Bruder Santo dabei gewesen, er hätte sich vielleicht gerade jetzt in die Schlange eingereiht, um zu warten, bis er an der Reihe war. Und auch ihr Vater hätte dort sein können. Ihr Vater und ihr Bruder zusammen. Aber die Dinge waren nun mal nicht anders, und sie würden es auch nie mehr werden. Und genau das schien das Übel ihrer Familie zu sein.
Und die Wurzel dieses Übels war Dellen. Es war, als irrten sie alle durch ein Labyrinth auf der Suche nach seinem geheimnisvollen Zentrum, während Dellen die ganze Zeit über in diesem geheimnisvollen Zentrum lauerte wie eine Schwarze Witwe. Der einzige Weg, ihr zu entgehen, hätte darin bestanden, sie auszulöschen, aber dafür war es längst zu spät.
»Möchtest du irgendetwas?«
Es war Alan. Kerra saß in ihrem Büro und sah die kurze Liste der Bewerberinnen durch, was sich als zusehends deprimierende Tätigkeit erwies. Im Augenblick ging es um die Kajak-Sparte, und sie hatte heute bereits mit fünf potenziellen Trainerinnen gesprochen. Nur zwei davon hatten über die Vorkenntnisse verfügt, die sie für erforderlich hielt, und nur eine dieser beiden hatte auch die Statur gehabt, die darauf hindeutete, dass sie selbst Wassersport betrieb. Die andere hatte eher so ausgesehen, als sei sie bislang nur ein wenig den Avon auf und ab geschippert, und auf diesem Rinnsal bestand die größte Herausforderung vermutlich darin, den Jungschwänen mit den Rudern nicht die Schädel einzuschlagen.
Kerra klappte die letzte der Bewerbungsmappen behutsam zu. Sie überlegte, wie sie Alans Frage am besten beantworten sollte, wog ab, ob Ironie, Sarkasmus oder Schlagfertigkeit ihren Interessen am besten dienen würde, als er wieder das Wort ergriff. »Kerra? Möchtest du irgendetwas? Eine Tasse Tee? Kaffee? Etwas zu essen? Ich muss kurz weg, und auf dem Rückweg kann…«
»Nein. Danke.« Sie wollte ihm nicht zu Dank verpflichtet sein, nicht einmal in solch einer nichtigen Sache.
Stattdessen taxierte sie ihn, und er taxierte sie. Es war einer dieser Momente, da zwei Menschen, die einmal ein Liebespaar gewesen waren, einander in Augenschein nahmen wie Anthropologen, die in unerschlossenem Gelände nach Spuren einer untergegangenen Zivilisation suchten. Irgendwo musste es doch Hinweise und Anzeichen geben, einen Zugang oder zumindest Spuren davon…
»Wie läuft's denn so?«, fragte er.
Ihr war klar, dass er genau wusste, wie es lief, aber sie spielte das Spiel mit. »Ich habe ein paar gefunden, die durchaus infrage kommen könnten. Morgen führe ich weitere Gespräche. Aber die Frage ist, ob wir überhaupt eröffnen. Irgendwie scheinen wir unser Ziel nicht mehr vor Augen zu haben, vor allem heute nicht. Hast du meinen Vater gesehen?«
»Seit Stunden nicht mehr.«
»Was ist mit Cadan? Ist er zur Arbeit erschienen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht hat er sich direkt an die Heizkörper gemacht, aber gesehen habe ich ihn nicht. Es ist ziemlich still im ganzen Haus.«
Dellen erwähnte er mit keinem Wort. Sie war heute mehr denn je diejenige, die sie immer schon gewesen war, wenn die Dinge schwierig wurden: die Unaussprechliche. Schon der Gedanke an sie ließ alle in stumme Beklemmung verfallen. Dellen war wie ein übelriechendes totes Tier im Wohnzimmer: unmöglich zu ignorieren und doch zu peinlich, um Erwähnung zu finden.
»Was hast du…?« Kerra nickte zu seinem Büro hinüber. Er schien das als Einladung aufzufassen, denn er betrat ihr Kämmerchen, wozu sie ihn keineswegs hatte auffordern wollen. Sie wollte vielmehr, dass er auf Distanz blieb. Es war aus zwischen ihnen, hatte sie entschieden.
»Ich habe versucht, für das Video alle unter einen Hut zu bringen. Trotz alldem, was passiert ist, glaube ich immer noch…« Er zog sich den Stuhl heran, der an der Wand neben der Bürotür stand. Als er sich setzte, stießen ihre Knie fast zusammen. Das missfiel Kerra. Sie wollte keine wie auch immer geartete Nähe zu ihm zulassen. »Das hier ist wichtig«, fuhr Alan fort. »Ich will deinen Vater davon überzeugen. Ich weiß, das Timing könnte kaum schlechter sein, aber…«
»Aber doch nicht etwa auch meine Mutter?«, unterbrach Kerra ihn.
Alan blinzelte. Er schien einen Moment lang verwirrt. Vielleicht lag es an ihrem Tonfall. »Deine Mutter auch, aber eigentlich ist sie schon an Bord, wohingegen dein Vater…«
»Oh. Ist sie das?«, fragte Kerra. »Na ja, wenn ich darüber nachdenke, sieht es ihr ähnlich.« Es überraschte sie, dass er sich darauf einließ, über ihre Mutter zu sprechen. Dellens Meinung, ganz gleich in welcher Frage, hatte nie eine Rolle gespielt, schlicht und einfach weil sie unfähig war, an einer Meinung festzuhalten. Darum war es ein Schock, jetzt zu hören, dass jemand dieser Meinung offenbar irgendeine Bedeutung beimaß. Doch auf der anderen Seite ergab es durchaus einen Sinn. Alan arbeitete mit Dellen zusammen im Marketing wenn es denn gelegentlich vorkam, dass Dellen überhaupt arbeitete, also hatten sie das Videoprojekt natürlich besprochen, ehe sie es Kerras Vater präsentiert hatten. Sicher hatte Alan ihre Mutter auf seiner Seite haben wollen. Denn das würde bedeuten, dass er zumindest eine Stimme mit Sicherheit im Sack hatte, und zwar die Stimme einer Person, die beträchtlichen Einfluss auf Ben Kerne hatte.
Kerra fragte sich, ob Alan auch mit Santo gesprochen hatte und was Santo wohl von Alans Ideen für Adventures Unlimited gehalten hatte oder hätte.
»Ich würde gerne noch einmal mit ihm reden, aber ich habe ihn nicht mehr gesehen…« Alan zauderte. Dann endlich schien er seiner Neugier nachzugeben: »Was ist eigentlich los?«
»In welcher Hinsicht genau?«, fragte Kerra höflich.
»Ich habe sie gehört… Heute Morgen… Ich war nach oben gegangen auf der Suche nach…« Er errötete.
Ach, dachte sie. Waren sie endlich an dem Punkt angelangt?
»Auf der Suche nach…?« Jetzt klang sie schelmisch. Das Spiel gefiel ihr. Sie hätte nie für möglich gehalten, dass sie es fertigbringen könnte, denn sie fühlte sich alles andere als schelmisch.
»Ich habe deine Eltern gehört. Oder genauer gesagt, deine Mutter. Sie hat…« Er senkte den Kopf und schien sich auf seine Schuhe zu konzentrieren: zweifarbige Sattelschuhe, und Kerra betrachtete sie ebenso wie er. Sie überlegte, ob sie je einen anderen Mann Sattelschuhe hatte tragen sehen. Wie kam es nur, dass er sie tragen konnte, ohne wie ein Dandy aus einem Roman von P. G. Wodehouse auszusehen?
»Ich weiß, das alles ist schrecklich«, sagte er schließlich. »Ich bin mir einfach nur nicht im Klaren darüber, was von mir erwartet wird. Zuerst habe ich gedacht, es wäre richtig, einfach weiterzumachen wie bisher, aber so langsam kommt es mir unmenschlich vor. Deine Mutter ist unverkennbar außer sich, und dein Vater…«
»Woher willst du das wissen?« Die Frage entschlüpfte ihr, ehe sie es verhindern konnte, und sofort bereute sie es.
»Was wissen?« Alan schien verwirrt. Ihre Frage hatte ihn offenbar aus seinem Konzept gerissen.
»Dass meine Mutter außer sich ist.«
»Wie gesagt, ich habe sie gehört. Ich war nach oben gegangen, weil unten niemand war und wir inzwischen an dem Punkt sind, da wir entscheiden müssen, ob wir noch Buchungen annehmen oder die ganze Sache abschreiben.«
»Und das macht dir Sorgen, ja?«
»Sollte das nicht uns allen Sorgen machen?« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und sah sie direkt an, faltete die Hände vor dem Bauch und fragte schließlich: »Warum sagst du es mir nicht, Kerra?«
»Was?«
»Ich glaube, das weißt du.«
»Und ich glaube, du bluffst.«
»Du warst im Pink Cottage. Du hast mein Zimmer durchwühlt.«
»Welch eine überaus loyale Vermieterin du doch hast.«
»Was hast du denn erwartet?«
»Du willst wirklich wissen, wonach ich gesucht habe?«
»Du hast ihr gesagt, du hättest etwas vergessen, also nehme ich an, du hast etwas vergessen. Ich verstehe nur nicht, warum du mich nicht einfach gebeten hast, es dir mitzubringen.«
»Ich wollte dir keine Mühe machen.«
»Kerra.« Er atmete einmal tief und hörbar ein und wieder aus. Dann ließ er die Hände auf die Knie fallen. »Was in Gottes Namen ist hier eigentlich los?«
»Wie bitte?« Sie schaffte es erneut, verschmitzt zu wirken. »Vielleicht liegt es daran, dass mein Bruder ermordet worden ist? Ist das nicht Grund genug dafür, dass die Dinge vielleicht nicht ganz so laufen, wie du es gern hättest?«
»Du weißt genau, was ich meine. Da ist die Sache mit Santo, und Gott weiß, das ist ein Albtraum. Eine schreckliche Tragödie.«
»Nett von dir, Letzteres noch hinzuzufügen.«
»Aber darüber hinaus ist irgendetwas mit dir und mir geschehen, und ob du es nun zugeben willst oder nicht, es hat an dem Tag begonnen, als das mit Santo passierte.«
»Das, was Santo passierte, war Mord«, erwiderte Kerra. »Warum kannst du es nicht aussprechen, Alan? Wieso kannst du nicht Mord sagen?«
»Aus dem offensichtlichen Grund. Weil ich nicht will, dass du dich noch schlechter fühlst, als es bereits der Fall ist. Niemand sollte sich noch schlechter fühlen, als es bereits der Fall ist.«
»Niemand?«
»Du nicht, dein Vater nicht, deine Mutter nicht. Kerra…«
Sie stand auf. Die Postkarte versengte ihr die Haut. Sie zwang Kerra geradezu, sie aus der Tasche zu ziehen und Alan entgegenzufeuern. Hier ist es erforderte eine Erklärung. Doch die Erklärung existierte ja bereits. Nur deren Konfrontation stand noch aus.
Kerra wusste, wer ihr Gegenpart in dieser Konfrontation sein musste, und es handelte sich hierbei nicht um Alan. Also entschuldigte sie sich knapp, verließ das Büro und nahm die Treppe statt den Aufzug.
Ohne anzuklopfen, betrat sie das Schlafzimmer ihrer Eltern, die Postkarte in der Hand. Irgendwann im Laufe des Vormittages waren die Vorhänge geöffnet worden, sodass man Staubflocken in einem Rechteck aus schwachem Frühlingslicht tanzen sah. Aber niemand war auf die Idee gekommen, das Fenster zu öffnen, um die widerwärtig schlechte Luft herauszulassen. Es roch nach Schweiß und Sex.
Kerra hasste diesen Geruch: für das, was er über ihre Eltern aussagte, für den Würgegriff, in dem sie einander umklammert hielten. Sie durchschritt den Raum und stieß das Fenster auf, so weit es ging. Kalte Luft strömte herein.
Als sie sich umwandte, sah sie, dass das Bett ihrer Eltern zerwühlt und die Laken fleckig waren. Einige Kleidungsstücke ihres Vaters lagen in einem Häuflein auf dem Boden, als hätte sein Körper sich aufgelöst und einzig diese Spur hinterlassen. Dellen war auf den ersten Blick nicht zu sehen, bis Kerra um das Bett herumging und ihre Mutter auf einer dicken Schicht ihrer eigenen Kleidungsstücke auf dem Fußboden vorfand. Ihre Kleidung… Sie war rot. Alles war rot. Dellen hatte jedes einzelne rote Teil, das sie besaß, auf dem Boden verstreut.
Für einen Augenblick fühlte Kerra sich erneuert, während sie so auf sie hinabblickte: eine einzige Blüte, hervorgegangen aus der Knolle, endlich befreit von Erde und Stängel. Doch dann bewegten sich Dellens Lippen, die Zunge kam hervor, als wollte sie die Luft küssen. Ihre Hand öffnete und schloss sich wieder. Ihr Becken bewegte sich, lag wieder still. Ihre Lider flatterten. Sie seufzte.
Als Kerra dies sah, fragte sie sich zum ersten Mal, wie es wohl tatsächlich war, diese Frau zu sein. Aber sie wollte diesen Gedanken nicht weiterverfolgen, also hob sie den Fuß und kickte Dellens rechtes Bein unsanft vom linken hinunter. »Wach auf!«, befahl sie. »Wir müssen reden.« Sie betrachtete das Bild auf der Postkarte, um die Kräfte zu sammeln, die sie brauchen würde. Hier ist es, verkündete die rote Handschrift ihrer Mutter. O ja, dachte Kerra. Hier waren sie nun in der Tat. »Wach auf«, wiederholte sie lauter. »Steh vom Boden auf!«
Dellen öffnete die Augen. Für einen Moment schien sie verwirrt, bis sie Kerra erkannte. Dann raffte sie die Kleidungsstücke an sich, die ihrer rechten Hand am nächsten lagen. Sie presste sie sich an die Brust und legte dabei eine Schere und ein Tranchiermesser frei. Kerra sah von ihrer Mutter zurück zu den Kleidungsstücken auf dem Boden. Erst da erkannte sie, dass die Sachen allesamt zerschnitten, zerfetzt und völlig unbrauchbar gemacht worden waren.
»Ich hätte sie gegen mich selbst richten sollen«, flüsterte Dellen dumpf. »Aber ich konnte es nicht. Wärt ihr nicht glücklich gewesen, wenn ich es getan hätte? Du und dein Vater? Glücklich? O Gott, ich will sterben. Warum hilft mir denn niemand zu sterben?« Sie begann zu weinen, ohne Tränen zu weinen, und klaubte immer mehr der zerschnittenen Kleidungsstücke an sich heran, bis diese ein riesiges Kissen bildeten.
Kerra wusste, was das in ihr auslösen sollte: Schuldgefühle. Sie wusste auch, wozu sie ebendiese verleiten sollten: Vergebung. Sie sollte vergeben, vergeben und immer nur vergeben, bis sie irgendwann nur noch daraus bestand. Kerra, Inkarnation der Vergebung. Und verstehen: verstehen, bis nichts mehr von ihr übrig war als ein immerwährendes Ringen um Verständnis.
»Hilf mir!« Dellen streckte eine Hand aus, nur um sich gleich wieder zurück auf den Boden fallen zu lassen. Die Geste verursachte fast keinen Laut, und so sinnlos erschien sie auch.
Kerra stopfte die Postkarte zurück in die Tasche. Dann packte sie ihre Mutter am Arm und zerrte sie hoch. »Steh auf!«, befahl sie wieder. »Du brauchst ein Bad.«
»Ich kann nicht«, antwortete Dellen. »Ich versinke. Ich werde bald verschwunden sein, lange bevor ich…« Und dann ein kleiner, gerissener Richtungswechsel, als hätte sie in Kerras Gesicht einen Hauch von Brüchigkeit gelesen und wüsste, dass sie sich davor hüten musste. »Er hat meine Tabletten aus dem Fenster geworfen. Er hatte mich heute Morgen… Kerra, er… Er hat mich praktisch vergewaltigt. Und dann hat er… und dann hat er… dann hat er meine Tabletten weggeworfen.«
Kerra kniff die Augen zusammen. Sie wollte nicht über die Ehe ihrer Eltern nachdenken. Sie wollte ihrer Mutter lediglich die Wahrheit abringen, aber sie selbst musste den Kurs dieser Wahrheit bestimmen. »Hoch mit dir«, sagte sie. »Komm schon. Komm! Du musst aufstehen!«
»Warum hört mir denn keiner zu? Ich kann so nicht weitermachen. In meinem Innern ist ein so bodenloser Abgrund… Warum hilft mir denn keiner? Du? Dein Vater? Ich will sterben!«
Ihre Mutter war schlaff wie ein Sandsack, und es kostete Kerra unendlich viel Kraft, sie aufs Bett zu hieven. Dort blieb Dellen liegen. »Ich habe mein Kind verloren.« Ihre Stimme brach. »Warum versteht mich denn keiner?«
»Jeder versteht dich.« Kerra fühlte sich innerlich schrumpfen, als würde sie gleichzeitig niedergedrückt und verbrannt. Bald würde nichts mehr von ihr übrig sein. Nur Reden konnte sie noch retten. »Jeder weiß, dass du ihn verloren hast. Aber alle anderen haben Santo auch verloren.«
»Aber ich bin seine Mutter, Kerra, und nur eine Mutter…«
»Bitte.« Irgendetwas in Kerra zerbrach. Sie packte Dellen und zerrte sie hoch, zwang sie, sich auf die Bettkante zu setzen. »Jetzt ist Schluss mit dem Theater!«
»Theater?« Dellens Stimmung schlug um, wie so oft in der Vergangenheit, unvorhersehbar wie eine seismische Erschütterung. »Du nennst das hier ein Theater?«, empörte sie sich. »So reagierst du auf die Ermordung deines eigenen Bruders? Was ist nur los mit dir? Hast du überhaupt keine Gefühle? Mein Gott, Kerra! Wessen Tochter bist du eigentlich?«
»Ja, ich kann mir vorstellen, dass du dir diese Frage schon gelegentlich gestellt hast«, erwiderte Kerra. »Du hast die Wochen und Monate zurückgerechnet und gerätselt: Wem sieht sie ähnlich? Von wem ist sie? Wen kann ich als ihren Vater ausgeben, und das ist die kritische Frage, stimmt's nicht, Dellen? Wird er mir glauben? Oh, vielleicht, wenn ich jammervoll genug aussehe. Oder erfreut genug oder glücklich genug. Oder wie auch immer man aussehen muss, wenn man irgendeinen Schlamassel erklären will, den man angerichtet hat.«
Dellens Augen hatten sich verdunkelt. Sie schien vor Kerra zurückzuzucken und fragte: »Wie kannst du nur sagen…?« Sie hob die Hände und verdeckte das Gesicht in einer Geste, die Kerra wohl für Entsetzen halten sollte.
Es war an der Zeit. Kerra zog die Postkarte aus der Tasche. »Oh, hör auf damit!«, sagte sie, stieß die Hände ihrer Mutter weg und hielt ihr die Postkarte vors Gesicht. Sie legte ihr eine Hand in den Nacken, damit Dellen diesem Gespräch nicht entfliehen konnte. »Sieh mal, was ich gefunden habe. Hier ist es, Mum? Hier ist es? Was genau? Was ist es?«
»Wovon redest du? Kerra, ich habe keine…«
»Was? Du hast keine Ahnung, was ich da in der Hand halte? Du erkennst das Foto auf dieser Karte nicht? Du erkennst deine eigene verdammte Handschrift nicht? Oder ist es das hier: Du hast überhaupt keine Ahnung, woher diese Karte kommt, und falls du es doch weißt — denn uns beiden ist ja wohl sonnenklar, dass du es weißt, — dann kannst du dir einfach nicht erklären, wie sie in meine Hände gekommen ist? Also, was genau ist es, Mum? Antworte! Was?«
»Es ist nichts. Es ist nur eine Postkarte, Herrgott noch mal. Du benimmst dich wie…«
»Wie eine Frau, deren Mutter den Mann gefickt hat, den die Tochter heiraten wollte!«, schrie Kerra. »In dieser Höhle, wo du all die anderen auch gefickt hast.«
»Wie kannst du nur…«
»Weil ich es weiß! Weil ich dich beobachtet habe! Weil ich die Geschichte wieder und wieder mit angesehen habe! Dellen in Nöten, und wer sonst könnte ihr helfen, als einzig und allein ein williger Mann, ganz gleich welchen Alters, denn das war dir schon immer scheißegal, oder? Du musstest ihn einfach nur haben, ganz gleich wer er war, ganz gleich wem er gehörte… Denn was du wolltest, war immer wichtiger als…« Kerra spürte, dass ihre Hände zitterten. Sie drückte ihrer Mutter die Karte ins Gesicht. »Ich sollte dich… Gott! Gott, ich sollte dich…«
»Nein!« Dellen wand sich unter ihr. »Du bist ja verrückt!«
»Nicht einmal Santo kann dich aufhalten. Santo ist tot, und nicht einmal das kann dich aufhalten. Und ich hab noch gedacht: Das wird sie endlich aufrütteln. Aber das ist nicht passiert, oder? Santos Tod — Santos Ermordung — hat nicht den leisesten Eindruck bei dir hinterlassen. Nicht die geringste Ablenkung von deinen Plänen.«
»Nein!«
Dellen begann, sich zu wehren, schlug die Krallen in Kerras Hände und Finger. Sie trat und wollte sich wegrollen, aber Kerra war zu stark. Also fing sie an zu schreien.
»Du hast es getan! Du! Du!« Dellen packte ihre Tochter an den Haaren und versuchte, ihr mit den Fingern in die Augen zu stechen. Sie zerrte Kerra zu sich herab. Sie rollten auf dem Bett umher, suchten in dem Wirrwarr aus Laken und Decken Halt. Beide kreischten. Arme schlugen wild hin und her, Beine traten, Hände packten zu. Und fanden. Und verloren. Packten wieder zu, schlugen und zerrten, während Dellen immerfort schrie: »Du! Du! Du hast es getan!«
Die Schlafzimmertür flog krachend auf. Schritte eilten herbei. Kerra spürte, wie sie emporgezogen wurde, und hörte dann Alans Stimme an ihrem Ohr: »Ruhig«, sagte er. »Ganz ruhig. Ruhig! Jesus. Kerra, was tust du denn?«
»Zwing sie, es zu sagen!«, schrie Dellen. Sie hatte sich auf die Seite fallen lassen. »Zwing sie, dir alles zu sagen! Was sie Santo angetan hat. Zwing sie, dir von ihm zu erzählen. Santo!«
Alan hielt Kerra mit einem Arm umschlungen und bewegte sich in Richtung Tür.
»Lass mich los!«, schrie Kerra. »Sie soll die Wahrheit sagen!«
»Du kommst jetzt mit!«, befahl Alan stattdessen. »Es wird Zeit, dass du und ich mal ein offenes Wort miteinander reden.«
Als Bea Hannaford und Barbara Havers auf dem Gelände des einstigen Luftwaffenlandeplatzes hielten, parkten dort gleich beide Fahrzeuge, die möglicherweise am Tag von Santo Kernes Tod in der Nähe der Unglücksstelle gesehen worden waren. Ein kurzer Blick durch die Autofenster verriet ihnen, dass Lew Angarrack eine Surfausrüstung und ein kurzes Brett in seinem RAV4 spazieren fuhr. Jago Reeths Defender hingegen war, soweit sie sehen konnten, leer. Die Karosserie war mit Rostflecken übersät — die salzige Seeluft war Gift für den Autolack, aber davon abgesehen war der Wagen erstaunlich sauber, zumindest für ein Fahrzeug, das rund um die Uhr und bei Wind und Wetter draußen stehen musste. Nur die Fußmatten waren sowohl auf der Fahrer- als auch auf der Beifahrerseite mit genug getrocknetem Schlamm übersät, um ihr Interesse zu wecken. Allerdings war Schlamm zwischen Spätherbst und Frühsommer ein eher unvermeidlicher und allgegenwärtiger Bestandteil des Lebens an der Küste, also besagten die Spuren im Defender nicht annähernd so viel, wie Bea es sich gewünscht hätte.
Da Daidre Trahair sich Gott weiß wohin verdrückt hatte, schien ein neuerlicher Besuch in der Surfbrettwerkstatt der folgerichtige nächste Schritt. Jeder Spur musste nachgegangen werden, und sowohl Jago Reeth als auch Lewis Angarrack würden erklären müssen, was sie während Santo Kernes Sturz in unmittelbarer Nähe verloren gehabt hatten, auch wenn Bea es derzeit vorgezogen hätte, Daidre Trahair in die Mangel zu nehmen, ganz wie sie es verdiente.
Unterwegs zu LiquidEarth hatte sie einen Anruf von Thomas Lynley bekommen. Er war von Newquay nach Zennor gefahren und jetzt auf dem Weg nach Pengelly Cove. Möglicherweise habe er etwas für sie, hatte er gesagt. Aber dieses Etwas erfordere weitere Nachforschungen in der Gegend, aus der die Kernes stammten. Er klang übertrieben erregt.
»Und was ist mit Dr. Trahair?«, hatte sie scharf gefragt.
Er habe sie noch nicht wieder gesehen, antwortete er. Aber damit habe er auch nicht gerechnet. Er habe nicht gerade Ausschau nach ihr gehalten, wenn er ehrlich sein solle. Er sei in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Diese neuen Erkenntnisse über die Kernes…
Doch Bea hatte nichts über die Kernes hören wollen, neue Erkenntnisse hin oder her. Sie traute Thomas Lynley nicht, und diese Tatsache machte sie wütend, denn sie wollte ihm trauen. Sie wollte ihm trauen können. Sie musste jedem trauen können, der an den Ermittlungen in der Mordsache Santo Kerne beteiligt war, und der Umstand, dass sie in Lynleys Fall nicht dazu imstande war, verleitete sie dazu, ihn alsbald abzufertigen. »Sollten Sie unterwegs zufällig die schöne, abgängige Dr. Trahair sehen, bringen Sie sie mir! Ist das klar?«
Völlig klar, versicherte Lynley.
»Und wenn Sie sich schon in den Kopf gesetzt haben, die Kernes genauer unter die Lupe zu nehmen, dann vergessen Sie nicht, dass auch Daidre Trahair Teil von Santos Geschichte ist.«
Sofern Madlyn Angarrack glaubwürdig sei, schränkte er ein. Denn eine verschmähte Frau…
»O ja. Wie wahr«, war sie ungeduldig dazwischengegangen. Aber Bea wusste: Was er sagte, war nicht von der Hand zu weisen. Madlyn Angarrack hatte auch keine reinere Weste als alle anderen.
Als sie die Werkstatt betraten, stellte Bea ihrer Begleiterin Jago Reeth vor, der gerade die raue Kante aus Fiberglas und Harz an den Rails eines Swallowtail-Boards abschliff, das auf zwei Holzböcken lag. Die Querbalken waren dick gepolstert, um die Lackierung des Bretts zu schonen, und Jago ging behutsam mit dem Schleifpapier zu Werke. Ein riesiger Schrank stand geöffnet daneben. Daraus schien Wärme zu entströmen, obwohl er nur mit weiteren Brettern bestückt war, die anscheinend darauf warteten, ebenfalls von Jago bearbeitet zu werden. LiquidEarth schien eine einträgliche Vorsaison zu haben, und nach dem Lärm aus dem Nebenraum zu urteilen, waren die Auftragsbücher auch weiterhin gefüllt.
Wie zuvor schon trug Jago einen weißen Wegwerfoverall. Der Overall machte den Großteil des Staubs, der seinen Körper bedeckte, unsichtbar, nicht aber den auf Gesicht und Haaren. Alles an ihm war weiß, sogar die Finger, und die Nagelhäutchen standen aus der weißen Schicht hervor wie das zehnfache körperlose Grinsen einer Cheshire-Katze.
Jago Reeth fragte Bea, ob sie dieses Mal Lew oder ihn sprechen wolle. Beide, antwortete sie, aber ihre Unterhaltung mit Mr. Angarrack könne ruhig noch ein bisschen warten. So verschaffte sie sich Gelegenheit, mit Jago allein zu sprechen.
Es schien dem alten Knaben nichts auszumachen, dass die Polizei ihn erneut sprechen wollte, allein oder in Anwesenheit seines Chefs. Er merkte allerdings an, er sei der Ansicht, er hätte ihnen bereits alles gesagt, was er über die Geschichte mit Santo und Madlyn wusste, doch Bea erwiderte freundlich, die Entscheidung wolle sie lieber selbst treffen. Er warf ihr einen skeptischen Blick zu, bat dann aber lediglich darum, mit seiner Schleifarbeit fortfahren zu dürfen, wenn es sie nicht störe.
Kein Problem, versicherte Bea, als das heulende Geräusch aus der Nachbarwerkstatt verstummte. Bea glaubte schon, Lew Angarrack würde zu ihnen stoßen, aber er blieb unsichtbar.
Dann sprach sie Jago Reeth ohne Umschweife darauf an, dass sein Defender an Santos Todestag in der Nähe der Absturzstelle gesehen worden war. DS Havers zückte Notizbuch und Stift.
Jago hielt mit der Arbeit inne, schaute zu Havers und legte den Kopf schräg, als versuchte er, Beas Frage einzuschätzen. »In der Nähe von Polcare Cove?«, fragte er. »Kann ich mir nicht vorstellen.«
»In Alsperyl, um genau zu sein«, erklärte Bea.
»Das nennen Sie nah? Alsperyl mag Luftlinie nah bei Polcare Cove liegen, aber mit dem Auto sind es etliche Meilen.«
»Zu Fuß über den Küstenpfad hätten Sie ohne Mühe von Alsperyl nach Polcare Cove gelangen können, Mr. Reeth. Selbst in Ihrem Alter.«
»Ach, und auf den Klippen bin ich auch gesehen worden, ja?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber die Tatsache, dass Ihr Wagen in der näheren Umgebung der Stelle stand, wo Santo Kerne zu Tode gekommen ist… Ich hoffe, Sie verstehen meine Neugier.«
»Hedras Hütte«, sagte er zögerlich.
»Was?«, fragte Sergeant Havers. Ihr Ausdruck ließ vermuten, dass sie sich fragte, ob das ein für diese Gegend gebräuchlicher Kraftausdruck war.
»Eine alte Holzhütte, die in die Klippen gebaut worden ist«, erklärte Jago ihr bereitwillig. »Dort war ich.«
»Darf man fragen, was Sie dort gemacht haben?«, erkundigte sich Bea.
Jago schien kurz darüber nachzudenken, ob ihre Frage oder gar eine Antwort unangebracht sein mochte. »Das war eine Privatangelegenheit«, erwiderte er schließlich. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit.
»Das werde ich entscheiden müssen«, stellte Bea klar.
Die Tür zur Shapingwerkstatt öffnete sich, und Lew Angarrack kam herein. Er war wie schon bei ihrem letzten Besuch genauso gekleidet wie Jago und trug Schutzmaske und -brille um den Hals. Rund um Augen, Nase und Mund war er rein von Staub, und der kreisförmige Ausschnitt wirkte seltsam rosa in dem umgebenden Weiß. Er tauschte einen unergründlichen Blick mit Jago.
»Ah. Und Sie waren ebenfalls in der Nähe von Polcare Cove, Mr. Angarrack«, sagte Bea zur Begrüßung. Die Überraschung auf Jago Reeths Gesicht entging ihr nicht.
»Wann soll das gewesen sein?« Angarrack legte Maske und Brille auf das Surfboard, das Jago bearbeitet hatte.
»An dem Tag, als Santo Kerne abgestürzt ist. Oder genauer gesagt: an dem Tag, als Santo Kerne ermordet wurde. Was haben Sie dort gemacht?«
»Ich war nicht dort«, erwiderte er. »Nicht in Polcare Cove jedenfalls.«
»Ich sagte, in der Nähe.«
»Dann meinen Sie Buck's Haven, wobei man wohl darüber streiten könnte, ob es in der Nähe liegt. Ich war dort zum Surfen.«
Jago streifte Lew Angarrack mit einem raschen Blick; Lew schien es jedoch nicht zu bemerken.
»Zum Surfen?«, wiederholte Bea. »Und wenn ich mir diese Wetterkarten ansehe, die ihr Surfer benutzt… Wie heißen die gleich wieder?«
»Isobarenkarten. Und ja, wenn Sie sie ansehen würden, würden Sie feststellen, dass die Wellen Mist waren, der Wind aus der falschen Richtung kam und es nicht lohnte rauszufahren.«
»Warum haben Sie sich dann die Mühe gemacht?«, fragte Havers.
»Ich wollte nachdenken. Das Meer war für mich dafür immer schon der beste Ort. Und wenn ich obendrein dabei noch ein paar Wellen erwische, ist es umso besser. Aber die Wellen waren nicht der Grund, warum ich dort war.«
»Worüber haben Sie nachgedacht?«
»Über die Ehe«, antwortete er.
»Ihre eigene?«
»Ich bin geschieden. Schon seit Jahren. Die Frau, mit der ich jetzt zusammen bin…« Er verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß. Er sah aus, als habe er eine Menge schlaflose Nächte hinter sich, und Bea fragte sich, wie viele davon wohl realistischerweise seiner verzwickten Beziehung zuzurechnen waren. »Wir sind seit ein paar Jahren zusammen. Sie möchte unbedingt heiraten. Ich ziehe es allerdings vor, die Dinge so zu belassen, wie sie sind. Oder mit ein paar marginalen Veränderungen.«
»Und welcher Art wären diese Veränderungen?«
»Was zum Henker geht Sie das an? Wir waren beide schon mal verheiratet und haben das alles schon mal mitgemacht, aber sie sieht es nicht so.«
Jago Reeth gab einen Laut von sich, der Ähnlichkeit mit einem Schnauben hatte. Er schien anzudeuten, dass er und Lew Angarrack in diesem Punkt einer Meinung waren. Er fuhr mit seiner Arbeit fort, und Lew warf einen Blick darauf. Er strich mit dem Finger über den fertig geschliffenen Bereich und nickte.
»Also, was genau haben Sie gemacht?«, fragte Bea den Surfer. »Sie sind mit dem Brett auf den Wellen rumgeschaukelt und haben überlegt, ob Sie sie heiraten sollen oder nicht?«
»Nein. Ich hatte mich bereits entschieden.«
»Und wofür?«
Er trat von den Holzböcken und dem Surfboard zurück. »Ich sehe nicht, was diese Frage mit Ihrem Fall zu tun haben sollte. Also lassen Sie mich auf den Punkt kommen. Wenn Santo Kerne von der Klippe gestürzt ist, wurde er entweder gestoßen, oder seine Ausrüstung hat versagt. Da mein Wagen ein gutes Stück von Polcare Cove entfernt und ich selbst zu der Zeit auf dem Wasser war, kann ich ihn schon mal nicht gestoßen haben. Bleibt seine Ausrüstung. Also nehme ich an, was Sie wirklich wissen wollen, ist, wer Zugriff auf seine Kletterausrüstung hatte. Habe ich uns auf dem direkten Weg ein wenig schneller ans Ziel gebracht, Inspector Hannaford?«
»Es gibt meistens ein halbes Dutzend Wege zur Wahrheit«, entgegnete Bea. »Aber Sie können diesen nehmen, wenn Sie wollen.«
»Ich habe keine Ahnung, wo er seine Ausrüstung aufbewahrt hat«, sagte Angarrack. »Ich nehme an, irgendwo zu Hause.«
»Sie war in seinem Auto.«
»Na ja, an dem Tag natürlich, oder?«, fragte er. »Schließlich war er doch zum Klettern rausgefahren, verdammt noch mal.«
»Lew… Sie macht nur ihren Job«, sagte Jago beschwichtigend, ehe er sich an Bea wandte: »Ich hatte Zugang zu seiner Ausrüstung, wenn man's genau nimmt. Und wusste, wo sie war. Der Junge und sein Vater hatten sich einmal zu oft gestritten…«
»Worüber?«, unterbrach Bea.
Jago Reeth und Angarrack tauschten einen Blick. Das entging Bea nicht, und sie wiederholte ihre Frage.
»Über alles Mögliche«, lautete Jagos Antwort. »Sie waren in vielen Dingen unterschiedlicher Meinung, und irgendwann hat Santo seine Ausrüstung aus dem Haus geschafft. Nach dem Motto: "Ich zeig's dir", wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ich zeig dir was genau, Mr. Reeth?«
»Ich zeig dir… was immer Jungen glauben, ihren Vätern zeigen zu müssen.«
Die Antwort war schwerlich zufriedenstellend. »Wenn einer von Ihnen etwas Relevantes weiß, möchte ich es jetzt hören«, erklärte Bea.
Wieder ein Blick zwischen den beiden, dieses Mal länger. Dann sagte Jago zu Lew: »Du weißt, dass es mir nicht ansteht, Kumpel…«
»Er hat Madlyn geschwängert«, eröffnete Lew. »Und er hatte nicht die Absicht, irgendetwas in der Sache zu unternehmen.«
Bea spürte, dass Sergeant Havers an ihrer Seite sich regte, erpicht darauf, sich einzumischen, aber noch hatte sie sich unter Kontrolle. Bea fragte sich, warum ihr diese Information so beiläufig von dem Mann mitgeteilt wurde, der den besten Grund gehabt hätte, etwas in der Sache zu unternehmen.
»Santo hat erzählt, sein Vater wolle, dass Santo zu seiner Verantwortung steht«, schaltete Jago sich ein. Dann fügte er hinzu: »Tut mir leid, Lew. Ich hab trotzdem weiterhin mit dem Jungen gesprochen. Schien mir das Beste, wo doch das Baby unterwegs war.«
»Also hat Ihre Tochter keinen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen?«, fragte Bea Angarrack.
»Sie wollte es behalten… das Kind…«
»Wollte?«, hakte Havers nach. »Und die Vergangenheitsform bedeutet…?«
»Fehlgeburt.«
»Wann genau ist das passiert?«, fragte Bea.
»Die Fehlgeburt? Anfang April.«
»Sie hat behauptet, zu dem Zeitpunkt hätte sie bereits Schluss mit ihm gemacht. Also hat sie ihn trotz Schwangerschaft in die Wüste geschickt.«
»Das ist korrekt.«
Hannaford warf Havers einen Blick zu, deren Miene unmissverständlich verriet, was sie dachte: Mannomann. Da waren sie aber auf eine höchst interessante Fährte gestoßen.
»Und was hielten Sie davon, Mr. Angarrack? Und Sie, Mr. Reeth, wo Sie sich doch solche Mühe gegeben hatten, den Jungen mit Kondomen zu versorgen?«
»Ich hielt überhaupt nichts davon«, räumte Angarrack ein. »Aber wenn "zu seiner Verantwortung stehen" bedeutet hätte zu heiraten, hätte ich es lieber gesehen, dass sie sich trennten, glauben Sie mir. Ich wollte nicht, dass sie ihn heiratet. Sie waren doch beide erst achtzehn, und außerdem…« Er winkte ab, als wollte er den Rest seines Satzes mit der Geste fortwischen.
»Außerdem?«, hakte Havers nach.
»Er hatte sein wahres Gesicht bereits gezeigt. Der Dreckskerl! Ich wollte nicht, dass meine Tochter noch irgendetwas mit ihm zu tun hatte.«
»Sie meinen, er hat sie zu einer Abtreibung überreden wollen?«
»Nein, was ich meine, ist, dass es ihm völlig gleichgültig war, was sie tat. Das war anscheinend sein Stil. Nur wusste Madlyn das zu Anfang noch nicht. Na ja, keiner von uns wusste das.«
»Es muss Sie verrückt gemacht haben, als Sie es herausgefunden haben.«
»Und in meinem verrückten Zustand habe ich ihn umgebracht?«, fragte Lew. »Wohl kaum. Ich hatte keinen Grund, ihn zu töten.«
»Der Missbrauch Ihrer Tochter ist kein ausreichender Grund?«, wollte Bea wissen.
»Es war vorbei und erledigt. Sie war… Sie ist dabei, darüber hinwegzukommen.« Und mit einem Blick zu Jago fügte er hinzu: »Ist es nicht so?«
»Ein langsamer Prozess«, antwortete Jago.
»Der durch Santos Tod sicher einfacher geworden ist«, bemerkte Bea.
»Ich hab's Ihnen schon einmal gesagt: Ich hatte keine Ahnung, wo er seine Ausrüstung aufbewahrte, und selbst wenn ich es gewusst hätte…«
»Ich wusste es«, unterbrach Jago Reeth. »Verstehen Sie, Santos Vater hat versucht, den Jungen zur Räson zu bringen, als Madlyn schwanger wurde. Wie gesagt, sie haben sich gestritten. Und zu diesem Streit gehörte auch dieses elende "Sei endlich ein Mann"-Thema, mit dem Väter ihren Söhnen früher oder später garantiert zu Leibe rücken. Doch für Santo war es einfacher, das Mannsein auf etwas anderes zu übertragen als auf die Verantwortung für ein Kind. Also hat er seine Kletterausrüstung geholt, um es zu tun. Statt: "Du willst, dass ich zu Madlyn stehe, also werde ich zu Madlyn stehen", war es für ihn einfacher zu sagen: "Du willst lieber, dass ich klettere statt zu surfen? Dann klettere ich eben. Und ich werde dir zeigen, was ein richtiger Kletterer ist." Und dann ist er losgezogen, um zu klettern. Bei jeder Gelegenheit. Er hat die Ausrüstung einfach im Kofferraum gelassen, fürs nächste Mal. Ich wusste, dass sie da war.«
»Darf ich annehmen, dass auch Madlyn das wusste?«
»Sie war übrigens bei mir«, fuhr Jago unbeirrt fort. »Wir sind zusammen nach Alsperyl gefahren und zu Hedras Hütte gegangen. Dort war etwas, was sie loswerden wollte. Das Letzte, was sie mit Santo Kerne verband.«
»Und was war das?«, fragte Bea.
Jago legte seinen Schleifblock behutsam auf der Oberfläche des Surfbretts ab. »Hören Sie, sie hatte sich rettungslos in Santo verliebt. Er war… Tut mir leid, Lew, kein Vater hört das gern. Er war der Erste, mit dem sie im Bett gewesen war. Als die Sache dann vorbei war, war sie völlig am Ende. Dann hat sie auch noch das Baby verloren. Sie hatte Schwierigkeiten, mit all dem fertig zu werden. Wer hätte da nicht Schwierigkeiten gehabt? Also habe ich ihr geraten, sich von allem zu befreien, was mit Santo zu tun hatte. Das hat sie auch gemacht, und dann war nur noch diese eine Sache übrig. Und dazu waren wir dort, um es zu erledigen. Sie hatten ihre Initialen in die Bretterwand der Hütte geritzt. Alberne Kinderei, mit einem Herz darum und so weiter, Sie wissen schon. Wir sind hingegangen, um sie zu zerstören. Natürlich nicht die Hütte. Die steht schon seit… Jesus, wie lange? Hundert Jahre? Wir wollten die Hütte nicht beschädigen. Nur die Initialen auslöschen. Das Herz haben wir gelassen.«
»Und warum dann nicht den letzten logischen Schritt auch noch tun?«, fragte Bea.
»Und der wäre?«
»Ist das nicht offensichtlich, Mr. Reeth?«, warf Havers ein. »Warum nicht auch Santo Kerne zerstören?«
»Augenblick mal…«, meldete sich Lew Angarrack hitzig zu Wort, doch Bea ging sofort dazwischen: »Ist sie ihrer Veranlagung nach eifersüchtig? Neigt sie dazu zurückzuschlagen, wenn sie verletzt wird? Sie dürfen beide antworten.«
»Wenn Sie unterstellen wollen…«
»Ich versuche, die Wahrheit zu ergründen, Mr. Angarrack. Hat Madlyn Ihnen erzählt oder Ihnen, Mr. Reeth, dass Santo mitten in dieser Geschichte angefangen hat, sich mit jemand anderem zu treffen? Und "treffen" ist hier lediglich ein Euphemismus. Deutlicher gesagt: Er hat es mit einer älteren Frau hier aus der Gegend getrieben, während er es gleichzeitig mit Ihrer Tochter trieb und sie auch noch schwängerte. Das hat sie uns selbst erzählt bis auf die Sache mit der Schwangerschaft jedenfalls. Na ja, das musste sie auch, denn wir hatten sie schon mehr als einer Lüge überführt, und ich fürchte, inzwischen hat sie sich vollends in eine Sackgasse manövriert. Wie sich herausgestellt hat, ist sie dem Jungen gefolgt und hat ihn in flagranti mit dieser Frau erwischt: Der potente, kräftige junge Bock rammelte das alternde Schaf. Wussten Sie davon? Oder Sie, Mr. Reeth?«
»Nein. Nein«, sagte Lew Angarrack. Er fuhr sich mit der Hand durch das ergraute Haar und löste eine kleine Lawine aus Kunststoffstaub aus. »Ich war so mit meiner eigenen Beziehung beschäftigt… Ich wusste, die Sache mit ihr und dem Jungen war vorüber, und ich dachte, mit der Zeit… Madlyn war immer schon schwierig. Ich habe lange gedacht, es läge an ihrer Mutter und an der Tatsache, dass sie uns verlassen hat und Madlyn seither grundsätzlich nicht gut damit fertig wird, verlassen zu werden. Das schien mir nur natürlich zu sein, aber früher oder später kam sie doch immer darüber hinweg, wenn es zwischen ihr und einem anderen Menschen zu Ende ging. Ich dachte, sie würde auch über diese Geschichte hinwegkommen, sogar über den Verlust des Babys. Als sie dann so… verstört war, habe ich getan, was ich konnte, um ihr darüber hinwegzuhelfen.«
»Und das war?«
»Ich hab den Jungen rausgeworfen und sie ermutigt, wieder mit dem Surfen anzufangen. Wieder in Form zu kommen. Wieder an Wettkämpfen teilzunehmen. Ich habe ihr gesagt, niemand kommt durchs Leben, ohne dass jemand anderes einem das Herz bricht. Aber man erholt sich davon.«
»So wie Sie?«, fragte Havers.
»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen, ja.«
»Und was wussten Sie über diese andere Frau?«, wollte Bea wissen.
»Nichts. Madlyn hat nie auch nur ein Wort darüber verloren… Gar nichts wusste ich.«
»Und Sie, Mr. Reeth?«
Jago nahm den Schleifblock in die Hand und betrachtete ihn. Er nickte bedächtig. »Sie hat's mir erzählt. Sie wollte, dass ich mit dem Jungen rede. Vermutlich um ihn zur Vernunft zu bringen. Aber ich habe ihr erklärt, es würde nichts nützen. In dem Alter? Da denkt ein Junge doch nicht mit dem Kopf. Ich habe sie gefragt, ob sie das nicht wüsste. Und ich habe ihr auch gesagt, andere Mütter haben auch schöne Söhne, wie es so schön heißt. "Lass uns mit der traurigen Geschichte endgültig abschließen, Mädchen, und unser Leben leben. Anders geht's nicht."«
Er schien gar nicht zu merken, was er da gerade gesagt hatte. Bea ließ ihn nicht aus den Augen. Sie wusste, Havers tat das Gleiche. Bea sagte: »Anormal war der Begriff, mit dem die Beziehung beschrieben wurde, die Santo nebenher führte, während er noch mit Madlyn zusammen war. Angeblich hat Santo selbst das Wort verwendet. Und er hatte den Rat bekommen, ehrlich zu sein, was diese anormale Sache betraf. Vielleicht war er das ja auch, aber offenbar nicht Madlyn gegenüber. War er zu Ihnen ehrlich, Mr. Reeth? Scheinbar haben Sie ja einen Draht zu jungen Leuten.«
»Ich wusste nur, was unsere Madlyn wusste«, erwiderte Jago. »Anormal, sagen Sie? Das war das Wort?«
»Anormal, genau. Anormal genug für ihn, um sich deswegen einen Rat zu holen.«
»Eine Affäre mit einer älteren Frau war vielleicht anormal genug«, bemerkte Lew.
»Genug, um deswegen um Rat zu fragen?«, fragte Bea, mehr an sich selbst gerichtet.
»Ich nehme an, das hängt davon ab, wer die Frau war, oder?«, kommentierte Jago. »Aber darauf läuft es letzten Endes doch immer hinaus.«