Am frühen Morgen begab sich Bolitho aufs Achterdeck. Zwei Tage waren verstrichen, seit Adam mit Firefly eingetroffen war und ihm die Vorladung überbracht hatte.
Argonaute lag unter Marssegeln und Klüver behaglich auf Steuerbordbug. Ihre Decks waren noch taufeucht, die Seeleute räumten im Morgendämmerlicht geschäftig lose Taue weg und scheuerten die Decksplanken. Ein widerlicher Geruch kam aus dem Schornstein der Kombüse; bald würden alle Mann zum Frühstück entlassen werden.
Bolitho sah, wie der Wachhabende ihn verblüfft anstarrte und sich dann hastig zur Leeseite verzog. Auch die Rudergänger drückten das Kreuz durch; Augenblicke zuvor hatten sie sich noch müde an das Doppelrad gehängt und nur an Frühstück gedacht, wie miserabel es auch ausfallen mochte.
Ein, zwei Matrosen schauten vom Hauptdeck zu Bolitho auf. Seit seiner Verwundung hatten sie ihn nur selten zu Gesicht bekommen. Er hielt die Hand übers Auge und schaute zum Land: lila und tiefblau über einem stahlblauen Horizont. Am Himmel zogen vereinzelte Wolken dahin, deren Ränder die aufgehende Sonne rosa und golden färbte. Die See war ruhiger.
Er machte ein paar Schritte, hielt die Hände fest auf dem Rücken verschränkt. Als er nach einzelnen Gestalten Ausschau hielt, schlug sein Herz schneller. Bis auf jene, die in den Schatten zwischen den Geschützen standen, konnte er alle erkennen.
Er rief den Wachhabenden an.»Guten Morgen, Mr. Machan.»
Der Offizier legte die Hand an den Hut und eilte herbei.»Ein schöner Tag, Sir Richard. «Das klang verwirrt und erfreut.
Bolitho musterte ihn eingehend. Er konnte ihn besser sehen, als er zu hoffen gewagt hatte, entsann sich aber, Sheaffe vor kurzem mit einem anderen Offizier verwechselt zu haben. Dann merkte er, daß Machan unter seinem scharfen Blick unruhig wurde.
«Ist vom Masttopp aus die Helicon zu erkennen?«fragte Bolitho.
Sie hatten Inchs Schiff und sein Schwesterschiff noch kurz vor Einbruch der Nacht gesehen; bei Tageslicht würden sie sich alle wieder zusammenfinden — außer der seltsam getarnten Barracouta — aber nur, um wieder an Stärke zu verlieren, wenn das Flaggschiff nach Malta segelte.
Es war Wahnsinn, aber Bolitho wußte, daß der Befehl ihm keinen Spielraum für Auslegungen ließ. Wenn Keen vor ein Tribunal zitiert wurde, mußte er sich auf eigenem Kiel dorthin begeben. Kam er als Passagier auf einer Kurierbrigg, erklärte er sich praktisch schuldig.
Er stellte fest, daß er wieder rastlos auf- und abging und daß Machan auf seinen Posten an den Netzen zurückgekehrt war. Die Nachricht würde sich erst unter Deck und dann auf allen anderen Schiffen des Geschwaders verbreiten: Der Admiral war wieder auf den Beinen.
Bolitho setzte sich mit Belindas Brief auseinander. Er war noch immer nicht ganz sicher, was er eigentlich erwartet hatte. Auf jeden Fall mehr. Ihr Brief war nicht kurz, ließ aber jede persönliche Note vermissen. Sie hatte von Haus und Hof geschrieben, von Fergusons Absicht, den Gemüsegarten zu vergrößern, von dem alten Steuereinnehmer, dessen Frau schon wieder ein Kind erwartete.
Seltsam, er hatte sich den Brief nicht von Yovell oder Ozzard vorlesen lassen, sondern Zenoria gerufen. Ihre Stimme hatte eher wie die Belindas geklungen, doch der Brief selbst war oberflächlich und ausweichend gewesen; London oder ihr kühler Abschied blieben unerwähnt.
Der Brief schloß:»Deine Dich liebende Frau Belinda.»
Er entsann sich an den Klang ihres Namens auf Zenorias Lippen; wie sehr ihn das bewegt und beunruhigt hatte.
Das Mädchen hatte ihm den Brief zurückgegeben und gesagt:»Sie ist eine gute Frau, Sir.»
Bolitho hatte ihre Verzweiflung, ihren Neid gespürt. Keen mußte ihr von Pullens Besuch erzählt haben.
«Kommen Sie ein bißchen näher«, hatte Bolitho gesagt. Als sie sich neben ihn setzte, ergriff er ihre Hände.»Keine Angst, ich halte mein Wort.»
Ihre Antwort hatte Zweifel verraten:»Wie wollen Sie mir jetzt noch helfen, Sir? In Malta wartet Gefängnis auf mich.»
Es hatte ängstlich, aber auch entschlossen geklungen.»Die bekommen mich nicht bei lebendigem Leibe! Niemals!»
Er hatte ihre Hand gedrückt.»Was ich Ihnen jetzt sage, muß unser Geheimnis bleiben. Wenn Sie es meinem Kapitän verraten, machen Sie ihn zum Komplizen. Er darf nicht noch mehr Schuld auf sich laden.»
Sie hatte eingewilligt.
Bolitho fröstelte. Noch immer wußte er nicht ganz genau, wie er sich der Angelegenheit annehmen sollte. Doch Zenoria durfte nicht verzagen. Womöglich stürzte sie sich über Bord oder tat sich ein Leid an, nur um nicht wieder eingesperrt zu werden.
Der Ausguck schrie:»Schiff in Südost! Die Helicon, Sir!»
Bolitho konnte sich Inchs Schiff vorstellen, dessen Segel in der schwachen Morgensonne wie rosa Muscheln leuchten mußten, wie es so auf die Argonaute zuhielt.
Wieder dachte er an Zenoria. Bald würde sie vom Eintreffen seines Stellvertreters erfahren. Damit wurde die Schraube weiter angezogen, die Fahrt zur herzlosen Obrigkeit in Malta rückte näher.
Keen kam barhäuptig und ohne Rock an Deck. Er starrte Bolitho an und suchte nach einer Erklärung.
Bolitho lächelte.»Schon gut, Val. Ich konnte nicht schlafen und wollte mir nur die Beine vertreten.»
Keen grinste erleichtert.»Tut richtig gut, Sie wieder an Deck zu sehen, Sir!«Dann wurde er ernst.»Ich möchte Sie nicht weiter belasten, aber.»
Bolitho unterbrach ihn.»Ich habe schon einen Plan.»
«Aber, Sir.»
Bolitho hob die Hand.»Ich weiß, was Sie sagen wollen: daß die Verantwortung nur bei Ihnen liegt. Aber da irren Sie sich. Solange meine Flagge über diesem Geschwader weht, fühle ich mich für die Angelegenheiten meiner Offiziere und insbesondere meines eigenen Flaggkapitäns verantwortlich. «Seine Stimme klang bitter, als er hinzufügte:»Seit mein Bruder zur amerikanischen Marine desertierte, gibt es Leute, die meine Familie unbedingt in Verruf bringen wollen. Mein Vater mußte darunter leiden, und ich selbst war mehr als einmal Ziel böswilliger Intrigen. Adam ebenfalls, aber das wissen Sie ja. Ich werde also nicht zulassen, daß man Sie ruiniert, nur um mir eins auszuwischen.»
«Glauben Sie denn wirklich, daß man dadurch Ihnen Schaden zufügen will, Sir?»
«Ohne jeden Zweifel. Doch niemand wird damit rechnen, daß ich Sie aus Ihrer Verantwortung entlasse und sie selbst auf mich nehme. «Kein Wunder, daß Pullen, dieser Aasgeier, so selbstsicher gewirkt hatte. Bei der Erkenntnis empfand er einen Haß, der ähnlich heftig war wie in dem Augenblick, als er beinahe die Breitseite nach der Kapitulation des französischen Zweideckers befohlen hatte.
Er hörte sich sagen:»Lassen Sie mich das auf meine Weise regeln, Val. Und danach machen wir uns auf die Suche nach dem wahren Feind — wenn es nicht schon zu spät ist.»
Keen beobachtete ihn. Hatte die Verwundung bei Bolitho Verfolgungswahn ausgelöst? Keen hatte zwar von den Angriffen auf die Familie Bolitho gehört, von den Methoden, mit denen in der Vergangenheit versucht worden war, Beförderungen zu verhindern oder tapfer verdiente Anerkennung zu versagen. Aber es konnte doch mitten im Krieg niemand so wahnsinnig sein, tiefsitzende Ressentiments dieser Art gegen ihn auszunutzen?
«Wenn nur Zenoria in Sicherheit wäre, Sir«, sagte Keen.
«Zenoria ist lediglich ein Werkzeug, Val, da bin ich ganz sicher. «Er drehte sich um, als der Midshipman rief:»Signal von Rapid, Sir!»
Bolitho sah die Flaggen von der Rah auswehen und hörte Keen sagen:»Sie können das Signal ja sehen, Sir!»
Bolitho versuchte, seine Erregung zu verbergen.»Recht deutlich. «Er wandte sich zur Poop. Bald würde der andere Verband abgenommen werden, und dann zum Teufel mit Tusons düsteren Prophezeiungen. Wenn Inch an Bord kam, sollte er einen Admiral vorfinden, keinen schwächlichen Krüppel. Er ging mit langen Schritten zu seinem Quartier und verlor nur einmal das Gleichgewicht, als das Schiff in ein tiefes Wellental tauchte.
Yovell schrak von seinem Schreibtisch auf, als er Bolitho durch die Tür schreiten sah.
«Ich möchte Instruktionen für Kapitän Inch von der Heli-con diktieren. Anschließend werde ich den Gentleman an Bord empfangen, ehe wir uns wieder trennen«, sagte er. Beflissen zog Yovell Schubladen auf und suchte nach einer neuen Feder.»Und dann soll Midshipman Hickling bei mir erscheinen.»
Yovell nickte.»Ich verstehe, Sir Richard.»
Bolitho musterte ihn scharf. Nichts verstehst du, aber das macht nichts.
«Der Arzt erwartet Sie, Sir«, sagte Yovell.
Bolitho stützte sich mit beiden Händen auf den Sessel und betrachtete sein Spiegelbild. Die kleinen Schnittwunden waren fast verheilt, sein Auge sah beinahe normal aus. Selbst das gelegentliche Brennen war weniger spürbar.
«Schicken Sie ihn rein. «Er zupfte am Verband.»Ich habe gleich eine Aufgabe für ihn.»
Allday kam durch die andere Tür und sah besorgt zu, wie Bolitho sich anschickte, selbst den Verband abzunehmen.»Sind Sie auch ganz sicher, daß das klug ist, Sir?»
«Sie können sich später als Barbier betätigen.»
Allday warf einen Blick auf Bolithos schwarzes Haar. Sieht doch noch ganz passabel aus, dachte er, wollte aber Bolithos neugefundene Energie nicht dämpfen.
Tuson dagegen nahm kein Blatt vor den Mund, als er Bolitho untersuchte.»Wenn Sie schon nicht auf mich hören wollen, Sir«, sagte er zornig,»dann warten Sie wenigstens ab, bis Sie von einem Fachmann untersucht worden sind!»
Der Verband fiel zu Boden, und Bolitho mußte sich zusammennehmen, um nicht zu zucken oder die Fäuste zu ballen, als der Arzt sein Auge zum hundertsten Mal untersuchte.»Es hat sich nicht gebessert«, sagte Tuson nach einer Weile.»Wenn Sie sich nur schonen wollten…»
Bolitho schüttelte den Kopf. Er konnte auf dem Auge nur undeutlich sehen, aber die Schmerzen waren nicht zu schlimm.»Ich fühle mich besser, und darauf kommt es an.»
Tuson schloß heftig seine Tasche.»Wenn Sie ein gemeiner Matrose wären, Sir Richard, würde ich Sie einen verdammten Narren heißen. «Er zuckte die Achseln.»Aber da Sie Admiral sind, schweige ich.»
Bolitho wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, und massierte sich dann das Auge. Anschließend starrte er sich mehrere Sekunden lang im Spiegel an. Er würde Joberts Geschwader ausfindig machen und vernichten, ganz gleich, was geschah. Und wenn seine Männer im Gefecht zu ihm aufschauten, mußten sie bei seinem Anblick Mut fassen, nicht ihn verlieren.
Während der fünfeinhalbtägigen Überfahrt nach Malta verbrachte Bolitho den Großteil seiner Zeit in der Kajüte, um Keen freie Hand für die Reparaturen und Änderung der Wacheinteilung zu lassen, für das Exerzieren an Segeln und Geschützen. Die Besatzung mochte ihren Kommandanten verfluchen, aber Bolitho war zufrieden, wenn er das Quietschen der Geschützlafetten auf den Decks hörte oder die Rufe der Offiziere, die zaghafte Landratten in schwindelnde Höhen scheuchten. Allerdings kamen sie nur sehr langsam voran, manchmal mit sechs Knoten oder weniger. Ihm war deutlich bewußt, daß die Rückkehr auf ihre Station ebensoviel Zeit in Anspruch nehmen würde.
Zu seinem Vertreter Inch, einem geschickten und erfahrenen Kommandanten, hatte er kein unbegrenztes Vertrauen. Er besaß zwar genug Initiative, zögerte aber oft, sie zu ergreifen. Das machte Bolitho, dem der pferdegesichtige Inch über die Jahre ans Herz gewachsen war, Sorgen.
Keen kam und meldete, daß der Ausguck die Insel Malta gesichtet hätte.»Einlaufen werden wir erst am Spätnachmittag oder vielleicht während der Hundewache, Sir«, ergänzte er.»Es sei denn, der Wind frischt auf.»
Bolitho merkte, daß Keen sich alle Mühe gab, nicht in sein unverbundenes Auge zu starren. Über die Verletzung wurde nie gesprochen, doch man war sich ihrer immerzu bewußt.
«Gut. Wenn wir auf der Reede sind, komme ich an Deck.»
Keen ließ ihn allein, und Bolitho setzte sich. Was war der nächste Schritt? Würde man ihn wegen seiner Verletzung vorübergehend ablösen oder ihm sein Kommando gar ganz nehmen? Keen meinte, er bilde sich diese Intrige nur ein, aber es waren einfach zu viele Zufälle auf einmal. Bolitho zog die Stirn kraus, als er sich seine Offiziere und Kommandanten vorstellte. Houston von der Icarus war der wahrscheinlichste Kandidat, da er zum Zorn neigte und einen Groll gegen Keen hegte. Auch seinen Admiral liebte er nicht gerade.
Er faßte einen Entschluß. Wenn er mit keinem Argument die Anschuldigungen vom Tisch fegen und auch das Mädchen nicht retten konnte, mußte er zum äußersten bereit sein.
«Ozzard, sagen Sie Allday, er soll Zenoria zu mir bringen. «Er trat an die Fenster und sah achteraus ein kleines Fischerboot auf den Wellen tanzen. Malta, immer wieder umkämpft, erobert und verloren, hatte den Schutz der britischen Marine eher aus Angst vor den Franzosen als aus Loyalität zu Großbritannien angenommen.
Bolitho stieß eine stumme Verwünschung aus, als das Schiff beim Kurswechsel überholte. Fast hätte er wieder das Gleichgewicht verloren. Das war ebenso entnervend wie der Nebel, der vor seinem Auge hing wie feine Seide.
Die Tür ging auf, und Allday kam mit Zenoria herein.
«Es ist fast soweit. «Bolitho geleitete sie zu einem Sessel und sah, wie sie die Armlehnen umklammerte, was ihre Fassung Lügen strafte. Er trat hinter sie und berührte ihr langes Haar.»Sind Sie auch ganz sicher, Sie tapferes Mädchen?»
Sie nickte und packte die Lehnen noch fester.
«Na, dann Kopf zurück, Miss«, murmelte Allday heiser.
Sie legte den Kopf auf die Rücklehne, knöpfte nach kurzem Zögern ihr Hemd auf und legte ihren Hals frei. Bolitho ergriff ihre Hand. Kein Wunder, daß Keen sie anbetete.
«Ich bringe es nicht fertig, Sir«, sagte Allday verzweifelt.
«Fangen Sie an«, sagte sie leise.»Sofort!»
Allday stieß einen tiefen Seufzer aus, ergriff ihr Haar und zückte die Schere.
Bolitho sah die schwarzen Locken zu Boden fallen.»Ich gehe jetzt an Deck. «Er drückte ihre Hand, die trotz der Schwüle in der Kajüte eiskalt war.»Allday kümmert sich um Sie. «Dann beugte er sich vor und küßte sie sanft auf die Wange.»Ihr Mut wird uns allen Kraft geben, Zenoria.»
Später, als er zu Keen aufs Achterdeck trat und zusah, wie sich der Hafen mit den weißen Festungsanlagen vor ihnen öffnete, mußte er seine Besorgnis mit Gewalt unterdrücken.
Salutschüsse begannen über das stille Wasser zu hallen, und auf der nächstgelegenen Batterie dippte man die Flagge. In Malta lagen zahlreiche Küstenfahrzeuge und mehrere große Kriegsschiffe. Bolitho hob ein Teleskop und hielt es vorsichtig an sein gutes Auge. Am nächsten zum Kai lag ein eleganter Zweidecker, von dessen Besanmast müde die Flagge eines Konteradmirals flatterte.
Ihm schnürte es die Kehle zu, denn das war eindeutig die Benbow. Vor seinem inneren Auge tauchten Bilder auf. Wann war er selbst Konteradmiral gewesen? Vor drei Jahren in der Ostsee, als sein Neffe Adam Dritter Offizier und Herrick Flaggkapitän seines Schiffes gewesen war.
Von dem schweren, schwarzbraunen Rumpf wanderte sein Blick zu einer stämmigen Brigg, die viel näher zu ihnen verankert war. Ungeduldig wartete er, bis sie in der sanften Brise an ihrem Ankertau herumgeschwojt war und die Sonne ihr vergoldetes Heck aufblitzen ließ. Dann erkannte er aufatmend ihren Namen: Lord Egmont. Sie war eines der ältesten Falmouth-Frachtschiffe, und er hatte sie schon als Fähnrich gekannt. Mit ihrer Anwesenheit hatte er gerechnet, da ihr Name in seinen Instruktionen von der Admiralität aufgetaucht war. Doch Wind und See oder der Feind hätten alles ändern können. Und selbst jetzt noch.
Er setzte das Glas ab, und die Brigg verschwand wieder in der dunstigen Ferne.
Der Pulverdampf des Saluts hing noch über den Rahen, als Matrosen herbeigepfiffen wurden, um die beiden Kutter zu Wasser zu lassen für den Fall, daß der Wind für die Wende am Ankerplatz nicht stark genug war. Ein Wachboot lag reglos im glitzernden Wasser; wahrscheinlich interessierte sich nur seine Besatzung für ihre Ankunft. Kriegs — schiffe waren hier eine alltägliche Erscheinung, Aufmerksamkeit erregten nur die Truppentransporter und Postschiffe aus England.
Keen legte die Hände um den Mund.»Klar zum Fallenlassen, Mr. Paget!»
Bolitho starrte zum Ufer mit der uralten Festung und seinem geschäftigen Markt. Ein Kriegshafen, wimmelnd wie ein Ameisenhaufen. Und ein gutes Betätigungsfeld für Spione.
Keen sagte:»Die Firefly ist bereits ausgelaufen, Sir.«»Aye. «Zumindest Adam war aus der Sache heraus, ganz gleich wie hilfsbereit er sich auch gezeigt hatte. Liegt diese Solidarität daran, daß wir alle aus Cornwall sind? überlegte er. Ein hoher Offizier hatte ihm einmal ins Gesicht gesagt:»Aus Cornwall? Ihr seid doch alle Piraten und Rebellen!»
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Argonaute endlich mit säuberlich aufgetuchten Segeln vor Anker lag. Sonnendächer wurden aufgespannt, und dann erwartete die Besatzung die kommenden Ereignisse.
Bolitho sah fremde Boote auf sie zuhalten: der Wachoffizier, ein Schiffsausrüster von der Werft, ein verlegen drein-blickender Fähnrich von der Garnison, der die Zofe Millie abholen kam. Sie schien nicht von Bord zu wollen und klammerte sich trotz des anzüglichen Grinsens der Matrosen an ihren Korporal, als gälte es ihr Leben.
Keen sah vom Poopdeck aus Leutnant Stayt mit dem Bootsmann sprechen. Dann lösten Matrosen die Verzur-rung der Admiralsbarkasse. Bolitho wollte an Land, früher als erwartet, was ihn unbehaglich stimmte.
Der Wachoffizier salutierte und reichte Keen einen amtlich aussehenden Umschlag. Dabei wirkte er betreten, als führe er einen Auftrag aus, der ihm gegen den Strich ging. Es handelte sich um eine Vorladung ins Hauptquartier: Keen hatte in zwei Tagen vor einem Tribunal der Admiralität zu erscheinen. Der befehlshabende Flaggoffizier mußte sie sofort nach Sichtung der Argonaute abgesandt haben.
Stayt wartete, bis das Wachboot abgelegt hatte, und ging dann nach achtern.
«Ich soll Sir Richards Depeschen an Land bringen, Sir.»
Keen nickte. Stayt würde also die Barkasse nehmen. Ihm fiel auf, daß sie von Bankart, dem Zweiten Bootsführer, kommandiert wurde. Ungewöhnlich, dachte er. Normalerweise führte Allday die Barkasse, wenn sie im Hafen oder unter den Augen der Flotte lagen.
Er hörte Midshipman Hickling um Erlaubnis bitten, mit der Gig zu einem in der Nähe liegenden Frachtschiff fahren zu dürfen. Paget war einverstanden, als er erfuhr, daß auch eine Nachricht vom Admiral mitgesandt werden sollte.
Keen schaute zur Flagge auf. Wenn sie wieder eingeholt wurde, mochte dies das Ende für sie beide bedeuten.
Midshipman Sheaffe kam eilig die Leiter zum Poopdeck hoch und meldete:»Empfehlung vom Admiral, Sir: Er erwartet Sie um acht Glasen.»
Keen biß die Zähne zusammen. Wenn Bolitho gute Nachrichten für ihn gehabt hatte, wäre er sofort gerufen worden.
Gereizt rief er Paget zu:»Lassen Sie alle Boote aussetzen und den Rumpf untersuchen. «Es war allerdings unwahrscheinlich, daß Schäden aus dem kurzen Gefecht übersehen worden waren. Er bürdete den Männern aus Zorn überflüssige Arbeit auf und wußte das auch.
Endlich hörte Keen die Schiffsglocke von der Back schlagen. Es wurde Zeit.
Plötzlich dachte er an seine Heimat Hampshire. Dort war es nun kalt und wahrscheinlich regnerisch; die Dorfbewohner bereiteten sich auf den Winter und möglicherweise auf einen Landungsversuch der Franzosen vor. Was würden seine Geschwister sagen, wenn sie von dem Kriegsgerichtsverfahren gegen ihn erfuhren? Seinen Vater würde es erschüttern, besonders da er von Anfang an nicht gewollt hatte, daß sein jüngster Sohn zur Kriegsmarine ging.
Als Keen in den Laternenschein der Achterkajüte trat, sah er zu seiner Überraschung, daß Bolitho seinen langen Bootsmantel trug, und glaubte einen Moment lang, Stayt habe seine Befehle mißverstanden.
Bolitho aber sagte gelassen:»Ich gehe an Land, Val, und nehme dazu Ihre Gig, falls Sie nichts dagegen haben. «Er lächelte rasch und nervös.»Das ist nicht ganz so förmlich.»
«Selbstverständlich, Sir. Das Schiff ist gesichert.»
Allday stapfte durch die Kajüte und nahm Bolithos alten Degen vom Halter. Keen überlegte. Demnach wollte Bo-litho also nicht den Admiral aufsuchen, der auf Malta den Oberbefehl hatte. Für förmliche Besuche wurde es ohnehin etwas spät.
Bolitho rückte die Waffe an der Seite zurecht.»Ehe ich den Fuß an Land setze, statte ich der Lord Egmont einen Besuch ab«, sagte er. Keen nickte. Er hatte mit angesehen, wie das Frachtschiff zum Auslaufen vorbereitet wurde. An Deck hatten Männer zusätzliche Ladung verzurrt, vermutlich die private Beute des Kapitäns.
«Wir bringen es am besten rasch hinter uns, Val«, meinte Bolitho. Er hob die Stimme:»Sind Sie fertig?»
Keen starrte verdutzt, als ein Midshipman durch die gegenüberliegende Tür kam. Dann begriff er.»Ich wußte nicht, daß du.»
Zenoria sah ihn fest an. Sie war in die komplette Uniform eines Midshipman gekleidet und trug sogar eine vergoldete Seitenwaffe. Keen trat mit offenen Armen auf sie zu, sie nahm den Hut ab, und er sah, was Allday mit ihrem Haar angerichtet hatte. Es war kurz und im Nacken säuberlich mit einer schwarzen Schleife zusammengebunden, wie es sich für einen >jungen Gentleman< gehörte, der im Begriff war, auf dem Boot seines Admirals das Kommando zu übernehmen.
Bolitho beobachtete die beiden und fühlte sich plötzlich wohl, wenn er an sein Vorhaben dachte.»Ich gehe an Deck«, sagte er.»Keine Ehrenwache, klar?»
Als die Tür sich schloß, nahm Keen sie in die Arme. Obwohl sie sich das Hemd ausgestopft hatte, um ihre Figur zu kaschieren, spürte er ihr Herz schlagen.
«Du hast mir nichts davon gesagt. «Erst jetzt ging ihm auf, was Bolitho getan hatte und warum er beim Einlaufen in den Hafen plötzlich so erregt gewesen war. Die Lord Egmont war auf der Heimreise nach Falmouth und dort ein so vertrauter Anblick wie die Burg Pendennis.
«Er bat mich, Schweigen zu bewahren. «Als sie zu ihm aufschaute, schimmerten ihre Wimpern im weichen Licht.»Ich habe einen Brief von ihm und etwas Geld dabei, für den Fall…»
Er zog sie noch fester an sich. Er hatte um ihre Sicherheit gebetet, selbst wenn das bedeutete, daß er sie verlor. Doch nun, da der Augenblick der Trennung gekommen war, fand er ihn fast unerträglich.
«Du mußt jetzt tapfer sein, mein Herz«, sagte sie leise.»Für uns beide.»
Ein Boot schabte an der Bordwand entlang, und Keen hörte Alldays Stimme.
«Wenn ich wieder in England bin.»
Sie nahm sein Gesicht in die Hände.»Ich warte dort auf dich. «Sie schaute ihn fest an.»Ganz gleich, was aus uns wird, ich warte. «Sie küßte ihn langsam und trat dann zurück.»Ich hab' dich lieb, mein Kapitän.»
Er sah zu, wie sie sich den Hut aufsetzte und schräg in die Stirn rückte. Sie wirkte sehr beherrscht.
«Alles klar, Sir!»
Er nickte, wollte sie noch einmal in die Arme nehmen, wußte aber, daß sie das beide nicht ertragen würden.
«Jawohl. An die Arbeit, Mr. Carwithen.»
An Deck war es fast dunkel. Keen stellte fest, daß die Laterne an der Schanzkleidpforte gelöscht worden war.
Das Boot wartete unterm Fallreep, und es waren nur wenige Männer an Deck, die mit ansahen, daß jemand das Schiff verließ. Keen sah Tuson und Paget, aber keiner sagte etwas; selbst der Gehilfe des Masters, der Wache hatte, trat zurück, als Bolitho vorbeiging, als existiere er überhaupt nicht.
Zenoria schaute ihn noch einmal an und legte grüßend die Hand an den Hut, ehe sie an der Bordwand hinunterkletterte.
Bolitho warf Keen einen Blick zu.»Der Kapitän der Lord Egmont ist ein alter Freund von mir, Val. Keine Sorge, Ihr Passagier ist bei ihm in guter Obhut. «Er warf sich den Mantel über die Schultern.»Wir haben keine Minute zu verlieren.»
«Vielen Dank, Sir«, sagte Keen.
Ohne einen weiteren Blick kletterte Bolitho hinunter ins Boot. Als die Bootsgasten anruderten, konnte Keen im Heck Allday erkennen, der die Hand auf Zenorias gelegt hatte und zusammen mit ihr die Pinne führte. Bolitho hatte sich so plaziert, daß die Rudermannschaft das nicht sehen konnte.
Ozzard kam übers Deck gesprungen und flüsterte verzweifelt:»Das Kleid, Sir! Sie hat Ihr Kleid vergessen!»
Keen wartete, bis die Gig zwischen den Schatten der verankerten Schiffe verschwunden war, und erwiderte dann:»Macht nichts. Das bringe ich ihr selbst nach England.»