Bolitho verharrte neben dem großen Ruderrad der Helicon, das erstaunlicherweise intakt geblieben war. Er hatte sich zu einer Inspektion des Decks gezwungen, um sich davon zu überzeugen, daß der Kampf wirklich schon zwei Wochen zurücklag. Auf dem Schiff sah es aus, als hätte er erst gestern gewütet.
Der Wind, der die Franzosen in dieses Gefecht geführt hatte, war einer Flautenperiode gewichen. Die letzten Meilen bis zum Treffen mit Argonaute waren für das Geschwader eine zusätzliche Tortur gewesen. Denn es lief noch eine hohe, ölige Dünung, auf der die harte, eher silberne als goldene Sonne die beschädigten Schiffe in der ganzen Unordnung der Niederlage bloßstellte.
An Deck schafften Matrosen von anderen Schiffen, denn aus Inchs Besatzung waren nur wenige arbeitsfähig geblieben. Das Knarren der Pumpen gemahnte an die Schäden, und aus einem Wirrwarr von Tauwerk und Taljen begann ein Notruder Gestalt anzunehmen. Bolitho fragte sich, wie das Schiff überlebt hatte: zerfetzte Decksplanken, große, getrocknete Blutflecken, umgekippte Geschütze, verkohlte Segelfetzen; nur die Toten fehlten, während die Verwundeten unter Deck jeder für sich um ihr Leben kämpften.
Das war kein Gefecht gewesen, sondern ein Gemetzel. Wäre Barracouta nicht unter Vollzeug angerauscht gekommen, hätte Helicon jetzt auf dem Meeresgrund gelegen. Wenn der Wind wieder auffrischte, mochte sie diese letzte Fahrt doch noch antreten. Barracouta hatte alle Vorsicht außer acht gelassen und bei dem Versuch, den Feind von seinem kalkulierten Angriff abzulenken, mehrere Tücher aus den Lieken gesegelt.
Allday fragte:»Warum kehren wir nicht zum Schiff zurück, Sir? Ein schönes Bad und eine Rasur würden Ihnen gut tun.»
Bolitho schaute ihn an.»Noch nicht. «Er war von der grausamen Zerstörung ringsum wie benommen.»Wenn ich diesen Tag jemals vergessen sollte, dann erinnere mich daran!»
Er sah Tuson unter der Poop stehen. Auch das Achterdeck war übel zugerichtet und verzogen. Es sah aus, als wäre es von einem Riesen, dessen Krallen große schwarze Narben hinterlassen hatten, zerquetscht worden. Viele waren hier gestorben, und noch viel mehr mußten künftig für diesen Tag büßen.
«Wie geht es ihm?»
Tuson musterte ihn leidenschaftslos.»Der Schiffsarzt hat ihm den Arm nicht weit genug abgenommen, Sir. Ich bin mit der Amputation unzufrieden und schlage vor.»
Bolitho packte ihn am Revers.»Verdammt noch mal, Sie reden hier von meinem Freund und nicht von einem Kadaver!«Dann wandte er sich ab und sagte leise:»Verzeihung.»
«Ich verstehe schon, Sir«, meinte Tuson.»Jedenfalls würde ich den Fall lieber selbst übernehmen. «Er verschwieg, was Bolitho bereits wußte: Der Schiffsarzt der Helicon hatte Inchs bereits ernste Verletzung mit seiner Behandlung noch verschlimmert. Fairerweise mußte man ihm zugestehen, daß er von der Flut verwundeter Männer, die ins Orlopdeck unter sein Messer oder seine Säge geschleift wurden, überfordert worden war.»Ich muß ihn sehen.»
Tuson schaute Bolitho von der Seite an.»Versprechen kann ich nichts.»
Unter der Poop hing immer noch der Gestank nach Feuer und Blut, Tod und blinder Wut. Einige Kanonen lagen auf der Seite oder weit binnenbords, wohin sie der Rückstoß nach der letzten Breitseite getragen hatte, ehe die Crews hingemetzelt oder geflohen waren. Die Sonne schien durch verformte, schartige Stückpforten.
Das Hämmern von draußen wurde leiser, als Bolitho sich durch den Niedergang zu den Überresten der Messe vortastete.
Inchs Kajüte war völlig hinweggefegt, bis zur Unkenntlichkeit verkohlt, und beherbergte jetzt jene Überreste der Geschützbedienungen und Wachgänger, die bis zuletzt ausgehalten hatten. Hohläugige Männer schauten Bolitho an und traten dann beiseite, um ihn durchzulassen, ehe sie wieder an die Arbeit gingen, um das Schiff zu retten und für die Fahrt in einen Nothafen bereitzumachen. Doch das regelmäßige Knarren der Pumpen schien ihre Anstrengungen zu verhöhnen, und das Stöhnen der Verwundeten bildete eine düstere Untermalung.
In Helicons Offiziersmesse war es im Vergleich zum Oberdeck fast kühl. Der Wind, der durch die zersplitterten Heckfenster wehte, konnte den Raum nicht von seinem Gestank befreien. Bolitho stand neben der Koje und schaute auf Inchs blasses Gesicht hinab. Er schien nicht bei Bewußtsein zu sein. Bolitho fröstelte, als er den blutigen Verband sah, wo einst Inchs Arm gewesen war.
Tuson zog die Decke beiseite und sagte:»Hier hat er einen Metallsplitter erwischt, Sir. Der Arzt behauptet, ihn entfernt zu haben.»
Erst da merkte Bolitho, daß Inch die Augen aufgeschlagen hatte und ihn anstarrte. Er schien seine ganze Kraft auf das Erfassen und Erkennen dessen, was um ihn herum vorging, zu konzentrieren.
Bolitho beugte sich über ihn und ergriff seine Hand.»Ich bin bei Ihnen, alter Freund.»
Inch befeuchtete sich die spröden Lippen.»Ich wußte, daß Sie kommen würden. «Er schloß die Augen und packte Bolithos Hand fester, als der Schmerz ihn durchfuhr. Doch sein Griff war schwach.
«Es waren drei Linienschiffe«, sagte Inch.»Wäre die Bar-racouta nicht gekommen.»
«Ich bitte Sie, Sir«, flüsterte Tuson.»Er ist sehr geschwächt und wird seine ganze Willenskraft brauchen, um die nächste Operation zu überleben.»
Bolitho drehte sich um.»Ist sie denn unbedingt notwendig?»
Tuson zuckte die Achseln.»Wundbrand, Sir. «Mehr brauchte er nicht zu sagen.
Bolitho beugte sich wieder über die Koje.»Geben Sie nicht auf, Francis. Sie haben noch viel Gutes vor sich. «Er hätte Inch gerne über die französischen Schiffe ausgefragt, aber das war jetzt ausgeschlossen.
Carcaud, Tusons Assistent, wartete mit zwei Gehilfen an einer umgestürzten Kanone. Bolithos Augen brannten. Sie würden Inch festhalten, während Tuson sein blutiges Werk tat.
Bolitho senkte den Kopf, brachte es nicht fertig, Inch anzusehen, den Mann, der soviel Mut und soviel Glück gehabt hatte. Wer scherte sich um sein Schicksal? Seine hübsche junge Frau vielleicht und ein paar alte Kameraden.
Inchs Blick ging an ihm vorbei und erfaßte Allday. Sein langes Gesicht verzog sich zum Schatten eines Lächelns.»Sie haben diesen Gauner ja immer noch bei sich«, flüsterte er.
Dann wurde er ohnmächtig. Tuson bellte:»Jetzt!«Er warf Bolitho einen kurzen Blick zu.»Ich schlage vor, daß Sie sich entfernen, Sir.»
Bolitho erkannte Tuson kaum wieder. Er hatte den kalten Blick des von seinem Metier Besessenen.
Bolitho ging zurück nach oben und sah, daß ein junger Leutnant das Setzen zweier Stagsegel überwachte. Sie würden dem Schiff kaum mehr geben als Steuerfähigkeit, bis die Rahen wenigstens teilweise ersetzt waren. Bolitho sah sich noch einmal Back und Poopdeck an. Das Schiff war aus nächster Nähe beschossen worden und zwar offenbar mit Kartätschen.
Der Leutnant erkannte ihn und salutierte.»Addenbrook, Sir«, sagte er.»Fünfter Offizier.»
«Wo standen Sie während des Gefechts?«Bolitho sah in dem rußgeschwärzten Gesicht wieder Angst und Emotionen aufflackern. Er schätzte ihn auf achtzehn Jahre.
«Im unteren Batteriedeck, Sir«, erwiderte Addenbrook.»Die Franzosen fielen ab und konzentrierten ihr Feuer auf uns. Schwere Geschütze und alles, was sie sonst noch hatten. «Er schien in die brüllende, isolierte Welt des unteren Batteriedecks zurückzukehren.»Wir hörten, daß die Masten weggeschossen wurden, feuerten aber weiter, so wie es von uns erwartet wurde.»
«Ich weiß. Kapitän Inch ist ein tapferer Mann.»
Der Leutnant hörte kaum, was er sagte.»Sie beschossen uns mit Kugeln, bis die halbe Mannschaft am Boden lag, Sir. Dann kamen sie dichter heran und setzten Kartätschen ein.»
Er griff sich an die Stirn.»Mein Gott, hab' ich gedacht, warum hören sie denn nicht auf? Unser Vorgesetzter fiel, aber die Männer waren wie von Sinnen, brüllten Hochrufe, luden und feuerten. Ich erkannte sie nicht wieder.»
Kartätschen auf kürzeste Distanz. Damit war die totale Verwüstung erklärt. Zu diesem Zeitpunkt konnte kaum eine Geschützmannschaft noch in der Lage gewesen sein, das Feuer zu erwidern.
Der Leutnant betrachtete seine fleckige Uniform und konnte offenbar immer noch nicht glauben, daß er ohne einen Kratzer überlebt hatte.
«Wir waren allein, bis Barracouta eingriff, Sir. «Er schaute auf und sagte plötzlich verbittert:»Wir hatten keine Chance!«Einen Augenblick verdrängte Stolz den Schmerz in seinen Augen.»Aber die Flagge gestrichen haben wir nicht, Sir!»
Neben der Bordwand platschte es, und Bolitho sah, wie Carcaud sich auf dem Seitendeck die Hände an der Schürze abwischte. Er erriet, was da ins Meer geworfen worden war, und winkte den schlaksigen Assistenten des Schiffsarztes zu sich.
«Wie geht es ihm?»
Carcaud schürzte die Lippen.»Ich glaube nicht, daß er von der Amputation etwas gespürt hat, Sir. Aber wenn er aufwacht.»
Bolitho nickte und ging langsam zu den Überresten des Schanzkleids.
Helicons Erster Offizier erschien mit verbundenem Kopf an Deck. Als er Bolitho erblickte, eilte er auf ihn zu.
«Sie haben sich gut gehalten, Mr. Savill«, sagte Bolitho.»Wenn Sie weitere Männer brauchen, fordern Sie sie an. «Er sah, daß der Mann wankte.»Sind Sie überhaupt in der Verfassung, hier Dienst zu tun?»
Der Leutnant versuchte zu grinsen.»Das schaffe ich schon, Sir. «Er sprach mit einem weichen Dorset-Akzent.»Ich werde das Schiff leichtern, sowie wir ein paar Flaschenzüge aufgeriggt haben. «Sein Blick wurde schärfer.»Aber die Kanonen bleiben an Bord. Denn diese alte Lady wird wieder kämpfen, wenn sie es bis ins Dock geschafft hat.»
Bolitho lächelte traurig. Das Vertrauen eines Seemannes zu seinem Schiff. Und der Mann hatte wahrscheinlich recht.
«Sie sahen das französische Flaggschiff, die Leopard?»
«Aye, Sir. «Savill wirkte wie in Trance.»Ich bekam einen Schlag gegen den Kopf und wurde hinter einen Neunpfün-der geworfen. Der hat mir wahrscheinlich bei der nächsten Breitseite das Leben gerettet. «Er schaute nach achtem.»Sie wurden alle niedergemäht, zermanscht wie ein Korb voll Eier. Aber gesehen habe ich das Flaggschiff wohl, Sir. «Er lächelte wehmütig.»Schade, daß wir nicht einen zusätzlichen Ladebaum haben wie der Franzose. Den könnte ich jetzt gut gebrauchen, um Proviant und Munition an Deck zu hieven. «Ein Mann rief, und der Leutnant legte grüßend die Hand an die Stirn.»Mit Verlaub, Sir. «Er zögerte und drehte sich um.»Hier hat Kapitän Inch gestanden und sie alle zur Hölle gewünscht, Sir. Er war ein großartiger Kommandant und anständig zu seinen Leuten.»
Bolitho sah weg. War. »Ich weiß.»
In der Barkasse drehte er sich um und hielt nach seinen anderen Schiffen Ausschau, setzte sich mit den Problemen des übel zugerichteten Geschwaders auseinander. Wäre Bar-racouta nicht erschienen, hätten sich die Franzosen auch den anderen Schiffen zugewandt. Er hatte bereits gehört, daß Barracouta mit der Nachricht vom Ausbrechen des Feindes losgeeilt und von zwei französischen Fregatten verfolgt worden war. Nur dank ihrer Geschwindigkeit und der Tatsache, daß die beiden feindlichen Schiffe sie für einen kleinen Zweidecker gehalten hatten, war sie überhaupt in der Lage gewesen, helfend einzugreifen.
Ein- oder zweimal schaute er zurück zur Helicon, die mit ihren Maststümpfen, Lecks und Brandflecken ein finsteres Bild abgab. Wie viele Leute waren gefallen? Wieder eine Namensliste. Jobert hatte die Helicon total zerstören wollen. Als Rache für seine Calliope oder weil sie eine Prise war? Oder als Hinweis auf das Schicksal, das Argonaute drohte?
Bolitho stellte sich die ihm verbliebenen Schiffe eines nach dem anderen vor. Ohne Inch blieben ihm nur Houston und Montresor, die sich erst noch in der Schlacht bewähren mußten. Dann hatte er Rapid, und mit etwas Glück würde die Supreme zu ihnen stoßen, wenn die Werft auf Malta ihr Versprechen hielt. Dazu die Fregatte Barracouta. Seltsam, daß Lapish, der unter einem so ungünstigen Stern angefangen hatte, inzwischen derart viel Geschick und Initiative gezeigt hatte. Er seufzte.»Wir müssen Kapitän Inch aufs Flaggschiff bringen, sobald er transportfähig ist, Allday.»
Allday schaute hinab auf die gebeugten Schultern Bo-lithos.»Wenn Sie meinen, daß er das übersteht?»
«Ja. «Bolitho starrte auf die Dispatch, die über ihrem Spiegelbild beigedreht lag Wäre ihr Ruder nicht gebrochen… Er verwarf den Gedanken. Das hätte das Unvermeidliche nur verzögert.
Jobert mußte Barracouta für eines von Nelsons Schiffen gehalten haben, Vorhut seines Blockadegeschwaders vor Toulon.
Keen erwartete ihn mit fragender Miene.
Wie anders es doch auf den Decks der Argonaute aussieht, dachte Bolitho. Hier herrschten Ordnung und Zweckmäßigkeit. Doch Niedergeschlagenheit war ansteckend, und das Wrack der Helicon stand allen als Mahnmal vor Augen.
«Kommandantenbesprechung, Val«, sagte er.»Möglichst noch heute nachmittag.»
Keen schaute hinüber zur Helicon und sagte leise:»Dort liegt das Herz eines Schiffes.»
Bolitho beschattete die Augen und sah ein Segelfragment zwischen den Stümpfen von Groß- und Besanmast aufsteigen.
«Das Herz von Francis Inch«, sagte er.
Joberts Geschwader war nicht nur zur Ablenkung oder für einen Rachefeldzug ausgelaufen, überlegte er. Bot sich ihm Gelegenheit zur Vergeltung, dann um so besser, aber es mußte sehr viel mehr dahinterstecken. Sollte Jobert Nelsons Blockadegeschwader von Toulon weglocken, damit Admiral Villeneuves Hauptverband in voller Stärke ausbrechen konnte? Da Gibraltar wieder durch das Fieber geschwächt war, mochte Jobert versuchen, durch die Meerenge in den Atlantik vorzustoßen. Doch Bolitho verwarf diesen Gedanken sofort. Das hätte Jobert längst tun, inzwischen sogar schon in Brest sein können.
Bolitho trat an ein Heckfenster. Eigentlich hätte er erschöpft sein sollen, deprimiert vorn Schock und der Niederlage. Doch sein Verstand schien wacher denn je.
Keen trat ein.»Kommandanten haben bestätigt, Sir. «Das klang steif.
Bolitho kannte Keen und wußte, daß er sich wahrscheinlich Vorwürfe machte. Wären sie nicht nach Malta beordert worden…
Er drehte sich zu ihm um.»Schlagen Sie sich die Selbstvorwürfe aus dem Kopf, Val. Ich bin in Malta auf etwas gestoßen, das ich sonst nie erfahren hätte.»
«Sir?»
«Ich kann noch nicht darüber sprechen. «Er wartete, bis Keen die Tür erreicht hatte.»Und, Val — wenn Sie sie wieder in den Armen halten, werden Sie erkennen, daß das Schicksal Ihnen gar keine andere Wahl ließ.»
Bolitho trat hinaus auf die Heckgalerie mit den beiden lächelnden Meerjungfrauen. Als nächstes würde er sich mit seinen Kommandanten beraten, den Schaden beheben, ihnen wieder Zuversicht geben. Langsam trieb die Helicon in sein Gesichtsfeld.
Du nicht, Freund Inch. Du hast deine Schuldigkeit getan.
Im Lauf des Tages frischte der Wind auf, es bewölkte sich und sah nach Regen aus.
Bolitho stand an den Heckfenstern und betrachtete die in der Kajüte versammelten Kommandanten. Er hatte ihnen in allen Einzelheiten Joberts Geschwader, seine Stärke und seine möglichen Absichten erörtert.
«Gentlemen, es ist sinnlos, noch länger in diesem Golf zu bleiben. Ich beabsichtige, im Südosten zu suchen. Falls Jobert sich nach Westen gewandt hat, um durch die Meerenge von Gibraltar zu entkommen, haben wir ihn bereits verloren. Falls aber nicht — «, er schaute in ihre gespannten Gesichter —,»müssen wir ihn ausfindig machen und zum Gefecht zwingen.»
Gedämpfte Rufe vom Hauptdeck; die Kajüte erzitterte, als zwei Zweiunddreißigpfünder von Helicon an Bord gehievt wurden.
«Diese Kanonen werden morgen auf die Rapid gebracht. «Er sah, wie deren junger Kommandant zusammenfuhr, als habe er nur mit halbem Ohr zugehört.
«Die sind aber zu schwer, Sir…«stammelte Quarrell.
Bolitho musterte ihn kühl.»Sie haben doch einen Schiffsbaumeister und einen Zimmermann, oder? Lassen Sie die zwei Kanonen auf dem Vorschiff als Jagdgeschütze montieren. Wenn Sie Ballast und Ausrüstung umtrimmen und das Deck abstützen, sollte das nicht zu schwer fallen. Ich befehligte einmal ein Kanonenboot, auch nicht viel größer als Ihre Rapid, das über eine ähnlich schwere Bugbewaffnung verfügte. Also gehen Sie an die Arbeit.»
Kapitän Montresor sagte:»Mein Ruderschaden ist behoben, Sir. Er war unvorhersehbar. «Er starrte Houston verbittert an.»Ich wollte kämpfen. Und ich hatte nicht erwartet, daß Helicon auf sich allein gestellt sein würde.»
Houston saß mit verschränkten Armen verstockt da.
«Mein Schiff war wegen Wind und Nebel zu weit zurückgefallen, Sir«, sagte er.»Ich sah, daß Dispatch Schwierigkeiten hatte. «Sein schmaler Mund formte die Worte wie abgehackt.»Wäre ich Helicon zu Hilfe gekommen, hätte ich nur ein Ziel mehr abgegeben. Da ich wußte, daß die Franzosen uns einen nach dem anderen erledigen wollten, nahm ich lieber Montresor in Schlepp.»
Bolitho nickte. Typisch für diesen Mann, dachte er. Er war hart und kompromißlos, aber in diesem Fall hatte er korrekt gehandelt: Es ging darum, entweder ein Schiff zu retten oder das ganze Geschwader zu verlieren.
«Jobert tut nichts ohne Grund«, sagte er.»Und bisher war er uns immer einen Schritt voraus. «Er sah, daß Keen ihn grimmig beobachtete. Mit dem Verlassen seiner zugewiesenen Station war er ein großes persönliches Risiko eingegangen. Egal. Seit dem Tribunal von Malta stand er ohnehin auf der schwarzen Liste. Die Erkenntnis, daß Ruf und Risiko ihm jetzt gleichgültig waren, machte ihn fast übermütig.
Houston sagte mit seiner barschen Stimme:»Wir müssen überlegen, wann und wo wir Trinkwasser übernehmen können, Sir.»
Bolitho sah ihn an und wurde sich des Schleiers vor seinem linken Auge bewußt.
«Kommt nicht in Frage, Kapitän Houston. «Er schaute die anderen an.»Keiner von uns nimmt Wasser an Bord. Kürzen Sie die Rationen, halbieren Sie sie meinetwegen, aber wir bleiben zusammen, bis alles vorüber ist.«Ganz gleich, wie es ausgeht, hätte er beinahe hinzugefügt; doch den Gesichtern der anderen war anzumerken, daß sie ohnehin diesen Gedanken hatten.
«Ich brauche alle verfügbaren Informationen. Küstenschiffe müssen gestoppt und gründlich durchsucht werden, auch wenn sie unter neutraler Flagge segeln. Wer sich widersetzt, wird versenkt. «Er spürte, daß sich wieder Haß in seinen Tonfall einschlich, und dachte an Herrick, an den Kummer in seinen blauen Augen beim Abschied auf der Benbow. Insgeheim wußte Bolitho, daß Herrick vernünftig gehandelt hatte. Er selbst konnte Günstlingswirtschaft ebenfalls nicht ausstehen und verachtete alle, die mit ihrer Hilfe vorankamen. Und doch hatte er Keen wie einen Günstling behandelt. Was hätte er an Herricks Stelle getan, wenn er um einen solchen Gefallen gebeten worden wäre?
Kapitän Lapish fragte:»Wird Jobert noch mehr Schiffe unter seinem Kommando haben?«Seine Stimme klang zuversichtlicher als zuvor.
Bolitho lächelte ernst.»Hat er nicht schon genug?»
«Zwei Fregatten!«brummte Houston.»Und wir haben nur eine.»
«Meine Brigg nicht zu vergessen!«rief Quarrell.
«Heben Sie sich Ihren Kampfgeist für den Feind auf«, sagte Bolitho.»Drillen Sie Ihre Männer, bis sie halb im Schlaf zielen und feuern können. Machen Sie jedem klar, daß der Feind auch seine Schwächen hat. Wir können und müssen ihn schlagen, denn ich bin überzeugt, daß wir das einzige Hindernis zwischen Jobert und seinem Ziel darstellen.»
Das Deck neigte sich stark. Ein Buch rutschte vom Tisch.
«Kehren Sie auf Ihre Schiffe zurück«, schloß Bolitho.»Wenn es regnet, sammeln Sie Wasser zur Ergänzung der Rationen. Setzen Sie bei der Suche nach kleinen Schiffen auch die Boote ein. Unsere Leute sollen kampfbereit sein und stets mit Widerstand rechnen.»
«Leopard ist ein Dreidecker, oder, Sir?«konterte Houston.
Die unverblümte Erinnerung fuhr durch die anderen wie ein kalter Wind.
Bolitho warf Keen einen Blick zu.»Inch nahm es mit diesem Schiff und zwei Fregatten zugleich auf, Kapitän Houston. Wir mögen angeschlagen sein, aber Sie werden sehen, daß wir alle noch unseren Mann stehen!»
Nachdem die Kommandanten verabschiedet worden waren, kehrte Keen in die Kajüte zurück und fragte:»Wissen Sie eigentlich schon, was Jobert vorhat, Sir?»
«Sobald ich sicher bin, verrate ich es Ihnen, Val. Bis dahin müssen wir dafür sorgen, daß es auf unseren Schiffen weder lasch noch nachlässig zugeht. Mangelnde Wachsamkeit kann uns jetzt nur Niederlagen eintragen.»
«Der Schiffsarzt!«rief der Wachposten.
Tuson trat ein.»Sie schickten nach mir, Sir?»
«Bitte sorgen Sie dafür, daß Kapitän Inch zu uns an Bord gebracht wird. Ich fürchte, daß das Wetter umschlägt.»
Tuson nickte.»Ich sprach vorhin auf der Helicon mit ihm, Sir. Er hat starke Schmerzen.»
Als der Arzt gegangen war, trat Keen zum Kartentisch.»Verdammt, dieser Jobert kann Gott weiß wo sein. Wie eine Nadel im Heuhaufen!»
Bolitho stolperte beim Auf- und Abschreiten über einen Ringbolzen und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Wieder packte ihn die Angst. Was mochte Belinda denken? Selbst wenn Adam ihr das volle Ausmaß seiner Verwundung verschwiegen hatte, mußte sie an der Handschrift seines letzten Briefen erkennen, daß etwas nicht stimmte. Fast bereute er nun, ihr von seinen geheimsten Hoffnungen und Ängsten geschrieben zu haben, von seiner Liebe für sie, trotz allem.
Keen sagte plötzlich:»Eigentlich habe ich ja versprochen, nicht darüber zu reden, aber ich kann es nicht ertragen, Allday so niedergeschlagen zu sehen.»
«Wissen Sie denn etwas Genaues, Val?»
Keen setzte sich. Eigentlich wurde er an Deck gebraucht, aber Paget wurde inzwischen mit den meisten Aufgaben alleine fertig.
«Mein Bootsführer hat es mir erzählt, Sir. Der alte Hogg ist ein verläßlicher Bursche, und Allday zieht ihn hin und wieder ins Vertrauen. «An den Heckfenstern triefte das Wasser herunter, und Bolitho versuchte, nicht an Inch zu denken, der nun in ein tanzendes Boot hinabgelassen wurde. Ein jäher Schock konnte einen Mann in seiner Verfassung umbringen.
«Es hat den Anschein, Sir, daß Bankart annahm, Allday würde nach seiner schweren Verwundung die Seefahrt aufgeben. Er hatte von seinem sicheren Leben bei Ihnen in Falmouth erfahren und bekam Lust darauf. Der Dienst auf See scheint ihm nicht zu behagen, obwohl er sich freiwillig gemeldet hatte. «Keen schaute Bolitho von der Seite an und fragte:»Ist Bankart auch bestimmt sein Sohn, Sir?»
Bolitho lächelte.»Wenn Sie Allday vor zwanzig Jahren gekannt hätten, würden Sie mir diese Frage nicht stellen. Zumindest äußerlich ist er ihm sehr ähnlich.»
Keen stand auf, als von der Back her die Schiffsglocke schlug.»Ich werde dafür sorgen, daß er entlassen wird, wenn wir wieder in England sind.»
Bei dem Wort England blickten sie einander nicht an. Würden sie jemals seine grünen Felder wiedersehen?
«Und ich rede persönlich mit Allday, Val. Männer, die von Sorgen geplagt werden, fallen oft als erste.»
Keen hob den Kopf und lauschte. Auch Bolitho hörte draußen Hochrufe und sagte:»Gehen wir an Deck. Das wird eine Qual für Inch.»
Auf dem Achterdeck überwachte Big Harry Rooke, der Bootsmann, die Flaschenzüge, an denen Inchs Bahre an Bord gehievt werden sollte. Das Seitendeck der Helicon, die mit Schlagseite in der Düngung stampfte, war von winzigen Gestalten gesäumt, die zusahen, wie das Boot langsam und vorsichtig auf das Flaggschiff zuhielt. Bolitho zog sein Degenkoppel zurecht und drückte sich den Hut fester in die Stirn.»Lassen Sie die Ehrenwache antreten. «Er ging ans Schanzkleid und beugte sich hinaus.
Er hörte, wie sich die Seesoldaten auf Sergeant Black-burns Befehl hin aufstellten. Stahl zischte, als Hauptmann Bouteiller seinen Säbel zog. Die Bootsmannsgehilfen befeuchteten ihre silbernen Pfeifen. Dann spannten sich die Flaschenzüge, und aller Jubel verstummte.
Keens Stimme klang fest, als er rief:»Achtung an Deck! Klar zum Empfang des Kommandanten der Helicon!»
Nach dem Lärm des Zeremoniells wurde Inchs Koje schnell zur Poop getragen. Bolitho ging nebenher, ergriff Inchs Hand und sagte leise:»Willkommen an Bord, Kapitän Inch.»
Inch versuchte zu grinsen, sah aber sehr blaß und gealtert aus.»Lassen Sie mich noch einmal mein Schiff sehen«, flüsterte er heiser.
Man trug ihn zum Schanzkleid, wo Tuson ihn stützte, damit er den fernen Vierundsiebziger mit den erbärmlichen Segelfetzen erkennen konnte.
«Die alte Lady sehe ich nie wieder«, sagte Inch langsam.
Bolitho blickte der kleinen Prozession nach, bis sie vom Niedergang verschluckt wurde, und sagte:»Und wir nicht einen Mann von seinem Kaliber.»
Er wandte sich abrupt ab.»Nehmen Sie Fahrt auf und befehlen Sie dem Geschwader, hinterm Flaggschiff auf Station zu gehen.»
Inchs Anwesenheit an Bord wird uns allen eine Mahnung und Warnung sein, dachte Keen.
Im Orlopdeck der Argonaute zog Allday in der winzigen Kammer, die er mit Segelmacher Mannoch teilte, eine flak-kernde Laterne dichter an seine Arbeit heran. Allday war groß und kräftig gebaut, und in seiner Faust wirkte ein Entermesser so zierlich wie der Seitendolch eines Kadetten. Aber das Modell, das er zur Hälfte fertiggestellt hatte, war ebenso fein. Allday hatte es aus Holz, Knochen und sogar Menschenhaar angefertigt und musterte es jetzt mit kritischem Auge. Von jedem Schiff, auf dem er unter Bolitho diente, hatte er ein Modell geschnitzt.
Er nahm das kleine Schiff auf die Handfläche und drehte es langsam vor der Laterne hin und her. Es war ein Zweidek-ker mit vierundsiebzig Kanonen, und er grunzte mit widerwilliger Zufriedenheit.
Unten im Orlopdeck, in das niemals Tageslicht fiel, herrschte immer dicke Luft. In der kleinen Kammer roch es außerdem nach Rum. In seinem Fach war Mannoch zwar ein Genie, doch er schaute zu gern ins Glas und wurde deshalb von seinen Gehilfen Old Grog genannt.
Allday rutschte auf der harten Seemannstruhe hin und her und dachte an das Mädchen, wie er es zuletzt mit kurzem Haar und in geborgten Kleidern gesehen hatte. In Malta hatte es auf der Fahrt zu dem Handelsschiff noch einen Zwischenfall gegeben: Eines der Wachboote hatte sie fast längsseits passiert. Aber er hatte der Besatzung des Bootes eine Tracht Prügel angedroht, wenn sie auch nur ein Wort verlauten ließe. Manchen war überhaupt nichts aufgefallen. Im Dunkeln sah ein Midshipman aus wie der andere.
Wieder einmal hatte er damals ernsthaft an eine Ehe gedacht. Er grinste vor sich hin. Aber wer will schon einen alten Bock wie mich?
Es klopfte an die schmale Tür, und er sah zu seinem Erstaunen Bankart eintreten.
«Ja, was gibt's?»
«Darf ich mit dir reden?»
Allday rutschte auf der Truhe zur Seite, um Platz zu machen.»Worüber?»
Er sah dem Jungen ins Gesicht und mußte an seine Mutter denken, ein sauberes, frisches Mädchen. Auch damals hatte er erwogen, zu heiraten. So viele hatte er gekannt, in so vielen Häfen, doch die Wirtstochter aus Falmouth war die einzige, die er nicht vergaß.
«Ich will kein böses Blut zwischen uns!«platzte Bankart heraus, sah ihm dabei aber nicht in die Augen. Er war so störrisch wie Allday und erstaunt, den Gang überhaupt getan zu haben.
«Dann mal raus damit. «Allday musterte ihn streng.»Und schwindle mir bloß nichts vor.»
Bankart hob die Fäuste.»Du magst mein Vater sein, aber trotzdem.»
Allday nickte.»Ich weiß. Ich hab' mich noch nicht ganz daran gewöhnt. Tut mir leid, Sohn.»
Der Junge starrte ihn an.»Sohn«, wiederholte er leise. Dann sagte er:»Du hattest recht, ich wollte zu dir nach Falmouth. «Er schaute ihn aus hellen Augen an.»Ich wollte ein richtiges Zuhause haben. «Er schüttelte verzweifelt den Kopf.»Nein, unterbrich mich jetzt nicht, sonst bringe ich das nie heraus. Ich wollte zu dir, weil ich keine Lust hatte, mich noch länger herumscheuchen und betrügen zu lassen. Ich habe immer zu dir aufgeschaut, weil Mutter mir so viel Gutes über dich erzählt hat. Zur Marine habe ich mich nur gemeldet, weil ich dachte, das gehört sich so. Du hast's ja auch getan.»
Allday nickte, sein Schiffsmodell war vergessen.
«Dann starb Mutter. Und ich bat einen Freund, an dich zu schreiben. «Er starrte zu Boden.»Aber ein richtiges Zuhause war mir eigentlich wichtiger als ein Vater. «Als er den Blick wieder hob, brach es aus ihm heraus:»Ich kann doch nichts dafür, daß ich Angst habe. Ich bin eben nicht wie die anderen! Ich habe noch nie Männer auf so schreckliche Weise sterben gesehen!»
Allday packte ihn am Handgelenk.»Ruhig, Sohn. Sonst kommen die Knochenbrecher und sehen nach, was los ist. «Er tastete hinter der Truhe herum und holte eine Tonflasche und zwei Becher hervor.»Trinken wir erst mal einen.»
Bankart nahm einen raschen Schluck und hustete.
«Das ist richtiger Rum«, sagte Allday,»nicht die Brühe, die der Proviantmeister ausgibt. Hör zu: Die meisten anderen haben auch Angst. Man muß nur lernen, sich nichts anmerken zu lassen. «Er schüttelte ihn sanft am Handgelenk.»Und dazu braucht man seinen ganzen Mut!»
«Du bist da bestimmt anders. «Bankart trank vorsichtig einen Schluck.
«Mag sein. Dafür hat schon unser Dick gesorgt. Er ist ein prachtvoller Mann, ein Freund sogar. Ich würde mein Leben für ihn geben.»
Bankart stand auf, und sein Haar streifte die Decke.»Ich wollte dir nur sagen.»
Allday zog ihn zurück auf die Truhe.»Langsam! Ich weiß ja schon Bescheid. Ich war derjenige, der einen Fehler gemacht hat, das ist mir jetzt klar. «Er füllte aufs neue die Becher.»Du gehörst nicht auf ein Kriegsschiff. Aber wer sich freiwillig meldet, muß allerhand Mut haben. Mich hat erst eine Preßpatrouille schnappen müssen. «Er schüttelte sich vor Lachen, bis der Schmerz der alten Wunde ihm Einhalt gebot.»Nein, du brauchst Arbeit an Land und ein gutes Zuhause, und ich werde dafür sorgen, daß du sie bekommst. Aber bis dahin tust du, was ich dir sage, und machst uns keinen Ärger, klar?«Er hörte Stimmen und vermutete, daß der Segelmacher mit seinen Kumpanen im Anmarsch war.»Wir unterhalten uns bald wieder mal, ja?»
Bankart sah ihn mit glänzenden Augen an.»Danke, äh.»
«Sag ruhig John zu mir, wenn dir das leichter fällt«, meinte Allday grinsend.»Aber vor den anderen nennst du mich Bootsführer, sonst versohle ich dir den Hintern!»
Bankart zögerte, wollte den Kontakt noch nicht abbrechen. Leise sagte er:»Ich denke, daß ich — daß ich vielleicht sterben muß. Ich will dich nicht enttäuschen, denn jetzt weiß ich, was für ein Mann du bist. Ich war noch nie auf jemanden stolz.»
Allday hörte die Tür nicht zuschlagen. Er saß nur da und starrte sprachlos das halbfertige Modell an.
Der Segelmacher kam mit seinem Freund hereingeplatzt und fragte:»Alles klar, Kumpel? Hübscher Junge, das.»
Allday senkte den Kopf.»Aye. Das ist mein Sohn.»