III Kein tödlicherer Feind

Bolitho beugte sich aus einem der großen Heckfenster, als Keen mit der Mütze unterm Arm die Kajüte betrat.

Achteraus lagen die anderen Schiffe mit rundgebraßten Mars- und Bramsegeln auf Backbordbug. Etwas abseits, wenngleich noch mit ihrer Eskorte, kam die Orontes dank des Notruders nun besser voran, aber die Geschwindigkeit des Geschwaders war noch immer stark reduziert.

An Bord war es kalt und feucht. Bolitho dachte sehnsüchtig an das Mittelmeer und die Wärme, die sie dort antreffen würden.

Erst ein Tag war seit dem Zwischenfall auf der Orontes vergangen, und Bolitho konnte sich vorstellen, in welchen Spekulationen man sich an und unter Deck über das Mädchen im Krankenrevier erging.

Keen räusperte sich.»Sie wollten mich sprechen, Sir Richard?»

Es konnte Keen nicht entgangen sein, daß Ozzard und die anderen abwesend waren. Das Gespräch sollte unter vier Augen stattfinden.

«Ja. Orontes' Kapitän hat mir einen Brief geschickt.»

Keen nickte.»Mein Bootsführer nahm ihn entgegen, Sir.»

«Darin beschwert er sich über Ihr Verhalten, auch über unser Verhalten, da Sie unter meinem Kommando stehen, und droht, es an höhere Stelle weiterzumelden.»

«Das tut mir leid«, sagte Keen leise.»Ich wollte Sie nicht hineinziehen.»

«Ich hätte von Ihnen kein anderes Verhalten erwartet, Val«, sagte Bolitho.»Die Drohungen dieses Dummkopfs stören mich nicht. Wenn ich bei seinen Vorgesetzten Entschädigung fürs Abschleppen und seine Rettung verlangte, säße er ein für allemal auf der Straße. Er und seinesgleichen sind Abschaum, sie arbeiten für Blutgeld wie Sklavenfahrer.»

Keen wartete ab; fast überraschte es ihn, daß Bolitho ihn wegen seiner Einmischung nicht zurechtgewiesen hatte.

Bolitho fragte:»Haben Sie mit diesem Mädchen gesprochen?»

Keen zuckte die Achseln.»Nein, Sir. Ich hielt es für besser, sie dem Arzt zu überlassen, bis sie sich erholt hat. Sie hätten die Peitsche sehen sollen und den Riesen, der sie schwang.»

Bolitho dachte laut.»Eine Frau sollte sich um sie kümmern. Auf Ihren Vorschlag hin erwog ich Inchs Schiff, bin mir aber inzwischen nicht mehr so sicher. Offiziersfrauen und ein Sträfling, der in die Verbannung geschickt wird — für welches Verbrechen auch immer —, das paßt nicht zusammen. Ich werde Latimer bitten, mich über den Grund ihrer Verurteilung zu informieren.»

«Sehr entgegenkommend von Ihnen«, meinte Keen.»Wenn ich nur gewußt hätte.»

Bolitho lächelte ernst.»Sie hätten trotzdem so gehandelt.»

An Deck stampften viele Füße, und Taljen quietschten, als der Wachoffizier die Männer an die Brassen rief.

Auf einem überfüllten Kriegsschiff konnte eine einzige Frau vieles bedeuten, nicht zuletzt Unglück. Landratten mochten über solchen Aberglauben spotten, aber wer zur See fuhr, wurde bald eines besseren belehrt.

«Suchen Sie die junge Frau auf, Val, und sagen Sie mir dann, was Sie von ihr halten. In Gibraltar können wir sie auf die Philomela verlegen. Andernfalls würde sich Latimer wahrscheinlich an ihr rächen.»

Keen machte Anstalten, sich zurückzuziehen. Er hatte ohnehin vorgehabt, das Mädchen zu besuchen und sich beim Arzt nach ihm zu erkundigen. Ganz gleich, was es in seinem jungen Leben getan hatte, die Qual und Erniedrigung einer Auspeitschung verdiente es nicht.

Bolitho wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, und nahm dann wieder unter den Heckfenstern Platz. Erneut dachte er an Falmouth, seine frohe Heimkehr, und wie er seine einzige, neugeborene Tochter Elizabeth so ungeschickt im Arm gehalten hatte, daß er von Belinda ausgelacht worden war.

Bolitho hatte immer verstanden, daß es für jede Frau schwer sein mußte, über die Schwelle seines Hauses zu treten. Es barg zu viele Schatten und Erinnerungen, zu hohe Erwartungen. Belinda war nur in Cheneys Fußspuren getreten, oder so mußte es ihr zumindest vorgekommen sein.

Am härtesten hatte Bolitho die Entdeckung getroffen, daß Cheneys Porträt — das Gegenstück zu dem, das sie von ihm hatte anfertigen lassen — aus dem Raum, in dem die beiden Bilder nebeneinander hingen, entfernt worden war. Cheney vor dem Hintergrund der Landzunge, mit Augen so grün wie die See, und er in seinem Rock mit den weißen Aufschlägen als der junge Kapitän, den sie so sehr geliebt hatte. Sein Porträt hing nun bei den anderen neben dem seines Vaters, Kapitän James Bolitho.

Er hatte geschwiegen, weil er Belinda nicht verletzen wollte, aber gestört hatte ihn der Vorfall doch. Er kam ihm wie Verrat vor.

Immer wieder sagte er sich, daß Belinda ihm nur helfen, anderen zu verstehen geben wollte, wie wertvoll er für sein Land war. Doch er war in Falmouth zu Hause, nicht in London.

Seufzend wandte er seine Gedanken Allday zu. Der hatte vermutlich die gespannte Atmosphäre in Falmouth gespürt. Doch zeigte er nicht, was er davon hielt. Oder vielleicht war er so mit der Entdeckung seines Sohnes beschäftigt gewesen, daß ihm keine Zeit für Spekulationen blieb.

Bolitho stellte sich die beiden vor, wie sie hier in der Kajüte vor ihm gestanden hatten: Allday kraftvoll und stolz in seiner blauen Jacke mit den Goldknöpfen, den Kopf lauschend geneigt, als Bolitho zu dem jungen Matrosen John Bankart sprach.

Bolitho entsann sich, wie Allday vor zwanzig Jahren als Opfer einer Preßpatrouille an Bord seiner Fregatte Phala-rope gebracht worden war. Damals war er wie dieser junge Matrose gewesen: klare Augen und ein ehrliches Gesicht mit einer Andeutung von Aufsässigkeit. Ohne großes Zögern hatte er sich von der Preßpatrouille verpflichten lassen. Das Leben auf dem Bauernhof gefiel ihm nicht, und zudem wußte er, daß es ihm als Freiwilligem auf einem Kriegsschiff besser gehen würde als einem Zwangsverpflichteten.

Seine Mutter war ledig gewesen. Allday hatte angedeutet, der Bauer habe seine Mutter oft unter der Drohung, sie und ihr Kind andernfalls vor die Tür zu setzen, mit ins Bett genommen. Das hatte in Bolitho einen Nerv berührt: Die Erinnerung an Adams Eintreffen auf dem Schiff, als er nach dem Tod seiner ledigen Mutter den ganzen Weg von Penzance zu Fuß zurückgelegt hatte. Die Parallele war zu offensichtlich.

Alldays Sohn hatte sich bereits als guter Seemann entpuppt, der reffen, spleißen und steuern konnte, und zwar ebensogut wie andere von höherem Rang und längerer Dienstzeit. Als zweiter Bootsführer würde er nur wenig Kontakt mit dem Admiral haben, sondern sich mehr um die Instandhaltung der Barkasse und Botengänge kümmern und Allday allgemein zur Hand gehen. Fürs erste fand Bolitho diese Lösung brauchbar.

Er stand auf und ging in seine Schlafkammer, wo er nach kurzem Zögern eine Schublade aufzog und die hübsche ovale Miniatur Cheneys herausnahm. Der Künstler hatte ihren Ausdruck perfekt getroffen. Bolitho legte das Bild zurück unter seine Hemden. Was ist nur mit mir los? dachte er. Ich bin glücklich verheiratet, habe eine zehn Jahre jüngere Frau und nun eine reizende Tochter. Und trotzdem… Er wandte sich um und ging zurück in die Tageskajüte.

Wenn sie erst zur Flotte gestoßen waren, würde sich alles ändern. Dann erwarteten ihn Gefechte, Gefahren und die Früchte des Sieges. Er versuchte, seine Gedanken auf die kommenden Monate zu konzentrieren, und fragte sich, wie Lapish reagieren würde, wenn seine Fregatte zum ersten Mal kämpfen mußte. Doch statt dessen dachte er an das Porträt, das aus dem Salon verschwunden war, und wünschte sich plötzlich, er hätte es mitgenommen.

Tief unter Bolithos geräumigem Quartier mit der vergoldeten Heckgalerie lag das stickige Krankenrevier im fensterlosen Orlopdeck unter der Wasserlinie. Schwankende Laternen ließen dunkle Schatten über die Wände huschen, und die mächtigen Deckenbalken waren so niedrig, daß man nicht aufrecht stehen konnte. Seit das Schiff erbaut worden war, hatte das Orlopdeck kein Tageslicht mehr gesehen.

Winzige Kammern säumten den großen Raum in der Mitte, in denen die Decksoffiziere fast ohne Bewegungsfreiheit ihre Privatsphäre zu wahren versuchten. Nicht weit davon führten die Midshipmen, von denen erwartet wurde, daß sie sich beim Schein eines in ölgefüllten Muscheln oder alten Dosen schwimmenden Dochts auf die Offiziersprüfung vorbereiteten, ihr chaotisches Leben. Sie alle teilten das Deck mit dem Pulvermagazin, wo schon ein einziger Funke katastrophal wirken mußte. Unter ihnen enthielten die großen Frachträume alles, was zum Betrieb des Schiffes notwendig war und es auf Monate hinaus unabhängig machte.

Das Krankenrevier ganz hinten am Fuß des Niedergangs wirkte mit seinem weißen Anstrich und den Regalen voller Gläser und Flaschen vergleichsweise licht. Keen schritt darauf zu und senkte automatisch den Kopf, um sich nicht an den Balken zu stoßen; seine Epauletten glitzerten, als er eine Laterne nach der anderen passierte. Dunkle Umrisse und verschwommene Gesichter tauchten in der Düsternis auf, dieser von See und Himmel so weit entfernten Welt, und verblaßten wieder.

Keen sah James Tuson, den Schiffsarzt, mit seinem Assistenten sprechen, einem großen blassen Mann von den Kanalinseln, der Carcaud hieß. Letzterer war mehr Bretone als Engländer, aber intelligent und des Lesens und Schreibens mächtig. Keen wußte, daß sich Tuson, der schon Arzt auf der Achates gewesen war, sehr um seinen schlaksigen Helfer bemühte und ihm alles beigebracht hatte, was er selbst wußte. Die beiden spielten sogar Schach.

Keen mochte den silberhaarigen Tuson, obwohl er ihn auch jetzt nicht genauer kannte als auf dem vorigen Schiff. Er war ein guter Chirurg, zwanzigmal besser als die meisten seiner Kollegen. Doch er blieb für sich, was in dieser wimmelnden Welt zwischen den Decks nicht einfach war, und kam nur zu den Mahlzeiten in die Messe.

Ein Seesoldat, dessen Kreuzbandelier im schwachen Licht sehr weiß wirkte, nahm Haltung an und bedeutete Tuson, daß der Kommandant gekommen war. Es war eine kluge Vorsichtsmaßnahme, an der Tür einen Posten aufzustellen, dachte Keen. Die Besatzung war nun schon seit Monaten fast ohne Unterbrechung auf See. Da schwebte jede Frau in Gefahr, und eine, die als Gesetzesbrecherin abgestempelt war, ganz besonders.

Tuson murmelte etwas, und sein Assistent verschmolz mit dem Schatten.

«Wie geht's ihr?«fragte Keen.

Tuson rollte sich die Hemdsärmel herunter und dachte über die Frage nach.

«Sie sagt keinen Ton, jedenfalls nicht zu mir. Sie ist jung, unter zwanzig, hat reine Haut und ihren Händen nach zu urteilen keine Feldarbeit verrichtet. «Er senkte die Stimme.

«Sie hat mehrere Blutergüsse. Ich fürchte, sie ist vergewaltigt oder sexuell schwer mißhandelt worden. «Er seufzte.»Unter den gegebenen Umständen möchte ich eine genauere Untersuchung nicht riskieren.»

Keen nickte. Das Mädchen war plötzlich zu einer Person geworden, mehr als nur ein Opfer.

Der Arzt beobachtete ihn aufmerksam.»Hier kann sie nicht bleiben, Sir.»

Keen wich aus.»Ich werde mit ihr reden. Es sei denn, Sie raten mir davon ab?»

«Keineswegs. «Der Arzt ging voran zum Krankenrevier.»Sie weiß, wo sie ist. Aber haben Sie bitte Geduld mit ihr.»

Keen trat ein und sah die junge Frau bäuchlings unter einem Laken liegen. Sie schien zu schlafen, aber Keen merkte an ihren raschen Atemzügen, daß sie nur so tat. Als der Arzt das Laken wegzog, sah er, wie sich ihre Rückenmuskulatur spannte.

Tuson meinte leise:»Die Wunde heilt, aber. «Er hob den losen Verband an, und Keen sah den tiefen Einschnitt, den die Peitsche hinterlassen hatte. Im Schein der Laterne wirkte die Narbe schwarz.

Tuson wies auf ihr langes, dunkelbraunes Haar; es war wirr und verfilzt, und als der Arzt es berührte, versteifte sie sich wieder.»Sie braucht ein Bad und frische Kleider«, sagte er.

«Sobald wir vor Anker gehen, schicke ich einen Leutnant hinüber zur Orontes. Irgendwelche Habseligkeiten muß sie dort noch haben«, erwiderte Keen.

Seine Worte schienen sie wie ein Peitschenhieb zu treffen, denn sie drehte sich ruckartig um, bedeckte ihre Brüste mit dem Laken und schien die Blutstropfen, die unter dem Wundschorf hervortraten, nicht zu gewahren.

«Nein, bitte nicht! Bitte, bitte, nicht zurück auf dieses Schiff!»

Keen reagierte verdutzt auf den Ausbruch. Diese junge Frau war trotz der Blutergüsse und ihres zotteligen Haars fast eine Schönheit. Sie hatte kleine, wohlgeformte Hände und große Augen, aus denen sie ihn flehend ansah.

«Nur ruhig, Kleine«, sagte er und streckte die Hand nach ihr aus, aber Tuson schüttelte rasch den Kopf.

«Das ist der Kapitän«, sagte der Arzt.»Er hat Sie vor der Auspeitschung bewahrt.»

Sie schaute in Keens besorgtes Gesicht und fragte:»Sie, Sir?«Es war kaum mehr als ein Flüstern.»Sie waren das?»

Sie sprach mit weichem westenglischem Akzent. Keen konnte sich nicht vorstellen, weshalb sie vor Gericht gestellt und dann auf diesem schmutzigen Schiff mit anderen Sträflingen in die Verbannung geschickt worden war.

«Ja. «Um ihn herum ächzte und stöhnte das Schiff, gelegentlich unterbrochen von einem lauten Krachen, wenn der Kiel in ein Wellental tauchte. Doch Keen war sich nur ihres Schweigens bewußt, als stünde plötzlich die Zeit still.

Er hörte sich fragen:»Wie heißen Sie?»

Sie warf dem Arzt einen raschen Blick zu. Er nickte ermunternd.

«Carwithen. «Sie zog das Laken enger um sich, als Tuson den Verband wieder auflegte.»Woher stammen Sie?»

«Aus Lyme, Sir, in Dorset. «Sie hob das zierliche Kinn; Keen sah, daß es zitterte.»Aber geboren wurde ich in Corn-wall.»

«Dacht' ich mir's doch«, grunzte Tuson. Er richtete sich auf.»So, jetzt liegen Sie still, damit die Wunde nicht wieder aufplatzt. Ich lasse Ihnen was zu essen bringen. «Er wandte sich zur Tür und gab seinem wartenden Assistenten einen Wink.

Das Mädchen schaute immer noch Keen an und flüsterte heiser:»Sind Sie wirklich der Kapitän, Sir?«Keen merkte, daß sie im Begriff war, die Beherrschung zu verlieren. Er war mit zwei jüngeren Schwestern aufgewachsen und kannte die Anzeichen. Bei Gott, sie hatte ja auch genug gelitten.

«Ja. «Er ging zur Tür und blieb stehen, als der Rumpf wegsackte und dann widerwillig seine achtzehnhundert Tonnen der nächsten Welle entgegenhob.

Das Mädchen wandte den Blick nicht von seinem Gesicht.»Was werden Sie mit mir machen, Sir?«Ihre Augen glänzten. Wenn sie in Tränen ausbrach, durfte er nicht mehr da sein.

So fragte er rundheraus:»Wie heißen Sie mit Vornamen?»

Das schien sie abzulenken.»Zenoria.»

Er wich zurück.»Gut, Zenoria, folgen Sie den Anweisungen des Arztes. Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen kein Leid geschieht.»

Er ging an dem Posten vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Was hatte er da getan? Wie kam er dazu, ihr Versprechungen zu machen? Er kannte sie doch nicht einmal!

Als er die Stufen des ersten Niedergangs hocheilte, wußte er die Antwort auf die beiden Fragen bereits: Es war der reine Wahnsinn. Ich bin wohl nicht bei Trost, dachte er.

Plötzlich war er froh, wieder den Himmel zu sehen.

Leutnant Hector Stayt beugte sich über den Tisch und legte Bolitho eine weitere Ausfertigung seiner Befehle zur Unterschrift vor. Wenn sie endlich auf der Reede von Gibraltar vor Anker gingen, würden die Dokumente an alle anderen Kommandanten weitergereicht werden. Das mochte noch zwei Tage dauern, wenn der Wind günstig blieb, oder auch länger. Seit dem Vorfall auf der Orontes war eine lange, ereignislose Woche vergangen, doch nun steuerte das Geschwader nach Südosten, und die spanische Küste zwischen Cadiz und Algeciras war für die scharfäugigsten Ausguckposten gerade noch sichtbar.

Bolitho überflog Yovells runde Handschrift, ehe er seinen Namen daruntersetzte. Es waren gleichlautende Befehle, aber jeder Kommandant würde sie bei der Lektüre anders interpretieren.

Er dachte an Keen und ihren unerwarteten Passagier. Die französischen Schiffbauer hatten hinter der Kapitänskajüte Platz für einen zusätzlichen Kartenraum gelassen, der nun für Zenoria Carwithen so behaglich wie möglich eingerichtet worden war. Eine Koje, ein Spiegel und saubere Laken aus der Messe hatten ihn verwandelt. Ozzard hatte sogar eine Kommode im Laderaum entdeckt und für Zenoria aufgestellt. Wir dürfen uns nicht zu sehr an ihre Anwesenheit gewöhnen, dachte Bolitho. In Gibraltar muß sie von Bord.

«Ich habe etwas über dieses Mädchen erfahren, Sir Richard«, sagte Stayt.

Es hatte nicht zum ersten Mal den Anschein, als habe der Flaggleutnant Bolithos Gedanken gelesen. Bolitho fand das enervierend.

«Ja?«Er schaute vom Kartentisch auf.

«Sie war an Krawallen beteiligt, die sich nicht weit vom Besitz meines Vaters ereigneten. Jemand wurde ermordet, ehe das Militär eintraf. «Er lächelte dünn.»Wie üblich zu spät.»

Bolitho schaute an ihm vorbei auf die beiden Degen am Schott. Einer so schimmernd und glänzend, der andere im Vergleich fast schäbig.

Stayt interpretierte sein Schweigen als Interesse.»Ihr Vater wurde gehängt.»

Bolitho zog seine Taschenuhr hervor und klappte sie auf.»Zeit für die Signalübung, Mr. Stayt. Ich komme gleich an Deck.»

Stayt ging. Er hatte einen federnden Gang, der großes Selbstvertrauen verriet. Bolitho runzelte die Stirn. Eingebildeter Fatzke.

Yovell trat an den Tisch und sammelte die Papiere ein. Dabei warf er Bolitho über seine kleine Goldbrille hinweg einen Blick zu und sagte:»Ganz so hat es sich aber nicht ereignet, Sir Richard.»

Bolitho schaute ihn an.»Dann sagen Sie mir, wie es war.»

Yovell lächelte betrübt.»Carwithen war Drucker, Sir, ein guter sogar, wie ich hörte. Einige Landarbeiter ließen ihn Flugblätter drucken, Protestaufrufe gegen zwei Gutsbesitzer, die ihnen vorenthielten, was ihnen an Geld und Naturalien zustand. Dem Vernehmen nach war Carwithen ein Feuerkopf, der seine Meinung frei heraussagte, besonders wenn anderen Unrecht geschah. «Er wurde rot, aber Bolitho nickte.

«Keine Angst, Mann, sprechen Sie.»

Seltsam, daß ausgerechnet Yovell Bescheid wußte. Wenn er an Land war, wohnte er in Bolithos Haus, aber da er aus Devon stammte, galt er bei den Einheimischen als Zugereister. Trotzdem schien er immer zu wissen, was vorging.

«Da Carwithens Frau kurz zuvor gestorben war, schickte man das Mädchen nach seinem Tod aus der Grafschaft weg.»

«Nach Dorset?»

«Jawohl, Sir.»

Es mußte sich also nach den Krawallen, wie Stayt sie nannte, noch etwas abgespielt haben.

Bolitho kam zu einem Entschluß und sagte:»Holen Sie Allday.»

Allday schaute den Sekretär fragend an, als er eintrat, doch Yovell zuckte nur die hängenden Schultern.»Sir?»

«Geh mit Yovell das Mädchen holen. «Er sah ihre Überraschung.»Und zwar sofort, wenn ich bitten darf. «Allday schob trotzig den Unterkiefer vor.»Wenn Sie das für klug halten, Sir. «Bolitho sah ihn fest an.»Das tue ich.»

Ozzard reichte ihm seinen Rock, aber er schüttelte den Kopf. Sie mochte eingeschüchtert verstummen, wenn sie sich einem Vizeadmiral gegenüberfand. Nach Keens und Tuson Aussagen schien sie intelligent zu sein; unter dem Einfluß ihres Vaters hatte sie offenbar auch einiges an Bildung mitbekommen.

Er mischte sich ein, weil er Keens Miene gesehen hatte, wenn er das Mädchen erwähnte. Bolitho hatte nicht vergessen, was es hieß, verliebt zu sein. Doch auf das, was nun geschah, war er völlig unvorbereitet.

Yovell öffnete die Tür, und Zenoria betrat zögernd die Achterkajüte. Neben Alldays kraftvoller Figur wirkte sie zerbrechlich, trug aber den Kopf hoch, und als sie unter dem Skylight stehenblieb, bewegten sich nur ihre Augen.

Gekleidet war sie in ein weißes Hemd und die Hose eines Fähnrichs; das lange braune Haar trug sie zurückgekämmt und im Nacken mit einer Schleife gebunden, so daß sie aussah, als gehöre sie ins Batteriedeck. Ihre zierlichen Füße jedoch waren bloß, und Yovell erklärte hastig:»Selbst die jungen Gentlemen hatten keine Schuhe, die klein genug für sie gewesen wären.»

«Setzen Sie sich. Ich möchte mit Ihnen reden«, sagte Bolitho.

Er sah, wie steif sie die Schultern hielt. Laut Tuson würde sie die Narbe auf dem Rücken ihr Leben lang tragen. Und das war nur ein Schlag gewesen…

«Ich hätte gern gewußt…«Sie richtete den Blick auf ihn; ihre Augen waren dunkelbraun und feucht. Kein Wunder, daß Keen in ihren Bann geraten war.»Was Sie in diese Lage gebracht hat.»

Sie schwieg.

«Sagen Sie es Sir Richard, er wird Sie schon nicht auffressen«, murmelte Yovell. Sie fuhr entsetzt zusammen und rief: «Sir Richard!»

Bolitho wollte Yovell einen wütenden Blick zuwerfen, bat aber nur:»Sagen Sie es mir einfach. Bitte.»

Doch sie starrte ihn verwirrt an.»Aber — aber den Kapitän kenne ich doch schon!»

Yovell erklärte geduldig:»Der Admiral hier befehligt alle Schiffe, alle Kapitäne, Miss, und dazu gut zweitausend Seeleute und Seesoldaten. «Er musterte sie ernst.»Er hat also viel zu tun. Heraus mit der Sprache, stehlen Sie ihm nicht die Zeit.»

Bolitho lächelte.»Er meint es nur gut, Zenoria.»

Sie schaute auf ihre Hände im Schoß und sagte:»Sie holten meinen Vater ab, Sir. Er war ein guter, kluger Mann, der an die Menschenrechte glaubte.»

Bolitho hielt den Atem an. Schon allein der Klang ihrer Stimme versetzte ihn zurück nach Cornwall.

«Ich sah, wie er gehängt wurde, Sir.»

«Und warum wurde er gehängt?»

«Schuld daran war der Gutsherr, Sir. Er kam mit seinen Leuten zu unserem Haus, sie wollten die Druckerpresse zerschlagen. Aber mein Vater hat es ihnen gezeigt. «Stolz hob sie das Kinn, sah dadurch aber nur noch verletzlicher aus.»Er zerrte den Gutsherrn vom Pferd, und Nachbarn aus dem Dorf halfen ihm. Einer kam dabei ums Leben. Und dann holten ihn die Dragoner ab.»

«Wie alt waren Sie damals?»

«Siebzehn, Sir. Es war vor zwei Jahren. Man schickte mich nach Dorset in einen großen Haushalt, wo ich helfen und die Kinder unterrichten sollte.»

Es fiel ihm schwer, in Yovells und Alldays Gegenwart frei zu sprechen. Er mußte jedoch sicher sein, daß sie nicht log und keine Hure war, wie der Kapitän der Orontes behauptet hatte, und ein Gespräch mit ihr allein hätte gefährlich werden können.

«Erzählen Sie mir, was in Lyme geschah.»

«Ihr Urteil kommt an Bord, Mädchen«, sagte Yovell streng.»Lügen ist also sinnlos.»

«Halten Sie Ihre Zunge in Zaum, Mann!«Bolitho sah das Mädchen zusammenzucken, als gälte sein Zorn auch ihr. Er sagte:»Hol ihr ein Glas Wein, Allday. «Er versuchte, seine Verwirrung zu kaschieren.»Ich muß Bescheid wissen.»

Sie senkte den Blick.»Alle in Lyme wußten, was aus meinem Vater geworden war. Der Herr betatschte mich immer, machte anzügliche Bemerkungen und meinte, ich könne von Glück sagen, daß ich überhaupt ein Dach über dem Kopf hatte. Dann kam er eines Tages in mein Zimmer. «Sie begann zu zittern.»Er versuchte. «Sie nahm das Glas von Allday an, trank aber nicht.»Er zwang mich zu scheußlichen. «Als sie aufschaute, war ihr Blick flehend.»Ich flickte gerade Kinderkleider. «Sie brachte die Worte kaum heraus.»Da nahm ich die Schere und stach nach ihm.»

Bolitho stand auf und trat langsam hinter ihren Stuhl. Das alles klang so überzeugend, daß er die Szene fast vor Augen hatte.»Und dann?»

«Gestorben ist er nicht, Sir, aber ich kam vors Schwurgericht. Den Rest kennen Sie, Sir.»

Lebenslange Verbannung.

«Gehen Sie jetzt zurück in Ihre Kabine, Zenoria. «Bolitho schaute in ihr emporgewandtes Gesicht. Sie war neunzehn, wirkte aber in Hemd und Hose und mit dem zurückgebundenen Haar wie ein Kind.

Sie stand auf und gab Allday das volle Glas zurück.»Und auch dieser Kapitän Latimer hatte es auf mich abgesehen. «Mehr brauchte sie nicht zu sagen.

«Morgen wird Ihnen mein Sekretär helfen, das alles aufzuschreiben. Ich kann, ich darf nicht so tun, als könnte ich Ihnen in dieser Angelegenheit helfen. «Er berührte sie an der Schulter, und diesmal zuckte sie nicht zurück.»Aber ich will es versuchen. Das verspreche ich Ihnen.»

Er wandte sich zu den Heckfenstern um und wartete, bis die Tür geschlossen wurde.

Als Allday zurückkam, sagte er schlicht:»Das war anständig von Ihnen, Sir. Jetzt heult sie, aber es wird ihr gut tun.»

«Meinen Sie?«Bolitho beobachtete, wie die Flaggen zur Signalrah der Helicon hochglitten, sah aber nur die Augen des Mädchens, ihren tiefen Schmerz. Ich sah, wie er gehängt wurde. Er dachte an den anderen Gutsherrn, der in Fal-mouth seine Schwester Nancy geheiratet hatte: ein reicher Landbesitzer, der schon immer das Haus der Bolithos im Auge gehabt hatte. Die Einheimischen nannten ihn den König von Cornwall. Aber er behandelte Nancy anständig, auch wenn er ein Angeber war, der es sich in Friedens- und Kriegszeiten zu gut gehen ließ. Außerdem war er Richter. Hätte er in Zenorias Fall Gnade statt Verbannung empfohlen? Bolitho wußte es nicht.

Draußen schrillten die Trillerpfeifen, das Exerzieren war für heute beendet. Bolitho schaute zur Tür und hörte, wie der Wachtposten die Hacken zusammenschlug. Keen trat ein.»Darf ich Sie sprechen, Sir Richard?»

Allday und Yovell verließen die Kajüte, und Keen sagte:»Ich habe gerade von Ihrem Verhör erfahren, Sir. Bedauerlich, daß Sie sich nicht an mich wandten.»

«Setzen Sie sich, Val«, erwiderte Bolitho leise.»Wir wollen nicht streiten. Ich habe in Ihrem Interesse mit dem Mädchen gesprochen.»

Keen starrte ihn an.»In meinem!»

Bolitho wies auf einen Stuhl.»Dort hat sie gesessen. Nun tun Sie das bitte auch. «Er hatte Keen selten zornig gesehen, aber nun war sein Beschützerinstinkt geweckt.

Er sagte:»Wenn wir vor Anker gehen, werden wir sie an Land schicken müssen. Ihrem Bericht nach zu urteilen und auch nach dem, was sie ungesagt ließ, glaube ich aber, daß Hoffnung besteht.»

«Ich werde an meinen Vetter in der City of London schreiben«, brach es aus Keen hervor.»Wir können bestimmt…«Er wandte sich um und schaute Bolitho fest an.»Das war anständig von Ihnen, Sir. Ich hätte es nicht mißverstehen dürfen.»

Bolitho schenkte zwei Gläser Brandy ein; er vermutete, daß Ozzard an der Pantrytür lauschte.

«Sie ist brutal mißbraucht worden, Val. «Seine Worte fielen wie ein Stein in einen stillen Teich.»Vergewaltigt, wie es den Anschein hat, und das ist noch nicht alles. «Er sah die Qual in Keens blauen Augen und wußte nicht, ob ihn das mit Befriedigung oder Trauer erfüllte.

«Ich habe sie sehr gern, Sir«, sagte Keen leise. Er schaute trotzig auf, als erwarte er eine Explosion.

«Das weiß ich, Val, schon seit dem Tag, an dem Sie sie im Krankenrevier besuchten, vielleicht auch früher. «Er nickte.»Das wäre also geregelt.»

Keen stellte sein leeres Glas ab. Er hatte getrunken, ohne es überhaupt zu merken.

«Aber es ist unmöglich! Schon der Gedanke ist Wahnsinn!»

«Wie alt sind Sie, Val?«fragte Bolitho.»Fünfunddreißig oder sechsunddreißig?»

«Ein Jahr älter, Sir. Und Zenoria ist ein junges Mädchen.»

«Eine Frau, Val, merken Sie sich das. Und mit den Jahren macht der Altersunterschied nicht mehr so viel aus. «Er legte den Kopf schief und mußte über Keens Ausdruck lächeln.

Vielleicht hatte er den beiden einen Bärendienst geleistet. Denn es war auch denkbar, daß der Gouverneur von Gibraltar ihr den Aufenthalt versagte. Dann wurde sie doch noch nach Australien transportiert.

Doch wenigstens war jetzt die Wahrheit heraus, was Bo-litho überraschend erleichternd fand.

«Ich mache mir doch nur was vor, Sir«, sagte Keen.

Bolitho berührte seinen Arm.»Wir werden sehen. «Er schaute zum Skylight auf, als draußen ein Ruf des Ausgucks erklang. Eine Minute später stand der Midshipman der Wache atemlos in der Tür.

«Verzeihung, Sir. «Er schaute erst Keen, dann seinen Admiral an.»Empfehlung von Mr. Paget, wir haben gerade ein Segel gesichtet, Sir.»

Es war Midshipman Hext, der sich in der großen Kajüte neugierig umsah und zweifellos Einzelheiten für seinen nächsten Brief sammelte.

Bolitho lächelte.»Und werden wir auch noch erfahren, wo dieses Segel steht?»

Der Junge wurde rot.»Tut mir leid, Sir Richard — im Südosten.»

«Mein Kompliment an den Ersten Offizier, und ich komme gleich an Deck. «Keen schien noch immer nur mit halbem Herzen bei der Sache.

«Signal an Rapid: Sie soll erkunden«, sagte Bolitho.»Mag sein, daß wir etwas von den Franzosen hören.»

Keens Augen wurden klar.»Aye, Sir. «Dann war er verschwunden.

Doch was sie hörten, war ernster als erwartet.

Als das andere Schiff sich näherte, wurde es bald als die Barracouta identifiziert. Bolitho nahm sich ein Fernrohr und trat zu Keen an die Querreling, wo er zusah, wie Lapish sich nach Luv kämpfte, um näher an das Geschwader heranzukommen.

Auf den Rahen arbeiteten Männer, mehrere Segel trugen Flicken. Unter Bolithos Augen wurde Ersatztauwerk nach oben gehievt, und die Reparaturen wurden selbst beim Wenden nicht unterbrochen.

«Sie war im Gefecht. «Keen nickte seinem Ersten Offizier zu.»Klar zum Beidrehen.»

Bolithos Miene blieb ausdruckslos, aber die Männer auf dem Achterdeck starrten ihn erschreckt an. Es ging also schon los. Mit der trügerischen Ruhe war es vorbei.

«Sie haben recht, Val. Kapitän Lapish soll sofort an Bord kommen.»

Eine Stunde später saß Lapish in Bolithos Kajüte. Er schien gealtert zu sein, seit er das Geschwader verlassen hatte, um Depeschen nach Gibraltar zu bringen.

«Ich sichtete in Küstennähe einen Schoner und wollte ihn überprüfen. «Lapish nahm dankbar von Ozzard einen Becher Wein entgegen.»Aber ehe ich mich's versah, kamen zwei französische Fregatten vorm Wind um die Landzunge.»

Bolitho sah Verzweiflung und Kummer im Gesicht des jungen Kommandanten. Der Schoner war nur ein Köder gewesen, und die beiden Feindschiffe hatten Lapish fast auf eine Leeküste getrieben.

«Ich sehe mir Ihren Bericht später an. «Bolitho musterte ihn streng.»Haben Sie Leute verloren?»

Lapish nickte, seine Augen waren stumpf.»Zwei, Sir.»

Dabei hatte er recht daran getan, vor den Angreifern zu fliehen; angesichts der schnelleren und besser bewaffneten Übermacht blieb ihm keine andere Wahl.

Aber hätte auch ich so gehandelt! Bolitho schaute ihn an.»Und wie sieht es in Gibraltar aus?»

Lapish riß sich zusammen.

«Gibraltar ist geschlossen, Sir«, sagte er. Er legte einen dicken Umschlag auf den Tisch und fügte hinzu:»Wegen Fieber. Die halbe Garnison ist erkrankt.»

Bolitho schritt durch die Kajüte und wieder zurück. Gibraltar war für seine Fieberausbrüche berüchtigt, aber mußte das ausgerechnet jetzt passieren?

«Es gibt keinen tödlicheren Feind. «Er schaute Keen an.»Wir werden also vor der Küste ankern müssen, bis wir Näheres erfahren. «Zu Lapish sagte er:»Sie kehren zurück auf Ihr Schiff. «Gern hätte er seinen Schmerz geteilt, ihm sein Mitgefühl ausgesprochen, aber die Lektion mußte wirken. Also sagte er scharf:»Sie können von Glück reden, daß Sie überhaupt noch eins haben.»

Keen begleitete den geknickten Lapish zur Reling.

Fieber. Bolitho schauerte. Allein schon das Wort rief den Alptraum zurück, dem er beinahe erlegen wäre. Er schüttelte sich und versuchte zu erwägen, in welchem Ausmaß ihre Pläne von der Nachricht betroffen wurden. Da ihnen Gibraltar nun verschlossen war, lag die Entscheidung über Zenorias Schicksal allein bei ihm.

Er lächelte grimmig. Nun war er kein unbeteiligter Zuschauer mehr.

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