Bolitho saß ruhelos am Tisch und sah zu, wie Keen eine Berechnung auf der Seekarte anstellte und geschickt mit dem Stechzirkel hantierte.
Mehrere Male hatte sich Bolitho vorgebeugt, um nachzusehen, welche Fortschritte gemacht wurden, und zwar zunehmend verzweifelt. Er fühlte sich halb blind, und an ein Lesen der Seekarte war überhaupt nicht zu denken.
Sein kleines Geschwader, das sich erst kürzlich im Golfe du Lion zusammengefunden hatte, zerstreute sich nun mit jeder Stunde weiter. Helicon und Dispatch hatten alles Tuch gesetzt und waren ihrerseits zu den Inseln gesegelt, um Trinkwasser an Bord zu nehmen. Bolitho zog die Stirn kraus und spürte sofort Schmerz im linken Auge. Wenn die beiden Schiffe zurückkehrten, würde das Geschwader zusammenbleiben.
Inch hatte Barracouta angewiesen, alle Küstenschiffe, die sie traf, zu stoppen und zu durchsuchen, und von einem dieser Händler war in Erfahrung gebracht worden, daß zwei große französische Kriegsschiffe in spanischen Gewässern gesichtet worden waren, weniger als zweihundert Meilen südwestlich von Toulon. Kein Wunder, daß Nelsons Blockadegeschwader vor dem großen Hafen nur so wenige französische Schiffe ausgemacht hatte. Zu viele waren noch draußen.
Bei der Kommandantenbesprechung hatte Bolitho anfangs Zweifel, wenn nicht Ungläubigkeit gespürt, doch dann fühlte er, daß sie ihm mit zunehmender Aufmerksamkeit zuhörten.
Spanien war nach wie vor mit Frankreich verbündet, denn Bonaparte ließ ihm praktisch keine andere Wahl. Er hatte Subventionen von sechs Millionen Francs im Monat und andere wichtige Hilfeleistungen verlangt. Wenn Spanien sich diesem unerhörten Ultimatum entziehen wollte, mußte es England erneut den Krieg erklären. Ging es auf keine dieser Alternativen ein, würde es von Frankreich angegriffen werden.
Wenn Inchs Meldung zutraf, dann befuhr Jobert mit Instruktionen von höherer Stelle in Paris die spanischen Gewässer: ein weiterer Schachzug, um die Spanier in den Konflikt hineinzuziehen.
Leutnant Stayt trat ein.
«Kapitän Lapish ist bereit, seine Befehle entgegenzunehmen, Sir.»
«Gut. «Keen warf Bolitho einen Blick zu und legte den Stechzirkel hin. Er wußte, wie ungern Bolitho seine einzige Fregatte freigab. Doch wenn es zum Kampf kam, mußte sich jedes Schiff so lange wie möglich selbst versorgen können. Proviant ließ sich rationieren, aber ohne Wasser konnte man nicht überleben.
Als sich der Flaggleutnant wieder zurückzog, sagte Keen:»Lapish weiß, was er zu tun hat. Ich sprach mit ihm, als er an Bord kam. «Er lächelte schief.»Offenbar will er unbedingt beweisen, daß er sich gebessert hat.»
Als Lapish eintrat, sagte Bolitho:»Kehren Sie so bald wie möglich auf diese Station hier zurück. «Er sah ihn nicken, aber seine Augen brannten vor Überanstrengung, und er konnte den Ausdruck des jungen Kommandanten nur undeutlich erkennen.»Wissen Sie, was Sie zu tun haben?»
Lapishs Antwort klang, als rassle er eine auswendig gelernte Lektion herunter.»Ich soll mein Schiff in einen Zweidecker verwandeln, ehe ich mich zum Blockadedienst zurückmelde, Sir. «Sein Tonfall verriet zwar keinen Zweifel, aber Bolitho vermutete, daß der Mann seinen Admiral nicht nur für halb blind, sondern auch für geistesgestört hielt.
Bolitho lächelte.»Aye. Benutzen Sie dazu alle Ersatzsegel und Hängemattsdecken. Wenn Sie die an den Gangways aufspannen und braun mit schwarzen Quadraten als Stückpforten anmalen, wird auf die Entfernung niemand den Unterschied merken. «Er fügte heftig hinzu:»Und wenn Ihnen jemand zu nahe kommt, entern oder versenken Sie ihn.»
Bolitho wußte, daß die kleine Fregatte in der Lage sein würde, die beiden Linienschiffe einzuholen, Trinkwasser an Bord zu nehmen und dennoch vor ihnen die französische Küste zu erreichen. War sie erst einmal auf Station, würde man sie als zum Geschwader gehörig betrachten. Bolitho behielt auf diese Weise seine volle Stärke. Ausguckposten, ob Freund oder Feind, sahen gewöhnlich, was sie erwarteten.
Rapid hatte nun eine noch wichtigere Funktion: sie war sein einziger Aufklärer.
Nachdem Lapish von Keen zu seiner Gig gebracht worden war, setzte Argonaute Segel und ging zusammen mit Icarus auf Südwestkurs. Die beiden Schiffe segelten mit großem Abstand in Querlinie und erweiterten so das Sichtfeld ihrer Ausguckposten. Rapid lag so weit vor ihnen, daß sie selbst vom Krähennest kaum auszumachen war.
Keen kehrte zurück an den Kartentisch und erklärte:»Die Franzosen wurden bei Kap Creus gesichtet, Sir, einem idealen, nur knapp zwanzig Meilen von der Grenze entfernten Ankerplatz. Sollen wir sie angreifen, falls sie noch dort sind?»
Bolitho spielte mit dem Stechzirkel.»Das könnte Spanien provozieren. Andererseits würde es den Dons zeigen, daß wir uns um ihre scheinheilige Neutralität nicht scheren. Und zur Abwechslung könnte es Jobert mal in die Defensive treiben. «Je länger er darüber nachdachte, desto ferner rückten Alternativen. Bisher hatte Jobert alle Eröffnungszüge gemacht und dabei beinahe Bolithos Geschwader angeschlagen. Er mußte auf die hohe See gelockt werden. Der Winter stand vor der Tür, dann würde das Wetter den Feind begünstigen und nicht die Schiffe im Blockadedienst.
Für die nächste Woche wurde ein britischer Geleitzug nach Malta erwartet, und es war damit zu rechnen, daß der Feind davon erfuhr. Sobald die Versorgungsschiffe vor Gibraltar ankerten, würden feindliche Spione ihre Ankunft und womöglich auch ihre Ladung weitermelden.
Bolitho massierte sich das Auge. Was, wenn sie auf eine spanische Patrouille trafen? Sollten sie dann kämpfen oder sich zurückziehen?
«Landfall ist morgen, Val«, sagte er grimmig.
«Jawohl, Sir. «Wenn Keen sich angesichts der Möglichkeit eines Gefechts um Zenoria sorgte, so ließ er sich das wenigstens nicht anmerken.
Nachdem Keen gegangen war, trat Allday ein und fragte:»Brauchen Sie etwas, Sir?»
Bolitho hörte sofort die Teilnahmslosigkeit in seiner Stimme.»Was ist los?»
Allday starrte zu Boden.»Nichts, Sir.»
Bolitho ließ sich in seinen Sessel fallen.»Raus damit, Mann.»
«Das behalte ich lieber für mich, wenn Sie nichts dagegen haben, Sir«, erwiderte Allday trotzig.
Es war sinnlos, weiter in ihn zu dringen. Allday war wie eine Eiche und wurzelte tief. Wenn er soweit war, würde er schon mit seinem Problem herausrücken.
Tuson war der nächste Besucher. Bolitho hatte gelernt, die regelmäßige Behandlung zu ertragen und sich die Schmerzen beim Verbandwechsel nicht anmerken zu lassen. Er öffnete das linke Auge und schaute starr zu den Heckfenstern. Wäßrige Sonne und ein tiefblauer Horizont. Er spannte sich, spürte jähe Hoffnung und ballte dann die Fäuste, als sich der Schatten wieder wie ein Vorhang vor sein Gesichtsfeld legte.
Tuson sah seine verkrampften Hände.»Nur nicht den Mut verlieren, Sir. Das bessert sich noch.»
Bolitho wartete, bis der Verband wieder verknotet worden war. Dann fragte er abrupt:»Was ist eigentlich mit meinem Bootsführer los?»
Tuson sah ihn an.»Es geht um Bankart, Sir, seinen Sohn. Ein Pech, daß er an Bord ist, wenn Sie mich fragen.»
Bolitho faßte ihn am Hemdsärmel.»Mit mir können Sie doch offen reden, Mann.»
Tuson klappte seine schwarze Tasche zu.»Wie würden Sie sich fühlen, Sir, wenn Ihr Neffe sich als Feigling entpuppte?»
Bolitho hörte, wie die Tür geschlossen wurde.
Ein Feigling? Bittere Erinnerungen durchfluteten ihn: der Augenblick, als Midshipman Sheaffe zurückgelassen worden war, vermutlich verwundet. Die Gelegenheiten an Deck der Supreme, bei denen Bankart gefehlt hatte. Und Stayts Stimme auf dem Kutter; der hatte es schon damals gewußt.
Wie konnte er über solche Dinge nachdenken, wenn so viel von ihm erwartet wurde? Er dachte an die Instruktionen, die er Lapish gegeben hatte: entern oder versenken. Die neue Härte seines Denkens, war sie von der Blindheit ausgelöst worden? Doch dann entsann er sich, wie er den französischen Matrosen, der das Teleskop des Ausguckpostens trug, ohne Nachdenken, ohne Zögern niedergehauen hatte. Nein, der Grund lag tief in ihm verborgen. Vielleicht hatte Belinda das erkannt und Angst um ihn bekommen, denn der Krieg zerstörte ebenso rücksichtslos wie eine Kugel oder Pike.
In dieser Nacht, als die Argonaute durch eine aufgewühlte See stampfte, lag Bolitho in seiner Koje und versuchte zu schlafen. Als er endlich eindöste, träumte er von Belinda. Oder war es Cheney? Aber die Szene in Falmouth verwandelte sich in eine Seeschlacht, die zu einem Alptraum wurde, denn er sah sich selbst darin als Leiche.
Am nächsten Tag hielt Rapid ein portugiesisches Fischerboot an, nachdem ihm ein Schuß vor den Bug gesetzt worden war.
Nach einer Weile erreichte die Nachricht das Flaggschiff: Der Fischer hatte vor zwei Tagen den Golf von Rosas unterhalb des Kaps passiert. Dort lag ein großes französisches Kriegsschiff.
Bolitho ging auf seiner Heckgalerie auf und ab und kümmerte sich nicht um den Wind und die Gischt, die ihn bis auf die Haut durchnäßte.
Das französische Schiff würde kaum nach Gibraltar segeln, sondern vor Anker bleiben oder in Richtung Toulon auslaufen. Und zwischen ihm und seinem Ziel würde Argo-naute liegen.
Er schickte nach seinem Flaggleutnant.
«Signal an Icarus: >Station halten.< Rapid soll bei ihr bleiben.»
Wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er gesehen, wie Stayt eine Augenbraue hob. Bolitho tastete sich an den Tisch und starrte hilflos auf die Seekarte. Dann drehte er sich zu Stayt um und grinste.»Morgen wird Argonaute wieder unter ihrer alten Flagge segeln.»
«Und wenn es Jobert ist, Sir? Er würde das Schiff doch sicher erkennen.»
«Unwahrscheinlich. Er hält sich bestimmt bei seinem Geschwader auf. Und wenn wir erst einmal wissen, wo das ist…«Den Rest ließ er unausgesprochen.
Minuten später wehten die Flaggen hell an ihren Leinen aus und wurden von Icarus und später auch von der kleinen Brigg bestätigt.
Wenn sich der Wind gegen sie stellte, würde er umdenken müssen. Da der Master aber zuversichtlich war, daß er weiterhin aus Südwest wehen würde, bestand vielleicht die Chance, an die Franzosen heranzukommen.
Die Küste, die der Feind als Zufluchtsort gesehen hatte, konnte für ihn zu einer Falle werden.
Kapitän Valentine Keen nahm sich in seiner Kajüte einen Augenblick Zeit, um sicherzustellen, daß er alles hatte, was er in den nächsten Stunden brauchte. Das Schiff schien still zu sein, abgesehen vom regelmäßigen Ächzen der Balken und dem gedämpften Rauschen des Wassers am Rumpf.
Er sah sein Spiegelbild und zog eine Grimasse. Bald würde er an Deck gehen und befehlen, das Schiff klar zum Gefecht zu machen. Furcht berührte eiskalt sein Rückgrat. Auch das war normal. Er musterte sich so sorgfältig wie einen Untergebenen: sauberes Hemd, saubere Hose. Das verringerte die Entzündungsgefahr, falls er verwundet wurde. Er berührte seine Seite und spürte das Ziehen der alten Wunde. Der Blitz trifft nie zweimal die gleiche Stelle, hieß es. Im Spiegel sah er sich lächeln. Ein Brief an seine Mutter lag in der Stahlkassette. Wie oft habe ich jetzt schon so an sie geschrieben? fragte er sich.
Es klopfte leise — Stayt.
«Sir Richard ist an Deck, Sir. «Das klang wie eine Warnung.
Keen nickte.»Vielen Dank. «Stayt verschwand wieder in der Finsternis. Seltsamer Vogel, dachte er. Dann lockerte er seinen Degen in der Scheide und vergewisserte sich, daß seine Uhr tief in der Tasche steckte, falls er stürzte.
Er hörte leise Stimmen vor der Tür und riß sie auf, ehe jemand anklopfen konnte.
Erst sah er nur ihr blasses, ovales Gesicht; sie steckte vom Kinn bis zu den Füßen in seinem Bootsmantel, den er ihr vor einer Weile geschickt hatte. Er führte sie in die Kajüte, die bald ebenfalls geräumt und gefechtsbereit gemacht werden würde.
Vielleicht war das französische Schiff ja gar nicht da?
Doch er verwarf diesen Gedanken. Der Wind war zu frisch, und kein Kommandant würde Lust verspüren, gegen ihn anzukämpfen, um womöglich an einer Leeküste zu enden.
Er ergriff Zenorias Hände.»Du bleibst mit Ozzard im Frachtraum, Liebste, da bist du sicher. Er wird sich um dich kümmern. Wo steckt deine Gefährtin?»
«Millie ist schon unten. «Ihre Augen wirkten im Schein der Blendlaterne sehr dunkel.
Keen zog ihr den Bootsmantel zurecht und spürte, wie sich ihre Schultern versteiften.»Gut so. Unten ist es kalt. Und keine Angst.»
Sie schüttelte den Kopf.»Angst habe ich nur um dich, falls..»
Er berührte ihre Lippen.»Nein. Wir sind bald wieder zusammen. «Er zog sie sanft an sich, glaubte, ihren Herzschlag zu spüren, und erinnerte sich an ihre Brust in seiner Hand.»Es stimmt, Zenoria, ich liebe dich«, murmelte er.
Als sie ging, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. Ob zur Erinnerung oder um ihm Mut zu machen, das wußte er nicht.
Er griff nach seinem Hut und stieg rasch zum Achterdeck hinauf. Bolitho stand in Luv bei den Netzen, und die Argo-naute lief so hoch am Wind, wie ihre Rahen gebraßt werden konnten.
Die ganze Nacht über war das Schiff gegen den Wind nach Nordwest aufgekreuzt, bis es das Kap gut querab hatte, um dann zu wenden und auf das Land und die kleine Bucht zuzuhalten, wo der Franzose angeblich lag. Die ermüdenden Wendemanöver verschafften ihnen beim Endspurt auf den Feind einen Vorteil, denn dann würden sie vorm Wind segeln. Selbst wenn es dem Franzosen gelingen sollte, ihnen zu entkommen, gab es für ihn nur einen Fluchtweg, und den würden Icarus und Rapid blockieren.
Bolitho drehte sich um und fragte:»Wie lange noch?»
Keen sah, wie verkrampft er den Kopf hielt, und litt mit ihm.»Ich lasse bei Tagesanbruch klar zum Gefecht machen, Sir.»
Bolitho klammerte sich an die Netze, als das Schiff in ein riesiges Wellental sackte; es schien vom Bug bis zur Heckreling zu erzittern.
«Bekommen die Männer vorher zu essen?»
Keen lächelte traurig.»Jawohl, Sir. Die Kombüse ist bereit. «Beinahe hätte er» selbstverständlich «gesagt.
Bolitho schien sich unterhalten zu wollen.»Sind die Frauen unter Deck?»
«Jawohl, Sir«, sagte Keen. Er dachte an Millie, die Zofe aus Jamaika. Er hatte den Verdacht, daß sie heimlich ein Verhältnis mit Wenmouth hatte, dem Korporal, der sie vor Unbill schützen sollte.»Die Vorstellung, daß sie während des Gefechts dort unten sitzt, ist mir unangenehm«, gestand er.
Bolitho berührte seinen Verband.»Falls es überhaupt zum Gefecht kommt. Im Augenblick aber, Val, ist sie hier besser aufgehoben als in irgend einem Hafen.»
Zwischen den Decks trillerten die Pfeifen, und Decksoffiziere befahlen den Männern, die Hängematten abzunehmen und zusammenzurollen. Innerhalb weniger Minuten war das Deck von Matrosen überflutet, die zu den Netzen rannten und ihre Hängematten als Schutz gegen Splitter und Musketenkugeln hineinstopften. Aus dem Kombüsenschornstein kam der kräftige Geruch nach gebratenem Speck, und aus dem Luk hörte Bolitho den dünnen Klang einer Fiedel. Zeit zu essen, frische Kleider anzuziehen, mit einem Freund einen Schluck Rum zu trinken und ein Lied anzustimmen. Für manche mochte es das letzte Mal sein.
Keen war nach vorne gegangen, um mit dem Bootsführer zu sprechen. Bolitho drehte sich um und suchte nach dem Wachoffizier.»Mr. Griffin!»
Doch der Schatten war nicht der Leutnant, sondern Mid-shipman Sheaffe.
Bolitho zuckte die Achseln.»Sagen Sie mir, was vorgeht.»
Sheaffe blieb neben ihm stehen.»Mr. Fallowfield sagt, daß es in einer halben Stunde zu dämmern beginnt. Es ist bewölkt, wie Sie sehen, Sir. «Er verstummte und sagte dann:»Verzeihung, Sir Richard.»
«Daran gewöhne ich mich allmählich«, erwiderte Bolitho.»Aber ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich wieder sehen kann.»
Keen kam nach achtern zurück und legte grüßend die Hand an den Hut.»Der Landfall erfolgt pünktlich, Sir«, rief er.»Ich kann bald halsen, aber erst.»
Bolitho, dessen Haar im Wind wehte, drehte sich zu ihm um.»Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen eingeschärft habe, Val: Verbannen Sie alles außer dem bevorstehenden Gefecht aus Ihren Gedanken. «Seine Stimme hatte ihren harten Klang verloren, als er hinzufügte:»Sonst wird unsere tapfere Zenoria noch vor ihrer Hochzeit zur Witwe.»
Keen grinste. Er legte die Hände um den Mund, gerade als ein schwacher Sonnenstrahl wie flüssiges Gold an der Groß-bramstenge hinabglitt, und rief:»Mr. Paget! Klar Schiff zum Gefecht!»
Bolitho holte tief Atem, als Trommelwirbel erschollen und die Pfeifen die Mannschaft zusammenriefen. Er brauchte nicht sehen zu können, um zu wissen, was vor sich ging: dumpfe Schläge unter Deck, wo Trennwände entfernt und persönliche Habseligkeiten ins Orlopdeck, tief unter die Wasserlinie, geschafft wurden. Pulver wurde aus dem Magazin geholt und Sand aufs Deck gestreut, damit die Geschützbedienungen nicht ausglitten. Außerdem sollte er Blut aufsaugen.
Bolitho spürte Allday neben sich und hob den Arm, damit sein Bootsführer ihm den Degen an den Gürtel hängen konnte. Für einen neuen Kampf, zu Sieg oder Versagen. Dachte eigentlich jemand an diese Männer hier, wußte man an Land, wie viele Menschenleben geopfert werden mußten, damit man sich dort ein angenehmes Leben machen konnte?
Pagets Stimme.»Schiff ist klar zum Gefecht, Sir!»
Keen sagte:»Gut gemacht, Mr. Paget, aber beim nächsten Mal muß das zwei Minuten schneller gehen!»
«Aye, aye, Sir. «Das war nur ein Spiel zwischen Kommandant und Erstem Offizier. Genau wie bei mir und Thomas Herrick, dachte Bolitho. Er begann jetzt Umrisse zu erkennen, die ausgestopften Hängemattsnetze, die Achtzehnpfün-der auf dem Oberdeck.
Keen rief:»Ruder drei Strich nach Steuerbord! Neuer Kurs Nord zu West!»
Paget setzte seinen Sprechtrichter an.»An die Brassen!»
Keen umklammerte die Querreling und sah zu, wie die großen Rahen gebraßt wurden. Als der Bug sich hob, sah er zum ersten Mal vage Land, das sich schräg an Backbord dahinzog. Er wandte sich an Bolitho, um ihn zu informieren, schwieg aber, als er feststellte, daß der Vizeadmiral noch so dastand wie zuvor, Allday dicht hinter sich. Bolitho hatte nichts gesehen — eine Tatsache, die Keen rührend und zugleich besorgniserregend fand. Allday warf ihm einen raschen Blick zu, der Bände sprach.
«Entern Sie auf, Mr. Griffin«, sagte Keen,»und melden Sie, was Sie sehen.»
Midshipman Sheaffe und seine Signalgasten standen an den Flaggleinen bereit. An Deck lag eine riesige französische Trikolore klar zum Heißen.
Keen nahm ein Teleskop und kletterte in die Wanten. Das Land lag in der Sonne, schien aber nur wenig Substanz zu haben. Sie liefen zwei Meilen entfernt fast parallel zur Küste. Die Bucht war zehn Meilen breit, und an einem Ende ragte das zerklüftete Kap schützend ins Meer hinaus: ein perfekter Ankerplatz.
«Irgendwelche Schiffe zu sehen?«rief Bolitho.
«Bisher noch keine, Sir.»
«Heißen Sie die Trikolore und setzen Sie die Bramsegel. Wir müssen so beweglich wie möglich sein.»
Keen gab dem Ersten Offizier einen Wink, hielt dann aber inne, als ein Ruf des Ausgucks alle nach oben schauen ließ.
«Schiff recht voraus!»
Keen starrte in die Takelage, daß seine Augen tränten, von Ungeduld geplagt, bis Leutnant Griffin ergänzte:»Linienschiff, Sir! Vor Anker!»
Keen sah die große Trikolore an der Gaffel auswehen, während die Männer in den Webeleinen aufenterten, um mehr Segel zu setzen.
«Kurs Nord zu West, Sir!»
Keen hörte Bolitho leise sagen:»Sieht aus, als hätten wir doch noch Glück.»
Als die wärmenden Sonnenstrahlen das Achterdeck erreicht hatten, spürte Bolitho die zunehmende Spannung. Er wußte nicht, ob er Keen über jede seiner Maßnahmen Bericht erstatten lassen oder ihn mit seinen Fragen verschonen sollte.
Doch schon trat Keen neben ihn.»Der Franzose liegt nur vor Buganker«, berichtete er. Er legte eine Pause ein, damit Bolitho sich ein Bild machen konnte. Da der Wind noch immer von Süden kam, würde das andere Schiff auf sie zuschwojen, als sei es auf konvergierendem Kurs. Keen fügte hinzu:»Keine Anzeichen von Aufregung, Sir. Bisher jedenfalls. Mr. Griffin sagt, es lägen Boote längsseits, unter anderem ein Leichter mit Wasserfässern.»
Bolitho mußte plötzlich an Supreme denken und den sterbenden Hallowes, dessen Hand er gehalten hatte.
«Sehr passend.»
«Mit Ihrer Zustimmung, Sir, beabsichtige ich, zwischen dem Feind und der Küste durchzulaufen. Das Wasser ist dort tief genug. So haben wir den Windvorteil und können ihn beim Passieren beschießen. «Mit halbem Ohr nahm er die heiseren Rufe der Stückführer und die rauheren Töne des furchterregenden Geschützmeisters Crocker wahr. Der stand mit der ersten Abteilung an Steuerbord und würde das Gefecht genießen.
«Noch ein Schiff, Sir! An Backbord voraus!»
Keen riß Midshipman Hext das Fernrohr aus der Hand.»Eine spanische Korvette«, sagte er dann.
Stayt murmelte:»Es wird ihr schwerfallen, an uns heranzukommen, Sir. Sie müßte gegen den Wind aufkreuzen.»
«Achten Sie auf ihre Signale, Mr. Sheaffe. Sie wird bald verlangen, daß wir uns genauer zu erkennen geben. «Er hob die Stimme.»He, ihr da an Deck! Behaltet den Franzosen im Auge, nicht diesen lächerlichen kleinen Pott!«Jemand lachte.
Bolitho meinte:»Meiner Ansicht nach wird er nicht reagieren. Die Spanier haben ihre Absprachen mit den Franzosen.»
Als die kleine Korvette wendete, schäumte das Wasser an ihren Geschützpforten entlang, als sei sie auf Grund gelaufen. Das Land hinter ihr war hoch und grün. Hier und dort wiesen weiße Flecke auf vereinzelte Anwesen hin.
Es mochte hier zwar eine Küstenbatterie geben, dachte Bolitho, aber das war unwahrscheinlich. Die nächste größere Garnison sollte sich in Gerona befinden, nur zwanzig Meilen landeinwärts.
Das kleine spanische Kriegsschiff war nun bis auf eine Kabellänge herangekommen. Bolitho hörte drüben die Taljen rasseln, ein Anker wurde klariert, als schickten sie sich an, ihn fallen zu lassen. Auf dem Franzosen mußten viele Augen die Argonaute beobachten. Man würde nicht nur auf ihren Baustil achten, sondern auch auf ihre Vorbereitungen.
Bolitho war unruhig, weil er nicht richtig sehen konnte. Er nahm Stayt ein Teleskop ab und stützte es auf die Finknetze. Nun erkannte er die Korvette, deren rot-gelbe Flagge steif auswehte, als sie an den Wind ging, um zu wenden. Tuson würde ihn zurechtweisen, weil er das gute Auge überanstrengte. Doch der Arzt war im Krankenrevier und wartete auf die nächste Ernte.
Fallowfield grollte:»Guter Gott, der Wind springt um!»
Männer eilten wieder an Brassen, Schoten und Halsen, und Keen sagte:»Auf Südwest, schätze ich, Sir.»
Bolitho nickte und stellte sich die Seekarte vor. Der Wind schlug um. Fortuna, wie Herrick sich ausgedrückt hätte, stand ihnen bei.
«Klar zum Aufgeien der Breitfock, Mr. Paget!«rief Keen.
Von der Korvette wehte ein dünner Ruf herüber.
«Winken Sie ihnen mit dem Hut zu!«sagte Bolitho.
Keen und Stayt winkten zum Spanier hinüber, der rasch nach Backbord abgetrieben wurde.
Noch eine Meile. Bolitho packte die Reling und spähte zwischen dem Tauwerk und den Vorsegeln nach vorn. Er konnte den Feind schräg an Backbord liegen sehen, so wie Keen es beschrieben hatte.
Keen warf Paget einen Blick zu.»Bitte lassen Sie laden.»
Der Befehl wurde sofort an das untere Deck weitergegeben, und Bolitho konnte sich die Bedienungen vorstellen, die sich mit bereits schweißnassen Rücken im Halbdunkel hinter noch verschlossenen Stückpforten mit Kugeln und Kartuschen abplagten. Seit seinem zwölften Lebensjahr kannte er das: Die Männer an den Kanonen, die rotgestrichenen Bordwände, damit das Blut nicht so auffiel, und hier und da eine Autoritätsperson in Blau und Weiß, ein Leutnant oder Decksoffizier.
Es schien nicht lange zu dauern, bis beide Decks» klar «gemeldet hatten.
Bolitho hörte Hauptmann Bouteiller von den Royal Marines mit seinem Leutnant Orde flüstern. Wie die anderen Seesoldaten duckte er sich hinters Schanzkleid, um noch nicht vom Feind gesehen zu werden. Der Anblick eines einzigen roten Rockes hätte gewirkt wie ein Stich ins Hornissennest.
«Breitfock festmachen!«Es mußte den Anschein haben, als verkürzten sie Segel und schickten sich zum Ankern an.
Bolitho trat von der Reling zurück und verschränkte die Hände auf dem Rücken. Nun konnte es nicht mehr lange dauern. Fest stand jedenfalls, daß Jobert nicht drüben an Bord war. Er hätte sofort gefechtsklar gemacht, wenn er im Licht der Morgendämmerung sein altes Flaggschiff erkannt hätte.
«Fünf Kabellängen, Sir!»
Bolitho spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Noch eine halbe Meile.
«Der Franzose hat ein Signal gesetzt, Sir!»
Nun war es soweit. Beim Ausbleiben einer Antwort würde man sie auf der Stelle als Feinde erkennen.
«Halt, Mr. Paget, belege den letzten Befehl!«schrie Keen.»Setzt Bramsegel!»
Pfeifen trillerten, und hoch über Deck huschten die Toppgasten wie Affen hinaus auf die Rahen, um die zusätzlichen Segel zu lösen.
«Drei Kabellängen, Sir!»
Über dem Singen des Windes in der Tagelage hörten sie das schwache Schmettern einer Trompete. Nun war es mit dem Versteckspiel vorbei. Als die Scharfschützen der Royal Marines mit ihren Musketen hoch oben in den Gefechtsmarsen die Drehbassen bemannten, ging der Rest der Truppe an den Finknetzen in Stellung und legte die Musketen an.
Keen schätzte den richtigen Augenblick ab, wußte, daß Paget bereit war, auf jeden Befehl sofort zu reagieren.»Stückpforten auf.»
In der Bordwand hoben sich die Pfortendeckel wie schläfrige Augenlider.
«Sie kappen das Ankertau, Sir!»
Keen biß sich auf die Lippen. Zu spät.»Ausrennen!»
Rumpelnd und quietschend reckten sich die Rohre der schweren Kanonen wie Rüssel aus den Pforten. Die Mündungen der großen Zweiunddreißigpfünder im unteren Batteriedeck hoben und senkten sich bereits, als die Geschützführer ihr Ziel suchten.
Bolitho nahm Stayt erneut das Glas ab und richtete es auf das andere Schiff. Er sah, wie sich sein Vor-Marssegel von der Rah löste, wie Männer aufenterten oder sich auf dem Vorschiff ums Ankerspill drängten. Der Wasserleichter lag noch immer längsseits, seine Besatzung stand da und starrte die drohend nahende Argonaute an.
Der Anker wurde gekappt, und der französische Zweidek-ker driftete mit killenden Segeln ab. Seine Besatzung war verzweifelt bemüht, das Schiff unter Kontrolle zu bekommen.
«Achtung, Backbordbatterie!»
Keen machte im Sonnenlicht schmale Augen, wartete ab, bis die Trikolore wieder an Deck gefallen war und an ihrer Stelle die britische Seekriegsflagge von der Gaffel wehte. Oben im Topp flatterte Bolithos Flagge jetzt steif im Wind, und Keen hörte einen Midshipman einen schrillen Hochruf ausstoßen.
Argonautes langer Klüverbaum kreuzte kaum eine Kabellänge entfernt den Bug des anderen Schiffes.
Keen hob seinen Degen. Er hörte das Knirschen der Handspaken vom Vorschiff und sah, wie die Steuerbordkarronade langsam gerichtet wurde; ihre achtundsechzig Pfund schwere Granate würde zuerst abgefeuert werden. Die langläufigen Kanonen sollten schießen, wenn sie ein Ziel fanden, aber nicht in einer vollen Breitseite, sondern Deck für Deck, Paar für Paar.
«Ziel auffassen, Jungs!«Die Klinge des Degens fuhr blitzend herab.
«Feuer!»