Kapitän Valentine Keen klammerte sich an die Finknetze, die Augen vom langen Starren gegen Wind und Gischt wund. Selbst seine Handflächen schienen von den geteerten Netzen zu brennen.
Die ganze Nacht hatte der Sturm die See zu jagenden Brechern aufgepeitscht, gewaltige Sturzbäche hatten sich kochend über die Seitendecks ergossen und Männer wie Treibgut von den Beinen gerissen. Nun, da die ersten silbergrauen Streifen am Himmel standen, arbeitete das Schiff nicht mehr ganz so heftig; doch die Morgendämmerung verhöhnte ihre schwächlichen Anstrengungen in der Nacht.
Es war sinnlos gewesen, Kontakt mit Icarus halten zu wollen, denn sie war wie die kleine Brigg Rapid während des Unwetters schnell außer Sicht geraten. Argonaute hatte fast die ganze Nacht unter gerefftem Großmarssegel beigedreht am Wind gelegen. Hätten die Schiffe versucht, unter Segeln abzulaufen, wären sie bei Tagesanbruch meilenweit zerstreut gewesen. Der Erste Offizier taumelte auf Keen zu.»Wir können nun wieder Fahrt aufnehmen, Sir.»
Keen warf dem Master in seiner durchnäßten Leinwandjacke einen Blick zu. Der alte Fallowfield sagte nichts, schien aber die Achseln zu zucken.
«Gut. Alle Mann an Deck. Und lösen Sie die Ausguckposten oben ab. Wir brauchen heute scharfe Augen, wenn wir das Geschwader wieder auf Formation bringen wollen.»
Paget hatte seine Sache gut gemacht, die Männer vom Einbruch der Nacht bis jetzt in Bewegung gehalten.
«Alle Mann! Aufentern zum Segelsetzen!»
Die Rufe der Deckoffiziere und hier und da das Klatschen eines Tampens trieben die erschöpften Männer zurück an Brassen, Halsen und Schoten.
Keen zupfte an seinem Halstuch, das wie der Rest seiner Kleidung durchnäßt war. Doch Argonaute hatte besser als erwartet reagiert und war wirklich ein vorzüglicher Segler. Er war einigermaßen mit sich zufrieden, denn er hatte das Schiff und die Männer die ganze Zeit unter Kontrolle ge — habt. Das Deck erzitterte, als Vormarssegel und Klüver gesetzt wurden und Argonaute wieder aufs Ruder ansprach. Tuson hatte eine Menge zu tun, denn mehrere Matrosen waren verletzt worden. Schlimmer noch, ein Seemann war über Bord gespült worden: ein schrecklicher Tod, wenn man mit ansehen mußte, wie der Wind das eigene Schiff wegtrieb, wie die Freunde einen nicht vor dem Ertrinken retten konnten.
«Kurs Nordost zu Ost, Sir!»
Der Himmel klarte bereits auf; nach der ungestümen Nacht mochte es vielleicht sogar einen schönen Tag geben. Seltsames Mittelmeer, dachte Keen.
«Übernehmen Sie die Wache, Mr. Paget. «Er rieb sich die schmerzenden Augen.»Sowie in der Kombüse das Feuer brennt, schicken Sie die Mannschaft gruppenweise zum Frühstück. Und der Proviantmeister soll pro Kopf ein Glas Rum ausgeben. Die Leute haben's verdient.»
Paget grinste.»Das wird ihre Lebensgeister wieder wek-ken, Sir!«Er wandte sich ab, offenbar erfreut, daß Keen ihm bei noch so grober See das Deck überließ. Der Flaggkapitän beschloß, ihn in seinem Bericht lobend zu erwähnen; er brauchte zwar einen guten Ersten, aber die Flotte hatte auch Männer nötig, die kommandieren konnten.
Keen verschwand im Schatten unter dem Poopdeck und merkte erst jetzt, wie müde und angespannt er war. Aus der Dunkelheit tauchte ein roter Rock auf: Hauptmann Bouteil-ler von den Royal Marines.
«Guten Morgen, Major. «Keen bewunderte die Seesoldaten zwar, verstand sie aber nie ganz. Selbst ihr Titel» Major «für den befehlshabenden Offizier kam ihm sonderbar vor.
«Ich wollte es Ihnen selbst sagen, Sir. «Bouteiller sprach abgehackt.»Die, äh, der Passagier verlangte Sie zu sprechen.»
Keen nickte.»Aha. Wann war das?»
Der Hauptmann dachte nach.»Vor zwei Stunden, Sir. Sie kamen mir aber zu beschäftigt vor.»
In der Dunkelheit war Bouteillers Gesicht nicht zu erkennen, und der Mann hätte sich ohnehin nichts anmerken lassen. Was dachte er?
«Gut. Haben Sie vielen Dank.»
Keen tastete sich zu der kleinen Tür und konnte fast hören, wie der Wachtposten gespannt den Atem anhielt.
Eine Blendlaterne schaukelte an der Decke, und in ihrem Schein sah er das Mädchen auf der Koje liegen. Ein Bein hing über den Rand und schwang mit den Bewegungen des Schiffes, als sei es der einzige lebendige Teil ihres Körpers. Keen schloß die Tür. Tuson würde seinen Besuch bestimmt mißbilligen, dachte er.
Sanft griff er nach ihrem Fußknöchel und schob das Bein wieder unter die Decke. Sie trug noch immer Hemd und Hose, und als ein Lichtstrahl ihr Gesicht streifte, fand Keen, daß sie unglaublich jung aussah.
Da öffnete sie die Augen weit, starrte ihn entsetzt an und raffte das Hemd am Hals zusammen.
Keen rührte sich nicht. Ihre Angst schwand langsam.
«Tut mir leid«, sagte er.»Ich erfuhr erst jetzt, daß Sie nach mir fragten.»
Sie setzte sich auf und schaute ihn an. Dann streckte sie die Hand aus und berührte seinen Rock und sein Hemd.
«Sie sind ja triefnaß, Kapitän Keen«, flüsterte sie.
Selbst diese schlichte Geste fand er herzbewegend.
«Der Sturm hat sich verzogen«, sagte er. Er sah ihre Finger an, wollte sie ergreifen und an die Lippen pressen. Doch er fragte nur:»Hatten Sie Angst?»
«Es war nicht so schlimm wie gestern. «Ozzard hatte berichtet, er habe sie am Vortag mit den Händen über den Ohren in einer Ecke kauernd vorgefunden, als ein Matrose wegen Ungehorsams ausgepeitscht wurde.
«Das Schiff ist so groß, und trotzdem fürchtete ich manchmal, es würde auseinanderbrechen. «Sie spielte mit gesenktem Blick an seinem Revers.»Ich dachte, Sie machen sich meinetwegen vielleicht Sorgen, und wollte Ihnen nur sagen, daß ich mich wohlfühle.»
«Das war lieb von Ihnen. «Einmal während des Sturmes hatte Keen sich vorgestellt, sie stünde neben ihm mit fliegendem Haar und trotzte lachend dem Wetter.
«Ja, ich habe mir Sorgen gemacht. An das Leben auf See sind Sie nicht gewöhnt. «Er stellte sich das Sträflingsschiff bei Sturm vor und spürte, daß sie seine Gedanken erraten hatte.
«Ich kann immer noch nicht glauben, daß ich in Sicherheit bin. «Sie schaute auf, und ihre Augen wechselten im Schein der schwankenden Laterne von hell zu dunkel.»Bin ich das wirklich?«Er ergriff ihre Hände und hielt sie fest. Sie wandte den Blick nicht von seinem Gesicht.»Bitte sagen Sie mir die Wahrheit.»
«Wie Sie wissen, hoffte ich, Sie in Gibraltar an Land zu setzen«, sagte Keen.»Aber nun hat es den Anschein, als müsse das noch warten. Ich habe mit der Brigg, die von Sir Richards Neffen kommandiert wird, eine Nachricht nach London geschickt. Sobald der Brief meinen Anwalt erreicht, gehen Schreiben heraus. Vielleicht müssen Sie an Bord bleiben, bis mein Schiff Malta erreicht. Aber auch in Malta habe ich Freunde. «Er drückte ihre Hände.»Eines aber steht fest, Zenoria: Auf ein Sträflingsschiff kommen Sie nie wieder. Dafür sorge ich.»
Leise fragte sie:»Und das tun Sie alles nur meinetwegen, Sir? Sie kennen mich doch überhaupt nicht. Als Sie mich zum erstenmal sahen, wurde ich nackt ausgepeitscht wie eine Hure. «Sie hob das Kinn.»Ich bin aber keine.»
«Das weiß ich«, erwiderte er.
Sie schaute an ihm vorbei in den Schatten.»Würden Sie sich auch so um mich kümmern, wenn wir anderswo wären? In London vielleicht, wo Ihre Frau uns sehen könnte?»
Keen schüttelte den Kopf.»Ich bin Junggeselle. Nur einmal…»
Ermunternd drückte sie seine Finger.»Sie haben nur einmal geliebt?»
Keen nickte.»Aye, aber sie starb. Es ist lange her. «Er sah auf.»Erklären kann ich es nicht, doch mein Gefühl für Sie ist echt. Nennen Sie es Schicksal, den Willen Gottes, meinetwegen auch Glück, aber es existiert wirklich, ist keine Einbildung. Manche mögen sagen, daß sich alles gegen uns verschworen hat. «Er drückte fester zu, als sie zu einer Entgegnung ansetzte.»Nein, es muß heraus. Ich bin so viel älter als Sie, ein Offizier des Königs und diesem Schiff verpflichtet, bis der verdammte Krieg gewonnen ist. «Er hob ihre Hand an die Lippen.»Lach mich nicht aus, sondern hör mir zu. Ich liebe dich, Zenoria.»
Er machte Anstalten, sich zu erheben, aber sie schlang ihm die Arme um den Hals und flüsterte:»Schau mich jetzt nicht an. «Ihre Lippen an seinem Ohr, fuhr sie fort:»Ich kann es nicht glauben. Vielleicht träume ich nur. Oder wir sind beide verhext.»
Er löste sich sanft von ihr und schaute ihr ins Gesicht, sah die hellen Tränenspuren auf ihren Wangen. Sie immer noch fest mit den Armen umschließend, küßte er sie auf beide Wangen, schmeckte das Salz und empfand die ganze Intensität dieses kurzen, unmöglichen Glücks.
«Sag nichts. Versuch jetzt weiterzuschlafen. «Er trat zurück, hielt nur noch ihre Hände fest.»Es ist kein Traum, und was ich gesagt habe, war mein voller Ernst. «Ihm kam eine Idee.»Du kannst später mit mir frühstücken. Ich lasse dich von Ozzard abholen. «Er sprach hastig, damit sie nicht ablehnte.
Als er sich von ihr losriß, blieben ihre Arme noch eine Weile in der Luft hängen, als hielte sie sich weiter an ihm fest. Draußen vor der Tür standen jetzt zwei Wachtposten. Der Korporal, der zur Ablösung kam, zischte seinem Kameraden einen scharfen Befehl zu. Keen nickte freundlich und sagte:»Guten Morgen, Korporal Wenmouth. Den Sturm hätten wir überstanden, was?»
Er schritt nach achtern, ohne ihre verdutzten Gesichter zu bemerken. In der Achterkajüte trat er an die Heckfenster und starrte ins aufgewühlte Kielwasser.»Ich liebe dich, Zenoria«, murmelte er.
Dann erkannte er jäh, daß Ozzard ihn von der anderen Tür her mit über der Schürze gefalteten Pfotchen beobachtete.
«Frühstück, Sir?«fragte der Steward höflich.
Keen lächelte.»Vorerst noch nicht. Ich erwarte in einer Stunde, äh, Gesellschaft.»
«Sehr wohl, Sir. «Ozzard wandte sich zum Gehen.»Ich verstehe, Sir.»
Das hätte Keen noch bis vor kurzem geärgert, aber jetzt war es ihm gleichgültig.
«Alles zu Ihrer Zufriedenheit, Miss?«Ozzard stand am Tisch und griff nach einem Teller, der der Tischkante bedenklich nahe gekommen war. Zenoria drehte sich um und schaute zu ihm auf.
«Es war köstlich.»
Keen betrachtete ihr Profil, als sie mit Ozzard sprach. Sie trug nun das Haar lose auf die Schultern fallend und sah wunderschön aus; das konnten selbst die Männerkleider nicht verbergen.
Sie merkte, daß er sie beobachtete.»Was ist?»
Er lächelte.»Nichts, nur — ich könnte Sie den ganzen Tag ansehen und fände jede Minute etwas Neues zu bewundern.»
Sie schaute auf ihren leeren Teller.»Nicht doch, Sir. «Doch sie war errötet und schien sich über das Kompliment zu freuen.»Erzählen Sie mir von Sir Richard«, sagte sie.»Kennen Sie ihn schon lange?»
Keen lauschte dieser Frauenstimme, die in seiner Männerwelt so fremd und kostbar klang.
«Ich habe mehrere Male unter ihm gedient und war bei ihm, als er fast am Fieber starb.»
Sie studierte sein Gesicht, als wolle sie es sich einprägen.»Starb damals die Frau, die Sie liebten?»
«Ja.»
Sie nickte Ozzard, der den Teller abräumte, zu.»Sie haben so viel erlebt«, seufzte sie.»Warum müssen Sie so leben?»
Keen schaute sich in der Kajüte um.»Ich kenne es nicht anders. Das ist mein Beruf.»
«Und die Heimat vermissen Sie nie?«Ihr Blick war jetzt wieder verschleiert.
«Manchmal. Wenn ich an Land bin, vermisse ich mein Schiff. Und auf See sehne ich mich nach Feldern und grünen Bäumen. Meine beiden Brüder haben Höfe in Hampshire. Hin und wieder beneide ich sie. «Er zögerte; darüber hatte er noch mit niemandem gesprochen.
«Keine Sorge«, meinte sie.»Ihre Worte sind bei mir gut aufgehoben.»
Oben stampften Füße über die nassen Planken. Am Skylight lachte ein Mann und wurde von einem anderen barsch zurechtgewiesen.
«Sie lieben dieses Schiff, nicht wahr?«sagte sie.»Ihre Männer folgen Ihnen, wohin Sie sie auch führen.»
Er langte über den Tisch, an dem er mit den anderen Kapitänen gesessen hatte.»Geben Sie mir Ihre Hand.»
Sie streckte sie aus; der Tisch war so breit, daß sie einander kaum berühren konnten.
«Eines Tages gehen wir gemeinsam an Land«, sagte er.»Ich weiß noch nicht wann und wo, aber ich verspreche es Ihnen ganz fest.»
Sie strich sich eine Haarsträhne aus den Augen und lachte, aber ihr Blick war traurig.»In meinem Aufzug? Ich bin eine schöne Begleiterin für einen Offizier des Königs.»
«Ich war kürzlich an Bord eines Frachtschiffes aus Genua«, bemerkte Keen,»und habe Ihnen ein Kleid gekauft. Ozzard wird es Ihnen nachher bringen. «Er kam sich wie ein Tolpatsch vor.»Mag sein, daß es Ihnen nicht paßt oder gefällt…»
«Sie sind ein herzensguter Mann«, sagte sie leise.»An so etwas zu denken, obwohl Sie alle Hände voll zu tun haben. Es wird mir bestimmt gefallen.»
«Ich habe nämlich zwei Schwestern, müssen Sie wissen«, schloß Keen lahm und schwieg. Ein Ruf des Wachtpostens vor der Tür hatte ihn aus dem Konzept gebracht.
«Der Schiffsarzt, Sir!»
Keen gab Zenorias Hand frei.»Herein!»
Tuson trat ein und musterte sie ausdruckslos. Seine Hände waren rot, als hätte er sie geschrubbt.
«Frühstück?«Keen wies auf einen Stuhl.
Der Arzt lächelte schief.»Nein, danke, Sir. Aber einen starken Kaffee könnte ich schon brauchen. «Er schaute das Mädchen an.»Wie geht es Ihnen heute?»
Sie senkte den Blick.»Gut, Sir.»
Tuson nahm von Ozzard einen Becher Kaffee entgegen.»Das kann man von Ihrer Zofe Millie nicht behaupten. Ich glaube, sie würde sich eher dem Fieber in Gibraltar aussetzen, als jemals wieder eine solche Sturmnacht mitzumachen.»
Keen schaute zum Skylight auf, als ein Ruf des Ausguckpostens erklang.
«Hört sich an, als wäre ein Schiff gesichtet worden«, meinte Tuson.»Freund oder Feind?»
Keen mußte sich beherrschen, um nicht aufzustehen und das Skylight zu öffnen. Man würde zu ihm kommen, wenn er gebraucht wurde. Auch das hatte er von Bolitho gelernt.
«Unsere beiden anderen Schiffe wurden schon vor einer Stunde gemeldet«, erwiderte er.»Es könnte ein Feind sein.»
Tuson spitzte die Ohren, zähmte aber seine Neugier.
«Der Erste Offizier, Sir!«rief der Posten.
Paget trat mit durchnäßtem Rock ein.»Der Ausguck hat im Südwesten Segel gesichtet. «Er war bemüht, das Mädchen am Tisch nicht anzusehen, was aber sein Interesse noch offenkundiger machte.
«Im Südwesten?«fragte Keen. Ohne erst auf die Seekarte zu schauen, konnte er sich die Positionen der anderen Schiffe vorstellen. Icarus lief fast drei Meilen querab, und Rapid, kaum mehr als ein Schatten am trüben Horizont, war ihnen weit voraus.
«Ich bin selbst aufgeentert, Sir«, fügte Paget hinzu.»Es ist ein Franzose, ganz sicher.»
Keen musterte ihn gespannt. Mit jedem Tag lernte er mehr über seinen Ersten.
Paget wartete und ließ dann geschickt den Knalleffekt folgen:»Er ist getakelt wie wir, Sir. Zweifellos ein Linienschiff.»
Keen war aufgesprungen und merkte nicht, daß die anderen ihn beobachteten, Paget voll Stolz über seine Entdek-kung, Tuson mit Neugier. Nur der Blick des Mädchens verriet Zärtlichkeit und Sorge.
«Er wird wissen wollen, was wir vorhaben. «Keen blieb an den Heckfenstern stehen und stellte sich das andere Schiff vor.»Er folgt uns, meldet unseren Kurs vielleicht weiter.»
«Er hat aber noch keine Signale gesetzt, Sir«, sagte Paget hartnäckig.»Ich habe Mr. Chaytor mit einem Fernrohr aufentern lassen. Er würde es mir sofort melden.»
Keen trat zögernd an die Seekarte und wünschte sich auf einmal, Bolitho wäre anwesend. Die Franzosen setzten eines ihrer schweren Schiffe zur Aufklärung ein, obwohl sie den Meldungen zufolge über Fregatten verfügten. Argonaute konnte wenden und seine Verfolgung aufnehmen. Aber das war möglicherweise ein hoffnungsloses Unterfangen.
«Signal an Icarus: auf Station bleiben«, befahl er. Vor seinem inneren Auge sah er nicht das Schiff, sondern das säuerliche Gesicht seines Kommandanten.»Dann signalisieren Sie Rapid, zum Flaggschiff aufzuschließen.»
Paget zögerte an der Tür.»Werden wir ihn jagen, Sir? Wenn der Wind ein wenig nachläßt, schnappen wir ihn vielleicht. Unser Schiff segelt alle in Grund und Boden!»
Keen lächelte grimmig. Bei Pagets Begeisterung wurde ihm warm ums Herz.»Übermitteln Sie die Signale, rufen Sie dann alle Mann an Deck und lassen Sie Bramsegel und Royals setzen.»
Paget warf einen Blick auf das lebhaft schäumende Kielwasser, das durchs salzverkrustete Glas verschwommen und unwirklich aussah. Für mehr Segel war es eigentlich noch zu stürmisch. Doch seinen Kommandanten schienen keine Zweifel zu plagen. Die Tür schloß sich hinter dem Ersten, und Augenblicke später verkündeten schrille Pfiffe und stampfende Füße, daß das Schiff sich rüstete.
«Der Franzose wird fliehen, Sir?«fragte Tuson.
Keens Gedanken kehrten wieder in die Kajüte zurück.»Bestimmt. «Er lächelte.»Aber ich bin ein schlechter Gastgeber. Weswegen sind Sie gekommen?»
Tuson stand auf und ging mit wiegenden Schritten übers schräge Deck.»Ich wollte Ihnen über die Ausfälle der vergangenen Nacht berichten, Sir. Zehn Verletzte insgesamt, meist Knochenbrüche. Es hätte viel schlimmer kommen können.»
«Nur für den armen Teufel nicht, der über Bord ging. Aber haben Sie vielen Dank. Sie wissen, wie sehr ich Ihre Hilfe zu schätzen weiß.»
Tuson ging zur Tür. In seinem schwarzen Rock und dem weißen Haar, das ihm ordentlich gekämmt über den Kragen hing, sah er eher wie ein Geistlicher aus. Im Gegensatz zu vielen anderen Schiffsärzten betrank er sich nie. Keen hatte seinen Abscheu gesehen, wenn die Gläser gefüllt wurden. Tuson mußte in der Vergangenheit ein entsetzliches Erlebnis gehabt haben.
Als die Tür sich geschlossen hatte, sagte er leise:»Ein guter Mann.»
Sie schauten einander über den Tisch hinweg an.
Zenoria sprach zuerst.»Ich gehe jetzt. «Sie stand auf und schaute auf ihre bloßen Füße nieder, die auf dem karierten Bodenbelag sehr klein wirkten.»Was soll bloß aus uns werden?»
Er wartete, bis sie ihn erreicht hatte, und sagte dann:»Ich werde Sie lehren, mich zu lieben.»
Wieder ein Ruf des Ausguckpostens. Das mußte Chaytor sein, der Zweite Offizier.
«Er setzt mehr Segel, Sir!«Das französische Schiff wollte also die Distanz halten.
Zenoria legte ihm eine Hand an die Wange. Als er Anstalten machte, sie zu ergreifen, zog sie sie rasch zurück. Aber ihr Blick ließ ihn nicht los, und was sie sah, schien sie zu ermutigen. Zufrieden mit dem, was sie entdeckt hatte, fragte sie:»Kann Ozzard mich begleiten?»
Keen nickte. Sein Mund war trocken.»Vergiß mich nicht.»
An der Tür wandte sie sich noch einmal um und schaute ihn an.»Das könnte ich niemals.»
Ozzard öffnete die Tür, und sie war verschwunden.
Keen ging in der Kajüte umher und berührte Gegenstände, ohne sie zu sehen. Dann blieb er vor dem neuen Sessel stehen und lächelte. Was hätte Bolitho an seiner Stelle getan?
Schließlich begab er sich an Deck und sah Paget und den wachhabenden Offizier besorgt den Stand der Segel prüfen. Die mächtige Großrah krümmte sich unter dem Winddruck wie ein riesiger Bogen. Der Master warf ihm einen warnenden Blick zu.
Ein Midshipman rief: «Rapid hat bestätigt, Sir!«Da gewahrte er Keen und schwieg verwirrt.
Keen verschränkte die Hände unterm Rockschoß, ihn fror plötzlich.
«Der Franzmann setzt mehr Segel, Sir!«rief Leutnant Chaytor von oben.
Keen schaute Paget an.»Segel kürzen. Untersegel auf-geien. «Er sah Erleichterung in ihren Gesichtern.
Icarus folgte dem Beispiel des Flaggschiffs.
Die Minuten gingen zäh dahin. Vielleicht hatte er sich geirrt. Wenn der französische Kommandant nun rangehen und kämpfen wollte? Es stand zwei zu eins dagegen, aber ausgeschlossen war es nicht. Erleichtert atmete er aus, als es aus dem Ausguck rief:»Er kürzt ebenfalls Segel, Sir.»
Keen ging zum Fuß des Großmastes und berührte die Piken, die dort in einem runden Ständer warteten. Dieser Franzose will, daß ich ihn verfolge, dachte er. Er lockt mich. Warum? Die Erkenntnis war ein Schock.
«Sobald Rapid nahe genug ist, signalisieren Sie: >alle Segel setzen und Supreme suchen<. Quarrell wird den nächsten Ankerplatz auf seiner Karte verzeichnet haben.»
Paget beobachtete ihn reserviert, denn er wußte, wie scharf Keen war, wie seine Stimmung umschlagen konnte.
«Unser Admiral muß wissen, daß wir beschattet, aber nicht verfolgt werden. Und für eine schriftliche Meldung ist nicht genug Zeit. «Wieder fröstelte er. Der französische Kommandant hatte ihn zu einer Verfolgungsjagd verleiten wollen, die ihren Verband noch weiter aufgesplittert hätte. »Rapid soll sich beeilen. Sobald Quarrell bestätigt hat, setzen wir alle Arbeitssegel. «Er warf einen Blick auf die Masten und fügte hinzu:»Und wenn es uns die Spieren runterreißt.»
Später, in der Achterkajüte, hörte er Paget durchs Sprachrohr seine Befehle wiederholen.
Rapid würde ihrem Namen Ehre machen. Trotzdem war er plötzlich besorgt, und als er zu Bolithos Sessel hinüber schaute, fragte er sich, ob er für immer leer bleiben würde.
Bolitho saß auf einer niedrigen Koje in der winzigen Achterkajüte der Supreme. Unter Deck war es noch erstickend heiß, aber er wußte, daß es draußen Abend sein mußte.
Jemand zwängte sich durch die Tür und sagte:»Es wird dunkel, Sir. «Bolithos Hände verkrampften sich. Es war Hallowes, der bedrückt und entmutigt schien und offenbar gar nicht merkte, was er da gesagt hatte.
Bolitho berührte den feuchten Augenverband. Vielleicht mußte er jetzt immer im Dunkeln leben? Wieso eigentlich diese plötzliche Angst? Mit so etwas hätte er doch rechnen müssen. Bei Gott, er hatte viele gute Männer fallen sehen.
«Berichten Sie!«befahl er, um sein Selbstmitleid zu unterdrücken.
Während des Nachmittags hatte Hallowes versucht, eines der treibenden Boote zu bergen. Ein Matrose hatte sich erboten, zu ihm hin zu schwimmen. Der Mann hatte gerade zwanzig Meter zurückgelegt, als ihn eine einzelne Musketenkugel von Land her traf. Er warf die Arme hoch und versank in einem rosa Wirbel.
Der französische Landungstrupp mußte also noch an Ort und Stelle sein, den Kutter beobachten und daraufwarten, daß er von seinem eigenen Schiff abgeholt wurde.
«Ich habe alle Kanonen mit Kartätschen und Schrapnell laden lassen«, erklärte Hallowes gepreßt.»Wenn diese Teufel in unsere Nähe kommen, erwartet sie ein Eisenhagel.»
Bolitho entließ Hallowes und sank zurück an die gewölbte Bordwand. Das Schreien und Stöhnen draußen war so gut wie verstummt. Sieben Mann waren bei dem kurzen Angriff ums Leben gekommen. Einer, der kleine Duncannon, war in Bolithos Schoß gestorben.
«Wo ist mein Flaggleutnant?«sagte Bolitho.»Ich möchte an Deck.»
«Hier, Sir. «Er hatte Stayts Anwesenheit nicht bemerkt, und diese Hilflosigkeit versetzte ihn jäh in Zorn. Die Männer hatten sich alle auf ihn verlassen; nun verloren sie so rasch den Mut, daß ihnen am Ende der Kampfgeist fehlen würde, ganz gleich, was der Kommandant tat.
«Hallowes soll weitere Schwimmer ausschicken«, befahl er.»Mit den Booten könnten wir Supreme dichter an den Landvorsprung verholen. Dort ist der Grund felsig, das hält uns diese verdammte Fregatte vom Leib.»
«Aye, Sir. Ich werde mich sofort darum kümmern.»
Bolitho erhob sich vorsichtig, um nicht mit dem Kopf an die Decksbalken zu stoßen. Bei jeder Bewegung kehrte der Schmerz in seinen Augen zurück und brannte wie Feuer.
Er nahm Stayts Arm und spürte dabei dessen Pistole.
Die Fregatte wollte offenbar bis zum Einbruch der Nacht abwarten. Es bestand auch kein Grund zur Eile, solange die Franzosen nicht wußten, daß ein englischer Admiral praktisch in ihren Händen war. Bolitho verzog schmerzlich das Gesicht. Ein nutzloser, hilfloser Admiral.
An Deck war es schwül, obwohl eine stetige Brise kleine Wellen wie Katzenpfoten gegen den Rumpf tappen ließ.
Stayt flüsterte:»Er hat alle angewiesen, hinterm Schanzkleid in Deckung zu bleiben. Sie scheinen bewaffnet zu sein.»
«Gut. «Bolitho bewegte suchend den Kopf. Er konnte das Land riechen, es sich vorstellen. Was für ein gottverlassener Platz zum Sterben, dachte er, für den jungen Midshipman, den Ausguckposten auf dem Hügel und die anderen, die er nicht einmal gekannt hatte.»Wo ist mein Bootsführer?»
Bankart stand direkt hinter ihm.»Zur Stelle, Sir.»
Wenn doch nur Allday hier gewesen wäre! Bolitho hob die Hände zu den verbundenen Augen. Nein, Allday hatte ge — nug geleistet und gelitten.
Hallowes sagte gedämpft:»Die Schwimmer sind bereit, Sir.»
Sheaffes Stimme klang sehr nahe.»Ich bin dabei, Sir. Schwimmen habe ich schon als Kind gelernt.»
Bolitho streckte die Hand aus.»Passen Sie auf: Wenn Sie ein Boot erreichen, ganz gleich ob allein oder mit Ihren Kameraden, bleiben Sie dort. Werfen Sie den Draggen aus, es ist seicht genug. Wer schwimmt mit Ihnen?»
Der Matrose hieß Moore und stammte der Aussprache nach aus Kent. Wie Thomas Herrick, dachte Bolitho verzweifelt.
«Bleiben Sie jedenfalls zusammen.»
Bolitho hätte sich am liebsten den Verband vom Gesicht gerissen. Es war ein Alptraum. Er unterdrückte ein Aufstöhnen, als der Schmerz erneut durch seine Augen zuckte.
«Was können Sie sehen?«Er trat zum Schanzkleid und schürfte sich dabei an einer Geschützlafette das Knie auf.
Stayt berührte ihn an der linken Schulter.»In dieser Richtung liegt der Landvorsprung, Sir. Wenn Sie sich langsam nach rechts wenden, erhebt sich dort das Kliff, hinter dem die Fregatte hervorkam.»
«Ja, ja. «Bolitho klammerte sich an einen Belegnagel. Er sah es vor sich, erinnerte sich noch daran.»Die Franzosen werden hinter dem Landvorsprung auftauchen. «Er berührte Sheaffes bloßen Rücken. Die Haut fühlte sich eisig an, leichenhaft.»Dann mal los. Und paßt gut auf, ihr zwei. «Als sie sich entfernten, fügte er hinzu:»Spielt nicht die Helden. Ruft laut, wenn ihr andere Boote seht. «Er hörte sie über Bord springen und rechnete halb mit einem Schuß.
«Ist es sehr dunkel?«Er fühlte sich so hilflos wie ein kleines Kind in der Nacht.
«Aye, Sir. Der Mond ist noch nicht aufgegangen.»
«Sobald sie das erste Boot erreichen«, fast hätte er falls gesagt,»halten Sie sich bereit. Wir können zwar nichts ausmachen, aber wenn Sheaffe Boote kommen sieht, eröffnen wir das Feuer.»
«Einfach blind schießen, Sir?«Das war wieder Hallowes. Er stammelte:»Oh, Verzeihung, Sir, wie taktlos von mir.»
Bolitho streckte die Hand aus und berührte seinen Rock.»Schon gut. Genau das habe ich vor.»
Stayt sagte leise:»Die Franzosen werden sich zwischen uns und den Strand setzen wollen. Wenn sie erst einmal längsseits sind, könnten sie uns überwältigen.»
«Das würde ich jedenfalls machen. «Bolitho packte seinen Degen, ließ ihn aber entmutigt wieder in die Scheide gleiten. Die Waffe schien seine Hilflosigkeit nur noch zu betonen. Wie sollte er das Belinda beibringen? Der Gedanke, wieder Kriegsgefangener zu sein, war ihm unerträglich. Dann schon lieber sterben.
«Und wenn sie uns entern?«fragte Hallowes.
«Dann setzen Sie das Schiff in Brand«, erwiderte Bolitho ruhig. Er spürte, daß seine Worte den jungen Leutnant hart trafen.»Es gibt keine einfache Lösung, Leutnant. Der Feind darf Supreme nicht als Prise in die Hand bekommen. «Er zog ihn näher heran, damit die anderen ihn nicht hören konnten.»Streichen Sie wenn nötig die Flagge, um die Mannschaft zu retten. Aber versenken Sie das Schiff. «Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
Als Hallowes endlich antwortete, klang seine Stimme fest und entschlossen.»Ich werde Sie nicht im Stich lassen, Sir.»
Bolitho wandte sich ab, um seine Qual zu verbergen.»Das wußte ich, als ich Sie für dieses Kommando empfahl.»
Ach, Belinda, was habe ich für Dummheiten gesagt und geschrieben. Jetzt ist es zu spät.
Er dachte an Keen und wußte, daß er das Geschwader kompetent führen würde. Eines Tages würde auch er eine Admiralsflagge setzen können.
«Ich hab' was gehört«, murmelte ein Mann.»Ein Poltern von Riemen.»
«Die beiden haben ein Boot«, sagte Hallowes.
Der Ruf scholl übers Wasser und schien wie ein Echo über dem sanft bewegten Deck zu hängen.
«Sheaffe hat sie gesehen!»
Ein Schuß fiel.
«Prächtig, dieser Narr hat ihre Position verraten, Sir. «Stayt schien so aufgeregt und mordlustig, wie Keen ihn auf dem Sträflingsschiff erlebt hatte.»Sie kommen näher. «Stayt mußte sich geduckt haben, um in Höhe der Schanzkleidkante die dunklen Schatten auf dem Wasser auszumachen.»Mindestens drei Boote, Sir.»
Gemurmel an Deck, und Okes knurrte:»Ruhe!»
Bolitho hörte das metallische Klicken einer Drehbasse, die gesenkt wurde, und hier und dort das Quietschen einer Handspake, als ein Vierpfünder gerichtet wurde. Jede Mündung wies blind in die Finsternis.
«Bankart, komm zu mir«, sagte Bolitho. Er spürte den jungen Seemann neben sich wie sonst Allday.»Du sollst mir die Augen ersetzen. «An Stayt gewandt, fügte er hinzu:»Übernehmen Sie den Befehl auf dem Vorschiff. Kappen Sie die Ankertrosse, wenn es sein muß. «Er hörte, wie Stayt sich entfernte, und kam sich ohne ihn plötzlich verlassen vor.
Er dachte an das Mädchen, das Keen aufs Flaggschiff gebracht hatte, an seinen Blick, wenn er ihren Namen erwähnte. Wenn Argonaute ins Gefecht segelte, mochte sie noch immer an Bord sein.
Wieder der sengende Schmerz in seinen Augen, als ihn die Erinnerung überkam. Ins Gefecht segeln. Auch Cheney war damals an Bord seines Schiffes gewesen, als der Donner der Breitseiten die Decks erzittern ließ. Cheney.
«Achtung, Jungs!«Hallowes zog seinen Degen.»Ziel auffassen!»
Bolitho beugte sich vor; er hatte Riemenschlag gehört.
«Feuer!»
Die Nacht explodierte.