VIII Noch brennt das Feuer

Als die Ankertrosse der Argonaute steifkam, setzten die Männer bereits die Boote aus, während aus anderen ein Landungstrupp gebildet wurde. Auch Icarus war vor Anker gegangen. Selbst ohne Teleskop konnte Keen die Geschäftigkeit auf ihrem Deck sehen.

Die Insel sieht so friedlich aus, dachte er. Da die Sonne in einer Stunde untergehen würde, wollte er bald ein Landungskommando der Royal Marines zusammen mit einer Truppe von Houstons Schiff an Land setzen für den Fall, daß dort noch Franzosen waren.

Er nahm den Hut ab und rieb sich die Stirn. Konnte sich an einem einzigen Tag so viel ereignen?

Er schaute hinüber zu der verankerten Brigg Rapid, an der mit Schlagseite der Kutter vertäut lag.

Warum hatte er Rapid losgeschickt, Bolitho zu suchen? Hatte ihm sein Instinkt das befohlen, hatte er die Gefahr gespürt? Es wäre fast zu spät gewesen. Als man ihm die Szene beschrieb, sah er ihren jungen Kommandanten vor sich. Die Fregatte hatte in dem Augenblick abgedreht, in dem es nur noch eine weitere Breitseite gebraucht hätte, um ihr Zerstörungswerk zu vollenden. Aber Quarrell hatte schlicht erklärt:»Da ich den Kampf mit dem überlegenen Feind nicht aufnehmen konnte, setzte ich — wie früher einmal Sir Richard — das Signal >Feind in Sicht<. Der Franzmann nahm an, das Geschwader folge mir auf dem Fuße, und verzog sich. Und das war gut so, denn andernfalls lägen Supreme und mein eigenes Schiff jetzt auf dem Grund. «Seine Stimme wurde härter.»Ich hätte genausowenig wie der arme Hallowes unter den Augen unseres Admirals die Flagge gestrichen.»

Keen erinnerte sich an sein Erschrecken, als Bolitho auf einem Bootsmannsstuhl an Bord gehievt wurde. Das ganze Schiff hatte den Atem angehalten, oder so war es ihm zumindest vorgekommen. Er hatte auf ihn zulaufen, ihn umarmen wollen, spürte aber im letzten Augenblick, daß Bolitho ohnehin an dieser Rückkehr fast zerbrach.

Der Empfang fiel Allday zu, der an den Seesoldaten und zuschauenden Offizieren vorbeiging, Bolitho am Ellbogen nahm und fast unbeschwert sagte:»Willkommen an Bord, Sir. Wir haben uns ein bißchen gesorgt, aber jetzt, wo Sie wieder da sind, ist ja alles in Ordnung.»

Doch als die beiden an ihm vorbeigingen, hatte Keen gesehen, daß Allday nur schauspielerte.

Den ganzen Tag über waren die Boote mit Trinkwasserfässern zwischen den Schiffen und dem Land hin- und hergefahren, und die Ärzte des Geschwaders hatten auf der Supreme ihr möglichstes getan.

Keen packte das Finknetz und starrte auf die streifigen, korallenroten Wolken. Flaute, Sturm und heller Sonnenschein: das Mittelmeerwetter war, als würden ständig die Seiten eines Buches umgeblättert.

Paget trat zu ihm und legte grüßend die Hand an den Hut.»Sollen wir Sonnensegel aufriggen, Sir?»

«Nein. Wir nehmen morgen gleich bei Sonnenaufgang das letzte Wasser an Bord. Ich will, nein, ich muß so schnell wie möglich von hier weg. Ich spüre in den Knochen, daß sich etwas zusammenbraut.»

Paget musterte ihn zweifelnd, wählte aber seine Worte mit Bedacht. Fast jeder wußte, wie Keen zu Bolitho stand.

«Die Verletzung scheint ernst zu sein, Sir«, sagte er.»Wenn er blind bleibt.»

Keen fuhr zornig zu ihm herum.»Verflucht, wie wollen Sie das wissen?«Doch er lenkte ebenso schnell wieder ein.»Das war unverzeihlich, bedaure. Wir müssen uns der Realität stellen. Sobald Supreme wieder klar ist, werde ich sie nach Malta schicken. Dort kann man ihre Verwundeten besser versorgen. Und ich werde dem Admiral auf diese Weise Meldung erstatten. «Er warf einen kurzen Blick in Pagets ausdrucksloses Gesicht. Er fragt sich, ob ich auch Zenoria nach Malta schicke.

Doch Paget sagte nur:»Es ist ein harter Schlag.»

Keen wandte sich ab.»Rufen Sie mich, wenn die Seesoldaten bereit zum Übersetzen sind. «Er eilte an dem reglosen Wachtposten vorbei nach achtern.

Die Szene in der Kajüte glich einem Gruppenbild: Stayt, noch immer in seinem fleckigen Rock, saß auf der Heckbank und hielt ein volles Weinglas in der Hand. Ozzard polierte überflüssigerweise den Tisch, und Allday stand ganz still da und musterte den alten Degen, der wieder in seinem Halter hing. Yovell hockte zusammengesunken an Bolithos Kartentisch.

Keen schaute hinüber zum Schlafraum und dachte an Zenoria, die dort Tuson half. Der Arzt hatte sie darum gebeten.

«Neuigkeiten?«fragte Keen.

Stayt machte Anstalten, sich zu erheben, aber Keen winkte ab. Der Flaggleutnant erwiderte erschöpft:»Der Verband ist gewechselt worden. Der Admiral hat nicht nur Sand, sondern auch Splitter in den Augen. «Er seufzte.»Ich befürchte das Schlimmste.»

Keen nahm von Ozzard ein Glas entgegen, das er rasch leerte. Er war so besorgt, daß er nicht einmal merkte, was er trank. Die Entscheidung lag nun bei ihm. Die anderen Kommandanten würden gehorchen, aber ob sie ihm auch vertrauten, war eine andere Frage. Es mochte eine Ewigkeit dauern, bis Supreme Malta erreichte oder sie wieder zu den anderen Schiffen des Geschwaders stießen. Wie lange konnte Bolitho an Bord bleiben? Ihn nach Malta zu schik-ken, hätte den Verlust eines weiteren Schiffes bedeutet. Eine brutale Tatsache, aber eine, auf die Bolitho selbst als erster hingewiesen hätte.

«Offizier der Wache, Sir!«rief der Posten gedämpft.

Ein Leutnant blieb in der Tür stehen.»Empfehlung des Ersten Offiziers, Sir, und die Boote sind bereit. Signal von Icarus: >Erbitte Erlaubnis zum Anfangen.»»

Normalerweise hätte Keen nur gelächelt. Kapitän Houston war immer bemüht, dem Flaggschiff eine Nasenlänge voraus zu sein. Diesmal war es anders.»Signal an Icarus: Befehl abwarten!«Er sah den Leutnant zusammenzucken und versuchte es noch einmal.»Tut mir leid, Mr. Phipps. Meine Empfehlungen an den Ersten Offizier. Ich komme gleich an Deck.»

Der junge Leutnant war auf Keens Achates Midshipman gewesen. Keen betrachtete ihn traurig.»Ja, Leutnant Hallowes ist nun leider gefallen. Doch er starb tapfer, wie man mir versicherte. Ich weiß, daß Sie mit ihm befreundet waren.»

Phipps entfernte sich. Man merkte ihm an, daß er noch zu jung war, um Trauer mit einem Achselzucken abzutun.

«Kinder, alles Kinder. «Keen erkannte, daß er laut gesprochen hatte.»Ich komme zurück, wenn die Boote abgelegt haben. Verständigen Sie mich, wenn Sie vorher etwas hören.»

Stayt stand auf und ging zur Tür.»Das gilt auch für mich.»

Allday drehte sich langsam um und schaute seine Kameraden an.»Ich hätte bei ihm sein sollen.»

Yovell setzte die Brille ab.»Sie hätten es auch nicht verhindern können.»

Allday hörte ihn nicht.»An seiner Seite hätte ich sein sollen, wie immer. Das muß mir der Junge noch erklären.»

Ozzard schwieg, polierte aber um so heftiger.

Yovell bot Allday einen Schluck Rum an.

Allday schüttelte den Kopf.»Erst, wenn es vorbei ist. Dann sauf ich ein ganzes Faß aus.»

Bolitho lag sehr still, die Arme an die Seiten gepreßt, in seiner Koje. Jeder Muskel seines Körpers schien angespannt zu sein.

Wie lange schon? Alle Eindrücke überlappten einander: der Kutter, die Klagen der Verwundeten, dann der Augenblick, als er in ein Boot getragen wurde und eine vertraute Stimme sagen hörte:»Aufpassen da!»

Was mußte er für ein Anblick gewesen sein! Dann weitere Hände, teils sanft, teils grob, als er in einen Bootsmannsstuhl gehoben und wie Fracht an der Bordwand hochgezogen wurde.

Tuson hatte ihn nur angesprochen, um sich zu erkennen zu geben, und dann sofort mit der Untersuchung begonnen.

Man schnitt ihm die Kleider vom Leib, tupfte ihm Gesicht und Hals ab, und dann wurde eine Flüssigkeit aufgetragen, die in den Wunden höllisch brannte.

Den Verband nahm Tuson zuletzt ab. Bolitho spürte, wie er mit einer Schere behutsam aufgeschnitten wurde.

«Wie spät ist es?«fragte er.

«Bitte unterlassen Sie das Reden«, sagte der Arzt streng.

«Halten Sie diesen Spiegel«, befahl er jemandem.»So ist's recht. Wenn ich Ihnen Bescheid sage, lassen Sie ihn das Sonnenlicht vom Bullauge reflektieren.»

Erst jetzt begriff Bolitho, daß Zenoria Tusons Helfer war. Er wollte Einspruch erheben, doch ihre überraschend kühle Hand berührte seine Wange.»Nur ruhig, Sir. Sie sind nicht der erste Mann, den ich zu Gesicht bekomme.»

Der Verband wurde gelöst, und Bolitho hätte fast aufge — schrien, als Tusons kräftige Finger seine Augen abtasteten und die Lider hochschoben.»Sie tun ihm ja weh!«hörte er Zenoria protestieren.

«Das geht leider nicht anders. Und jetzt den Spiegel, bitte!»

Bolitho rann der Schweiß über Brust und Schenkel, als läge er im Fieber. Der Schmerz schien ihm die Augen aus den Höhlen zu treiben. Das Ganze war ein wirrer Alptraum, unterbrochen vom Stochern eines Instruments. Jemand hielt seinen Kopf wie ein Schraubstock, als die Tortur weiterging. Bolitho versuchte zu blinzeln, spürte aber keine Bewegung seiner Lider. Doch er sah Licht, einen rötlichen Schein und Schatten, die Menschen sein mußten.

«Das reicht«, sagte Tuson. Der Schein verblaßte, als der Spiegel wohl entfernt wurde. Dann legte der Arzt vorsichtig einen neuen Verband an; er war weich und feucht und wirkte nach der schmerzhaften Untersuchung lindernd.

Seitdem waren mehrere Stunden vergangen. Noch zweimal war der Verband gewechselt und eine ölige Flüssigkeit aufgetragen worden, die anfangs seine Augen ärger brennen ließ als zuvor. Doch dann hatten die Schmerzen nachgelassen.

Als er sich bei Tuson nach der Flüssigkeit erkundigte, sagte der nur:»Ach, die kam mir in Westindien in die Quere. Ist in solchen Fällen ganz nützlich.»

Bolitho lauschte der Stimme des Mädchens. Sie erinnerte ihn an Falmouth, und bei diesem Gedanken schmerzten seine Augen wieder.

«Ich verstehe nicht, wie Sie bei diesem Licht arbeiten können, Sir«, sagte sie.

«Hier habe ich viel bessere Bedingungen, als ich gewöhnt bin«, versetzte der Arzt und legte Bolitho eine Hand auf den Arm.»Sie sollten jetzt schlafen. «Ein Laken wurde über Bolithos Blöße gezogen, und Tuson fügte hinzu:»Wie ich sehe, haben Sie für König und Vaterland ein paar ehrenvolle Narben erworben, Sir.»

Zu Zenoria sagte er:»So, und Sie nehmen jetzt besser etwas zu sich.»

«Aber rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen, Sir.»

Bolitho hob einen Arm und wandte den Kopf zur Tür. Sie kam zurück und griff nach seiner Hand.»Sir?»

Bolitho erkannte seine eigene Stimme kaum.»Ich wollte Ihnen nur danken.»

Sie drückte seine Hand.»Nach allem, was Sie für mich getan haben?»

Sie schien die Kajüte fluchtartig zu verlassen.»Ein prächtiges Mädchen«, sagte Tuson ernst. Bolitho legte sich zurück.»Nun?»

«Noch läßt sich nichts Genaues sagen, Sir. Beide Augen sind verletzt, und eine Prognose kann ich erst geben, wenn die Wunden verheilt sind.»

«Werde ich wieder sehen können?«beharrte Bolitho.

Tuson ging um die Koje herum. Er muß durch eine offene Stückpforte schauen, dachte Bolitho, denn seine Stimme klingt erstickt.

«Am ärgsten hat's das linke Auge erwischt«, sagte Tuson.»Es waren Sand und Metallfragmente darin. An der Wange hat Sie ein Splitter gestreift — etwas höher, und wir brauchten uns um das Auge keine Sorgen mehr zu machen.»

«Aha. «Bolitho entspannte sich. Es war leichter, wenn man die Wahrheit erfuhr, die unausweichlichen Tatsachen. Er hält den Fall für hoffnungslos. »Ich muß sofort mit meinem Flaggkapitän sprechen«, sagte er.

Tuson rührte sich nicht.»Er ist beschäftigt, Sir. Das kann warten.»

«Sie wagen es, mir zu sagen, was warten kann und was nicht?»

Tuson legte ihm wieder die Hand auf den Arm.»Das ist meine Pflicht, Sir.»

Bolitho bedeckte die Hand des Arztes mit seiner.»Sie haben recht. Entschuldigung.»

«Schon gut. Jeder Mensch ist anders. Einmal nahm ich einem Matrosen ein Bein ab, und der Mann gab keinen Ton von sich. Danach bedankte er sich bei mir, weil ich ihm das Leben gerettet hatte. Ein anderer wünschte mich zur Hölle, als ich ihm nach einem Sturz aus der Takelage eine Kopfwunde nähte. Ich habe schon alles gesehen und gehört, glaube ich manchmal. «Er gähnte.»Warum tun wir das? Warum tun Sie das, Sir Richard? Sie haben soviel für Ihr Land geopfert. Jahrein, jahraus auf See — Sie müssen doch wissen, welche Konsequenzen das hat. Die Quittung bekommen wir mit einer Unvermeidlichkeit, die nicht ignoriert werden kann.»

«Den Tod?»

«Es gibt Schlimmeres als den Tod«, erwiderte Tuson.»Aber ich gehe jetzt, Sir. Es scheint, Ihr Flaggkapitän ist ohnehin schon da.»

Bolitho versuchte, seine Verzweiflung in die Finsternis abzudrängen, als Keen sich neben die Koje setzte und fragte:»Wie geht's, Sir?»

«Ich habe ein wenig Licht sehen können, Val. Die Schmerzen haben nachgelassen, und wenn ich erst rasiert bin, fühle ich mich bestimmt wieder menschlich.»

«Dem Himmel sei Dank«, sagte Keen.

Bolitho tastete nach seinem Arm.»Dank auch Ihnen, Val, denn Sie haben uns alle gerettet. «Er ballte die andere Hand zur Faust.»Sagen Sie mir, was oben geschieht.»

Als Tuson zurückkehrte, fand er sie ins Gespräch vertieft.»Das muß ein Ende haben, Gentlemen!«sagte er streng.

Bolitho hob die Hand.»Moment noch, Sie unduldsamer Knochenbrecher!«Zu Keen sagte er:»Gut, Sie nehmen also das restliche Trinkwasser an Bord, und anschließend bringen wir so rasch wie möglich das Geschwader wieder zusammen. Jobert versucht, unsere Kräfte zu zerstreuen. Ich bin mit Ihnen einig, daß es Zeit für den nächsten Schachzug ist. Schicken Sie mir Yovell. «Er hörte Tuson mißbilligend schnalzen.»Ich gebe Supreme einen eigenen Bericht mit.»

Bolitho legte den Kopf aufs Kissen und versuchte, unter dem Verband die Augenlider zu bewegen. Er konnte Keen und den Arzt vor der Tür flüstern hören und hatte plötzlich das Bedürfnis, aufzustehen, an Deck zu gehen und so zu tun, als sei nichts geschehen.

«Wird er denn wirklich genesen?«fragte Keen.

«Das kann ich noch nicht sagen. Eigentlich hätte ich den Fall für hoffnungslos gehalten, aber bei ihm kann man nicht sicher sein. «Tuson schüttelte den Kopf.»Es hat den Anschein, als ließe er sich von nichts bremsen.»

Keen sah Allday mit einer Schüssel und einem Rasiermesser kommen und verabschiedete sich. Draußen zögerte er vor der kleinen Kabine mit dem rotberockten Wachtposten. Dann klopfte er und trat auf ihren Ruf hin ein.

Zenoria saß auf der großen Truhe, hielt das Kleid von dem Händler aus Genua im Schoß und erfüllte den Raum mit Licht. Sie schaute ihn an und sagte leise:»Das ist ein herrliches Kleid. Du bist sehr gut zu mir.»

Sie legte das Kleid sorgfältig über die Truhe und stand auf. Sie hatte geweint. Um sie beide, um Bolitho? Keen wußte es nicht.»Du hast so viel für mich getan, und ich kann dir gar nichts geben«, sagte sie.

Dann wandte sie sich abrupt ab, und als sie sich wieder zu ihm umdrehte, sah er, daß sie ihr Hemd bis zur Taille aufgeknöpft hatte. Zielbewußt griff sie nach seiner Hand, schob sie unter das Hemd und drückte sie auf ihre Brust. Dabei schaute sie ihm fast trotzig in die Augen.

Keen rührte sich nicht, er spürte nur, wie der warme Hügel unter seiner Hand brannte, ihn verzehrte.

Sie senkte den Kopf und sagte leise:»Es ist mein Herz. Das habe ich dir zu geben. Es ist dein, solange du willst.»

Langsam zog sie seine Hand fort und schloß ihr Hemd.

Jemand schrie von der Poop, Tritte polterten über eine Leiter. Doch sie blieben noch ein paar Sekunden reglos stehen.

«Ich muß fort«, sagte er dann.»Man darf uns so nicht sehen. «Er beugte sich vor und küßte sie leicht auf die Stirn.»Ich liebe dich«, sagte er.

Noch lange Zeit, nachdem er gegangen war, starrte Zenoria die geschlossene Tür an und hielt die Hand über die Brust, die er berührt hatte.

Dann sagte sie leise:»Und ich liebe dich auch.»

Am zweiten Tag hatten die Schiffe alles Trinkwasser an Bord und ließen, vor einem frischen Südwestwind segelnd, die Inseln bald achteraus liegen.

Keen hatte zugesehen, wie Supreme mit eilends geflickten Segeln und noch immer arbeitenden Pumpen ihren Ankerplatz verließ und aufs offene Meer hielt. Auf der Insel waren mehrere ihrer Besatzungsmitglieder begraben worden, darunter Leutnant Hallowes. Ein trauriger Abschied.

Am fünften Tag segelte das Geschwader mit Rapid an der Spitze in den Golfe du Lion.

Keen ging gedankenverloren auf dem Achterdeck auf und ab, als der Toppgast ein Schiff meldete, das bald als die Barracouta identifiziert wurde; nun war der Verband wieder komplett.

Es war auch ein besonderer Tag für Bolitho. Er saß in seinem Sessel mit der hohen Rückenlehne und atmete tief, als Ozzard ein Heckfenster öffnete und Twigg ihm einen Becher Kaffee in die Hand gab.

Bolitho lauschte der See und dem Knarren des Ruders. Auf dem Schiff ging es lebhaft zu. Er hörte Allday mit Yovell reden und Ozzard geschäftig umhereilen. Alle waren so guter Laune. Glaubten sie etwa, sie könnten ihm etwas vormachen?

Er hörte Tuson in die Kajüte treten, begleitet von Zenoria, die er am leisen Schritt ihrer bloßen Füße erkannte.

Tuson stellte seine Tasche ab und sagte:»Wir brauchen viel Licht heute.»

Bolitho nickte.»Wir haben ein Schiff gesichtet, nicht wahr?»

Tuson grunzte.»Die Barracouta, Sir.»

Bolitho versuchte, sich seine Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Keen war nicht gekommen, um ihm das zu melden. Selbst er hatte ihn schon abgeschrieben.

«So. «Tuson lüftete den Verband ein wenig und begann ihn aufzuwickeln.»Schließen Sie die Augen, bis ich sie gebadet habe. «Er atmete schwer, konzentrierte sich so, daß es fast körperlich spürbar war. Jetzt war der Verband ganz fort, und Bolitho wurde sich der Stille bewußt. Mit einem warmen Bausch wurden ihm die Augen abgetupft, und einen Augenblick durchfuhr ihn stechender Schmerz.

Tuson sah ihn zurückzucken und sagte:»Gleich kann ich Ihnen sagen…»

Bolitho streckte die Hand aus.»Zenoria? Sind Sie da?«Er spürte, wie sie seine Hand ergriff.

«Als erstes möchte ich Sie sehen, nicht diese häßlichen Gestalten da!»

Sie lachte, aber er spürte ihre Sorge.

«Öffnen Sie bitte die Augen, Sir«, meinte Tuson ausdruckslos.

Bolitho berührte erst sein linkes, dann sein rechtes Auge und hielt dabei ihre Hand so fest, daß es ihr wehtun mußte. Er biß die Zähne zusammen, versuchte es, bekam aber plötzlich Angst.

«Versuchen Sie es noch einmal«, sagte Tuson.

Bolitho entrang sich ein Aufstöhnen, als er die Lider öffnete. Es war, als wären sie vernäht gewesen und würden nun aufgerissen. Verschwommene, verzerrte Schemen bewegten sich vor den Heckfenstern, es gab auch Schatten, aber vor allem sah er Licht.

Tuson drückte ihm mit einem neuen Bausch Flüssigkeit in die Augen. Das brannte, aber Bolitho sah jetzt das blasse, ovale Gesicht des Mädchens, den karierten Bodenbelag, etwas Glänzendes. Er wandte den Kopf, versuchte verzweifelt, einen bekannten Gegenstand zu identifizieren.

Tuson schien hinter dem Sessel zu stehen. Er legte eine Hand über Bolithos linkes Auge.»Wie geht das?»

«Sehr klar sehe ich noch nicht«, sagte Bolitho.

«Sie werden noch Schmerzen haben, die das Bad aber bald lindern wird. Nun schauen Sie bitte das Mädchen an, Sir.»

Bolitho spürte, daß die anderen ihn beobachteten, sich nicht zu rühren wagten. Er verzog die Lippen zu einem Lächeln.»Mit Vergnügen. «Sie errötete unter seinem einäugigen Starren, bedankte sich aber für das Kompliment.»Mein Flaggkapitän ist ein beneidenswerter Mann«, flüsterte er.

Tuson legte die Hand über sein rechtes Auge und sagte unbarmherzig:»Nun versuchen Sie es mit dem linken.»

Bolitho blinzelte und sah Alldays Goldknöpfe und die beiden Degen am Schott.

Er flüsterte:»Allday, alter Freund, ich. «Er fuhr sich übers Gesicht, als wolle er Spinnweben entfernen. Ein Schatten schien Allday zu verdecken.

Bolitho wandte sich verzweifelt wieder dem Mädchen zu. Er sah ihre Augen, den Mund, aber dann legte sich der Schatten über sie, und sie schien zurückzuweichen, obwohl er ihre Hände hielt und wußte, daß sie sich nicht bewegt hatte.

«Den Verband!«sagte Tuson knapp. Er beugte sich über Bolitho.»Das war erst der Anfang, Sir.»

Er hatte zuerst das rechte Auge geprüft, um ihm Hoffnung zu machen, denn er wußte, daß das andere viel schwerer geschädigt war.

Bolitho war vor Enttäuschung so erschöpft, daß er sich widerstandslos den Verband anle gen ließ.

Eine Tür ging auf, und er hörte Keen fragen:»Nun, wie sieht's aus?»

«Besser, als ich zu hoffen gewagt hatte«, erwiderte Tuson.

«Blind auf einem Auge, Val, und das andere ist nicht gerade gesund«, ließ sich Bolitho vernehmen.

«Ich gehe jetzt besser, Sir«, sagte Zenoria.

Bolitho streckte die Hand aus.»Bitte bleiben Sie.»

«Das Geschwader ist komplett, Sir«, sagte Keen. Das klang niedergeschlagen.»Ich melde mich stündlich bei Ihnen.»

Bolitho hielt die Hand des Mädchens wie eine Rettungsleine. Er lehnte sich im Sessel zurück und sagte:»Wenn das Wetter es zuläßt, Val, möchte ich alle Kommandanten morgen hier bei mir sehen. Bitten Sie aber erst Barracouta, Inchs Meldung sofort zu übermitteln.»

Er hatte erwartet, daß Keen oder Tuson Einspruch erheben würden; ihr Schweigen sagte ihm mehr als jedes Wort.

Türen öffneten und schlossen sich. Bolitho fragte:»Sind wir allein?»

«Ja, Sir.»

Bolitho streckte die Hand aus und berührte ihr Haar. Er mußte mit seinen Kommandanten sprechen. Sie brauchten einen Admiral, der führte, nicht verzweifelte. Jobert würde jede Schwäche als Waffe gegen ihn benutzen.

Er spürte, wie sie sich bewegte, und sagte leise:»Nicht weinen, Mädchen, du hast schon zu viele Tränen vergossen. «Er streichelte weiter ihr Haar und sah nicht das Mitleid in ihren Augen.»Hilf mir, damit meine Bande morgen einen Vizeadmiral vorfindet und keinen hilflosen Krüppel.»

Später, als ein Boot Inchs Meldung zum Flaggschiff gebracht hatte und Keen damit in die Achterkajüte trat, fand er Bolitho immer noch im Sessel sitzen. Zenoria war zu seinen Füßen eingeschlafen.

«Freut mich, daß sie Ihnen Gesellschaft leistet, Sir«, sagte Keen.

Bolitho berührte ihr Haar, aber sie regte sich nicht.»Sie verstehen das doch, Val, oder? Ich brauche ihre Gegenwart, ihre Stimme. Ich bin zu sehr an Männer gewöhnt, an die Härten des Krieges.»

Keen ließ ihn reden. Bolitho strich dem Mädchen unablässig über das lange Haar und fuhr fort:»Wenn der Tag gekommen ist, an dem Sie Ihre eigene Flagge hissen, lassen Sie sich von nichts ablenken. Ich selbst gab die persönlichen Kontakte nur widerwillig auf, als ich Admiral wurde. Ich wollte Teil des Schiffes sein, das meine Flagge führte, Gesichter und Namen behalten, Menschen, nicht bloße Besatzungsmitglieder. Aber weil ich keine Distanz wahren konnte, bin ich dafür verantwortlich, daß Männer gestorben sind und Supreme praktisch verloren ist.«»So dürfen Sie nicht denken, Sir.»

«Val, wenn Sie erst Admiral sind, vergessen Sie die Menschen!«Bolitho sagte das so laut, daß Zenoria erwachte und erst ihn und dann Keen fragend anstarrte.»Aber ich bringe das nicht fertig!«Bolithos Zorn war verflogen, er senkte den Kopf.»Und das zerreißt mich innerlich.»

Bolitho ergriff die Hand des Mädchens.»Gehen Sie jetzt. Aber besuchen Sie mich wieder. «Er hob ihre Hand an seine Lippen.

Die Tür wurde geschlossen, und Bolitho hörte, wie Allday Zenoria zu ihrer Kajüte begleitete.

Keen wartete und kam sich überflüssig vor, weil er nicht helfen konnte.»Öffnen Sie Inchs Bericht, Val«, sagte Boli-tho.»Wir haben viel zu tun.»

Am nächsten Morgen lagen die Schiffe beigedreht, und die Kommandanten kamen wie befohlen an Bord der Argonaute zusammen.

Bolitho saß in seiner Kajüte vorm Spiegel und war bemüht, seine Gedanken zu sammeln. Er konnte nicht akzeptieren, was ihm zugestoßen war, hatte sich aber tausendmal geschworen, sich davon nicht unterkriegen zu lassen.

Er hörte das Schrillen der Bootsmannspfeifen, als der letzte Kommandant von der Ehrenwache an Bord begrüßt wurde, und kam sich mehr wie ein Schauspieler vor seinem Auftritt vor. War diese Besprechung überhaupt nötig? Oder wollte er seinen Kommandanten nur etwas demonstrieren? Irgendwie fühlte er sich aber wirklich besser, und nicht nur, weil er ein frisches, sauberes Hemd trug und sich unter Alldays Aufsicht vorsichtig gewaschen hatte.

«Sind Sie bereit, Sir?«Tuson schien immer zur Stelle zu sein.

Bolitho packte seine Knie und antwortete:»Aye.»

Der Verband über seinem rechten Auge wurde abgenommen, der inzwischen vertraute Bausch mit der süß riechenden Salbe tat sein Werk, und Tuson bemerkte:»Mit Verlaub, Sir, als Patient haben Sie Fortschritte gemacht.»

Bolitho schlug die Augen auf und betrachtete sein unscharfes Spiegelbild. Die kleinen Narben im Gesicht fielen wegen seiner sonnverbrannten Haut weniger auf, doch das linke Auge starrte ihn böse und rotgeädert an.

Jenseits des Spiegels bürstete Ozzard sorgfältig seinen besten Uniformrock mit den schimmernden Epauletten; er mußte eine perfekte Vorstellung geben. Allday machte einen langen Hals, um sich zu vergewissern, daß er bei der Rasur auch nicht ein einziges Barthaar übersehen hatte, und Yovell war am Tisch mit Akten beschäftigt. Der Rahmen war fast perfekt. Er hob den Blick und sah, daß Zenoria ihm über die Schulter schaute.

Sie lächelte sanft und verschwörerisch, fuhr Bolitho mit einem Kamm durchs Haar und legte die Stirnlocke so, daß sie teilweise den Verband überm linken Auge verdeckte. Seinen Zopf hatte sie bereits geflochten und gebunden.

Bolitho hörte von unten Stampfen und Stimmen. Die Kommandantenbesprechung sollte in der Messe unter seiner Kajüte stattfinden, denn er mußte sein Quartier freihalten; als Zufluchtsort, falls etwas schiefging.

«Vielen Dank, Zenoria«, sagte er.»Sie haben mit schlechtem Material Ihr Bestes getan.»

Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Sie gab zwar keine Antwort, aber er sah ihrem Gesicht an, daß sie sich freute. Ihr Haar war wieder straff zurückgebunden, und ihre braunen Augen blickten entschlossen.

Bolitho dachte an Inchs wie üblich weitschweifigen, aber doch nützlichen Bericht, der einen wichtigen Punkt enthielt. Einen Schlüssel vielleicht — oder eher eine raffinierte Falle?

«Überanstrengen Sie das rechte Auge nicht, Sir, und lassen Sie das andere bedeckt«, warnte Tuson.»Wenn Sie bald richtig behandelt werden.»

Bolitho schaute ihn an. Er hatte das Gefühl, einen Fremdkörper im Auge zu haben. Tuson hatte behauptet, das gäbe sich mit der Zeit.

«Ihre Behandlung war richtig«, sagte Bolitho.

Tuson ließ sich nicht ablenken.»Wenn Sie sich den Anforderungen der Geschwaderführung nicht entziehen, Sir, bin ich für die Konsequenzen nicht verantwortlich.»

Die Tür ging auf, und da stand Keen und beobachtete ihn mit dem Hut unterm Arm. Bolitho fiel auf, daß auch er seine beste Uniform trug. Der zweite Hauptdarsteller, dachte er.

«Alle versammelt, Sir.»

Bolitho blickte in den Spiegel und sah, wie er rasch mit Zenoria einen Blick tauschte. Sie legte eine Hand auf die Brust, und Keens Gesicht war zu entnehmen, daß er die Geste verstand.

Bolitho berührte seinen Verband. Er gönnte ihnen ihr Glück, ganz gleich, welche Schwierigkeiten vor ihnen lagen. Er war nicht eifersüchtig, nur ein wenig neidisch.

Er schlüpfte in die Ärmel des Rockes und ließ sich von Allday den alten Degen an den Gürtel hängen.

«Passen Sie gut auf sich auf, Sir«, murmelte Allday.

Bolitho berührte seinen muskulösen Arm und lächelte.»Vielen Dank, alter Freund. «Er sah die anderen an.»Und Ihnen allen auch. Aber jetzt wollen wir wieder an die Arbeit gehen.»

Keen lief es kalt den Rücken hinunter. Er kannte diesen Ausdruck, diese Stimme. Weder Schmerzen noch Verband konnten über die Tatsache hinwegtäuschen, daß das Feuer noch brannte.

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