XV Rendezvous mit dem Schicksal

Bolitho balancierte das abschüssige Achterdeck hinauf nach Luv und ließ den feuchten Wind seine Müdigkeit vertreiben. Es war früh am Morgen, und ringsum bereitete sich die Besatzung auf einen neuen, anstrengenden Tag vor.

Über Nacht war Regen gefallen, doch Bolitho ging mit Absicht auf den nassen Planken auf und ab. Langsam gewann er sein Selbstvertrauen zurück und schrieb seine bisherige Verzweiflung dem Selbstmitleid und Schlimmerem zu.

Er hörte Keen mit dem Ersten Offizier reden und entnahm seinem Tonfall, daß er die Bestrafung dreier Matrosen besprach, die am Vormittag stattfinden sollte. Überall im Geschwader waren nach Helicons Ausfall Unruhen ausgebrochen: Drohungen oder tatsächliche Gewaltanwendungen gegen Decksoffiziere oder Kameraden, worauf üblicherweise Auspeitschung stand. Das Flaggschiff stellte keine Ausnahme dar; selbst Keens Menschlichkeit hatte den letzten Temperamentsausbruch und die strenge Strafe, die ihm auf dem Fuß folgte, nicht verhindern können.

Bolitho stellte sich seine Schiffe als Wesen mit ganz unterschiedlichem Eigenleben vor, das von dem jeweiligen Kommandanten überwacht und gesteuert wurde. Aber er wußte auch, daß ein Schiff nur so stark war wie seine Mannschaft.

Bei Tagesanbruch würden seine Schiffe wieder mit Argonaute im Zentrum in Querlinie segeln. Barracouta, noch immer als Zweidecker getarnt, lag irgendwo achteraus und war bereit, auf ein Signal hin vorm Wind angerauscht zu kommen. Rapid kreuzte ganz allein weit vor ihnen in der Hoffnung, ein Fischerboot oder ein Handelsschiff zu finden, das ihnen wertvolle Hinweise geben konnte.

Sie hatten mehrere solcher Schiffe gesichtet, aber nur drei erwischt. Eines der Fahrzeuge, die sich Rapids Verfolgung entzogen hatten, bis die Brigg das Signal zur Rückkehr erhielt, war ein schneller Schoner gewesen. Es war üblich, daß Handelsschiffe vor Kriegsschiffen jeglicher Flagge flohen, doch hier draußen mochte jeder Fremde auch ein Spion sein, der Jobert Hinweise auf ihre Stärke und ihren Kurs zutrug. Lange konnte das nicht so weitergehen. Bald würde Bolitho sich geschlagen geben und die Brigg zu Nelson schicken müssen, um ihm mitzuteilen, was geschehen war. Dann stand zu erwarten, daß Nelson das Geschwader in seinen eigenen Verband eingliedern würde.

Vier Tage waren vergangen, seit sie sich von Helicon getrennt hatten. Es herrschte gutes Segelwetter; der Wind stand günstig, und die Sicht war nicht schlecht.

Keen kam übers Deck und legte die Hand an den Hut.»Irgendwelche Befehle, Sir Richard?«Nur wegen der Rudergänger in der Nähe drückte er sich so förmlich aus. Seine Stimme klang gepreßt. Stand er etwa den Entscheidungen seines Vorgesetzten und den Ergebnissen, die sie bisher gezeitigt hatten, kritisch gegenüber?

Bolitho schüttelte den Kopf.»Wir suchen weiter. Mag sein, daß sich die Franzosen abgesetzt haben, aber ich bezweifle das.»

Gemeinsam sahen sie, wie Segel und Rigg von den ersten Sonnenstrahlen getroffen wurden. Querab tauchte Dispatch in eine so hohe Düngung, daß die Stückpforten des unteren Batteriedecks wie Glassplitter funkelten.

Bolitho schaute zu der winzigen Gestalt des Ausgucks im Großmast auf.»Lösen Sie die Männer oben stündlich ab, Val«, sagte er.»Müde Augen können wir heute nicht brauchen.»

Keen warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Heute, Sir?»

Bolitho zuckte die Achseln. Erst jetzt merkte er, was er da gesagt hatte. Warnte ihn ein Instinkt?

«Ich bin beunruhigt, Val. «Er dachte an Frühstück und die Tatsache, daß er fast die ganze Nacht auf- und abgegangen war.»Verständigen Sie mich sofort, wenn etwas gesichtet wird. «Er schritt nach achtern zu seinem Quartier, wo Oz-zard und Yovell ihn erwarteten.

Bolitho saß am Tisch und sah zu, wie Ozzard das Frühstück zubereitete und Kaffee einschenkte. Er hatte ein Bad nötig und sein Hemd war zerknittert. Doch die Kürzung der Wasserration galt für alle, auch für ihn. Abgesehen von Inch natürlich. Dessen Anblick war eine Qual: manchmal im Fieberwahn, dann wieder abgestumpft und teilnahmslos, vegetierte er dahin. Laut Tuson schien die Amputation erfolgreich gewesen zu sein. Doch Inch gehörte an Land und in ein Hospital. Bolitho wußte aus eigener bitterer Erfahrung, daß jeder Ruf an Deck, jede Änderung von Windrichtung und Kurs selbst in einem sterbenden Seemann alte Ängste weckten — und ganz besonders in einem Kommandanten.

«Ganz nach Ihrem Geschmack, Sir«, sagte Ozzard und stellte einen Zinnteller auf den Tisch.»Aber es ist leider das letzte Brot aus Malta.»

Bolitho betrachtete die dünnen Scheiben Schweinefleisch, in Zwiebackskrumen goldbraun gebacken. Das Brot würde steinhart sein, aber Ozzard war es wenigstens gelungen, den Schimmel fernzuhalten. Der schwarze Sirup, den Bolitho so gern aß, würde den muffigen Geschmack überdecken.

Er dachte an Frühstück in Falmouth und Belindas Verwunderung über seinen Appetit. Du haust rein wie ein Schuljunge, hatte sie gesagt. Was hielte sie wohl von dieser Mahlzeit? Und die Mannschaft aß noch hundertmal schlechter.

Er schaute zum offenen Skylight, als Stimmen herüberwehten. Dann stampften Füße durch den Korridor, und Keen betrat die Kajüte.

«Bedaure, Sie stören zu müssen, Sir. Aber Rapid ist in Sicht und hat Nachrichten.»

Bolitho stieß den Teller beiseite und bestrich das altbak-kene Brot dick mit Sirup.

«Berichten Sie.»

«Sie hat ein Schiff gestellt und geentert, mehr weiß ich noch nicht. Aber Rapid unternimmt auf jeden Fall die größten Anstrengungen, um schnell heranzukommen.»

Bolitho stand auf.»Setzen Sie mehr Segel und signalisieren Sie den anderen Schiffen, unserem Beispiel zu folgen. Und sobald wir beigedreht haben, möchte ich Quarrell sprechen.»

Doch es dauerte bis zur Mitte der Morgenwache, ehe Rapid zum Rest des Geschwaders aufgekreuzt war. Zunächst wich die Erregung stummer Resignation, als die Grätings aufgeriggt und alle Mann nach achtern gepfiffen wurden, um Zeugen der Bestrafung zu werden: zwei Dutzend Schläge pro Mann, während die Trommeln gerührt wurden.

Paget legte die Hand an den Hut.»Bestrafung vollzogen, Sir.»

Keen nickte. Die Mannschaft trat ab, die Grätings wurden abgenommen und geschrubbt, und die Ausgepeitschten kamen nach unten ins Krankenrevier. Keen reichte Paget die Kriegsartikel und sagte:»Dieses verdammte Warten!»

Doch als Quarrell endlich an Bord kletterte, konnte er seine Erregung und Freude kaum verbergen.

Bei Tagesanbruch hatte Rapid dem anderen Schiff befohlen, beizudrehen und einen Entertrupp zu erwarten. Der Leutnant, der mit dem Boot hinüberfuhr, war gründlich. Der griechische Kapitän war des Englischen mächtig und mehr als hilfsbereit gewesen. Seine Ladung hatte aus Olivenöl und Feigen bestanden, doch laut Quarrell war das Schiff schmutzig; es sei ein Wunder, daß es überhaupt Ladung bekam. Quarrell holte tief Luft.»Der Kapitän hatte mehrere Flaschen Wein und Brandy an Bord, Sir, die mein Erster sofort entdeckte. «Er drehte sich um und strahlte Keen an.»Alle französischer Herkunft.»

Bolitho, dessen Mund plötzlich trocken geworden war, entrollte auf dem Tisch eine Seekarte.»Weiter. «Dies war Quarrells großer Augenblick. Wenn er ihn zur Eile trieb, brachte er ihn nur aus dem Konzept.

Der junge Kommandant fuhr fort:»Als wir ihn nach der Herkunft der Flaschen befragten, gab der Mann an, sie vor drei Tagen gegen Öl eingetauscht zu haben. «Er sah in Bolithos ernstes Gesicht.»Es war zweifellos Konteradmiral Joberts Geschwader. Der Grieche konnte es bis auf die Galionsfigur, einen Leoparden, genau beschreiben.»

«Zeigen Sie mir die Position. «Bolitho beschwerte die Karte mit Lineal und Stechzirkel.

«Sie lagen auf Ostkurs, Sir. Inzwischen müßten sie ungefähr hier sein. «Er legte einen Finger auf die Stelle.

Keen beugte sich über den Tisch.»Bei Korsika. «Er seufzte.»Das hätte ich doch ahnen sollen.»

Quarrell schaute von ihm zu Bolitho.»Der griechische Kapitän hörte einen französischen Offizier sagen, das Geschwader sei im Begriff, Trinkwasser an Bord zu nehmen.»

Keen runzelte die Stirn.»Für eine lange Fahrt vielleicht?»

Bolitho ging an die Heckfenster und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Die tiefe Narbe an seiner Schläfe erinnerte ihn an jenen anderen Tag, an dem das Aufnehmen von Trinkwasser ihm so simpel vorgekommen war.

Er sah Fische aus dem Schatten der Argonaute springen.»Die Franzosen sind also unterwegs nach Korsika, um Wasser für drei Linienschiffe und zwei Fregatten an Bord zu nehmen… Wie lange brauchen sie Ihrer Auffassung nach?«Er wandte sich an Keen.»Drei, vier Tage?»

Keen nickte langsam.»Wir könnten sie noch einholen, Sir.»

Bolitho setzte sich auf die Heckbank. Auch ohne Seekarte konnte er sich die Lage genau vorstellen. Wenn der Wind günstig blieb, mochten Joberts Schiffe vor einer Leeküste in die Falle geraten.

«Ozzard, rufen Sie meinen Flaggleutnant. «Erstaunlicherweise war es ihm gelungen, mit Stayt zu reden, ohne den Anlaß ihrer Entfremdung zu erwähnen. Stayt war argwöhnisch und so reserviert, daß sie sich über kaum mehr unterhielten als über Befehle und Signale.

Als Stayt eintrat, schweifte sein Blick rasch über die Gruppe am Tisch.»Kann ich Ihnen etwas besorgen, Sir?»

«Ja, die Berichte vom Flaggoffizier in Malta.»

Quarrell beharrte:»Mein Erster Offizier hielt die Aussage des Griechen für glaubwürdig, Sir.»

«Vielleicht glaubte er aber nur, was die Franzosen ihm weismachen wollten«, versetzte Bolitho.

Stayt legte eine Akte auf den Tisch: Ankunft des Geleitzuges in Malta, Eskorten und Auslaufzeiten, Passagiere und Ausrüstung, die gelöscht oder weitertransportiert werden sollte. Bolitho zog ein Blatt hervor, das in der Handschrift eines unbekannten Beamten den Namen Benbow trug. Dann schnappte er sich den Stechzirkel und ließ ihn rasch über die Seekarte wandern. Seine Augen schmerzten ihn so, daß er fast laut geflucht hätte.

Drei, höchstens vier Tage. Das mußten sie schaffen.

Er sah auf. »Benbow lief aus Malta aus, um zwei Handelsschiffe nach England zu geleiten. Als zusätzliche Eskorte gab man Konteradmiral Herrick eine Fregatte mit.»

«Welch ein Aufwand für zwei Schiffe!«rief Keen aus.»Und von uns erwartet man, daß wir zurechtkommen mit.»

Bolitho hob die Hand.»Ich hätte es viel früher erkennen sollen, Val. Den entscheidenden Hinweis gab mir Inchs Erster Offizier nach dem Gefecht. «Er sah den erschöpften Leutnant mit dem verbundenen Kopf noch deutlich vor sich: Schade, daß wir nicht einen zusätzlichen Ladebaum haben wie der Franzose. Fast konnte er Savills Stimme hören. Der Mann hatte den Baum gesehen, aber seine Bedeutung nicht erkannt.

«Diese Handelsschiffe haben Gold und Edelsteine vom Sultan an Bord«, sagte Bolitho. Am liebsten hätte er auf den Tisch geschlagen, um ihnen die Ungeheuerlichkeit seiner Entdeckung und Joberts Absichten klarzumachen.»Jobert plant, diesen Geleitzug anzugreifen und das Gold auf See zu übernehmen. Will er dazu nach Korsika, Val? Wohl kaum. Er hatte das Gold von Anfang an im Auge, aber ich war ihm im Weg. Und dieser Weg ist jetzt frei.»

Bolitho schaute Quarrell an.»Begeben Sie sich zurück auf Ihr Schiff und erwarten Sie neue Befehle.»

Quarrell trat zurück.»Das — tut mir leid, Sir Richard.»

Bolitho musterte ihn gelassen.»Ihren Leutnant hatte er schon überzeugt. Uns hätte es leicht ebenso ergehen können.»

Als sich die Tür schloß, sagte Keen:»Noch wissen wir nichts Definitives, Sir.»

Stayt fügte hinzu:»Andererseits — wenn sich die Franzosen wirklich bei Korsika befinden und wir es versäumen, sie ausfindig zu machen.»

Bolitho schaute an ihm vorbei.»Ich bin meiner Sache ganz sicher, Gentlemen. Für diese Entscheidung wird man mich verantwortlich machen.»

Er trat erneut an die Karte. Keen versuchte offenbar, ihn zu warnen und zu schützen. Wenn sie weiter ihrem bisherigen Kurs folgten, konnte niemand ihnen einen Vorwurf machen. Wenn er sich aber von seinem Instinkt leiten ließ, von dieser sonderbaren Überzeugung, daß er ein Rendezvous mit dem Schicksal hatte, mochte er sich fatal irren.

«Meiner Schätzung nach haben wir zwei Tage Zeit. Und nicht mehr. «Er berührte die Karte mit den Spitzen des Stechzirkels.»Wenn das Wetter so bleibt, sollten wir ungefähr hier auf den Geleitzug treffen. «Während sie sinnlos die zerklüftete Küste von Korsika abgesucht hätten, wäre das Gold geraubt worden und Herrick mit seinen Männern gestorben.

Bolitho hob die Stimme.»Mr. Yovell, Sie Federfuchser! Kommen Sie, ich möchte meine Gefechtsanweisungen diktieren.»

Yovell kam lächelnd herbeigelaufen, als sei ihm gerade ein Ehrentitel verliehen worden.

Bolitho schaute Stayt an.»Der Signalfähnrich soll sich bereithalten. «Das war wohl Sheaffe.

Als er mit Keen allein war, erläuterte er:»Der Wein und der Cognac warnten mich. Unvorstellbar, daß Jobert so etwas gegen Öl eintauscht, es sei denn, er wollte, daß wir davon erfahren. Vielleicht war er diesmal doch zu selbstsicher.»

Keen bezweifelte, daß Quarrells Informationen überhaupt feste Schlüsse erlaubten. Bolithos Stimmungsumschwung, seine plötzliche Zuversicht, die ihn sogar mit seinem Sekretär scherzen ließ, beunruhigten ihn.

«Dann kommt es also zum Kampf«, sagte er schlicht.

Bolitho ergriff ihn am Arm. Keens Tonfall hatte aus einer vagen Strategie eine brutale Realität gemacht.

«Den wir gemeinsam bestehen werden, Val«, sagte er leise.

Keen nickte. Doch dabei hatte er Zenorias Gesicht vor Augen und empfand zum ersten Mal Angst.

Commander Adam Bolitho strich sich das widerspenstige Haar aus den Augen und sah zu den Männern hoch, die auf den Rahen arbeiteten. Die robuste Brigg Firefly legte sich auf Steuerbordbug hart über, die See schäumte bis zu den verschlossenen Stückpforten hinauf und zischte in Kaskaden an den Speigatten der Leeseite entlang.

Er trug nur Hemd und Hose, und die klebten ihm am Leib wie eine nasse Haut. Am liebsten hätte er gelacht oder gesungen, als die Brigg, sein Schiff, tief in ein Wellental tauchte und eine Gischtwolke aufwarf.

Er wartete, bis der Bug sich wieder hob, und ging dann zum Kompaß. Das Schiff lief nach Osten und hatte die Balearen irgendwo an Backbord hinter dem Horizont.

Wieder ging es abwärts, und ein riesiger Gischtvorhang wehte übers Vorschiff, wo andere an den Brassen hievten.

Adams Erster Offizier, ein junger Mann in seinem Alter, löste sich schwankend von der Reling und schrie:»Sollen wir reffen, Sir?»

Adam lachte mit weißen Zähnen.»Nein, noch nicht!»

Der Leutnant zog eine Grimasse. Dieser junge Kommandant ließ es immer drauf ankommen.

Adam ging rastlos auf dem Poopdeck hin und her, während seine Firefly sich in der groben See aufbäumte. Noch vor wenigen Tagen hatten sie im Schatten des Felsens von Gibraltar gelegen, bereit, das winterliche England anzusteuern. Doch dann hatte er Befehl erhalten, sofort nach Malta zurückzukehren.

Das Fieber in Gibraltar war vorbei. Die Depesche in Adams Stahlkassette wies den Admiral auf Malta an, einen Geleitzug am Auslaufen nach England zu hindern. Falls er aber bereits unterwegs war, sollte sich Adam dem ranghöchsten Offizier des Geleitzugs unterstellen. Bei diesem Gedanken mußte er grinsen. Das war Konteradmiral Herrick, für ihn eher ein gütiger Onkel als ein Flaggoffizier.

Adam war erregt. Er hatte sein Schiff und die See für sich. Die Franzosen waren ausgelaufen; ein Geschwader unter Konteradmiral Jobert war gemeldet worden. Wenn es ihm gelungen war, sich an dem Geschwader seines Onkels vor-beizustehlen, dann wurden dessen Schiffe nun in Gibraltar gebraucht, um die Meerenge zu verschließen und Jobert den Weg in den Atlantik zu versperren: ein gigantisches Katz-und-Maus-Spiel.

Adam wischte sich die Gischt von den Lippen. Ein Spiel für Admirale und pompöse Linienschiffe. Hier hingegen… Er trat an die Heckreling und starrte ins schäumende Kielwasser. Unter seinen Füßen lag seine Kajüte, ein unvorstellbarer Luxus: ein Raum für ihn allein.

Er fragte sich plötzlich, wie das Verfahren in Malta ausgegangen war. Ließ sich denken, daß auch Kapitän Keen vom Fluch der Bolithos getroffen und aus Neid oder Rachsucht von seinem Posten vertrieben wurde? Vor kurzer Zeit hatten sie das nach England bestimmte Handelsschiff Lord Egmont passiert, und Adam hatte sich so seine Gedanken gemacht. Es war seinem Onkel zuzutrauen.

«Schiff in Luv!«rief der Ausguck.

Morrison, der Erste Offizier, eilte zu den Webleinen, doch Adam sagte:»Nein, ich entere selbst auf. «Als Midshipman war er immer gern in der Takelage herumgeturnt. Der Wind zerrte an seinem Hemd, als er rasch nach oben kletterte. Einmal hing er rücklings in den Wanten und sah hinunter aufs Vorschiff, wo die See über die Reling kochte, ehe sie an Deck sprang und die schwarzen Vierpfünder umspülte.

Er wünschte sich schon lange eine Fregatte, wollte es seinem Onkel nachtun, der einmal der beste Fregattenkapitän der Flotte gewesen war. Doch wenn er sich seine muntere Firefly betrachtete, konnte er die Vorstellung, sie einmal abgeben zu müssen, kaum ertragen.

Der Ausguckposten saß bequem im Krähennest und sah verwundert drein, als sich sein junger Kommandant gelenkig zu ihm gesellte.

Adam zog sein Teleskop unterm Gürtel hervor und versuchte, es nach Backbord auszurichten.

Der Ausguck, einer der ältesten Matrosen auf dem Schiff, sagte heiser:»Ich glaube, es sind zwei, Sir. «Er hob die Stimme kaum, war aber trotz des Lärms deutlich zu verstehen. Viele Jahre auf Schiffen aller Art hatten ihn das gelehrt.

Adam schlang ein Bein um ein Stag und versuchte es noch einmal. Der Mast schwang so heftig hin und her wie eine riesige Peitsche.

«Da ist es!«rief er aus.»Sie haben gute Augen, Marley!»

Der Matrose grinste. Er brauchte kein Teleskop. Und er mochte den neuen Kommandanten. Dem Aussehen nach allerdings ein Frauenheld, dachte er.

Eine besonders hohe See ließ das fremde Schiff steigen wie einen springenden Wal. Es lief mit gerefften Marssegeln vorm Wind, den Rumpf noch unter der Kimm verborgen, als wolle es sich selbst versenken. Adam wischte die Linse ab und hätte dabei fast den Halt verloren, als Firefly erneut in ein Wellental sackte.

Er wartete und zählte die Sekunden, bis der Klüverbaum sich wieder hob, an dem die Segel flatterten wie nasse Banner. Dann schob er das Fernrohr zusammen.»Sie haben recht. Es sind zwei. «Er klopfte dem Mann auf die breite Schulter.»Ich schicke Ablösung herauf.»

Der Matrose hätte gern ausgespuckt, sagte aber nur:»Schon gut, Sir, ich bleibe gern oben. Das sind bestimmt Lord Nelsons Schiffe.»

Adam rutschte, seine Würde vergessend, an einer Par-dune hinunter an Deck, wo Morrison ihm entgegeneilte.

«Zwei Linienschiffe. «Adam senkte die Stimme.»Auf dem gleichen Schlag wie wir.»

Morrison grinste.»Gehen wir lieber nicht zu dicht ran, Sir, sonst kriegen wir nur Befehle verpaßt.»

Adam fuhr sich erregt durch das schwarze Haar, das vor Salz klebte.»Sie können jetzt reffen lassen. Und keine Angst vor weiteren Befehlen, Mr. Morrison, denn diese beiden Linienschiffe sind Franzosen!»

Morrison holte tief Luft und gab schnell den Befehl weiter.»Was haben Sie vor, Sir?»

Adam wies auf den nächsten Vierpfünder.»Wir können es mit ihnen nicht aufnehmen. Also werden wir sie verfolgen und sehen, was sie vorhaben.»

Morrison war schon unter dem vorigen Kommandant, der das Leben auf Firefly zur stumpfsinnigen Plackerei gemacht hatte, Erster Offizier gewesen. Commander Bolitho dagegen war wie eine frische Brise; ein sehr fähiger Mann, der sich von niemandem etwas vormachen ließ.

«Aber Ihr Befehl, Sir?«erinnerte er vorsichtig.

«Ich soll entweder den Geleitzug oder Malta finden, was immer mir als erstes in die Quere kommt. «Adam grinste.»Diese beiden Schiffe da werden uns zu dem einen oder anderen führen, meinen Sie nicht auch?»

Morrison eilte fort, um dem Zweiten Offizier zu helfen. Als er noch einmal einen Blick nach achtern warf, sah er Adam mit dem Rudergänger sprechen. Er benahm sich eher wie ein Midshipman als wie ein Kommandant.

Laut sagte er:»Mit dem macht's Spaß, das steht mal fest!«Doch nur der Wind hörte ihn.

Zweihundert Meilen ostnordöstlich der Brigg und in Unkenntnis der Tatsache, daß Adam von Gibraltar aus zurückbeordert worden war, packte Bolitho die Querreling, als sein Schiff im gleichen Sturm arbeitete.

Der starke Nordwest schien nicht nachlassen zu wollen; als Bolitho sein Teleskop ansetzte, sah er die kleine Rapid, Rumpf und untere Spieren gischtverhangen, in Luv stehen.

Er konnte nur hoffen, daß Quarrell die schweren Zweiund-dreißigpfünder von der Helicon ordentlich verzurrt hatte. Ein Geschütz, das sich im Sturm losriß, konnte töten und verstümmeln wie ein tollwütiges Raubtier. Außerdem mochte es dabei das Oberdeck ruinieren.

Über den stahlblauen Himmel zogen nur wenige Wolkenfetzen. Er sah unten einen Trupp Matrosen unter Aufsicht eines Bootsmannsgehilfen einen Flaschenzug reparieren. Sie waren von Gischt durchnäßt, und das Salz mußte ihnen Durst machen.

Bolitho biß sich auf die Lippen und fragte sich, was aus seiner Selbstsicherheit geworden war. Nachdem sie an Sardiniens zerklüfteter Küste entlang, die selten außer Sicht kam, schon so lange vergeblich nach Süden gesegelt waren, schien die Hoffnung auf ein Rendezvous mit Herricks Geleitzug in immer weitere Ferne zu rücken. Auch seine Vermutung, daß Jobert auf das gleiche Ziel zuhielt, wurde von Tag zu Tag unwahrscheinlicher. Bolitho unterdrückte seine Zweifel, drehte sich um und sah, daß Midshipman Sheaffe und seine Signalgasten ihn beobachteten. Sie senkten sofort die Blicke und beschäftigten sich.

Bolitho ging seine Berechnungen im Geiste noch einmal durch. Der Geleitzug würde sehr langsam, aber stetig vorankommen. Er hatte getan, was er konnte, seinen kleinen Verband so weit aufgefächert, daß die Schiffe gerade noch Kontakt halten konnten. Zum Glück habe ich Barracouta und Rapid, dachte er. Ohne sie.

Er hörte Paget dem Rudergänger etwas zurufen und vernahm die undeutliche Antwort. Paget duldete keine Fisimatenten. Ein guter Mann, dachte Bolitho. Als junger Leutnant hatte er unter Duncan bei Camperdown gekämpft. In der Flotte gab es nicht viele Offiziere, die bei einer solchen Schlacht dabeigewesen waren.

Keen kam zu ihm. Er hatte im Orlop einen Midshipman besucht, der vom Sturm umgerissen worden war und sich beim Sturz ein Bein gebrochen hatte.

Keen starrte mit geröteten Augen nach vorn, und Bolitho fiel ein, daß er seit dem Aufkommen des Sturms das Deck praktisch nicht verlassen hatte.

«Ein seltsamer Tag. «Bolitho lächelte.»Grell und hart wie eine Hafenhure.»

Keen mußte trotz seiner Sorgen lachen. Eigentlich wollte er Bolitho raten, die Suche aufzugeben, denn sie war seiner Ansicht nach schon zu Ende gewesen, ehe sie begonnen hatte. Selbst wenn er Joberts Absichten richtig eingeschätzt hatte, was aber mit jeder qualvollen Meile unwahrscheinlicher schien, würden sie ihn jetzt nicht mehr finden.

Keen wagte nicht an Bolithos Karriere zu denken, wenn das erst herauskam. Es hieß, daß Nelson sich nur mit Glück behauptet hatte — aber Glück war selten.

Bolitho merkte, daß Keen ihn beobachtete, und konnte sich seine Gedanken vorstellen. Er schaute zum kalten Himmel auf und dachte an Falmouth. Vielleicht hatte Belinda seinen Brief inzwischen erhalten oder über seine Verwundung von anderen erfahren. Er dachte auch an das Mädchen mit dem verhangenen Blick und lächelte. Tapfere Zenoria hatte er sie genannt. In dieser Serie von Belastungsproben und Fehlschlägen war sie der einzige Lichtblick.

Keen sah ihn lächeln und wunderte sich. Wie hielt er das nur durch? Er war fanatisch, unbeirrbar, aber das würde ihn auch nicht vorm Kriegsgericht retten.

«Wie geht's dem Jungen? Es war Midshipman Estridge, nicht wahr?»

«Ein glatter Bruch, Sir. Die anderen Verletzten machen Tuson mehr Kummer.»

An einem Neunpfünder arbeitete ein Seemann, der Bo-litho schon aufgefallen war. Er war bis zur Taille nackt, aber nicht aus Angabe, sondern um seine Kleider trocken zu halten. Sein Rücken war von den Schultern bis zum Gürtel mit Narben bedeckt, die den Spuren einer riesigen Kralle glichen. Der Anblick erinnerte Bolitho an Zenoria und das Schicksal, vor dem Keen sie bewahrt hatte.

Doch als Keen jetzt lachte, drehte sich der Matrose um und schaute ihn an. Bolitho hatte kaum jemals einen so haßerfüllten Blick gesehen.

Auch Keen bemerkte ihn und sagte zornig:»Vor jeder Auspeitschung lese ich die Kriegsartikel vor. Verfaßt habe ich die verdammten Paragraphen aber nicht!»

Bolitho fiel erst jetzt auf, daß an den Niedergängen Seesoldaten postiert waren. Keen ging kein Risiko ein. Es war besser, Zwischenfällen vorzubeugen, statt sie zu ahnden.

«Ich gehe nach unten«, sagte Bolitho fest.»Wenn ich mich geirrt habe. «Er zuckte die Achseln.»Dann werden sich manche die Hände reiben. Hoffentlich lassen sie wenigstens meine Familie in Frieden.»

Keen sah ihn mit langen Schritten auf die Leiter zugehen und spürte das Mitleid wie einen Stich, als Bolitho sich an einer Klampe des Besanmastes den Arm stieß.

Paget trat leise neben ihn.»Darf ich fragen, wie Sie unsere Chancen einschätzen, Sir?»

Keen warf ihm einen Blick zu.»Fragen Sie mich das, wenn wir Jobert auf eine Leeküste getrieben haben.»

Beide fuhren herum, als sie unter der Kimm ein Donnergrollen hörten.»Doch nicht auch noch ein Gewitter?«rief Paget ängstlich.

Keen schaute an ihm vorbei. Bolitho, der jetzt seinen alten Degen trug, kehrte aufs Poopdeck zurück, gefolgt von Allday. Er schaute sie an.»Diesmal ist es kein Donner.»

Der Ausguck rief ungläubig:»Kanonenfeuer, Sir! Im Süden!»

Keen starrte ihn an. Wie hatte er das vorhergesehen? Noch vor wenigen Augenblicken mußte er sich geschlagen gefühlt haben. Nun wirkte er sonderbar gelassen. Seine Stimme klang gleichmütig, als er sagte:»Signal ans Geschwader, Mr. Sheaffe: Mehr Segel setzen.»

Die Flaggen wurden hastig hochgezogen, und Bolitho verschränkte die Hände auf dem Rücken, damit sie nicht zitterten.

«Bestätigt, Sir!«Stayt erschien lautlos wie eine Katze.

Das ferne Grummeln rollte übers Wasser heran, seine Ursache lag aber noch weit hinterm Horizont.»Ins Gefecht kommen wir erst morgen vor Sonnenaufgang«, sagte Bo-litho. Dabei mußte er einkalkulieren, daß der Sturm die Schiffe nach Einbruch der Dunkelheit zerstreute. Benbow konnte es leicht mit nordafrikanischen Freibeutern oder Korsaren aufnehmen, hatte aber gegen Joberts Geschwader keine Chance. Er neigte den Kopf, als es wieder donnerte. Nur wenige Schiffe, vielleicht zwei. Was konnte das bedeuten?

«Signal ans Geschwader: Klar zum Gefecht. Die Männer sollen heute nacht bei ihren Kanonen schlafen.»

Als er den Knauf des alten Degens berührte, durchlief ihn ein Schauer. Es kam ihm wie gestern vor, daß er mit Adam in Portsmouth zum Hafen gegangen war. Damals hatte er sich umgedreht, als suche er etwas. Vielleicht hatte er gewußt, daß er die Stadt zum letzten Mal sah.

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