XVI Heißt Gefechtsflagge!

Konteradmiral Thomas Herrick stand in Luv an den Netzen und sah zu, wie die Matrosen der Benbow an den Brassen hievten, um die Rahen zu trimmen, an denen die gerefften Marssegel ausgeschüttelt worden waren.

Bei dem launischen Wind schien alles eine Ewigkeit zu dauern; Segelmanöver hatten den ganzen Tag in Anspruch genommen und ihre Kräfte erschöpft. Nun lag endlich die Südspitze Sardiniens fünfzig Meilen an Steuerbord achteraus. An Backbord hatten sie in vergleichbarer Entfernung Afrika.

In Lee der Benbow rollten die zwei schweren Handels — schiffe Governor und Prince Henry. Über den Wert ihrer Ladung konnte Herrick nur Vermutungen anstellen. Wieder einmal dachte er an Bolithos Gesicht in der Kajüte seines Schiffes, das einmal so stolz seine Flagge geführt hatte. Er konnte die Bitterkeit in seiner Stimme, die rücksichtslose Verachtung, mit der er den ganzen Ausschuß zum Teufel gewünscht hatte, nicht vergessen.

Ein seltsamer Zufall, daß Admiral Sir Marcus Laforey beschlossen hatte, ausgerechnet auf der Benbow nach England zurückzukehren. Die Geschäfte auf Malta hatte er seinem Flaggkapitän überlassen, doch angesichts seiner Eß-und Trinkgewohnheiten war es unwahrscheinlich, daß er jemals dorthin zurückkehren würde.

Herrick hörte, wie sich Kapitän Dewar mit dem Sailing Master unterhielt, und seufzte. Es war Zeit, daß er sich mit seinem Flaggkapitän aussprach, denn Dewar war ein vorzüglicher, gewissenhafter Offizier. Herrick gab sich selbst die Schuld für die Verstimmung zwischen ihnen. Seit der Verhandlung war er miserabler Laune gewesen.

Er spürte Gischt im Gesicht und spähte nach Steuerbord voraus, wo seine einzige Fregatte taumelnd wie ein Schiff in Seenot erneut wendete, um sich in Luv von ihnen zu halten. Es war die Philomel mit sechsundzwanzig Kanonen, die in Malta eigentlich für eine dringend notwendige Überholung vorgesehen war. Doch die bedenkliche Nachricht von Joberts Beutezug war dazwischengekommen.

Herrick verschränkte die Hände auf dem Rücken und dachte an Inch, auch einen langjährigen Freund. Lebte er noch? Kaum vorstellbar, daß er vor den Franzosen die Flagge gestrichen hätte.

Kapitän Dewar trat zu ihm.»Sollen wir für die Nacht beidrehen, Sir?»

Herrick schüttelte den Kopf. Wieder hob sich das Deck unter ihm, und seine stämmigen Beine glichen die Bewegung gewohnheitsmäßig aus. Anders als Bolitho ging er nur selten auf und ab. Er stand lieber fest und spürte sein Schiff, war schon vor langer Zeit zu dem Schluß gekommen, daß er so besser denken konnte.

«Nein, wir brauchen mehr Seeraum. Die Handelsschiffe sollen Laternen setzen, damit wir die Formation halten können. Philomel wird allein zurechtkommen müssen.»

Dewar schätzte die Lage ab wie ein Jäger, der vor dem ersten Schuß einen Finger in den Wind hält.»Glauben Sie, daß Vizeadmiral Bolitho auf Jobert gestoßen ist, Sir?»

«Falls nicht, steht er zumindest zwischen uns und dem Feind. «Plötzlich mußte Herrick an die achthundert Meilen denken, die noch vor ihnen lagen, ehe sie unter den Kanonen von Gibraltar vor Anker gehen konnten. Dort bekamen sie wenigstens eine Atempause und vielleicht eine weitere Eskorte.»Unser Dick schafft es bestimmt«, fügte er hinzu.

Dewar musterte ihn neugierig, schwieg aber. Anscheinend vertrugen sich die beiden wieder.

Gerade als Herrick erwog, sich in seine Kajüte zurückzuziehen, wo Laforey seine Gicht mit Alkohol betäubte, rief der Ausguck:»Geschützfeuer im Westen!»

Der Schall mußte ihn auf seinem hohen Sitz rascher erreicht haben, denn Herrick hörte erst jetzt das ferne Krachen von Kanonen und den vereinzelten Knall leichterer Waffen. Plötzlich wurde sein Kopf so klar, als habe er ihn in Eis wasser getaucht.

«Klar zum Gefecht, Kapitän Dewar. Und Signal an Geleitzug: aufschließen. «Als die Pfeifen schrillten und die sechshundert Matrosen und Seesoldaten der Benbow alles stehen und liegen ließen, um hastig dem Signal der Trommeln zu folgen, fluchte Herrick lautlos in sich hinein: Sonne und Wind — alles war gegen sie. Trotzdem zwang er sich, eine Zuversicht zu zeigen, die er nicht empfand. Auf wen wurde da geschossen? Die Detonationen waren noch weit entfernt, aber der Wind trug ihre düstere Botschaft zu ihnen.

«Philomel soll erkunden, was dort vorgeht. «Nervös verschränkte Herrick die Finger auf dem Rücken. Die kleine Fregatte konnte kehrtmachen und rechtzeitig mit dem Wind fliehen, wenn sie in Gefahr geriet. Schade nur, daß er ihren Kommandant nicht näher kannte. Er hatte lediglich herausgefunden, daß er Saunders hieß. Herrick schritt zur anderen Seite und sah das ihnen fernerstehende Handelsschiff die Bramsegel setzten, um näher aufzuschließen. Mein Gott, sie sehen aus wie schlachtreifes Mastvieh, dachte Herrick deprimiert. Dann hörte er, wie der Erste Offizier die Mannschaft zu besonderer Anstrengung anspornte. Jedem Mann war bewußt, daß sie zwei Admirale an Bord hatten.

Herrick erwog seine Möglichkeiten. Zurück nach Malta? Das war bei günstigstem Wind vierhundert Meilen entfernt, und bei Tageslicht würden die Franzosen ihn bald gefunden haben. Also den gegenwärtigen Kurs beibehalten? Dann bestand immerhin die Chance, daß der Feind von herbeigeeilter Verstärkung in ein Gefecht verwickelt wurde oder daß sie ihm im Schutz der Nacht entkommen konnten.

«Wir drehen über Nacht bei, Kapitän Dewar«, sagte er.

Er wandte sich zum westlichen Horizont, wo der Sonnenuntergang bereits in dunklem Rot glühte, und bemerkte einen nervösen Leutnant aus Laforeys Stab in seiner Nähe. Der Mann sagte schüchtern:»Mein Admiral weiß nicht, wo er bleiben soll, seit das Schiff klar zum Gefecht gemacht hat.»

Herrick verkniff sich eine unhöfliche Entgegnung. Zu viele Ohren hörten mit. Ruhig erwiderte er:»Tut mir außerordentlich leid, aber unter dieser Unannehmlichkeit haben wir alle zu leiden.»

Eine helle Stimme schrillte vom Großmars herab:»An Deck! Zwei Linienschiffe im Westen! Sie führen die französische Flagge, Sir!»

Herrick musterte rasch sein Deck. Alle Geschütze bemannt, die drei Divisionen bereit, an ihren Masten Segel zu kürzen oder zu setzen. Die Seesoldaten kampfbereit an den Finknetzen und in den Marsen. Benbow konnte und würde sich wie schon oft tapfer schlagen. Zum Glück waren in der Mannschaft viele ausgebildete, erfahrene Seeleute. Zwei zu eins: das Kräfteverhältnis war akzeptabel.

Philomels Masten legten sich hart über, als sie sich durch den Wind kämpfte, bis sich auf dem anderen Bug ihre Segel wieder füllten. Herrick lächelte grimmig. Bolitho hatte Fregatten schon immer geliebt, er hingegen bevorzugte ein solides, kraftvolles Linienschiff unter den Füßen.

Wieder meldete sich der Midshipman:»Ein kleines Schiff greift die Franzosen an, Sir!«Seine schrille Stimme überschlug sich.»Eine Brigg, Sir!»

Herrick starrte hinauf zur Bramstenge. Der Kommandant dieser Brigg versuchte, ihn zu warnen.

«Neuer Kurs Südwest zu West!«bellte er und wartete, bis das entsprechende Signal für den Konvoi gesetzt war. Aber:»Was zum Teufel treibt Kapitän Saunders?«rief er, als Phi-lomel abfiel und mit zunehmender Geschwindigkeit auf den Feind zulief.»Rufen Sie diesen Irren zurück! Ich brauche ihn hier!»

Nach einer Weile senkte der Midshipman das Teleskop. »Philomel bestätigt nicht, Sir!»

«Verflucht, sind denn alle blind?«Dabei fiel ihm Bolitho ein, und er schämte sich.»Ändern Sie trotzdem den Kurs, Kapitän Dewar«, fügte er hinzu.

Nach der geringfügigen Kursänderung lagen die beiden Handelsschiffe praktisch querab in Benbows Lee. In dieser Position waren sie geschützter, wenn der Feind seine volle Stärke zeigte.

Laforeys Leutnant erschien, und Herrick funkelte ihn an.»Was gibt's jetzt schon wieder?»

Der Leutnant betrachtete die Stückmannschaften, die sandbestreuten Decks, die aufgepflanzten Bajonette der Seesoldaten.»Mit den besten Empfehlungen von Sir Marcus, Sir…»

Herrick hatte einen Einfall.»Sagen Sie meinem Steward, er soll dem Admiral eine Flasche vom besten Portwein geben. «Als der Leutnant zur Poop hastete, rief er ihm hinterher:»Und noch eine, wenn's sein muß!«Er warf De-war einen Blick zu.»Damit ist ihm wohl das Maul gestopft.»

Vom östlichen Horizont breitete sich die Dunkelheit aus wie ein riesiger Mantel; selbst die Wellenkämme schienen zu schrumpfen, als aus Männern Schatten wurden.

Doch das sporadische Geschützfeuer hielt an: der kurze, scharfe Knall der leichteren englischen Kanonen, gefolgt vom zornigen Brüllen schwerer französischer Geschütze.

Kapitän Dewar nahm von seinem Bootsführer ein Glas Brandy entgegen und sah, daß der Admiral seinem Beispiel folgte.

«Wer sich mit diesen Brocken einläßt, muß ein tapferer Mann sein, Sir. «Der Brandy brannte auf Herricks vom Salz aufgesprungenen Lippen. Es waren zwar mehrere Briggs in diesem Seegebiet gemeldet, doch insgeheim wußte er, wer da alle Vorsicht in den Wind geschlagen hatte, um ihn zu warnen.

«Beim ersten Tageslicht greifen wir an«, sagte er langsam und eindringlich — wie ein Versprechen.

Bolitho zog den Kopf zwischen zwei Decksbalken ein. Das Orlop wirkte mit seinen kreisenden Laternen und tanzenden Schatten nach den langen, offenen Batteriedecks über ihm fast menschenleer. Tusons Assistent umstand mit seinen Gehilfen den improvisierten Tisch, auf dem der Arzt bald seine blutige Arbeit verrichten würde. Frisch geschrubbte Bottiche für die amputierten Gliedmaßen mahnten grimmig an das ihnen allen Bevorstehende.

Carcaud überprüfte seine Instrumente, die im Licht der schwankenden Laternen matt blitzten. Wie die meisten Männer, denen Bolitho auf seinem rastlosen Inspektionsgang begegnet war, wich auch er seinem Blick aus. Sie schienen sich in seiner Gegenwart unsicher zu fühlen und sahen ihn lieber bei seinen Offizieren auf dem Achterdeck.

An der Tür zum Krankenrevier blieb Bolitho stehen und wartete, bis Tuson von seinen Vorbereitungen aufsah. Es roch nach Verbänden und peinlicher Sauberkeit. Der im Augenblick einzige Patient lugte aus seiner Koje: Midship-man Estridge machte sich trotz seines Beinbruchs nützlich; Tuson ließ ihn im Liegen Binden wickeln.

Bolitho nickte ihm zu und sagte dann zum Arzt:»In einer Stunde wird es hell.»

Tuson musterte ihn freudlos.»Wie geht's dem Auge, Sir?»

Bolitho zuckte die Achseln.»Es war schon schlechter. «Für die seltsame Tatsache, daß ihn Gefahr und Tod diesmal völlig kalt ließen, fand er keine Erklärung. Er war auf jedem Deck gewesen und hatte sich allen gezeigt. Wenigstens hier unten, in diesem Raum, den er sonst so fürchtete, hatte er erwartet, Angst zu verspüren. Doch er empfand nur Erleichterung. Wann war er jemals vor einem Gefecht so gleichgültig gewesen? Oder hatte er schon resigniert?

Tuson schaute zur niedrigen Decke auf, die fast sein weißes Haar streifte.»Das Schiff ist so leise.»

Bolitho wußte, was er meinte. Normalerweise verteilten sich die Geräusche der Männer bei ihrer Arbeit, beim Essen und dem täglichen Dienst über das ganze Schiff. Doch seit sie klar zum Gefecht gemacht hatten, kamen alle Geräusche von oben, konzentrierten sich um die Geschütze hinter den noch verschlossenen Stückpforten. Bald würden die Rohre so heiß sein, daß kein Mann es mehr wagen konnte, sie mit bloßen Händen zu berühren.

Die Geräusche von Wind und See klangen hier unten erstickt. Das Schwappen des Bilgenwassers, das gelegentliche Knarren einer Pumpe wirkten gespenstisch. Und seit Einbruch der Dunkelheit war auch der ferne Kanonendonner verstummt. Bolitho kam es vor, als wären sie allein.

Tuson beobachtete ihn. Ihm war bereits aufgefallen, daß Bolitho ein frisches Hemd und Halstuch angelegt hatte und am Uniformrock die glitzernden Epauletten mit den beiden silbernen Sternen trug. Er sann darüber nach. War es Bo-litho denn gleichgültig, daß er ein auffallendes Ziel bot? Wollte er sterben? Oder sorgte er sich so, daß ihm seine eigene Sicherheit nebensächlich vorkam? Er war barhäuptig, sein schwarzes Haar glänzte im zuckenden Lampenschein, und nur die eine Locke, die, wie Tuson besser als jeder andere wußte, eine gräßliche Narbe verbarg, begann zu ergrauen. An Deck würde Allday ihm dann Hut und Degen reichen. Diese stumme kleine Zeremonie war im Geschwader schon fast zur Legende geworden.

«Ich habe Kapitän Inch nach vorn verlegt, Sir«, sagte Tuson.»Dort ist es zwar nicht so bequem — «, kurz musterte er den leeren Operationstisch, um den seine Leute standen oder saßen wie Aasvögel,»aber er ist da besser aufgehoben.»

Die weißen Beine eines Fähnrichs erschienen auf der Leiter.»Empfehlung von Kapitän Keen, Sir Richard, und.»

Bolitho nickte. Das war der kleine Hickling, der ihm, wenngleich ahnungslos, geholfen hatte, Zenoria in Malta vom Schiff zu schmuggeln.»Danke, ich komme. «Er warf dem Arzt einen langen Blick zu. Erst später fiel Tuson auf, daß er in Bolithos Augen keinen Makel gesehen hatte.»Kümmern Sie sich gut um die Leute.»

Tuson sah ihm nach.»Denken Sie lieber an sich selber«, murmelte er.

Gefolgt von einem schnaufenden Hickling, erklomm Bo-litho eine Leiter nach der anderen, bis er auf dem Achterdeck stand. Es war noch dunkel, nur vereinzelte Schaumkronen trennten das Meer vom Himmel. Aber die Sterne waren bereits blasser geworden, und eine muffige Feuchtigkeit kündigte den Morgen an.

Keen wartete an der Reling.»Der Wind hat abgeflaut, Sir, ist aber noch frisch genug, um ihnen Arbeit zu machen. «Daß Hickling Bolitho gefunden hatte, schien ihn zu erleichtern. Noch nie hatte er erlebt, daß Bolitho allein einen Rundgang durchs Schiff machte. Nicht einmal Alldays Begleitung hatte der Admiral geduldet.

Nun hängte ihm der Bootsführer den Degen an den Gürtel, und Ozzard reichte ihm den Hut, ehe er hinunter in den Laderaum huschte, wo er bleiben würde, bis die Schlacht gewonnen oder verloren war.

Bolitho sah den Wirrwarr der Flaggen an Deck, die Vorbereitungen des Signalfähnrichs und seiner Helfer. Auch Stayt war zur Stelle, vermutlich nachdem er sich Zeit zum Laden und Reinigen seiner prächtigen Pistole genommen hatte.

«Jetzt brauchen wir nur noch abzuwarten, Val. «Bolitho dachte an die Schlacht von St. Vincent, in der er seine erste Fregatte befehligt hatte. Damals schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis sich die Flotten einander auf Schußweite genähert hatten. Den ganzen Tag über, oder so war es ihm vorgekommen, hatten sie dem gewaltigen Aufmarsch französischer Masten am Horizont zugesehen: wie Ritter auf dem Schlachtfeld. Der Anblick war schrecklich und furchteinflößend gewesen, doch sie hatten die Schlacht gewonnen — wenngleich zu spät, um den Krieg zu entscheiden.

Keen stand neben ihm und prüfte stumm seine Gedanken auf Schwächen. Das sporadische Feuer war ein klarer Hinweis gewesen, daß der Geleitzug vor ihnen angegriffen wurde. Ließ sich Bolitho Überraschung oder Zufriedenheit anmerken, weil er recht behalten, den Feind gefunden hatte? Jeder ehrliche Mann mußte eingestehen, daß er an der Urteilsfähigkeit des Admirals gezweifelt hatte, als dieser nur auf die Meldung von Rapid hin sein Patrouillengebiet verließ. Doch in der Finsternis sah Keen bei Bolitho lediglich ruhige Entschlossenheit.

Es würde also zum Gefecht kommen. Die Kanonade hatte nicht so geklungen, als wären viele Schiffe beteiligt. Er dachte an Inch, der unten im Orlop den Kampflärm hören würde, unfähig, seinen Freunden zu helfen. Keen hatte ihn besucht, ehe er zu seinen Leutnants in den Batteriedecks ging. Inch war sehr schwach und litt nach den beiden Amputationen große Schmerzen.

Keen brach der kalte Schweiß aus. Er war schon einmal verwundet worden und spürte die Narbe noch immer. Wie konnte es jemand ertragen, auf dem Operationstisch zu liegen und abzuwarten, bis er an die Reihe kam? Erst das Messer, dann die Knochensäge, und vorher der Lederknebel, um die Schreie zu ersticken. Ihm fiel wieder ein, was er zu Zenoria gesagt hatte: Das ist mein Beruf. Jetzt klang es ihm wie Hohn.

Luke Fallowfield, der Sailing Master, klatschte frierend in die Hände, und bei dem Geräusch fuhren mehrere Männer in der Nähe erschreckt zusammen. Wir sind alle nervös, dachte Keen. Das Kräfteverhältnis ist bei dieser Abrechnung Nebensache.

Bolitho sah den ersten schwachen Schein am östlichen Horizont. Viele Augen würden nun auf ihm ruhen, sich ihre Chancen ausrechnen, den Unterschied zwischen Leben und Tod.

Keen schritt zum Kompaß.»Höher an den Wind, Mr. Fal-lowfield. Ruder zwei Strich nach Steuerbord.»

Männer reagierten in der Dunkelheit wie emsige Schatten, und Bolitho war dankbar, daß er den aufmerksamen Keen zum Kapitän hatte. Denn falls sie zu weit nach Osten gerieten, konnten sie nicht mehr rechtzeitig wenden, um den Geleitzug bei Tagesanbruch zu erreichen. Er ballte die Fäuste. Sie brauchten das Licht, aber viele fürchteten den Anblick, der sich ihnen bieten würde.

Der Rudergänger rief:»Neuer Kurs Südsüdwest, Sir! Voll und bei!»

Bolitho hörte das Großbramsegel gereizt schlagen, als Argonaute mit hart angebraßten Rahen höher an den Wind ging. Bald, sehr bald… Fast hätte er es laut ausgesprochen. Keen befahl weitere Ausguckposten in die Toppen, einen davon mit einem Teleskop. Als Bolitho aufschaute, glaubte er, schon die weißen Brustriemen der Seesoldaten in den Marsen ausmachen zu können. Ein Mann streckte sich und gähnte. Diesmal nicht vor Müdigkeit, dachte er. Gähnen war oft das erste Anzeichen von Angst.

Sonderbar, dachte er, wenn ich heute falle, wird man in Falmouth erst nächstes Jahr davon erfahren. Das Weihnachtsfest in dem großen Haus unter Pendennis Castle mochte noch ungetrübt sein, mit Sängern aus der Stadt, die zum Entzücken der kleinen Elizabeth ein Ständchen brachten.

Er riß sich zusammen und befahl:»Heißt Gefechtsflagge!«Die Blöcke der Flaggleinen quietschten, als seine rote Flagge eingeholt und die größte britische Nationale an Bord gehißt wurde. Noch wehte sie im Schutz der Dunkelheit, doch nach Sonnenaufgang mußte Jobert sie sehen. Der Gedanke versetzte Bolitho in eine eigenartige Hochstimmung.

Paget drehte sich um und meldete Vollzug:»Flagge gehißt, Sir Richard!»

Bolitho nickte. Auch Paget wußte, das Warten hatte jetzt ein Ende.

«An Deck! Schiff in Lee!»

«Gut gemacht, Val«, sagte Bolitho.»Unsere Position ist perfekt.»

Ein Kanonenschuß hallte übers Wasser, nur ein einzelner, und Bolitho glaubte, für einen Sekundenbruchteil den Mündungsblitz gesehen zu haben.

«Geleitzug voraus!«schrie ein anderer Ausguck.

«Signal ans Geschwader. «Bolitho schritt ruhelos übers Deck und rieb sich das Kinn. Beim nächsten Ruf des Ausgucks schaute er wieder nach oben.

«Zwei Linienschiffe in Lee!»

«Da haben wir's, Val«, meinte Bolitho.»Zwei von diesen Teufeln. «Er warf Stayt einen Blick zu.»Signal ans Geschwader: Feind in Sicht.»

Als er wieder hinüber nach Lee schaute, leuchtete die Kimm wie eine endlose, rosarote Brücke ins Nichts.

Über den gebraßten Rahen des Fockmastes wehte hell und riesig die Flagge aus, scheinbar unabhängig von dem Schiff, das noch ein wenig länger im Schatten verweilte.

«Greifen wir an, Sir?«Das war Stayt.

Bolitho öffnete den Mund um zu antworten, schloß ihn aber wieder. Zwei Linienschiffe. Nicht die Anzahl mißfiel ihm, sondern ihr Kurs. Hier stimmte etwas nicht. Irgendein Instinkt warnte ihn.»Nein. Das Geschwader hält die Formation. «Er drehte sich nicht um, als abermals Geschützfeuer vom Wind herangetragen wurde.

Einige Seesoldaten in den Toppen stießen Hochrufe aus. Ihre wilden Stimmen übertönten den Lärm von Wind und Segeln. Bolitho lockerte seinen Degen in der Scheide, ohne überhaupt zu merken, was er tat. Vor der Schlacht. Alle Ressentiments, alle Entbehrungen würden bald vergessen sein. So war das bei der Royal Navy.

Wieder fiel ein Kanonenschuß, diesmal aber achteraus, vom eigenen Geschwader.

«Pest noch mal, wer war das?«rief Keen.

«Icarus, Sir«, rief Stayt.

Während das erste Morgenlicht die Masten und Rahen der beiden Schiffe in ihrem Kielwasser streifte, kletterte er in die Wanten.

«Signal von Icarus, Sir: Feind im Nordosten gesichtet.»

Keen starrte ungläubig hinüber.»Das kann doch nicht wahr sein!»

Bolitho trat an die Reling und umklammerte sie fest.»Informieren Sie Barracouta und Rapid.«Als die atemlosen Signalgasten weitere Flaggen setzten, ging er an die Wanten, wo Stayt sich mit gekrümmtem Arm festhielt und sein Teleskop ausrichtete.

«Drei Linienschiffe, Sir. «Er bewegte beim Entziffern der Flaggensignale von Icarus die Lippen.»Und zwei andere Schiffe.»

Bolitho fand sich damit ab, obwohl sein Geschwader nun von feindlichen Schiffen in die Zange genommen wurde. Die beiden zuerst gesichteten Fahrzeuge mußten zufällig hier eingetroffen oder von einem anderen Admiral aus ihrem Versteck beordert worden sein. Doch Jobert war da, und das Kräfteverhältnis hatte sich plötzlich zu ihren Ungunsten verändert. Drei gegen fünf, darunter Joberts schwerbestückter Dreidecker. Bei den beiden kleineren, noch nicht identifixierten Schiffen mußte es sich um Fregatten handeln. Englands Chancen standen schlecht, aber er hatte nun keine andere Wahl. Er sah den Rand der Sonnenscheibe über die Kimm steigen und die Segel von Freund und Feind golden färben. Im Fernrohr erkannte er den dichtgedrängt fahrenden Geleitzug, und beim Anblick des vertrauten Umrisses der Benbow wurde ihm eng ums Herz. Ihre Stückpforten standen bereits offen.

Auf den beiden Franzosen blitzte es mehrmals auf; dünne Fontänen wuchsen zwischen den Wellenkämmen empor und wurden vom Wind zerfetzt.

Joberts Geschwader mußte rasch an der anderen Küste Sardiniens entlanggesegelt sein und dabei die Helicon mit ihren Verwundeten versenkt haben. Es lag an Backbord achteraus und war vom Achterdeck noch nicht sichtbar. Die anderen beiden Schiffe näherten sich von Steuerbord und nahmen die Benbow unter Beschuß, vermutlich mit Kettenkugeln, um sie zu entmasten oder wenigstens kampfunfähig zu machen. Jobert würde ihr dann den Rest geben.

Weitere Kanonenschüsse. Bolitho richtete das Fernrohr auf eine kleine Fregatte, die hinter den beiden Linienschiffen aufgetaucht war. War dies das andere Begleitschiff des Konvois, das den Feind herausgefordert und ihn um seinen Überraschungseffekt gebracht hatte? Die Fregatte trieb steuerlos und praktisch entmastet ab. Sie mußte versucht haben, dem Feind von hinten zuzusetzen wie der Terrier dem Bären, aber in Reichweite seiner Heckgeschütze gekommen sein.

Ein Seesoldat rief:»Da ist noch ein Schiff!»

Bolitho sah weitere Segel sich füllen und verkürzen, als dicht bei der zerschossenen Fregatte eine Brigg auftauchte.

Ausgeschlossen! Einen Moment lang geriet Bolitho völlig aus dem Konzept. Das war doch Adams Brigg Firefly, die da mit ihren winzigen Vierpfündern dem Feind trotzig Kugeln entgegenspuckte, ohne ihn aber vom Angriff ablenken zu können!

Benbow wendete, und die Sonne fiel auf ihre schwarzen Rohre, als sie dem Feind die Flanke bot. Die zwei Geschützreihen spuckten grelle, orangerote Zungen, und der Rauch wehte binnenbords, als sei Herricks Schiff getroffen worden.

«Klar zum Angriff auf Joberts Geschwader!«rief Bolitho.

Herrick würde sich selbst verteidigen müssen; und die Schatzschiffe konnten warten.

Keen legte die Hände um den Mund:»Mr. Paget, gehen Sie über Stag auf Steuerbordbug!«Er trat an den Kompaß, als sich die Männer in die Brassen warfen.

«Neuer Kurs Nordost, Mr. Fallowfield. «Er gab schon das nächste Kommando, als noch das erste Signal auswehte:»Schlachtlinie formieren!»

Das Deck neigte sich unter dem Druck des Ruders und der Segel, und Bolitho sah erst Joberts eines Schiff und dann das andere in sein Blickfeld gleiten.

«Kurs Nordost liegt an, Sir!»

Wir haben den Windvorteil, dachte Bolitho, aber nicht lange. Dann war jedes Schiff auf sich allein gestellt.

Neuer Kanonendonner vom Geleitzug, doch Bolitho ignorierte ihn. Er bekam kurz Dispatch zu sehen, die schwerfällig halste, um ihrem Flaggschiff zu folgen. Icarus achteraus von ihr war noch unsichtbar, doch jeder Kommandant wußte, was auf dem Spiel stand. Auch Joberts beide Fregatten hielten sich bereit zum Zustoßen, falls eines der größeren Schiffe manövrierunfähig geschossen wurde.

«Signal an Barracouta: Ran an den Feind!»

Besorgt schaute Keen ihn an, doch Bolitho hielt seinem Blick stand.»Lapish muß sein Bestes geben.»

Ein scheinbarer Zweidecker, der plötzlich mehr Segel setzte und eilig ins Gefecht eingriff, mochte den Feind verwirren. Wenn Lapish das Überraschungsmoment nutzte, konnte er Jobert einige Spieren herunterschießen, es sei denn. Bolitho wagte nicht, an das fürchterliche Risiko zu denken, das er Lapish da aufbürdete.

Er hörte Allday scharf mit Bankart flüstern und sah, wie der Junge trotzig den Kopf schüttelte. Er wich nicht von der Stelle. Was es ihn auch kosten mochte, am meisten fürchtete er, sich seine Angst anmerken zu lassen.

Bolitho schob sein Teleskop durch die geteerten Wanten. Erst tauchten vertraute Gesichter auf, dann fand er den Feind. Da war das Flaggschiff, dessen springender Leopard im Schein der steigenden Sonne wild und lebendig wirkte. Vom Besanmast wehte die Flagge des Konteradmirals.

Keen gesellte sich zu ihm und trommelte mit den Fingern einen stummen Rhythmus auf den Griff seines Degens.

«Wir müssen ihm Einhalt gebieten, Val«, sagte Bolitho.»Jobert wird alles riskieren, nur um an das Gold heranzukommen.»

Keen nickte, war aber von der jähen Wendung noch verwirrt. Zunächst die Genugtuung über ihr rechtzeitiges Eintreffen, und nun schien angesichts der neuen Gefahr sogar ihr Überleben fraglich zu sein.

Bolitho setzte das Glas ab.»Laden und Ausrennen. Dann — «, er warf Stayt einen Blick zu,»setzen Sie das Nahkampfsignal. «Er reichte das Fernrohr Sheaffes kleinem Helfer.»Das brauche ich nicht mehr. «Rasch entfernte er sich von den anderen und starrte auf die blaue Wasserwüste hinaus. Doch sah er dabei nur ihre Gesichter vor sich: Montresor, Houston, Lapish, Quarrell — und Adam, der mit dreiundzwanzig sein erstes Schiff führte. Hatte er vielleicht schon wie Inch für seinen Wagemut bezahlt?

Er sah nach oben, als das Signal für Nahkampf gesetzt wurde, und erinnerte sich an andere Schlachten, in denen Männer und Jungen wie diese hier gestorben waren, damit Englands Stern nicht sank. Als vom Geleitzug erneut Schüsse herüberschallten, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß sein Haß und seine Verbitterung verschwunden waren. Gefühle waren ein Luxus, den sich nur die Lebenden leisten konnten.

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