Bolitho schritt übers Poopdeck und beobachtete die drei Linienschiffe in ihrem Kielwasser. Zwei lange Tage waren vergangen, seit sie vor Spithead Anker gelichtet hatten, und abgesehen vom Exerzieren mit Segeln und Geschützen hatte nur wenig das Einerlei unterbrochen.
Inchs Helicon lag direkt achteraus, in Kiellinie folgten Dispatch und Icarus, die dazu allerdings erst ein paar unverblümte Rüffel vom Flaggschiff hatten erhalten müssen. Sie mußten jetzt lernen, auf Station zu bleiben und jedes Signal ohne Verzögerung zu beantworten. Später hatten sie für so etwas keine Zeit.
Weit an Steuerbord stand in Luv die einsame Fregatte Barracouta, bereit, vorm Wind heranzueilen, ein gesichtetes Schiff zu überprüfen oder ihre größeren Begleiter zu unterstützen. Bolitho konnte sich alle Schiffe mit ihren Kommandanten vorstellen, obwohl er letztere vor dem Auslaufen nur kurz gesprochen hatte. Die Brigg Rapid und der verwegene kleine Kutter Supreme liefen dem Flaggschiff weit voraus und fungierten als seine Augen und Aufklärer.
Bolitho hatte die Lagebesprechung Keen überlassen, als sich die Kommandanten in der Messe der Argonaute versammelten. Ansprachen, die nur einen Selbstzweck erfüllten, haßte er. Wenn sie erst Gibraltar erreicht hatten, würde er genauer wissen, was von ihnen erwartet wurde; dann konnte er den anderen seine Absichten darlegen.
Inchs Gesicht war vor Freude ganz zerknittert, als er von Bolitho an Bord willkommen geheißen wurde. Verändert hatte er sich nicht. Er war immer noch so eifrig und vertrauensselig, daß Bolitho seine Zweifel nie mit ihm hätte teilen können. Inch würde allem zustimmen, was er tat, und ihm selbst bis an die Pforten der Hölle folgen.
Bolitho wandte sich um und sah den Matrosen bei der Arbeit auf dem Batteriedeck zu. Ihm waren mehrere Gesichter aufgefallen, die er noch von Achates her kannte. Zu Keen hatte er bemerkt, es ehre den Kommandanten, daß sie sich freiwillig zum Dienst unter ihm gemeldet hatten. Daß Keen in sich hineingelächelt hatte, war ihm entgangen. Und der Gedanke, die Männer könnten sich vielleicht ihres Ad-mirals wegen gemeldet haben, kam Bolitho überhaupt nicht.
Er hatte den leichtfüßigen, verwachsenen Stückmeister Crocker wiedergesehen, der damals den Großmast weggesprengt und so das Gefecht beendet hatte. Auch er war unverändert, abgesehen von einer neuen Uniform. Er war nun Maat und selten weit entfernt, wenn an den Stücken exerziert wurde.
Auf dem Backbord-Seitendeck sah er Allday mit einem Jungen, den er für den neuentdeckten Sohn hielt. Unglaublich! Er fragte sich, wann Allday sich dazu durchringen würde, ihn in der Achterkajüte zu präsentieren. Allday kannte besser als jeder andere Bolithos Widerwillen gegen Vetternwirtschaft und würde bestimmt den richtigen Zeitpunkt wählen.
Vom Vorschiff schlug es zwei Glasen, und Bolitho bewegte sich unruhig. Er fühlte sich von diesem Schiff und den anderen, die seiner Flagge folgten, seltsam distanziert. Keen und seine Offiziere kümmerten sich um alles; Tag für Tag wurde die Besatzung der Argonaute dazu ermuntert und angetrieben, ein gutes Team zu bilden. Die Zeit, die das Klarmachen zum Gefecht, das Reffen oder Setzen der Segel in Anspruch nahm, wurde minutenweise verkürzt, aber Bo-litho konnte an alledem nur aus der Ferne teilhaben.
Die Stunden zogen sich träge dahin, und er beneidete Keen und die anderen Kommandanten, die ihre Tage mit Arbeit ausfüllen konnten.
Er ging zur anderen Seite und starrte auf die stumpfe graue See und die anrollenden Wellenkämme hinunter. Hundert Meilen querab lag Lorient. Brest, wo dieses Schiff gebaut worden war, hatten sie in der Nacht passiert. Ob Argonaute das wohl gespürt hatte?
Seltsamerweise war auch Inchs Helicon eine französische Prise, hatte aber einen neuen Namen erhalten, wie es Sitte war, wenn der Feind schlecht gefochten hatte.
Bolitho berührte die Finknetze. Von Argonaute konnte das niemand behaupten. Sie hatte von Anfang bis Ende tapfer gekämpft. Nelson mußte die Beherrschung des Mittelmeers schwerfallen, wenn der Feind über mehr Admirale von Joberts Schlag verfügte.
«An Deck! Rapid signalisiert, Sir!»
Bolitho schaute hoch zum Ausguck in seinem schwankenden Krähennest. Der Wind war umgesprungen und kam nun direkt von achtern. Er öffnete den Mund, doch Keen war schon zur Stelle.»Aufentern, Mr. Sheaffe, aber flott!»
Bolitho sah den schlanken Midshipman rasch die Wanten erklimmen. Er war sechzehn, sah aber älter aus und alberte in seiner Freizeit oder auf Hundewache nur selten mit den anderen» jungen Gentlemen «herum.
Bolitho fragte sich kurz, ob sich auch Adam so ernst verhalten hätte, wenn er sein Sohn gewesen wäre.
Endlich war Sheaffe in der Lage, sein großes Signalfernrohr auszurichten, und rief hinunter:»Von Supreme, wiederholt von Rapid, Sir!«Aller Augen ruhten auf seiner verkürzten Silhouette. Die Wolken schienen dicht überm Masttopp dahinzujagen.»Im Süden Segel gesichtet!»
Keen schaute Bolitho an.»Franzosen, Sir?»
«Das möchte ich bezweifeln«, meinte Bolitho.»Gestern sahen wir Teile unseres Blockadegeschwaders. An dem müßte sich der Feind erst vorbeigestohlen haben. «Er lächelte über Keens Miene. Der Mann war enttäuscht.
«Supreme soll nachsehen«, befahl Bolitho.»Sie trägt zwar nur Spielzeugkanonen, läuft aber jedem anderen Schiff davon.»
Entsprechende Signalflaggen wurden gehißt und flatterten steif im Wind. Rapid gab das Signal an den Kutter weiter, der außer Sicht des Flaggschiffs stand. Bolitho wußte, daß Hallowes zum Leichtsinn neigte, und hoffte, daß er sich vorsah. Wenn nicht, würde sein neues Kommando nur kurzlebig sein.
Da hörte er neben sich Schritte und sah seinen Flaggleutnant die Signalgasten kritisch mustern. Als Sheaffe wieder an Deck rutschte, sagte Stayt:»Immer langsam. Das muß noch besser klappen, Mr. Sheaffe, oder Sie bekommen es mit mir zu tun.»
Bolitho schwieg. Immerhin fand Stayt nichts dabei, den Sohn eines Admirals zurechtzuweisen.
«Wer das auch sein mag, er wird abdrehen und fliehen, Sir«, bemerkte Stayt jetzt.
Bolitho nickte. Falls es ein Handelsschiff gleich welcher Nationalität war, würde der Kapitän seine besten Seeleute nicht an ein Kriegsschiff verlieren wollen.
Er dachte über Stayt nach, dessen kranker Vater die Seefahrt aufgegeben hatte und Land beim Flecken Zennor bewirtschaftete. Stayts Brüder waren Geistliche, aber der Leutnant hätte in eine Soutane nicht gepaßt. Er war dunkelhäutig und hatte braune, ruhelose Augen wie ein Zigeuner. Zwar sah er nicht so gut aus wie Keen, hatte aber die markanten Züge, die Frauen anziehend fanden. Bolitho wußte, daß Stayt immer eine Pistole unter der Jacke trug, und hätte ihn gern nach dem Grund gefragt. Seltsam, als rechne er ständig mit Ärger.
Sheaffe sprach eindringlich mit seinem Helfer und erkletterte dann rasch die Wanten zum Besanmast. Die meisten Fähnriche hätten Stayts Bemerkung einfach hingenommen, aber Sheaffe war gekränkt. Ein Midshipman war weder Fleisch noch Fisch, er stand zwischen den Offizieren und Matrosen und genoß von keiner Seite viel Respekt. Seltsam nur, daß sie das sofort vergessen, sobald sie Leutnants werden, dachte Bolitho.
«Von Supreme, Sir!«Sheaffes Stimme klang scharf.»Es ist die Orontes!»
«Eines der Sträflingsschiffe«, meinte Keen.»Sie lief zwei Tage vor uns aus. «Er sah Bolitho fragend an.»Merkwürdig.»
«Von Supreme, Sir: Schiff bittet um Beistand.»
«Signal an Supreme.«Keen hatte Bolitho nicken gesehen.»>Beidrehen und auf Flaggschiff warten.<«Er wartete ab, bis das Signal gesetzt worden war, dann ließ er an alle signalisieren: «Mehr Segel setzen.<»
Stayt schob sein Teleskop mit einem vernehmlichen Schnappen zusammen.»Geschwader hat bestätigt, Sir.»
Bolitho sah zu, wie die Matrosen rasch in die Wanten stiegen und auf den Rahen auslegten, um mehr Segel zu setzen. Die anderen Schiffe folgten Argonautes Beispiel. Zwar drohte keine offenkundige Gefahr, aber das Geschwader mußte seine Formation halten. Bolitho kannte sich mit tückischen Fallen aus, seinen eigenen und denen des Feindes. Er riskierte nichts.
Das Deck vibrierte, und Gischt sprühte über die Bugreling, als Argonaute auf den zusätzlichen Segeldruck reagierte.
«Wir erreichen sie um die Mittagszeit, Sir. «Keen überwachte das Setzen jedes einzelnen Segels; er rief:»Fockbrasse in Luv dichter holen, Mr. Chaytor! Ihre Gang ist heute konfus!«Er setzte den Schalltrichter ab. Am Trupp des Leutnants gab es nicht viel auszusetzen, doch es konnte nicht schaden, ihn ein wenig schärfer anzufassen. Bolithos Lächeln verriet Keen, daß er durchschaut worden war.
Luke Fallowfield, der Sailing Master, {Segelmeister, Skipper: zuständig für Navigation und Seemannschaft} sah in die prallen Segel und stellte einen weiteren Mann an das große Doppelruder. Er war schon auf anderen Flaggschiffen Master gewesen, aber nirgends war es zugegangen wie auf dem Bolithos. Die meisten Admirale blieben in ihren Kajüten, dieser aber nicht. Fallowfield war kleinwüchsig und gebaut wie ein Faß, sein Kopf saß direkt auf den Schultern wie ein großer roter Kürbis. Er war ein schlampiger Klotz von Mann, der meist eine Rumfahne hinter sich herzog, doch seine Kenntnisse in Navigation waren unerreicht.
Bolitho begann sich an ihre Gesichter und die Art, wie sie mit Vorgesetzten und Untergebenen umgingen, zu gewöhnen. Ohne diese Kontakte hätte er sich in sein abgeschirmtes Quartier verbannt gefühlt. Insgeheim mußte er zugeben, daß er mit seinen Gedanken nicht allein sein wollte.
Mit jeder Stunde wurde Orontes größer, ragte höher aus dem grauen Wasser. Die in der Nähe beigedreht liegende Supreme blieb Zuschauerin.
Sobald Argonaute auf Signaldistanz herangekommen war, bemerkte Keen:»Die haben ihr Ruder verloren, verflucht!»
«Der andere Transporter war ein ehemaliger Indienfahrer und in gutem Zustand. «Stayt verzog verächtlich den Mund.»Aber der da ist eine Hulk. Zum Glück meint es die Biskaya gut mit ihnen.»
Bolitho griff nach einem Fernrohr und beobachtete den langsamen Signalaustausch. Stayt hatte mit seinem Urteil recht: Die Orontes sah aus wie ein Sklavenschiff, nicht wie ein Transporter der Regierung.
«Wenn wir sie in Schlepp nehmen, Val, reduzieren wir unsere Stärke und verzögern unser Vorankommen. «Bolitho sah Keens Bestürzung.»Aber aufgeben können wir sie auch nicht.»
«Wir kriegen Sturm, Sir. «Fallowfield starrte die Offiziere ausdruckslos an.»Da bin ich ganz sicher.»
«Das entscheidet den Fall. «Bolitho verschränkte die Arme.»Schicken Sie ein Boot hinüber und stellen Sie fest, was aus ihrem Begleitschiff, der Philomela, geworden ist. «Er sah Big Harry Rooke, den Bootsführer, seine Mannschaft heranwinken. Pech, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig.»Wir eskortieren sie nach Gibraltar.»
«Mit ihr im Schlepp brauchen wir aber Tage länger, Sir«, wandte Keen ein.
Das war typisch Keen; er konnte es nicht abwarten, an den Feind heranzukommen.
Der Erste Offizier kletterte hinunter in das wartende Boot, das bald rasch auf das treibende Schiff zuhielt.
Was für ein schlechter Anfang der Reise, dachte Bolitho, versuchte aber, den Gedanken zu verdrängen und sich auf Wichtigeres zu konzentrieren. Wenn er das Geschwader verließ und mit Barracouta oder Rapid vorausfuhr, konnte es während seiner Abwesenheit bei einem Überraschungsangriffunterliegen. Ein kaum ausgebildetes Geschwader ohne Admiral würde die Franzosen gewiß anlocken, wenn sie davon erfuhren.
Er kam zu einem Entschluß.»Signal an Barracouta: >zu Flaggschiff aufschließen, erwarte Kommandant an Bord<. «Schon hatte er das jungenhafte Gesicht von Lapish vor Augen, der dankbar sein würde, seine schwerfälligen Gefährten loszuwerden.
«Und jetzt Signal an Helicon«, fuhr Bolitho fort.»Sie soll sich bereitmachen, Orontes in Schlepp zu nehmen. «Inch war der bei weitem erfahrenste Kommandant des Geschwaders, aber selbst dieser loyale Mann würde ihm für den Auftrag nicht danken.
Den Rest des Tages nahm die Herstellung einer Schleppverbindung zu dem steuerlosen Schiff in Anspruch, und Inchs Matrosen mußten hart zupacken. Als die Schiffe wieder einigermaßen in Formation segelten, war Barracouta schon weit entfernt und kam bald außer Sicht. Lapish brachte Depeschen von Bolitho zum Gouverneur und Oberbefehls — haber von Gibraltar, damit man dort wenigstens erfuhr, warum das Geschwader verspätet eintreffen würde.
Die Nacht senkte sich herab. Als Bolitho in seine Kajüte ging, sah er, daß der Tisch liebevoll gedeckt war, Decksbalken und Mahagonipaneele schimmerten im Schein der schaukelnden Laternen und neuen Kerzen.
Die Arbeit mit Orontes hatte Bolitho Appetit gemacht. Er hatte es genossen, seinem Geschwader einmal bei einer anderen Beschäftigung als nur dem Exerzieren an Kanonen und Segeln zuzuschauen.
Ozzard betrachtete ihn zufrieden. Schön, daß Bolitho wieder besserer Stimmung war. Er wollte mit dem Kommandant und dem neuen Flaggleutnant speisen. Was letzteren betraf, hielt Ozzard sein Urteil noch zurück. An Leutnant Stayt war etwas Falsches, entschied er, wie an dem Anwalt, für den er früher gearbeitet hatte.
«Ihr Bootsführer wartet, Sir Richard«, sagte Ozzard.
Bolitho lächelte.»Gut.»
Allday stand achtern an den großen, schrägen Heckfenstern. Jetzt drehte er sich zu Bolitho um und legte grüßend die Hand an die Stirn. Selbst diese Geste führte er mit Würde aus, dachte Bolitho, weder unterwürfig noch gleichgültig.
«Wie geht's voran?«Bolitho ließ sich in den neuen Sessel fallen und streckte die Beine aus.»Wann bekomme ich deinen Sohn zu sehen?»
«Morgen vormittag, wenn's recht ist, Sir Richard«, erwiderte Allday. Selbst der Titel kam ihm leicht über die Lippen. Allday schien stolzer auf ihn zu sein als sein Träger.»Er ist ein guter Junge, Sir. «Das klang etwas besorgt.»Ich habe mich nur gefragt…»
Ah, nun kam er zum Kern der Sache.»Raus damit, alter Freund«, meinte Bolitho ermunternd.
«Danke, Sir. «Allday setzte noch einmal an.»Ab und zu tut mir die Wunde noch weh, Sir.»
«Aha. «Bolitho schenkte zwei Gläser Rotwein ein.»Rum ist leider keiner in Reichweite. «Ein Grinsen erhellte Alldays gebräuntes Gesicht. Bolitho rührte nie Rum an. Aber er wußte, daß Allday ihn bevorzugte.
«Ich will meine Pflicht tun, Sir, wie immer. Aber irgendwie.»
«Irgendwie glaubst du, ich brauchte einen zweiten Bootsführer?«fragte Bolitho sanft.
Allday starrte ihn ehrfürchtig, erstaunt, dankbar an.»Der Herrgott segne Sie, Sir. Damit wäre dem Jungen geholfen, und ich könnte ihn im Auge behalten.»
Keen trat ein und blieb an der Tür stehen.»Verzeihung, Sir. «Er fand es ganz natürlich, daß der vierschrötige Bootsführer ein Glas mit seinem Admiral trank. Keen hatte guten Grund, Allday zu respektieren. Als er unter Bolitho als Midshipman an einem Gefecht teilgenommen hatte, war er durch einen großen Holzsplitter im Unterleib verwundet worden. Der Schiffsarzt der Fregatte war ein Säufer gewesen, also hatte Allday den halb bewußtlosen Midshipman unter Deck geschleppt und ihm den Splitter selbst herausge — schnitten. Das hatte Keen das Leben gerettet. Nein, vergessen konnte er das nie, besonders, da der Respekt nun auf Gegenseitigkeit beruhte.
Bolitho lächelte.»Wir sind schon fertig, Val. Mit Ihrer Einwilligung würde ich gern, äh…«Er warf Allday einen Blick zu.»Wie heißt er?»
Allday starrte auf seine Füße.»John, Sir, wie ich. Und mit Nachnamen Bankart, so wie seine Mutter.»
Keen nickte, ohne eine Miene zu verziehen. Hogg, sein Bootsführer, hatte ihn bereits informiert.
«Ein zweiter Bootsführer für mich«, sagte Bolitho.»Gute Idee, nicht?»
«Vorzüglich«, erwiderte Keen ernst.
Sie blickten Allday nach, als dieser ging.»Mein Gott, er sieht sogar aus wie ein Vater!«meinte Keen.
«Kennen Sie diesen Bankart?«fragte Bolitho.
Keen nahm von Ozzard ein Glas entgegen und hielt es ans Licht.»Ich sah ihn bei der Vereidigung, Sir. Er ist ungefähr zwanzig und diente vor dem Frieden auf der Süperb. Führte sich ganz ordentlich.»
Bolitho schaute beiseite. Keen hatte Bankart also schon überprüft. Um sich selbst zu decken oder Allday?
«Die Orontes treibt mich zur Verzweiflung, Sir«, wechselte Keen das Thema.»Ihr Kapitän kümmert sich nicht um Inchs Anweisungen, und mir platzt bald der Kragen. «Er betrachtete Bolitho nachdenklich.»Ich hätte gut Lust, morgen an Bord zu gehen.»
Bolitho lächelte.»Ja, ich glaube auch, daß mein Flaggkapitän mehr ausrichten kann als Inchs Offiziere.»
Stayt betrat die Kajüte und gab Ozzard seinen Hut. Auch er hatte sich anscheinend mit der Orontes befaßt.
«Ich weiß jetzt, weshalb der andere Transporter ohne Orontes weitersegelte, Sir. «Als er sich vorbeugte, um einen Stuhl heranzuziehen, wurde kurz die blanke Pistole unter seinem Rock sichtbar. »Philomela transportiert nicht nur Menschen, sondern auch Gold. Der Zahlmeister für New South Wales ist an Bord.»
Bolitho rieb sich das Kinn. Merkwürdig, das war bisher nicht erwähnt worden.
«Hat wohl Angst, sein Geld auf einem Kriegsschiff zu überführen, was?«fragte Keen bitter.»Der Feigling fürchtet ein Gefecht.»
Ozzard drückte sich an der anderen Tür herum. Er hatte alles mitangehört, würde es aber für sich behalten. Über das Gold wußte er wie der Rest des Geschwaders längst Bescheid. Komisch, daß die Offiziere so etwas immer als letzte erfuhren.
«Dinner ist serviert, Sir«, verkündete er lammfromm.
Als Bolitho am folgenden Morgen an Deck kam, sah er sofort, wie sehr der Sturm der vergangenen Nacht sein Geschwader gebeutelt hatte. Nun, da jeder Kommandant bemüht war, sein Schiff wieder auf Station zu bringen, flaute der Wind ebenso boshaft zu einer leichten Brise ab, so daß die schweren Schiffe mit killenden Segeln hilflos in den Wellentälern rollten. Keen schaute finster hinüber zur Oron-tes. Er hatte in der Nacht die Schlepptrosse loswerfen lassen, um eine Kollision zu vermeiden. Nun mußte die ganze Arbeit noch einmal bewältigt werden.
Der Flaggkapitän war verärgert.»Lassen Sie meine Gig aussetzen. Ich fahre hinüber. «Er nahm dem Midshipman der Wache das Teleskop ab und richtete es auf den treibenden Transporter.»Ich habe bereits mit meinem Zimmermann gesprochen, Sir Richard. Mit seiner Hilfe hoffe ich, den Kapitän der Orontes zur Anfertigung eines Notruders überreden zu können.»
Auch Bolitho studierte das andere Schiff. An Deck schien es von Menschen zu wimmeln; ob das Matrosen oder Sträflinge waren, ließ sich nicht beurteilen. Da aber drüben niemand zu arbeiten schien, sagte er leise:»Nehmen Sie ein paar Seesoldaten mit, Val.»
Keen setzte sein Fernrohr ab und schaute ihn an.»Aye, Sir. «Die Sache schien ihm unangenehm zu sein.»Da drüben wird sogar getrunken, Sir. Um diese Tageszeit!»
Die Gig und ein Kutter wurden zu Wasser gelassen, während das Flaggschiff in den Wind ging und beidrehte. Seine aufgegeiten Segel schlugen.
Keen eilte schon zur Schanzkleidpforte.»Gehen Sie mit ihm, Mr. Stayt«, befahl Bolitho.»Mag sein, daß Sie heute mehr als nur Seemannschaft lernen.»
Keen wartete ungeduldig, bis ein Trupp Seesoldaten unter Leutnant Ord geräuschvoll in den Kutter geklettert war. Ord war ein hochmütiger junger Mann, den es offensichtlich störte, daß sein makelloser roter Rock bei der Überfahrt naß werden würde.
Keen salutierte zum Achterdeck und kletterte dann rasch an der Bordwand hinunter zu Hogg in seiner Gig. Während der Überfahrt warf er einen Blick achteraus und sah sein Schiff sich sanft in der Dünung wiegen. Bolitho stand kerzengerade an der Heckreling. Die Argonaute wird ihm treu dienen, dachte Keen. Das bin ich ihm schuldig.
Sein Bootsführer stieß einen unterdrückten Fluch aus, als die Gig an Orontes' Bordwand entlangschrammte, und streckte den Bootshaken nach einem Rüsteisen aus. Der Kutter, von einer jähen Welle erfaßt, wurde vorbeigetragen. Die Seesoldaten sahen amüsiert zu, wie die Rudergasten sich bemühten, ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Stayt trat zur Seite, um Keen als ersten das Fallreep erklimmen zu lassen. Nach der lebhaften Bewegung und der überkommenden Gischt wirkte das breite Deck der Orontes fast träge und windstill.
Überall lungerten Menschen herum, an Deck und in der Takelage. Einige trugen Waffen, aber der Rest wirkte, als sei ein Gefängnis geleert worden.
Doch Keen sah nur das Drama, das sich unter der Poop abspielte: die schräg aufgeriggte Gräting und den riesigen, brutalen Bootsmannsgehilfen mit der langen Peitsche, der auf den Delinquenten hinabstarrte.
Keen haßte dieses grausame Ritual und seine Notwendigkeit noch mehr. Seit er als junger Midshipman seiner ersten Bestrafung beigewohnt hatte, war er wie die meisten Offiziere bemüht gewesen, der Disziplin zuliebe seine Abscheu zu unterdrücken. Doch dieser Fall lag anders. Als er die mit ausgestreckten Armen und Beinen an die Gräting gefesselte Gestalt betrachtete, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
«Mein Gott, Sir, das ist ja ein Mädchen!«rief ein Matrose hinter ihm.
Sie war bis fast zu den Hinterbacken entkleidet. Gesicht und Schultern verhüllte ihr Haar, und die Arme hatte sie ausgestreckt wie gekreuzigt.
Keen trat vor, doch ehe er intervenieren konnte, hob der Bootsmannsgehilfe den Arm und ließ mit einem Knall, der an einen Pistolenschuß erinnerte, die neunschwänzige Katze auf den Rücken des Mädchens niedersausen.
Keen sah, wie sich ihr Rücken wölbte, wie ihre zerrissene Kleidung noch tiefer rutschte. Sie schrie jedoch nicht, denn die Wucht des Schlages hatte ihr den Atem genommen. Dann trat langsam eine hellrote Linie auf der Haut hervor, die sich von einer nackten Schulter bis zur anderen Hüfte hinzog, und Blut sickerte ihr über den Rücken. Als der Mann wieder den Arm hob, begann sie, sich in ihren Fesseln zu winden.
«Aufhören!«rief Keen scharf. Er spürte Stayt neben sich, wandte aber den Blick nicht von der Szene. Um sich herum und über sich hörte er Protest, der wie Gebell klang. Das Publikum war wütend und enttäuscht, es hatte sich auf die Auspeitschung gefreut., «Mr. Stayt!«sagte Keen in die plötzliche Stille hinein.
«Wenn dieser Mann die Peitsche auch nur hebt, erschießen Sie ihn!»
Stayt, der die Pistole bereits gespannt in der Hand hatte, trat vor. Er hob den Arm, aber nicht wie ein Mann, der in die Schlacht geht, sondern wie ein Duellant, der seine Waffe für den einzigen, entscheidenden Schuß ausrichtet.
Ein korpulenter Mann in blauem Rock drängte sich mit vor Empörung bibbernden Hängebacken zu Keen durch. Keen musterte ihn gelassen, obwohl ihn die kalte Wut für alles andere blind machte — abgesehen von dem Wunsch, diesem Kapitän ins Gesicht zu schlagen.
«Verdammt, was machen Sie da?«Der Mann konnte sich vor Wut und Trunkenheit kaum artikulieren.
Keen erwiderte seinen zornigen Blick.»Ich bin der Flaggkapitän des Admirals. Sie mißbrauchen Ihre Macht, Sir. «Zu seiner Erleichterung hörte er die Seesoldaten an Bord klettern — endlich! Inch hatte seine Männer offenbar vor dem Sturm abgezogen. Einen Augenblick später, und er, Stayt und die anderen wären überwältigt worden.
Leutnant Ord schien unfähig, auf die Lage zu reagieren, doch Blackburn, sein stämmiger Wachtmeister, schnarrte:»Bajonett pflanzt auf! Wer sich rührt, wird niedergestochen!«Blackburn traute keinem, der nicht den roten Rock der Royal Marines trug.
Der klirrende Stahl schien den häßlichen Kapitän zu schockieren.
«Sie ist eine verdammte Diebin«, sagte er beschwichtigend.»Nichts als eine gewöhnliche Hure. Auf meinem Schilf herrscht Ordnung und Disziplin! Wenn es nach mir ginge.»
Er verstummte, als Keen befahl:»Schneidet sie los und deckt sie zu.«»Sie ist ohnmächtig, Sir«, rief ein Matrose. Keen zwang sich, zur Gräting hinüberzugehen. Er sah, wie sie in ihren Fesseln hing, wie das Blut ihr Rückgrat entlangrann. Ihre Brüste waren gegen das Gitter gepreßt, und er konnte ihr Herz schlagen sehen. Sie war ohnmächtig geworden, aber der Schmerz würde geduldig auf sie warten.
Hogg erschien an Deck, und Keen hörte, wie er sein Entermesser in die Scheide steckte. Er mußte mit dem Schlimmsten gerechnet haben, um die Gig im Stich zu lassen und ungebeten an Bord zu kommen. Jetzt schnitt er die Fesseln durch und fing die Frau auf. Die Fetzen ihrer blutgetränkten Kleider verfingen sich an seinen Armen, als er ihren Körper dem Blick der stummen Zuschauer verbarg.
«Ich habe einen Arzt an Bord«, sagte der Kapitän gepreßt.
Keen musterte ihn.»Den kann ich mir vorstellen. «Auf Keens Blick hin wich der Mann zurück, als hätte er darin gesehen, in welcher Gefahr er schwebte.
«Bringen Sie die Frau in die Gig und rudern Sie zurück zum Schiff, Hogg. Sie begleiten ihn, Mr. Stayt. «Er entdeckte Groll in den dunklen Augen des Leutnants. Stayt wollte den Mann mit der Peitsche wohl erschießen, wollte irgend jemanden töten. Keen kannte diesen Blick. Habe ich ihn vielleicht auch? fragte er sich.
«Also, Kapitän Latimer. «Keen war selbst überrascht, daß er sich an den Namen dieses Mannes erinnerte, den er eben noch hatte niederschlagen wollen.»Sie werden nun Ihre besten Leute ein Notruder bauen lassen. Falls erforderlich, stelle ich Ihnen weitere Männer zur Verfügung, aber ab sofort wird keine Zeit mehr vergeudet, ist das klar?»
«Und das Mädchen?«Wieder schimmerte bei Latimer die Wut durch.»Ich bin für alle Seelen an Bord verantwortlich.»
Keen musterte ihn kalt.»Dann sei Gott ihnen gnädig. Kapitän Inch hat die Ehefrauen von Garnisonsoffizieren in Gibraltar an Bord. Sie werden sich um die Kleine kümmern, nachdem mein Schiffsarzt sie untersucht hat.»
Der andere Mann wußte, daß seine Autorität von Sekunde zu Sekunde schwand.»Dafür werden Sie noch von mir hören, Kapitän.»
Keen hob die Hand und sah, wie der andere zusammenzuckte. Doch er faßte sich nur an den blauen Aufschlag und antwortete:»Und Sie von mir, verlassen Sie sich drauf.»
Ein weiteres Boot kam längsseits, und er hörte den Zimmermann der Argonaute mit seiner Gang an Bord klettern. Da wandte er sich ab. Er wurde an Bord des Flaggschiffs für ein Dutzend Aufgaben gebraucht, doch ein letzter Einfall bewog ihn, sich umzudrehen.
«Falls Sie sich einbilden, Kapitän Latimer, daß es bis Australien ein langer Weg ist, dann möchte ich Ihnen doch versichern, daß Sie noch nicht mal Gibraltar zu sehen bekommen, wenn Sie Ihre Macht noch einmal mißbrauchen.»
Schweratmend kletterte er hinunter in seine Gig und vermutete, daß seine Hände zitterten. Der Midshipman starrte ihn an. Er mußte fast alles beobachtet haben.
«Sie sind ja heute ganz Auge, Mr. Hext«, meinte Keen.
Hext, der erst dreizehn war, nickte und schluckte.»Verzeihung, Sir — aber ich, ich.»
«Heraus damit, Mr. Hext.»
Hext wurde knallrot, weil er wußte, daß die Rudergasten ihn beim Pullen anschauten.
«Als ich das sah, Sir, wollte ich Ihnen beistehen.»
Keen, der die Aufrichtigkeit des Jungen rührend fand, lächelte. Wie es hieß, schrieb Hext oft an seine Eltern, obwohl sich nur selten Gelegenheit zum Postaufgeben bot.
«Haben Sie nie Angst, den Hilflosen zu helfen, Mr. Hext. Merken Sie sich das gut.»
Der Midshipman umklammerte die Pinne und starrte zu den turmhohen Masten des Flaggschiffs auf.
«Riemen hoch!«rief er mit heller Stimme.
Diesen Augenblick würde er nie vergessen.