VII Streichen oder sterben?

Das Knallen von Supremes Vierpfündern war ohrenbetäubend. Da sie von Land umgeben waren, hallte es von allen Seiten wider, als lieferten sich zwei Schiffe ein Gefecht.

Bolitho packte Bankarts Arm.»Los, rede!»

Bankart berichtete, daß die Kartätschengeschosse wie stählerne Dreschflegel in das erste französische Boot gefahren waren. Er konnte gerade noch aufsteigende weiße Gischt ausmachen und den jähen Lichtblitz einer explodierenden Laterne, ehe die Nacht alles wieder verhüllte.

«Nur ruhig Blut, Jungs!«schrie Hallowes.»Auswischen und nachladen!»

Bolitho neigte den Kopf und hörte jemanden schreien, andere brüllend im Wasser um sich schlagen. Sie mußten mit ihrer Breitseite eines der Boote völlig vernichtet haben. Eine einsame Stimme brüllte Befehle.

«Die Boote verteilen sich, Sir«, flüsterte Bankart.

«Schade, daß sie nicht versuchen, ihre Kameraden zu retten«, grollte Okes.»Mit der nächsten Breitseite hätten wir sie dann erwischt.»

«Batterie klar zum Feuern, Sir!»

«Feuer!«Geschütz nach Geschütz brüllte auf, und die Männer husteten und würgten, als der Pulverdampf binnenbords geweht wurde. Bolitho griff nach seinem Verband. Durch ihn hindurch hatte er Licht gesehen. Nicht viel, eher wie Blitze hinter einem Vorhang. Aber immerhin etwas.

Musketenkugeln pfiffen über sie hinweg, einige trafen den Rumpf. Den vom Mündungsfeuer geblendeten Offizieren fiel es nun schwerer, die feindlichen Boote auszumachen.

«Was siehst du?«fragte Bolitho.

Bankart berichtete:»Eines läuft an Steuerbord direkt auf uns zu, Sir.»

Bolitho umklammerte seinen Degen so fest, daß der Schmerz ihn beruhigte. Er hörte, wie um ihn herum Männer flüsterten, Entermesser zischend gezogen wurden, wie man Piken an die Geschützbedienungen ausgab.

«Ziel auffassen!»

Wieder und wieder zerfetzten die Vierpfünder die Nacht, und ihre Geschosse peitschten das Wasser. Doch keines fand ein Ziel.

«Ich habe im Mündungsfeuer ein französisches Boot ganz nahe gesehen, Sir!«sagte Bankart aufgeregt.

Bolitho wandte den Kopf. Wo waren die anderen?

«Enterer abwehren!«Hallowes brüllte wie damals, als er mit Adam die Argonaute geentert hatte.»Drauf, Männer!»

Bolitho hörte das dumpfe Poltern der Draggen, Schreie, die scheinbar zu seinen Füßen aufstiegen, das Klirren von Stahl und mehrere Schüsse. Ob von Freund oder Feind, konnte er nicht sagen.

Ein Mann prallte gegen ihn. Bankart zerrte Bolitho beiseite.»Zurück, Sir! Den hat's erwischt!»

«Nach Backbord, Jungs!«brüllte jemand.

Bolitho biß die Zähne zusammen, als um ihn herum weitere Kugeln einschlugen. Wie erwartet, hörte er ein Boot krachend gegen das Heck prallen. Die Schreie und Flüche der Enterer und Verteidiger steigerten sich noch, als sie mit Klingen, Äxten und Piken in den Nahkampf gingen; zum Nachladen war keine Zeit geblieben. Bolitho wurde erneut beiseitegestoßen, zwei Gestalten kämpften miteinander, während er sich ans Schanzkleid preßte. Er erwartete nun jeden Augenblick den Hieb oder Stich einer Klinge. Ein Mann schrie fast vor seinem Gesicht; er konnte sein Entsetzen, seinen Schmerz spüren, ehe ein gräßlich dumpfer Schlag ihn zum Schweigen brachte. Wie oft hatte Allday ihn so beschützt, einem Angreifer mit dem Entermesser den Schädel gespalten.

«Danke, Bankart«, sagte er.

Stayt keuchte:»Ich bin's, Sir. Sah aus, als wären Sie umzingelt. «In Hüfthöhe knallte eine Pistole, und Stayt sagte grimmig:»Da, du Dreckskerl!»

«Sie weichen zurück!»

Jemand stieß ein heiseres Hurra aus, und Bolitho hörte Männer polternd in ein Boot fallen und andere in dem Versuch, den wütenden Engländern zu entkommen, ins Wasser springen.

«Weg da, Trottel!«brüllte Okes.»Laß mich an die Drehbasse!»

Bolitho hörte Riemen schlagen und wußte, daß er nun direkt auf eines der französischen Boote hinabschauen konnte — wenn er Augen zum Sehen gehabt hätte.

Stayt zog ihn am Arm zurück.»Vorsicht!»

Die Drehbasse ging mit einem gewaltigen Knall los. Einen Sekundenbruchteil zuvor hatte Bolitho geglaubt, einen flehenden Schrei gehört zu haben, als ein Franzose erkannte, was Okes vorhatte.

«Da unten kann keine Seele mehr am Leben sein«, sagte Stayt leise. Bolitho, dem die Explosion noch in den Ohren klang, verstand ihn kaum.

Eine Pfeife schrillte, und er hörte Hallowes rufen:»Feuer einstellen!«Dann, mit fast brechender Stimme:»Gut gemacht, Jungs!»

«Wir haben ein paar Männer verloren«, berichtete Stayt.»Aber nicht zu viele.»

«Ruhe an Deck!»

Die jähe Stille war fast noch schlimmer. Bolitho hörte Verwundete stöhnen und schluchzen. Wie sollte ihnen ohne Schiffsarzt geholfen werden?

In der Ferne klatschten Ruder ins Wasser — es war also noch ein weiteres Boot dagewesen, vielleicht sogar mehrere. Ohne Sheaffes Warnung hätten die Franzosen den Kutter überrannt.

Supremes Leute brachen immer wieder in Hochrufe aus. Bolitho spürte, wie der Schmerz zurückkehrte, und hätte gern den Kopf in den Händen vergraben. Aber er ahnte, daß Stayt ihn beobachtete.

«Holen Sie bitte Leutnant Hallowes. «Er unterdrückte ein schmerzliches Aufstöhnen.»Wo ist Bankart?»

«Irgendwo«, erwiderte Stayt beiläufig. Mehr sagte er nicht.

Hallowes trat vor Bolitho hin.»Hier bin ich, Sir.»

Bolitho tastete nach seiner Schulter.»Das war tapfer.»

«Ohne meine Männer…«sagte Hallowes heiser.

Bolitho schüttelte ihn sanft.»Die Männer waren tapfer, weil sie Achtung vor Ihnen haben. Sie haben sie geführt, die Mannschaft folgte nur, wie sie es gelernt hat.»

Hallowes schwieg, und Bolitho wußte warum. Er lernte den Stolz und die Pein eines Befehlshabers kennen.

«Die Franzosen kommen bestimmt zurück«, sagte Hallowes.

«Heute nacht nicht mehr. Dank Sheaffe waren ihre Verluste zu hoch.»

Hallowes' Stimme klang, als grinse er.»Mit Verlaub, Sir, es war Ihre Idee.»

Bolitho schüttelte ihn an der Schulter, schien Körperkontakt zu brauchen. Ohne ihn fühlte er sich völlig abgeschnitten.»Rufen Sie ihn längsseits. Kann sein, daß wir dieses Boot brauchen.»

Stayt kehrte zurück und half Bolitho, sich sitzend gegen einen Niedergang zu lehnen. Alles redete durcheinander, Freunde suchten einander, andere saßen schweigend da und dachten an einen Kameraden, der gefallen oder schwer verwundet war.

Bolitho wußte, daß sie der Fregatte am nächsten Tag nicht würden standhalten können. Nachdem sie so blutig zurückgeschlagen worden waren, würden die Franzosen nun auf Rache aus sein und kein Pardon geben. Er spürte die anderen Offiziere in seiner Nähe. Was würde Hallowes tun?

«Was raten Sie, Sir?«fragte er.

Bolitho hielt sich die Hand vor die Augen, haßte den Anblick, den er bieten mußte.

«Wir müssen einen Ausbruchversuch wagen.»

Hallowes schien erleichtert.»Das wollte ich selbst vorschlagen, Sir.»

Seltsamerweise hatte Bolitho während dieses kurzen, heftigen Gefechts, bei dem er noch nicht einmal Zuschauer gewesen war, völlig die Orientierung verloren. Der Landvorsprung, das Kliff am anderen Ende der Bucht, die Felsenriffe — wo lagen sie?

«Mr. Okes…»

Okes rülpste, und Bolitho roch Rum. Der Mann hatte sich einen wohlverdienten Schluck genehmigt, wie Allday es nennen würde. Der Gedanke erinnerte ihn an Bankart. Wo war er geblieben? Inzwischen befand er sich wieder in der Nähe; er hatte seine Stimme mehrere Male gehört. Hatte er sich aus Feigheit verkrochen? Im Gefecht hatte jeder Angst. Er dachte an Allday und versuchte den Vorfall wie etwas Schmutziges zu verdrängen.

Okes schwatzte weiter.»Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, lasse ich jetzt das zweite Boot holen. Wir könnten Supreme klarwarpen. Der Wind hat etwas rückgedreht, wenn auch nur wenig, aber unser Prachtstück braucht ja nicht viel.»

«Danke, Mr. Okes«, sagte Hallowes.»Bitte kümmern Sie sich darum.»

Okes ging davon, und Bolitho konnte sich seine dicken Beine in den weißen Strümpfen vorstellen.»Dieser Mann ist Gold wert«, bemerkte er.

«Die anderen sind fort, Sir«, sagte Stayt.

Bolitho lehnte sich zurück und versuchte den Schmerz zu ignorieren, an etwas zu denken, das ihn ablenkte. Aber es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Der Schmerz wurde eher schlimmer, und Stayt merkte das. Er fragte leise:»Sollen wir mit den Franzosen verhandeln, Sir? Vielleicht kann ihr Schiffsarzt Ihnen helfen.»

Bolitho schüttelte heftig den Kopf.

«Ich mußte das erwähnen, Sir. «Stayt stand auf und lehnte sich ans Schanzkleid.»Vergeben Sie mir.»

Er dachte an Bolithos fanatische Entschlossenheit. Wenn der Mann nur schlafen und seinen Schmerzen entgehen könnte!

«Die beiden Boote kommen, Sir!«rief jemand. Bolitho rührte sich und verlangte nach Stayts Hand.»Helfen Sie mir auf!»

Stayt seufzte. Vielleicht hielt Bolitho mit dieser Kraft nicht nur sich, sondern auch die ganze Mannschaft zusammen.

Es war etwas Unwirkliches an der Art, wie die erschöpfte Mannschaft der Supreme sich anschickte, den Anker zu lichten. Bolitho blieb am Niedergang und versuchte, sich das Deck des Kutters vorzustellen. Unterhalb des langen Bugspriets lagen die beiden Schleppboote bereits in Position, bemannt mit den stärksten Seeleuten. Die Lotgasten flüsterten auf dem Vorschiff miteinander, und hinter sich hörte Bo-litho Okes die Rudergänger vergattern, während Hallowes' Aufmerksamkeit den Segeln galt. Jemand fluchte, weil eine französische Kanonenkugel ein Loch ins Bramsegel gerissen hatte, durch das zwei Leute gepaßt hätten.

Er versuchte ruhig zu bleiben, als Männer sich an ihm vorbeidrängten, als existiere er nicht.

Ein Decksoffizier rief gedämpft:»Anker ist kurzstag, Sir!«Bolitho fröstelte, als eine warme Brise die losen Taljen klappern und das Deck krängen ließ. Laut Hallowes lag der nächste Strand nur eine Kabellänge entfernt. Die Franzosen mußten dort Männer zurückgelassen haben und würden bald erraten, was Hallowes versuchte.

Okes sagte:»Klar bei Halsen und Schoten!«»Hol dicht — fier weg!«rief Hallowes.»Noch zwei Männer an die Backbordbrassen!«»Anker ist frei, Sir.»

Bolitho drehte den Kopf und versuchte, jedem neuen Geräusch ein Bild zuzuordnen. Der Anker wurde aufgeholt und gesichert, das Deck von losen oder gerissenen Leinen klariert. Fast die gesamte Besatzung war nun entweder in den Booten beschäftigt oder hielt sich bereit zu Segelmanövern. Wenn es zum Kampf kam, konnten sie von Glück sagen, wenn auch nur eine einzige Kanone rechtzeitig feuerte.

Okes zischte:»Abfallen, Junge!«Das Steuer knarrte, und Bolitho hörte das ungeduldige Killen eines Segels, an dem der Wind zupfte.

Ein Mann schrie schrill und eindringlich auf, doch seine Stimme klang erstickt, weit entfernt, und Bolitho begriff, daß es sich um einen der Schwerverwundeten unter Deck handelte. Der Schrei wurde höher, dünner, und Bolitho hörte einen Matrosen, der in seiner Nähe arbeitete, einen fürchterlichen Fluch ausstoßen, in dem er den Unbekannten drängte, doch endlich zu sterben und Ruhe zu geben. Der Schrei verstummte, als hätte der Verwundete die Verwünschung gehört. Zumindest für ihn war alles vorbei.

«Recht so!«Okes hob die Stimme, als der Kutter Fahrt aufnahm; die Riemen der beiden schleppenden Boote peitschten das Wasser wie Flügel. Nun mußten sich die Schlepptrossen aus dem Wasser heben und steifkommen. Sie hatten wieder Ruder im Schiff, und Okes' Stimme klang atemlos und zuversichtlich:»Gut gemacht, Jungs.»

«Wir müssen die erstbeste Durchfahrt nehmen, Sir. «Hallowes war neben ihn getreten.

Bolitho hatte ihn nicht kommen gehört.

«Ich habe Männer am Anker postiert, die ihn sofort werfen, wenn es Ärger gibt«, fuhr Hallowes fort und lachte in sich hinein.»Noch mehr Ärger.»

«Wie lange kann das dauern?«fragte Stayt.

«Bis wir frei sind«, versetzte Hallowes. Bolitho stellte sich vor, wie er unablässig in die Runde schaute, während sein Schiff qualvoll langsam vorankam. Die Pumpen knarrten. Bolitho vermutete, daß Supreme stark leckte.

«Fünf Faden!«rief der Lotgast.

Bolitho dachte an die Zeit, als er mit zwölf Jahren zum ersten Mal auf ein Schiff gekommen war. Wie der kleine Duncannon, dachte er, zu jung zum Sterben. Er konnte sich noch entsinnen, wie die Lotgasten im Nebel vor Land's End die Tiefe ausgesungen hatten. Die Marsstengen und nassen Segel des großen Linienschiffes Manxman waren von Deck aus schon nicht mehr zu erkennen gewesen.»Sechs Faden!»

Der Kutter hatte mehr als genug Wasser unterm Kiel, auch wenn sich seine Bilgen allmählich füllten.

Die Franzosen wissen nun Bescheid, dachte Bolitho, können aber nicht viel unternehmen. Das Geräusch der Pumpen und die Rufe der Lotgasten würden Supremes Vorankommen verraten.

Stayt wartete, bis Hallowes nach achtern gegangen war, dann sagte er: «Supreme ist zwar klein, Sir, aber in diesen Gewässern kommt sie mir vor wie ein Ungetüm.»

Längsseits platschte es, und Bolitho wußte, daß der seinen Wunden erlegene Seemann ins Wasser geworfen worden war, ohne Gebet, ohne Zeremonie. Doch wenn sie das lebend überstehen sollten, würden die Männer an ihn denken, selbst jene, die ihn verflucht hatten, weil er nicht schnell genug gestorben war.

Bolitho hob die Hand an den Augenverband, als neue Schmerzen seine Willenskraft auf die Probe stellten. Sie kamen in Wellen. Wie lange konnte er das noch aushalten? Und was sollte er danach tun?

«Sieben Faden! Sandiger Grund!»

Sie hatten das Lotblei unten mit Talg präpariert, an dem der Sand haften blieb.

Hallowes sprach wieder mit Okes.»Sollen wir die Boote jetzt einnehmen und mehr Segel setzen, Mr. Okes?»

Die Antwort konnte Bolitho nicht verstehen, doch sie klang zweifelnd. Zum Glück war Hallowes klug genug, sich auf Okes' Können zu verlassen.»Gut, warten wir noch«, sagte er. Das Deck neigte sich leicht, und er fügte aufatmend hinzu:»Bei Gott, der Wind räumt! Zur Abwechslung haben wir mal Glück.»

Nach einer Stunde, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, fiel die Gig zurück zum Zeichen, daß ihre Mannschaft abgelöst werden mußte. Die zurückkehrenden Matrosen waren völlig erschöpft und sanken wie tot aufs Deck. Als nächste kam die Jolle an die Reihe. Bolitho hörte Sheaffe mit dem einzigen Gehilfen des Masters sprechen. Dann kam er nach achtern und sagte:»Melde mich zurück, Sir.»

Das klang so förmlich nach allem, was der junge Mann vollbracht hatte, daß Bolitho seinen Schmerz und seine Verzweiflung vergaß.

«Großartige Leistung, Mr. Sheaffe. Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte der Feind uns überrannt. «Er hörte, wie Sheaffe sich zähneklappernd ein Hemd überzog.»Ruhen Sie sich aus. Bald werden Sie wieder gebraucht.»

Sheaffe zögerte und setzte sich dann zu Bolitho aufs Deck.

«Störe ich Sie auch nicht, Sir?«fragte er.

Bolitho wandte sich ihm zu.»Ihre Gesellschaft ist mir willkommen. «Er lehnte sich an den Niedergang und versuchte, nicht an die nächste Schmerzwelle zu denken. Sheaffe hatte die Knie an die Brust gezogen und war im Nu eingeschlafen.

Später ging Bankart neben ihm in die Hocke und flüsterte:»Ich habe Wein für Sie, Sir. «Er wartete, bis Bolitho den Pokal gepackt hatte.»Mr. Okes schickt ihn.»

Bolitho nahm einen Schluck: starker, süßer Madeira. Er leerte den Pokal langsam, ließ sich vom Wein wärmen und stärken. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Es mußte lange her sein. Vielleicht kam ihm der Madeira deshalb so stark vor. Er berührte sein Gesicht unter dem Verband. Mehrere Schnittwunden, geronnenes Blut. Außerdem hatte er dringend eine Rasur nötig. Aber darum würde sich Allday bald kümmern. Er war stark und mächtig wie eine Eiche und doch sanft wie ein Kind, wenn's darauf ankam. Bolitho und Keen hatten Grund, das nicht zu vergessen.

«Wie fühlt man sich, wenn man seinen Vater wiederfindet, Bankart?»

Die Frage schien dem Jungen peinlich zu sein.»Gut, Sir, wirklich gut. Meine Mutter wollte nie über ihn reden. Ich wußte aber, daß er bei der Marine war, Sir.»

«Haben Sie sich deshalb freiwillig gemeldet?»

Eine lange Pause.»Könnte man sagen, Sir.»

Bankart füllte den Pokal noch einmal, und als Sheaffe geweckt wurde, um in der Jolle wieder das Kommando zu übernehmen, war Bolitho umgesunken und schlief.

Okes verließ seine Rudergänger, trat zum Niedergang und blickte zufrieden auf den Vizeadmiral hinab.

«Schläft er endlich?«fragte Hallowes.

Okes putzte sich mit einem roten Taschentuch vernehmlich die Nase.

«Aye, Sir. Kein Wunder nach dem, was ich ihm in den Madeira getan habe.»

Bolitho spürte eine Hand auf seinem Arm und fuhr auf.»Es dämmert, Sir«, sagte Stayt.

Bolitho faßte sich an den Verband, bemüht, sich seine Qualen nicht anmerken zu lassen.»Wie sehe ich aus?»

Stayts Stimme klang, als lächle er.»Ich habe Sie schon in besserer Verfassung erlebt, Sir. «Er nahm Bolithos Hand.»Hier ist eine Schüssel mit warmem Wasser und so was wie ein Handtuch.»

Bolitho nickte dankbar und beschämt zugleich, als er sich mit dem nassen Tuch übers Gesicht fuhr. Es war nur eine Kleinigkeit, aber sie rührte ihn.

«Sagen Sie mir, was sich tut.»

Stayt dachte nach.»Wir haben ungefähr eine Meile zurückgelegt, Sir. «Das klang weder verbittert noch überrascht.»Im Augenblick sind wir über einer Untiefe. «Er verstummte, als der Lotgast aussang:»Drei Faden!»

Bolitho vergaß seine Schmerzen und raffte sich auf. Nur drei Faden Wasser, und sie waren eine Meile von ihrem letzten Ankerplatz entfernt. Er spürte den Wind im Gesicht, als er den Kopf übers Schanzkleid hob, hörte das Klatschen der Riemen. Einer der Bootsführer gab den Takt an. Die Mannschaft muß völlig verausgabt sein, dachte er.

«Ist es schon hell?»

«Ich kann das Kliff sehen, Sir, und gerade eben den Horizont. Der Himmel sieht finster aus. Ich glaube, wir bekommen viel Wind.»

Hallowes rief:»Weckt die Freiwache! Wir setzen Segel.»

Das Deck hob sich in der Dünung, und Bolitho wurde die Kehle eng. Das offene Meer erwartete sie. Die knarrenden Pumpen, die zerfetzten Segel würden sie nicht behindern, wenn sie erst einmal Seeraum gewonnen hatten, Bewegungsfreiheit.

«Ruft die Boote zurück!«befahl Hallowes.

Pfeifen schrillten, und jemand stieß einen spöttischen Hochruf aus, als die Schleppleinen schlaff wurden und die Ruderer über den Riemen zusammensanken.

«Fünf Faden!«Männer hasteten an ihm vorbei, als erst das eine und dann das andere Boot an Bord gehievt wurde.

Der Kutter schien sich zu rühren, und Bolitho hätte gerne die Männer auf den Rahen auslegen gesehen. Hoch über ihm knallte laut ein Segel in der feuchten Luft.

«Untiefe Steuerbord voraus!»

«Pest und Teufel!«brüllte Hallowes.»Klar zum Ankern!»

Okes flüsterte rauh:»Lassen Sie das, Sir! Wir schwojen und laufen auf Grund, wenn wir ankern.»

Jetzt war Hallowes konfus.»Wenn Sie meinen?»

Doch Okes handelte bereits.»Einen Strich anluven! Recht so!«Er mußte die Hände an den Mund gelegt haben, denn seine Stimme dröhnte übers ganze Deck.»Hoch mit dem Klüver, Thomas.»

«Geht das schon wieder los?«Stayts Stimme klang gefährlich kühl.»Untiefen! Verflucht, ich kann sogar Brecher sehen!«Er fügte hinzu:»Verzeihung, Sir, aber ich bin so etwas nicht gewöhnt.»

Bolitho hob das Kinn, um nachzuprüfen, ob er durch den Verband Licht erkennen konnte. Doch alles blieb dunkel.»Ich auch nicht.»

«Ruder in Lee!«bellte Okes.

Bolitho hörte erschreckte Ausrufe, als die Supreme mit einem heftigen Ruck eine Sandbank berührte. Gerät rollte an Deck herum, und ein Vierpfünder bäumte sich auf seiner Lafette auf, als sei er plötzlich zum Leben erwacht. Das Schaben und Rucken schien eine Ewigkeit zu dauern, in deren Verlauf Okes seinen Rudergängern zuredete und hin und wieder den Decksoffizieren einen Befehl gab.

Dann hörte das Rütteln auf, sie schwammen wieder, und kurz darauf rief jemand:»Die Pumpen schaffen es noch, Sir!»

Durch die Zähne sagte Stayt:»Das war ein verdammtes Wunder. Eine Armlänge querab lagen Felsen, aber wir haben nur Sand berührt.»

«Vier Faden!«Der Lotgast mußte fast von seinem unsicheren Sitz geschleudert worden sein, dachte Bolitho. Doch sie waren durch.

«Marssegel los!»

Auf offener See konnte den Kutter trotz seines beschädigten Rumpfes kein anderes Schiff einholen.

Die Männer tauschten erleichterte Rufe. Für den Augenblick waren Angst und Gefahr vergessen.»Unser Arzt wird schon wissen, was für Ihre Augen zu tun ist«, sagte Stayt.»Sobald wir das Flaggschiff sichten…«Er brach ab.»Das kann doch nicht wahr sein!»

«Segel in Luv, Sir!»

Bolitho war fast dankbar, daß er ihre entsetzten Gesichter nicht sehen mußte. Der französische Kommandant war nicht so leichtsinnig gewesen, hinter dem Landvorsprung zu warten, sondern war in der Nacht und während Hallowes' Männer sich an den Riemen abplagten, luvwärts zu dem Kliff, an dem er zuerst erschienen war, aufgekreuzt. Nun hatte er den Wind im Rücken und hielt rasch auf sie zu. Am Osthorizont, wo es dämmerte, waren nur seine vollgebraßten Marssegel sichtbar.

Bolitho mußte sich die Lage nicht erst von Stayt beschreiben lassen. Er erkannte ihre Hoffnungslosigkeit, als sähe er sie mit Hallowes' Augen. Nur eine Meile weiter, und sie hätten den Kanonen der Fregatte entkommen können. Doch nun lagen sie trotz der leicht veränderten Windrichtung noch immer vor einer Leeküste, und beide Schiffe liefen auf einen unsichtbaren Treffpunkt zu. Diesmal gab es kein Entkommen.

«Heißt Gefechtsflagge, Thomas!«rief Hallowes.»Kanonen laden und ausrennen!»

Als die Männer eilig gehorchten, wurde sich Bolitho der Stille bewußt: kein Gebrüll, keine Drohungen und ganz bestimmt keine Hochrufe. Die Männer, die dem sicheren Tod ins Auge sahen, arbeiteten zwar noch gut, waren aber im Geiste anderswo.

«Bankart!»

«Zur Stelle, Sir.»

«Geh unter Deck und hole mir Hut und Rock.»

Er mochte schmutzig und blutverschmiert sein, war aber immer noch ihr Admiral. Er konnte nicht zulassen, daß sie ihn schon jetzt geschlagen sahen.

Ein dreifaches Krachen. Die Fregatte hatte mit ihren Buggeschützen bereits das Feuer eröffnet. Aber die Kugeln warfen noch weit entfernt Fontänen auf.

Bolitho hörte Okes murmeln:»Werden Sie sich zum Kampf stellen, Sir?»

«Soll ich vielleicht die Flagge streichen?«Hallowes schien ganz ruhig. Oder war er schon jenseits aller Emotionen?

Weitere Schüsse ließen die Luft erzittern. Bolitho hörte eine Kugel diesmal in der Nähe einschlagen und Wassertropfen wie Schrot durch die Wanten prasseln.

«Einen Strich anluven, Mr. Okes!«Hallowes zog seinen Degen. Bolitho dachte an seinen und fragte sich, was aus ihm werden würde. Er beschloß, ihn ins Wasser zu werfen, wenn er noch genug Zeit und einen Funken Leben im Leib hatte.

Eine Serie von Explosionen ließ Stayt unterdrückt fluchen. Eine Kugel fetzte durch ein Segel und zertrennte ein Stag wie Nähgarn.

«Feuern in der Aufwärtsbewegung!»

«Wir haben noch keine Chance, Sir!«sagte Stayt heftig.»Diese Spielzeugkanonen tragen nicht weit genug!»

«Das ist eben Hallowes' Art«, versetzte Bolitho.»Es gibt keinen anderen Weg.»

«Feuer!»

Die Vierpfünder kamen im Rücklauf auf ihren Lafetten binnenbords, aber ihre Explosionen verhallten fast unge-hört, als die Fregatte erneut feuerte. Das Deck bäumte sich auf, und Holzsplitter flogen über die geduckten Engländer hinweg.

Dann fuhr eine zweite Salve in die Takelage, und ein Mann fiel schreiend ins Meer. Supreme machte trotz des gerissenen Segels so viel Fahrt, daß er bald weit achteraus versank.

«Wie sieht's aus?»

«Es wird heller, Sir«, sagte Stayt tonlos. Weitere Kugeln schlugen dichtbei ins Meer, und eine traf mit einem Ruck, der durch das ganze Schiff ging, den Bug. Zerfetztes Gut segelte aus der Takelage herab oder baumelte von den Rahen wie schäbige Banner.

Die Stückmannschaften schauten nicht nach oben, sondern wischten aus, rammten frische Ladungen in die Rohre, schoben Ladepröpfe ein — taten, was sie gelernt hatten.

Weitere Kugeln trafen den Rumpf.»Viel kann sie nicht mehr einstecken«, sagte Bolitho.

«Schiff in Luv, Sir!»

Männer reagierten verständnislos, waren bei dem ohrenbetäubenden Lärm unfähig, die Lage einzuschätzen.

«Es ist die Rapid, Sir!«Stayt schüttelte Bolitho am Arm.»Sie kommt gerade in die Sonne und hat ein Signal gesetzt! Bei Gott, das Geschwader muß hinter der Kimm sein!»

Weitere Treffer erschütterten das Deck, Männer schrien auf, als sie von Splittern niedergemäht wurden. Aber jemand rief:»Der Franzose dreht ab! Die Kerle laufen weg! Denen haben Sie's gezeigt, Käpt'n!»

Doch Stayt sagte bitter:»Hallowes hat's erwischt, Sir. «Er nahm Bolithos Arm.»Bei dieser letzten verdammten Breitseite.»

«Führen Sie mich zu ihm.»

Die Matrosen verfielen in Schweigen, als ihr blinder Ad-miral zu Hallowes geleitet wurde, den Okes und der Steuermannsgehilfe festhielten.

«Wie schlimm steht es?«murmelte Bolitho.

Stayt schluckte.»Beide Beine weggerissen, Sir.»

Bolitho stand nun neben Hallowes.

Hallowes sagte fest:»Ich habe nicht gestrichen. Nur eine kleine Chance…«Er verstummte und schrie dann auf:»Helft mir!«Aber der Tod war schneller.

Bolitho hatte seine Hand gehalten und spürte, wie das Leben aus ihr wich. Jetzt legte er sie aufs Deck und sagte:»Nur eine kleine Chance, und er hat sie genutzt. Daran läßt sich der Mut dieses Mannes ermessen. «Man half ihm auf und drehte ihn, bis er Okes gegenüberstand.

«Die Supreme gehört jetzt Ihnen, Mr. Okes. Sie haben sie mehr als verdient. Ich werde dafür sorgen, daß Ihre Beförderung bestätigt wird, und wenn das mein letzter Befehl sein sollte.»

«Rapid dreht bei, Sir«, meldete Stayt. Doch das gehörte irgendwie nicht hierher. Hier gab es nur diesen Augenblick und den Schmerz des Verlustes.»Führen Sie das Schiff gut.»

«Das werde ich, Sir. Aber ich habe nicht gewollt, nicht erwartet.»

Bolitho bemühte sich um ein Lächeln.»Es ist Ihre Chance, Mr. Okes. Ergreifen Sie sie. «Wieder bohrte sich der Schmerz in seine Augen, aber Bolitho zwang sich weiterzusprechen, da er wußte, daß er von allen beobachtet wurde.»Keine Sorge, Mr. Okes. Supreme hat einen vorzüglichen neuen Kommandanten und wird wieder kämpfen.»

Okes starrte dem blinden Admiral nach, der von Stayt und Sheaffe ans Schanzkleid geführt wurde.

Dann sagte er mit gebrochener Stimme:»Aye, und Sie auch, Sir, so Gott will.»

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