Kapitel 13

Vierundzwanzig Stunden sind keine lange Zeit. Im Alltag fliegen sie dahin . wenn man sie warten muß, werden sie lang, aber immer noch erträglich. Zur Ewigkeit werden sie, wenn man mit einer Binde über den Augen in einem Bett liegt und weiß, daß nach diesen vierundzwanzig Stunden die Binde fällt und es sich entscheidet, ob der erste Lichtstrahl wieder sichtbar ist, ob ein Gegenstand sich aus dem Licht schält, ob man erkennt und begreift, ob die Welt neu geboren wird -

Luise lag nach dem Erwachen still und mit gefalteten Händen auf dem Rücken. Wie lange sie geschlafen hatte, war nicht abschätzbar, bis Schwester Angelina das Essen brachte.

»Was gibt es heute mittag?« fragte Luise. Schwester Angelina tappte in die Falle.

»Das Abendessen besteht aus gefüllten Artischoken, signora«, sagte sie. »Dazu Cassata mit Sahne -«

Es war also Abend. Sie hatte den ganzen Tag geschlafen. Nun lag noch eine Nacht vor ihr ... zwölf Stunden Warten auf den Morgen, auf die Sonne, die Professor Siri ihr versprochen hatte und von der sie einen Schimmer gesehen hatte, nur einen einzigen Strahl, bis sie das schreckliche Gefühl empfand, ihr Herz bräche auseinander. Dann war wieder die Nacht gekommen. Das wohltätige Vergessen.

Ein ungeheurer, unbezähmbarer Drang überfiel sie, die Binde von den Augen zu nehmen oder sie nur ein klein wenig zu verschieben. Es war so einfach ... man brauchte nur die Hand zu heben, ein kleiner Ruck ... und man wußte, ob das Licht zurückgekehrt war oder die ewige Nacht bleiben würde.

Schwester Angelina ahnte diese Gedanken. »Tun Sie es nicht, signora«, sagte sie wie tröstend. »Ich weiß, wie schwer es ist, jetzt noch zu warten ... bei allen war es so, die der Professor operiert hat. Aber sie alle waren nachher doch stark genug ... bis auf zwei. Und beide verloren ihr Augenlicht wieder ... da wurde der eine wahnsinnig, und der andere warf sich vor ein Auto.«

»Ich will ganz brav sein, Schwester«, sagte Luise wie ein getadeltes Kind. »Ich verspreche, nicht an der Binde zu rücken.«

Nach dem Essen bekam sie wieder eine Injektion. Sie schlief danach ein, auch wenn sie sich dagegenstemmte. Das Medikament war stärker als ihr Wille.

Sie erwachte und wußte plötzlich, daß es heller Tag war. Irgendwo spielte wieder das Radio, Schwester Angelina war im Zimmer und goß die Blumen. Luise hörte das Plätschern des Wassers aus der Gießkanne.

»Zweimal war Dr. Saviano schon da«, sagte Schwester Angelina und setzte sich auf Luises Bett. »Aber ich sollte Sie schlafen lassen, sagte er. Und ich werde ihn auch erst anrufen, wenn Sie gefrühstückt haben -«

Es war schon zehn Uhr, als Luise Dahlmann in das Arbeitszimmer Professor Siris geführt wurde. Siri saß wieder zwischen seinen Apparaten auf dem alten Stuhl, nur waren diesmal dicke Vorhänge vor den Fenstern und verhüllten den grellen Sonnentag. Dr. Saviano drückte Luise in einen Sessel und stellte sich hinter sie. Siri beugte sich vor und ergriff ihre Hände; sie waren kalt, als hätten sie auf Eis gelegen.

»Keine Angst haben, signora.«, sagte er gütig. »Ich will Ihnen sagen, was Sie gleich sehen -«

»Sehen -«, stammelte Luise.

»Sie werden nichts sehen -«

»Nichts.?«

»Keine Gegenstände. Nur Licht. Aber wenn Sie Licht sehen, wissen wir, daß alles gut geworden ist. Über Ihrer neuen Hornhaut, dem Fenster, das wir eingesetzt haben, liegt eine Bindehaut, die wir als Schutz über das Transplantat zogen. Es verschleiert noch das Bild Ihrer Umwelt. Jeden Tag werden wir jetzt Antibiotika aufträufeln, am achten Tag entfernen wir die Bindehautklappe, dann wird es wieder vierundzwanzig Stunden Nacht um Sie sein, denn so lange lassen wir das Auge wieder verbunden . und erst dann werden Sie Ihre Umwelt erkennen können. Richtig wissen, ob alles gelungen ist, ob die Hornhaut wirklich klar bleibt . das wird erst in neun Monaten sein. In dieser Zeit müssen wir gegen mögliche Entzündungen ankämpfen, mit Cortison, das wir erst aufträufeln und später direkt in die Bindehaut injizieren. Ja, und was ich noch sagen wollte: Übermorgen machen wir das gleiche mit dem anderen Auge . auch wenn Sie aus dem germanischen Deutschland kommen, lasse ich Sie nicht mit einem Auge wie Wotan herumlaufen -«

Siri rückte den Stuhl heran, Dr. Saviano löste die Binde, drückte sie aber noch gegen die Augen Luises.

»Schließen Sie bitte die Lider«, sagte Siri ruhig. »Und öffnen Sie sie erst, wenn ich es sage.«

Luise nickte schwach. In diesem Augenblick fiel die Binde. Ein Zittern lief durch ihren Körper, eine panische Angst, gleich die Augen öffnen zu müssen und nichts zu sehen. Professor Siri streichelte ihre eiskalten Hände.

»Ruhe, signora, seien Sie völlig ruhig.« Seine Stimme hatte etwas Suggestives, »öffnen Sie ganz langsam die Augen ... ganz langsam.«

Luise Dahlmann hob die Lider. Als sie sie halb geöffnet hatte, durchzuckte es sie wie ein Schlag.

»Licht -«, stammelte sie. »Licht, Herr Professor . aber dumpf. ganz dumpf..«

»Die Vorhänge sind zugezogen. Wir sitzen in einem halbdunklen Zimmer. Sie sehen nur einen Schimmer von Licht -«

»Ja.«

»Und jetzt?«

Dr. Saviano hatte einen Vorhang um einen Spalt geöffnet. Wie hineingeschossen fiel ein Sonnenstrahl ins Zimmer.

»Heller -«

Professor Siri griff nach hinten. Er knipste eine gewöhnliche Taschenlampe an und hielt sie seitlich von Luise gegen die Decke.

»Und jetzt?«

»Mehr Licht . ein Lichtbündel.«

»Wunderbar, signora. Giulio . Vorhang auf -«

Die Sonne flutete ins Zimmer, als Dr. Saviano mit großen Rucken die schweren Vorhänge wegritschte. Luise Dahlmann saß steif im Sessel, die Augen weit geöffnet . während das eine Auge noch trübe und tot war, lebte das andere, und das Licht spiegelte sich wider.

»Sonne -«, sagte sie kaum hörbar. »Es ist Sonne. Strahlende Sonne in einem Nebel.«

»Das ist die Bindehautklappe. In sieben Tagen ziehen wir auch diesen Schleier weg.«

Luise umklammerte die Sessellehne. Ihre Finger bohrten sich in den Bezug.

»Ich . ich kann wirklich sehen . Herr Professor. Ich kann wirklich.« Die Stimme versagte, ihr Kopf fiel nach vorn in die Hände Siris. Dann weinte sie, laut und haltlos, und Siri unterbrach sie nicht, hielt ihren zitternden Kopf mit beiden Händen, wie ein Vater, der sein trostsuchendes Kind umfängt. Dr. Saviano lehnte am Fenster und rauchte nervös eine Zigarette. Es waren jene Sekunden, die sowohl Siri als auch ihn immer wieder erschütterten, so viele hundert Male er sie auch bisher erlebt hatte. Immer war es die gleiche Ergriffenheit: Ein Mensch sieht wieder! Mit unseren Händen haben wir einen kleinen Teil der Schöpfung nachgemacht: Es werde Licht!

Nach einigen Minuten hob Professor Siri Luises Kopf wieder hoch und legte das Kinn auf einen Bügel. Mit einer kleinen Lampe, die einen dünnen Lichtstrahl wie aus einer Düse abschoß, untersuchte er das Auge und nickte zufrieden. Die Tantalnähte saßen gut, das Transplantat verhielt sich freundlich und zeigte keinerlei Anzeichen, daß es sich wieder abstieß. Da es aus einem frischen Auge kam, nicht aus einem konservierten, war es eine lebende Cornea, eine Ho-moioplastik, die sich mit der ihr fremden Zellumwelt erst vertraut machen mußte.

»So, und jetzt verbinden wir wieder die Augen, signora«, sagte Professor Siri und strich Luise über das zerwühlte Haar. »Und wir wollen so stark sein, daß wir erst richtig sehen wollen, wenn auch das andere Auge sein Fensterchen hat. Können wir so stark sein?«

»Ja, Herr Professor«, sagte Luise schluchzend.

»In vierzehn Tagen werden Sie mir sagen, welche Farbe die Blume hat, die ich Ihnen hinhalte -«

»Ich ... ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Bitte, hören Sie auf, signora.« Professor Siri erhob sich. Er wurde grob, und das bewies, daß er Angst hatte, seine innere Weichheit zu zeigen. »Da Sie in absehbarer Zeit wieder sehen werden, können Sie dann auch erkennen, daß wortreicher Dank unangebracht ist. Ihnen werden die Augen übergehen, wenn Sie meine Rechnung bekommen -«

»Das kann man nicht mit Geld bezahlen.«

»Bei mir schon! Guten Morgen!«

Professor Siri rannte hinaus. Luise wandte den Kopf zum Fenster. Hinter dem Nebel, durch den Lichtpunkte wie in einem wilden Kaleidoskop tanzten, sah sie einen Schatten auftauchen, der nicht verschwamm, sondern irgendwie Form hatte. Dr. Saviano trat auf sie zu.

»Nun ist er böse, nicht wahr?« sagte Luise Dahlmann leise.

»Keineswegs, signora.« Dr. Saviano band ihr wieder die Binde vor die Augen. Das Licht erlosch, die Nacht war wieder da, und sofort legte sich ein schwerer Druck auf ihr Herz, die erneute Angst, beim nächsten Abnehmen der Binde sagen zu müssen: Es ist wieder dunkel - »Der Herr Professor hat nur Angst, daß man entdecken könnte, er habe ein Herz. In seiner Klinik soll man ihn als Cäsar sehen . dabei liest er heimlich die verliebten Oden des d'Annunzio.« Er faßte Luise unter und führte sie aus dem Zimmer. Auf dem Gang zum Bettenflügel blieb er plötzlich stehen. »Was ich ganz vergaß, signora . wir müssen Ihrem Gatten von der gelungenen Operation berichten.«

»Nein! Bitte nicht!« Sie blieb ruckartig stehen. Dr. Saviano zog die Brauen hoch.

»Nicht? Aber -«

»Er soll es noch nicht wissen. Ich will ihn überraschen, wenn ich nach Hause komme. Plötzlich werde ich ins Zimmer kommen und zu ihm sagen: Ernst . du hast eine schöne blaue Krawatte an.«

Dr. Saviano lächelte etwas sauer. »Das wird sicherlich eine gelungene Überraschung werden, signora. Aber am besten ist, Sie sprechen darüber mit Professor Siri selbst... bisher ist aus der Clfnica St. Anna noch keine heimlich Sehende entlassen worden -«

In den folgenden Tagen verlief alles planmäßig und ohne Komplikationen. Die zweite Operation am anderen Auge gelang auch. Es war dies das Auge, in das Professor Bohne in Münster die Horn-hautscheibe eingesetzt hatte, die sich wieder trübte. Nun mußte sie mit dem Trepan wieder ausgestanzt werden, ein wenig größer als das andere Auge, was Professor Siri zu heißen süditalienischen Flüchen hinriß.

»Daran hätten Sie auch denken müssen, Sie Stümper!« schrie er Dr. Saviano an. »Nun läuft die Frau mit verschieden großen Hornhautfenstern herum! Madonna mia! Um sich schlagen sollte man über soviel Idiotie! Sie wußten doch, daß wir am anderen Auge ein größeres Fenster brauchten! Warum haben Sie das erste Fenster nicht gleichgroß gemacht? Zum Kotzen ist es! Jawohl, zum Kotzen!«

Dr. Saviano schwieg. Der Wortschwall brauste über ihn hinweg und lief an ihm ab wie Wasser am Wachstuch. Es war ein Fehler Professor Siris, aber niemals hätte es jemand gewagt, es ihm zu sagen. Siri wußte es selbst, aber sein Cäsarentum ließ es nicht zu, Eingeständnisse zu machen. So tobte er sich aus und entlud allen Groll gegen sich selbst auf das Haupt Dr. Savianos.

Nach der Operation zeigte es sich, daß der Unterschied kaum merkbar war. Nur ein ganz genau Hinblickender konnte sehen, daß die Hornhautscheibchen nicht gleich groß waren.

»Was heißt das?!« schrie Professor Siri. »Wenn ich eine Narbe am Hintern habe, sieht sie auch keiner ... aber sie ist da! Solche blöden Redereien -«

Es war der letzte Wasserfall, der sich über Saviano ergoß. Dann kam die Minute, in der Luise auch mit dem anderen Auge Licht und Schatten unterscheiden konnte und Professor Siri um den Hals fiel und ihn küßte. Beim Vergleich der beiden Hornhautfenster mußte Siri zugeben, daß aller Streit um die verschiedene Größe nutzlose Zeitverschwendung wäre.

»Da haben Sie aber Glück gehabt, Giulio«, sagte er brummend. »Verdammtes Glück.«

»Danke, professore.«

»Wofür?«

»Daß wir uns wieder einig sind.«

Professor Siri stutzte einen Augenblick. Er starrte Dr. Saviano an.

Man kann diesem Bengel nichts übelnehmen, dachte er. Er ist ein hervorragender Chirurg, mein bester Schüler, mein Nachfolger sicherlich. Wortlos rannte er hinaus und schlug nur die Tür kräftig hinter sich zu, um zu beweisen, daß er wütend war.

Am zehnten Tag nach beiden Operationen wurden die beiden Bindehautklappen, die Transplantatschützer, wieder entfernt. Nach dem Einträufeln von Cortison und dem Austupfen mit Tampons saß Luise wie eine Statue vor Professor Siri und sah ihn an.

»Nun?« fragte er und nickte ihr zu. »Wundern Sie sich, daß ich rote Haare habe?«

»Sie haben weiße Haare ... eine weiße Mähne -« Luise bewegte langsam den Kopf und sah sich um. Sie saß in einem mittelgroßen Zimmer. Vor den Fenstern wiegten sich Pinien in der Sonne, die Marmorstatue eines Apoll stand an der Wand zwischen zwei Fenstern auf einem Sockel. Die Decke des Zimmers war gewölbt und mit Malereien und vergoldetem Stuck verziert. Langsam, als habe sie Blei statt Blut in den Adern erhob sich Luise und ging ein paar Schritte zu einem zierlichen Intarsientisch. Dort stand eine venezianische Glasvase mit einigen Rosen. Sie nahm eine Rose heraus, umfing die Blüte mit beiden Händen und hielt sie vor ihre Augen. Ein Lächeln grenzenloser Seligkeit überzog ihr schmal gewordenes Gesicht.

»Sie ist rot.«, sagte sie leise und mit der Innigkeit eines Gebetes. »Sie ist rot und hat dünne gelbe Streifen. Ich sehe, daß sie rot ist. Ich sehe . ich sehe.«

»Nun gehört die Welt wieder Ihnen, signora«, sagte Professor Siri etwas heiser. »Sie können zurück ins Leben -«

Luise senkte den Kopf. Sie drückte die Rose an sich, auf ihre vom ungewohnten Licht tränenden und brennenden Augen.

»Die Welt ist wunderbar -«, sagte sie ergriffen. »Die ganze Welt ist ein Wunder -«

Noch eine Woche mußte Luise Dahlmann in der Clfnica St. Anna bleiben, um die Nachbehandlung nicht zu unterbrechen. Für Dr. Ronnefeld arbeitete Dr. Saviano einen genauen Behandlungsplan aus, ebenfalls eine Untersuchungstabelle für die Klinik in Münster, in der sich Luise nach neun Monaten noch einmal genau untersuchen lassen mußte.

Professor Siri hatte sich verabschiedet und war verreist. Er war nach San Franzisko geflogen, wo er auf einem Kongreß für moderne Chirurgie sprechen sollte. Außerdem wollte er die berühmte New Yorker >Augenbank< besuchen, jenes Mekka der Blinden, das am 1. Mai 1945 gegründet wurde und heute neben über fünfzehntausend gelungenen Operationen über eine Zentralaugenklinik verfügt, an der die besten Augenärzte der USA mit der Transplantationstechnik und den Forschungen zur Konservierbarkeit des menschlichen Auges vertraut gemacht werden. Hier wollte Professor Siri seinen großen Kollegen Dr. R. Townley Patton treffen und seine Tantalnaht vorführen.

Es war gegen Mittag, kurz vor dem Essen, als Luise Dahlmann durch den Palazzo ging und Dr. Saviano suchte. Sie hatte eine Dummheit begangen und sich nicht an die Verordnung gehalten, zunächst nur im Schatten spazierenzugehen. Nun tränten die Augen, und Luise wurde von einer panischen Angst erfaßt. Sie drückte ihr Taschentuch gegen die zuckenden Augen und rannte zum Zimmer Professor Siris, nachdem sie Dr. Saviano nicht in seinen Räumen gefunden hatte. Es war möglich, daß er im Chefzimmer saß, nachdem er die Leitung der Clfnica in Abwesenheit Siris übernommen hatte.

Aber auch das Zimmer Siris war leer. Ratlos stand sie vor dem Schreibtisch und starrte auf die geöffnete Post und die Papiere, die die Tischplatte bedeckten. Plötzlich stutzte sie. Unter einigen anderen Briefen sah der Kopf eines Bogens hervor, auf dem sie deutlich den Namen Robert Sanden lesen konnte.

Sie trat näher heran, beugte sich über die Briefe ... >Robert Sanden, Hannover, Kirchheller Weg 12<. Ein Brief mit dem Datum von vorgestern. Ein Brief, der mit der Morgenpost gekommen war.

Herrn Professor Dr. Siri . las sie noch, dann deckten die anderen Briefe die Schreibmaschinenzeilen zu. Sie zögerte, aber es war nur eine kurze Gegenwehr gegen ihre Neugier. Dann zog sie den Brief unter dem Stapel hervor und las.

»Sehr verehrter Herr Professor Siri, ich habe aus Montreux erfahren, daß Frau Luise Dahlmann von Ihnen untersucht worden ist und daß Sie sich zu einer Operation entschlossen haben. Darf ich fragen, ob diese Operation erfolgreich verlaufen ist? Wie Sie sich sicherlich erinnern können, war ich es, der sich damals an Sie mit der Bitte gewandt hatte, Frau Dahlmann zu untersuchen. Heute nun ist meine Frage nicht nur eine Neugier, sondern für Frau Dahlmann von großer Bedeutung. Sollte sie nämlich dank Ihrer Operationskunst wieder sehen können, wäre es notwendig, daß ich nach Bologna komme, um vor der Rückkehr Frau Dahlmanns nach Hannover zuerst mit ihr zu sprechen, denn ich habe die Befürchtung, daß gewisse private Dinge, die sie vorher nicht sah, jetzt zu einer großen und peinlichen Auseinandersetzungführen könnten. Ich bitte Sie deshalb herzlich um Nachricht, ob die Operation erfolgreich verlaufen ist und ob ich...«

»Na na, signora.«, sagte Dr. Saviano tadelnd. Luise Dahlmann fuhr herum und ließ den Brief auf den Tisch zurückfallen. Sie hatte den Eintritt des Arztes nicht gehört, so verblüfft hatten sie die Zeilen Robert Sandens. Dr. Saviano sah auf den Briefkopf und nickte.

»Er kam heute an. Ich hätte ihn Ihnen sowieso gezeigt. Eine indiskrete Frage: Wie stehen Sie zu diesem Herrn Sanden?«

»Ein guter Bekannter, weiter nichts. Durch ihn erfuhr ich überhaupt, daß es einen Professor Siri gibt. Im Grunde verdanke ich Herrn Sanden, daß ich wieder sehen kann. Ohne ihn hätte ich resigniert und die Blindheit als endgültig hingenommen.« Luise nagte an der Unterlippe und sah hinab auf das Schreiben. »Dieser Brief ist merkwürdig, Doktor. Finden Sie nicht auch?«

»Ich kenne leider Ihre häuslichen Verhältnisse nicht, Ihren Gat-ten.«

»Wir lieben uns wie am ersten Tag. Ernst hat alles für mich getan, was er nur tun konnte.«

»Gibt es sonst irgendwelchen Anlaß zu Sorgen? Beruflich vielleicht?«

»Nein. Überhaupt nicht. Mir ist dieser Brief ein Rätsel. Was meint er mit >gewisse private Dinge, die zu einer großen und peinlichen Auseinandersetzung führen könnten

»Sie waren in der grellen Sonne, signora! Ohne Sonnenbrille!«

»Ja -«

»Hinlegen! Zimmer abdunkeln! Keine Widerrede -«

Luise nickte. »Ich gehe sofort, Doktor.« Sie nahm den Brief Robert Sandens wieder in die Hand und überflog noch einmal den Text. »Der Professor ist in Amerika. Er kommt erst wieder, wenn ich entlassen bin. Denken Sie an meine Bitte, nichts an meinen Mann zu schreiben, weil ich ihn als Sehende überraschen will? Ich möchte diese Bitte jetzt wiederholen . gerade jetzt, nach diesem Brief. Und vielleicht verstehen Sie mich jetzt auch, Doktor.«

»Sie haben irgendein Mißtrauen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe ein so merkwürdiges Gefühl, das ist alles. Ich habe fast Angst vor der Rückkehr. Warum, das kann ich nicht sagen. Und nun dieser Brief -«

»Sie hätten ihn vielleicht doch nicht lesen sollen.«

Luise sah Dr. Saviano entschlossen an. Sie hat schöne braune Augen, dachte der Arzt. Vor drei Wochen waren sie noch blind, wie eine schmutzige Milchglasscheibe. Und jetzt können sie wieder strahlen, und in ihrer Tiefe sieht man das Leben mit all seinen Schattierungen.

»Bitte, lassen Sie mich die Blinde weiterspielen, Doktor -«, sagte Luise Dahlmann eindringlich. »Ich werde mich von meiner Pflegerin abholen lassen und nach Hause fahren. Ich möchte als Blinde sehen, was ich als Sehende nie bemerken würde -« »Wenn der Chef das jemals erfährt!« rief Dr. Saviano.

»Er wird es nie erfahren. Bitte, spielen Sie mit, Doktor. Vielleicht hängt von Ihrem Ja so viel ab, was wir heute noch gar nicht übersehen können. Oder es ist nur eine Überraschung von wenigen Minuten . das wäre noch schöner. Ich bitte Sie, Doktor -«

Dr. Saviano ging unruhig hin und her. Im Grunde genommen ist das ihre Privatangelegenheit, dachte er. Wir haben ihr das Augenlicht wiedergegeben - ob sie nun die Blinde weiterspielt, kann uns nicht interessieren, solange sie es nicht benutzt, um Versicherungen und Krankenkassen damit zu täuschen und zu betrügen. Und das ist hier nicht der Fall. Der beste Weg ist, so zu tun, als wisse man von nichts.

»Gut. Nehmen wir an, ich sehe nichts, signora. Sie werden abgeholt von Ihrer Pflegerin und sagen, Sie seien weiterhin blind. Da ist aber noch Schwester Angelina -«

»Sie wird mich nicht verraten.«

»Ach. Mit der haben Sie auch schon gesprochen?«

»Ja.« Luise senkte den Kopf. »Sie fand diese geplante Überraschung ganz lustig.«

»Lustig! Typisch! Man wird sich nie in der weiblichen Psyche zurechtfinden! Tun Sie also, was Sie Ihrer Meinung nach tun müssen! Ich weiß von nichts -«

»Danke, Doktor.«

Dr. Saviano winkte ab. »Und nun ins dunkle Zimmer, marsch! Schwester Angelina soll sofort eine Kortisonspülung machen! Sie wissen, wenn die Sehnerven angeknackst werden, kann Ihnen niemand mehr helfen, auch kein Battista Siri.«

Drei Tage später kam Fräulein Pleschke nach Bologna.

Zum erstenmal sah Luise Dahlmann ihre Pflegerin. Sie war ein nettes, etwas pummeliges Mädchen mit großen Kinderaugen, die immer wie erstaunt in die Welt blickten. Die Sonnentage am Genfer See hatten ihr gutgetan. Sie war braungebrannt, sah satt und zufrieden aus und freute sich offensichtlich, daß es wieder nach Hause, nach Hannover ging, wo der Lehrerstudent auf sie wartete.

Luise saß reisefertig auf einem Stuhl am Fenster, als Fräulein Plesch-ke eintrat. Im Flur schon hatte Schwester Angelina ihr gesagt, daß die Operation nicht gelungen sei und Frau Dahlmann weiterhin blind sei. Mit ehrlichem Mitleid drückte Fräulein Pleschke die Hände Luises.

»Es ist so schade«, sagte sie stockend und sah Luise an. Ihre Lippen zuckten, sie unterdrückte das Weinen tapfer und bemühte sich, eine feste Stimme zu behalten. Luise hatte einen Augenblick den Drang, sie an sich zu ziehen und zu trösten ... sie preßte die Lippen aufeinander und sah starr geradeaus, wie sie es immer in ihrer Blindheit getan hatte. Verwundert beobachtete Fräulein Pleschke die veränderten Augen. Alles Trübe ist weg, dachte sie. Sie haben Glanz und Farbe. Und trotzdem sieht sie nichts. Aber wenn man sie anblickt, könnte man glauben, es seien gesunde Augen. Wenigstens da hat die Operation etwas genutzt ... man bemerkt die Blindheit nicht mehr.

Dr. Saviano war in Bologna. Er hatte es so eingerichtet, daß er wirklich von dem Beginn des Spiels nichts sah. Er saß in einer Cafeteria unter einem Sonnenschirm und trank einen Campari. Es war gewissermaßen eine Flucht vor dem Mitwissen.

So war die Abreise Luise Dahlmanns aus der Clfnica St. Anna ein stilles, unbemerktes Weggehen. Nur Schwester Angelina begleitete sie bis zur Taxe, die sie zum Bahnhof Bologna bringen sollte.

»Alles, alles Gute, signora.«, sagte die kleine Schwester und drückte Luise die Hand. Tränen standen ihr in den runden, schwarzen Augen.

»Ich danke Ihnen für alles, Schwester.« Luise umarmte sie, aber diese Umarmung war weniger eine Geste des Abschiedes als vielmehr eine Aufwallung von Angst vor dem Kommenden. Dann riß sich

Luise los, stieg mit Hilfe Fräulein Pleschkes in den Wagen und schloß die Augen. So kam sie nicht in Versuchung, zurückzuwinken . zu der kleinen, weinenden Angelina, zu dem weißen Palazzo, zu dem Park mit den blühenden Blumenrabatten, den Pinien und Zypressen und den plätschernden Wasserspielen . zu einer Welt, die sie nicht sehen durfte.

Ich werde es nicht durchhalten, dachte sie, als sie hinein nach Bologna fuhren. Blindsein ist etwas Furchtbares ... aber noch schwerer ist es, Blindheit zu spielen. Das Leben sehen und ignorieren, diese herrliche Welt vor sich zu sehen und zu tun, als lebe man in tiefster Nacht, das ist eine Belastung, unter der die Nerven einmal zusammenbrechen werden.

Sie bemühte sich, immer geradeaus zu sehen oder so zu blicken, als höre sie nur, was an bunten Bildern auf sie einstürmte. In der Bahnhofshalle sah sie einen gläsernen Ausstellungskasten mit einem wundervollen Kleid. Nur den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie, dann ging sie an dem Kasten vorbei. Fräulein Pleschke hatte es nicht bemerkt . sie suchte in ihrer Handtasche die Fahrkarten zusammen.

Du darfst das alles nicht sehen, redete sich Luise vor. Du bist blind ... blind. Du gehst immer nur geradeaus oder dorthin, wohin man dich führt. Und wenn sich dir etwas entgegenstellt . du gehst darauf zu, du siehst es ja nicht, und du prallst dagegen . und du darfst nie zögern, nie dein Gesicht verändern, nichts darfst du . und wenn du etwas greifen willst, mußt du wie früher herumtasten, mit den Fingerspitzen suchen, nicht einfach zupacken, denn du siehst es ja nicht . du siehst nicht . du mußt suchen . suchen.

Die Rückfahrt war eine gute Übung. Fräulein Pleschke war rührend um Luise bemüht, sie las aus den neuesten Illustrierten vor, brachte Orangensaft und belegte Brötchen. Nur im Speisewagen, beim Mittagessen, war Luise nahe daran, wieder ihre Rolle zu vergessen, als ein Tropfen Soße auf ihr Kleid fiel. Ihre Hand zuckte schon, um mit der Serviette die Soße abzutupfen . daß Fräulein Pleschke schneller war und mit dem Messer den Tropfen abnahm, verhinderte Luises Entdeckung.

Ich muß aufpassen, sagte sie sich wieder vor. Ich sehe ja nichts ... alles, was um mich herum geschieht, muß mich völlig gleichgültig lassen, und wenn vor mir die Erde aufreißt ... ich muß geradeaus gehen und in den Abgrund fallen. Ich sehe ihn ja nicht ... ich bin ja blind.

In der Nacht, im Schlafwagen, konnte sie endlich wieder ein normaler Mensch sein. Fräulein Pleschke lag auf dem Rücken und schlief fest. Sie hatte den Mund etwas geöffnet und schnarchte leise mit pfeifendem Atem. Luise rief sie leise an, sie schlief weiter. Sie klopfte an das Bett, Fräulein Pleschke drehte sich etwas auf die Seite und wachte nicht auf. Da setzte sich Luise auf das Bett, schob die Kunststoffjalousie des Abteilfensters etwas hoch und starrte hinaus in die helle Sommernacht.

Dörfer flogen an ihr vorbei, kleine, flimmernde Vierecke, Fenster, hinter denen Menschen saßen, aßen, tranken, sich auszogen, sich liebten, starben ... leuchtende Punkte des Lebens, Schicksale sie alle, tausendfältige Probleme ... und doch nur vorbeihuschende Lichter.

Es war ein etwas dunstiger Vormittag, als der Zug in die Bahnhofshalle von Hannover einrollte. Schon eine Stunde vorher war Erna Pleschke unruhig geworden . einmal, weil sie sich auf das Wiedersehen mit ihrem Studenten freute, zum anderen, weil sie plötzlich Angst vor Ernst Dahlmann bekam. Sie sagte es Luise mit stok-kenden Worten.

»Ihr Mann wird mir Vorwürfe machen. Er wird sagen, daß ich ihn belogen, getäuscht, hintergangen habe.«

»Aber wieso denn?« fragte Luise erstaunt.

»Die vorgesprochenen Tonbänder, die ich alle drei Tage von Montreux schicken mußte.«

»Er weiß doch gar nicht, daß ich nicht in Montreux war.«

»Er wird es aber sehen -«

»Sehen?«

»Ja. Ihre Augen sind doch anders geworden durch die Operationen. Sie sind nicht mehr trüb.«

»Ach so.« Luise dachte nach. Ich werde sagen, der Aufenthalt in der frischen Seeluft von Montreux hat das Trübe weggenommen. Ernst wird es hinnehmen, denn er wird an meine Blindheit glauben. »Mir wird schon etwas einfallen, Erna. Wer Sie auch fragt: Wir waren nie aus Montreux fort.«

»Natürlich nicht.«

Vom Bahnhof fuhren sie mit einer Taxe nach Hause. Sie betraten das Gebäude durch den Seiteneingang für Lieferanten. Ein Provisor der Apotheke war sprachlos erstaunt, die Chefin plötzlich vor sich zu sehen. »Gu-guten Tag.«, sagte er fast erschrocken. »Wir haben gar nicht gewußt, Frau Dahlmann, daß Sie heute.«

»Es soll auch niemand wissen, hören Sie?« Luise sah den jungen Apotheker an. »Bitte, sagen Sie nichts im Laden. Ich will meinen Mann überraschen -«

Auf den Arm Fräulein Pleschkes gestützt, ging sie die Treppe hinauf in die Privatwohnung. Es waren nur wenige Stufen, aber für Luise war es wie das Erklettern eines riesigen Berges. Vor der Wohnungstür blieb sie stehen und tastete nach der Klinke. Wie gut es geht, dieses Blindspielen, dachte sie dabei.

»Bitte, schließen Sie auf, Erna«, sagte sie leise. »Und dann können Sie auf Ihr Zimmer gehen. In der Wohnung finde ich mich allein zurecht. Ich kenne ja jede Ecke.« sie lächelte schwach. »Bin ja oft genug an sie angestoßen.«

Fräulein Pleschke schloß die Tür auf und zog sie hinter Luise wieder zu. Dann ging sie auf ihr Zimmer, froh, nach der langen Reise allein zu sein. Außerdem wollte sie ihren Studenten anrufen. »Ich bin wieder da . wir sehen uns morgen wie immer im Park.«

Luise durchquerte die große Diele, blieb vor dem Garderobespiegel stehen, ordnete noch einmal ihr Haar und lauschte in die stille Wohnung. Hinter der Tür des Wohnzimmers hörte sie leise Ernsts Stimme, dazu ein Kichern, das merkwürdig wie mit einem Seufzen erstarb.

Ihr Herzschlag setzte einen Augenblick aus . es war ihr, als müsse sie jetzt, in dieser Sekunde, zerspringen, auseinandergerissen von einer inneren Explosion. Mechanisch setzte sie Fuß vor Fuß und ging auf die Wohnzimmertür zu.

Wieder dieses Kichern ... die Stimme Monikas ... ein paar Worte von Ernst. Füßescharren . ein leiser, kehliger Aufschrei von Monika.

Luise drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf.

Was sie sah, ließ ihr Blut wie einen Eisstrom durch die Adern fließen. Ernst Dahlmann saß mit Monika auf dem Sofa in der Blumenecke. Er hatte seine Schwägerin weit zurückgebeugt und lag halb über ihr. Dabei küßte er sie leidenschaftlich und zerwühlte mit beiden Händen ihre langen, goldblonden Haare. Sie hielt ihn mit beiden Armen umschlungen und gab sich mit dem Ausdruck fast irrer Seligkeit seinen Liebkosungen hin.

Luise ließ die Tür aus ihrer Hand gleiten. Sie schlug zu, und das Paar fuhr erschrocken auseinander. Monika stieß einen hellen Schrei aus und umklammerte Dahlmanns Hals. Sie starrten Luise wie eine Geistererscheinung an, sprachlos, entsetzt, hilflos, bis sich Dahlmann faßte und noch einmal, dieses Mal tröstend, Monika küßte. Sie ist doch blind, hieß das. Sie sieht es doch nicht. Warum regen wir uns auf?

»Luiserl!« sagte Dahlmann, und seine Stimme war sogar freudigerregt. »Welche Überraschung! Mein Gott, hast du uns einen Schrek-ken eingejagt, als sich plötzlich die Tür wie von selbst bewegte.« Er sprang auf, drückte Monika auf das Sofa zurück und eilte auf Luise zu. Er umarmte sie, küßte sie auf die Stirn, und Luise ließ es geschehen, steif, bis ins Innere erfroren vor Grauen und Kummer. »Komm, Luiserl«, sagte Dahlmann und führte sie zu einem Sessel. »Hast du dich gut erholt? Komm, ich helfe dir . stoß nirgendwo an. Monika ist auch hier .sie ist noch ganz starr vor Überraschung. Na, Moni . nun sag doch mal was!«

»Du siehst blendend aus, Luise.« Monika stand auf, beugte sich über ihre Schwester und küßte sie ebenfalls. Wie das Einbrennen eines Brandmals empfand Luise diesen Kuß . sie schloß die Augen, um nicht laut aufzuschreien und um sich zu schlagen, mit den

Fäusten, immer und immer wieder in diese Gesichter hinein, die rot und schweißig waren von ihrer Sünde und deren Münder zu ihr, der Blinden, die zärtlichsten Lügen sprachen.

»Moni, koch sofort einen starken Kaffee!« rief Dahlmann und tätschelte Luise die Hände. »Nicht wahr, du willst doch einen Kaffee, Luiserl . nach dieser langen Reise.«

Sie nickte und sah, wie sich Monika und Ernst zublinkerten, wie er tröstend über ihre zerwühlten Haare strich und sie über ihren Kopf hinweg küßte.

O ihr Schufte, dachte Luise. Ihr gemeinen Lumpen. Mein Mann und meine Schwester ... die Liebsten, die ich auf der Welt hatte. Das einzige, woran ich als Blinde noch hing, mit aller Liebe, mit allem Vertrauen, mit allem Glauben an das Gute, mit allem Zauber der Illusionen.

Ihr Kopf sank nach hinten auf die Lehne des Sessels, sie umklammerte die Lehne und weinte laut. Dahlmann beugte sich über sie. Unter den Wimpern sah sie seinen Blick. Er war forschend, lauernd, kalt. Aber seine Worte klangen sorgenvoll und voll Liebe.

»Luiserl . was ist denn? Warum weinst du . Luiserl. Du sollst doch nicht weinen! Warum denn?«

Sie wandte den Kopf weg. Sie konnte seinen Atem nicht mehr ertragen, nicht mehr den Geruch seines Rasierwassers und den Tabakduft, der aus seinem Anzug stieg. Ein Ekel überkam sie, ein würgendes Elend. Sie legte die Hand über ihre Augen, um nichts, wirklich nichts mehr zu sehen.

»Es . es ist schon vorbei, Ernst«, sagte sie mit Mühe. »Es war nur die Freude, wieder zu Hause zu sein.«

Der Tag und auch der Abend verliefen harmonisch. Man kann es nicht anders nennen. Nachdem sich Monika Horten beruhigt hatte und wirklich mit einer Kanne starkem Kaffee zurückkam, wurde Luise umsorgt wie eine altchinesische Prinzessin. Wäre sie noch blind gewesen, hätte sie das Gefühl herrlicher Geborgenheit gehabt, ein Empfinden, das sie bisher auch kannte und das Ernst Dahlmann wie mit einem Glorienschein umgeben hatte. Ich habe einen guten

Mann, hatte Luise immer gedacht. Wie er dieses schwere Schicksal trägt, wie doppelt lieb er zu mir ist, mit welcher Zartheit er mich behandelt ... ich habe einen herrlichen Mann!

Auch jetzt war er nicht anders - wenn sie die Augen schloß und nur auf seine Worte hörte und seine Fürsorge bewertete. Aber nun sah sie die Wirklichkeit, die hinter seinen Worten stand, und Ernst Dahlmann brauchte sich keine Mühe zu geben, sie zu verbergen, denn für ihn war Luise ja noch blind und würde es für immer bleiben.

Er reichte ihr die Kaffeetasse an mit der rechten Hand, während seine Linke zärtlich über die Hüften Monikas strich, die neben Luise stand und aus der Zeitung eine interessante Meldung vorlas. Er erzählte von komischen Kunden in der Apotheke und lachte jungenhaft dazu ... in den Satzpausen aber küßte er Monika schnell, und er küßte sie mit einer gestenreichen Offenheit, die schamlos war und Luise jedesmal das Blut in die Schläfen trieb.

Das war das Gefährliche an ihrem Spiel: die Unmöglichkeit, das Rotwerden zu verhindern.

»Du bist so still, Luiserl.«, sagte Dahlmann am Abend. Er saß mit Monika auf dem Sofa und aß Konfekt. Monika hatte den Kopf an seine Schulter gelegt, ihre langen blonden Haare flossen Dahlmann über das Gesicht. Die Augen der Blinden sahen starr zu ihnen hin. Monika hob etwas die Schultern, als fröre sie plötzlich.

Wenn diese Augen sehen könnten, dachte sie. Wenn jetzt vor diesen großen Pupillen nicht Nacht wäre, sondern wir. Wenn plötzlich der Schleier von ihnen abfiel und sie erkennen würde, was um sie herum geschieht. Es wäre furchtbar. An dieser Scham und Schuld würde ich ersticken.

Sie schielte zu Ernst Dahlmann. Er kannte keine Skrupel, das sah man ihm an. Er trank mit Genuß sein Bier, knabberte Plätzchen, sah dabei auf den Bildschirm und hörte sich die Abendnachrichten an . ab und zu wandte er den Kopf und küßte Monika auf den zitternden Mund. Nicht einmal dieses Zittern spürte er, so sicher war er sich, so ohne Gewissen genoß er die Freiheit, die ihm das

Blindsein bot. Daß Luise, seine Frau, vor ihm saß, störte ihn nicht im geringsten ... für ihn war sie jetzt nur noch ein Gegenstand, der ins Zimmer gehörte wie etwa die alte Standuhr aus dem 17. Jahrhundert oder die gotische Madonna, die auf einem Sockel stand. Es war ein zwar lebender und sprechender Gegenstand, aber im Grunde genommen für ihn ein totes Gebilde, das nicht mehr in die Funktion seines Lebens eingriff. Man konnte vor ihm tun, was man wollte - es reagierte nicht mehr. Und Ernst Dahlmann tat, was er wollte, und er fühlte sich pudelwohl dabei.

»Ich bin müde«, sagte Luise mit belegter Stimme.

»Aber gleich kommt im Fernsehen eine Operette, Luiserl. Du hörst doch so gerne Operetten. Von Offenbach ist sie. Sie wird dich heiterer machen, Liebes -«

»Die lange Reise, Ernst.« Luise legte den Kopf nach hinten auf die Lehne. Ich möchte ihn erwürgen, dachte sie. Ja, das könnte ich. Nie habe ich begriffen, daß man einen Menschen aus Haß, aus Eifersucht oder aus Liebe umbringen kann. Ich habe immer den Kopf geschüttelt, wenn ich so etwas in der Zeitung las. Ich habe gesagt: Diese Menschen müssen krank sein . oder innerlich völlig haltlos. Es gäbe doch nichts auf der Welt, was mich zwingen könnte, einen Menschen umzubringen, es sei denn, ich müßte mein eigenes Leben verteidigen. - Und jetzt? Jetzt war es so, daß sie es als eine Freude empfinden würde, wenn Ernst Dahlmann tot zu ihren Füßen liegen würde.

»Ich möchte ins Bett, Ernst -«, sagte sie heiser. »Ich bin wirklich schrecklich müde -«

»Sofort, Luiserl!«

Wenig später lag sie in dem großen, geschnitzten Bett, in dem schon vier Generationen Horten geschlafen hatten und gestorben waren. Ernst hatte sich von seiner Frau mit einem Kuß verabschiedet. Sie hatte ihn geduldet, mit einer Gänsehaut, als habe sie ein Frosch geküßt. Von nebenan, durch die Diele getrennt, hörte sie die fröhlichen Klänge der Offenbach-Operette.

Soll ich aufstehen und an die Tür des Wohnzimmers gehen? Soll ich durch das Schlüsselloch gucken? Ich weiß, was ich dann sehen werde! Ein neuer Schluck von Gift wird es sein, das mich innerlich zerfrißt.

Sie lag im Bett und krallte die Nägel in das harte Eichenholz der Seitenteile. Die Gemeinheit, die sie umgab, war so ungeheuerlich, daß sie nur in einzelnen Stücken zum Verständnis wurde, und je mehr Bruchstücke es wurden und sich zu einem Bild zusammensetzen ließen, um so unerträglicher wurde es, das große Spiel des Blindseins weiterzuspielen, um noch mehr, noch Grausameres zu erfahren und zu sehen.

Nach der Operette kam Ernst Dahlmann ins Schlafzimmer. Er sah zu Luise hin und stellte fest, daß sie schlief. Mit jugendlichem Schwung riß er sich den Schlips aus dem Kragen, warf die Kleidung ab und hüpfte nackt in das nebenliegende Bad. Dort brauste er sich, eine Wolke Tabakparfüm zog ins Schlafzimmer, dann surrte der elektrische Rasierapparat. Luise lag mit offenen Augen und wartete. Er rasiert sich für die Nacht, er parfümiert sich den Körper, dachte sie. Mein Gott, verhüte, daß er die Geschmacklosigkeit begeht, schon in dieser ersten Nacht meines Hierseins wieder zu Moni zu gehen -

Ernst Dahlmann kam aus dem Bad zurück. Luise schloß die Augen und sah ihm unter den Wimpern her zu. Er warf seinen seidenen Morgenmantel über den nackten Körper, verzichtete auf den Schlafanzug, beugte sich noch einmal zu Luise vor und vergewisserte sich, daß sie noch immer schlief, tief, mit langen Atemzügen, erschöpft von der Reise, ein Schlaf, der bis in den Morgen dauern würde. Sie sah sein Gesicht, glatt rasiert und glänzend, kalte, starrende Augen ... dann ging er, auf Zehenspitzen, sich beim Gehen wiegend wie eine Tänzerin, lautlos aus dem Zimmer. Die Tür ließ er angelehnt, damit sie nicht knarrte, wenn er zurückkam.

Luise schlüpfte aus dem Bett und rannte an die angelehnte Tür. Sie hörte, wie er die Treppe hinaufging zu dem Atelier, in dem Moni schlief. Oben klappte leise eine Tür ... die Pforte der Sünde hatte sich geschlossen.

Unschlüssig stand Luise in der großen Zentraldiele und starrte die

Treppe hinauf. Nachgehen, dachte sie. Ihn in den Armen meiner Schwester finden! Und sie töten, beide, während noch das Entsetzen in ihren Augen schreit. Töten mit irgend etwas . mit einem Küchenmesser, mit einem Beil, mit einer Eisenstange . alles, alles kann jetzt zum Werkzeug werden, ein Stuhlbein, mit dem ich sie erschlage wie tolle Hunde, eine Vase, ein Kerzenleuchter, ein Feuerhaken vom offenen Kamin. Es gibt so vieles, mit dem man töten kann, die ganze Welt ist voller Mordwerkzeuge . aber hier ist es kein Mord mehr . hier ist es Befreiung, Erlösung, ein Strafgericht -

Sie lehnte sich an das Treppengeländer und umklammerte die Geländerstäbe. Zweiundzwanzig Stufen nur . zweiundzwanzigmal ein Fuß vor den andern . dann eine Tür . und alles, alles ist vorbei! Zweiundzwanzig Stufen bis zur Hölle . so nah ist das alles . man hätte es früher nie geglaubt. Ein Satz Jean-Paul Sartres fiel ihr plötzlich ein. »Die Hölle - das sind wir!« Sie nickte und schlug mit der Stirn auf das Geländer.

Aber sie hatte nicht die Kraft, diese zweiundzwanzig Stufen hinaufzugehen. Sie hatte nicht die Kraft, dieses Bild anzusehen, das sich ihr bieten würde, auch wenn sie es nachher zerstören konnte und wollte. Sie blieb auf der Diele stehen, sah noch mal nach oben und ging zurück.

Das eine weiß ich jetzt . das war ein Gedanke, der ihr Herz zerriß. Aber die Zeit ist noch nicht da, wo ich ihnen sage, daß ich alles sehen kann. Es wird noch mehr kommen . das kann nur der Anfang sein.

Sie setzte sich in das Wohnzimmer in die Blumenecke und starrte hinaus in die stille, mondhelle Nacht. Es war unendlich schwer, das Idealbild eines Mannes, das man sich in Jahren glücklicher Ehe gezimmert hatte, selbst wieder zu zerstören und kleinzuhacken. Das Verhältnis mit Moni würde andere Dinge nach sich ziehen, das wußte Luise. Ernst Dahlmann war keiner, der sich mit Halbheiten abgab. Noch war er nach außen verpflichtet, den liebenden und sorgenden Ehemann zu zeigen, aber es war auszurechnen, daß ihm auch dies lästig wurde und er auf Mittel sinnen würde, sich dieser letzten Bürde zu entledigen ... nicht gewaltsam, sondern elegant, fast charmant, wie sein ganzes Wesen war, so voller Tragik, daß seine Umwelt nicht sie, Luise, sondern ihn, Ernst Dahlmann, bedauern würde und ihm mitfühlend die Hände drücken konnte.

Mit dem ersten Kuß Monis, mit der ersten Nacht in ihren jugendfrischen Armen war Luise für Ernst Dahlmann innerlich gestorben. Das wußte sie nun. Sie war ihm im Weg, auch wenn sie nichts sah und nur hörte, auch wenn sie nur herumsaß und ein Möbelstück wurde, das ihn nicht störte. Lästig war sie immer; schon, daß sie gegenwärtig war, bildete eine Bremse für die völlige Haltlosigkeit, in die Ernst Dahlmann mit neu erwachter Jugendfrische hineinsteuerte.

Wie wird er es anstellen, dachte Luise in dieser Nacht. Wie wird er den Weg finden, mich auszuschalten? Und welche gemeine Rolle wird Monika dabei spielen? O mein Gott - Monika, meine Schwester ... ausgerechnet meine Schwester -

Einer Eingebung folgend, ging sie hinunter in die Apotheke. Sie wußte, daß heute kein Nachtdienst war. Die Laborräume, die Rezeption, der Laden, das Lager lagen in dunkler Stille. Es roch wie immer nach Arzneien und Gewürzen, Parfüm und Seifen, jene merkwürdige, strengsüße Duftmischung, die in den Räumen einer Apotheke das Fluidum der Heilsamkeit verbreitet.

Im Büro setzte sich Luise hinter Ernst Dahlmanns Schreibtisch und holte die Tageseinnahmebelege heraus. Sie waren fein säuberlich in einem Buch eingetragen. Das Führen der einzelnen Konten besorgte ein Buchhalter ... Dahlmann selbst interessierte nur die Summe, die nach allen Abzügen übrigblieb und die er als Gewinn betrachtete. Für diese Zahlenkolonne hatte er ein eigenes, kleines Buch angelegt. Luise wußte, wo er es bewahrte.

Die Zahlen, die sie las, waren imponierend. Die Zahlen, die sie kannte und die ihr Dahlmann vorlas, waren weniger zufriedenstellend. »Die Leute werden zu gesund, Luiserl.«, sagte er immer wieder. »Die Medizin macht sich selbst kaputt! Es ist ein euphorischer Selbstmord! Wir entdecken immer neue, wirksamere Arzneien ... und die Folge? Die Leute leben, gesund wie die Schildkröten und werden eines Tages zweihundert Jahre alt . aber der Arzt und der Apotheker werden dann zu den notleidenden Ständen gehören. Ein Proletariat der Akademiker.«

Die Wahrheit war anders. Die Mohren-Apotheke hatte umfangreiche Einnahmen, vor allem durch die neue kosmetische Abteilung. Auch wurden die Menschen nicht gesünder, sondern die Krankheiten verlagerten sich. An erster Stelle standen Herz und Kreislauf, an zweiter Stelle stand der Krebs, doch dafür gab es noch keine wirksamen Medikamente.

Auch hier betrügt er mich also, dachte Luise und schloß das kleine Buch wieder fort. Zwei Drittel der wahren Zahlen liest er vor, ein Drittel wandert auf sein eigenes Konto. Warum dieser dumme Umweg? Wie kann eine Blinde kontrollieren, was in den Büchern steht? Warum diese unlogischen Bemühungen der Verschleierungen, wenn eines Tages Luise Dahlmann doch aus diesem Hause verschwinden soll?

Er hat etwas vor, dachte sie. Er hat etwas ganz Gemeines vor. Mein Mann -

Wann Ernst Dahlmann aus dem Atelier Monikas zurückgekommen war, wußte Luise nicht mehr. Sie erwachte gegen Morgen und sah ihren Mann neben sich liegen. Schlafend wie ein Kind, mit einem leisen Lächeln, zufrieden.

Jetzt wäre es leicht, ihn zu töten, dachte sie. Mit beiden Händen an den Hals, zugedrückt, die Daumen gegen den Adamsapfel . er würde es kaum spüren, daß er stirbt.

Sie tat es nicht. Sie lag neben ihm wach, bis er sich rührte, gähnte, aufsetzte, durch die graumelierten Haare strich, mit den Füßen über die Bettdecke scharrte und sich die Brust kratzte. Dann blickte er sie an. Sie hielt die Augen starr gegen die Decke gerichtet. Ernst Dahlmann unterbrach sein Kratzen.

»Du bist wach, Luiserl?« fragte er mit ausgesprochen süßer Stimme.

»Ja, Ernst -«

»Schon lange?«

»Ich weiß nicht. In ewiger Dunkelheit verliert man den Zeitbegriff -«

»Verzeih. Die Frage war dumm von mir. Guten Morgen, Liebes -«

Er beugte sich über sie und küßte sie. Bei diesem Kuß mußte ihm der Gedanke gekommen sein, daß er ein Ehemann sei und man gewisse Pflichten von ihm erwartete. Er umfing den Leib Luises. Dieses Begehren war so ungeheuerlich, daß Luise erstarrte und zu keiner Gegenwehr fähig war. Sie lag wie zu Eis gefroren in Dahlmanns Armen, und er hätte ebensogut eine Schaufensterpuppe lieben können als sie. Er schien es nicht zu merken ... er entdeckte nur, daß auch der Körper Luises von einem treibenden Reiz war. Das erstaunte ihn, und er schob es auf die wochenlange Trennung. In einem solchen Zeitraum wird auch ein bekannter Körper irgendwie wieder neu.

Später lag er, mit kleinen Schweißperlen auf der Stirn, neben Luise auf dem Rücken und rauchte eine Zigarette. Er hielt ihre eisige Hand fest und streichelte mit den Fingerkuppen ihre Handfläche.

»Jetzt bist du erst wirklich zu Hause, Luiserl.«, sagte er, und es klang sogar ehrlich. »Bist du glücklich?«

»Ja, Ernst, ja.«

Sie starrte an die Decke und kam sich leer vor. Ihre Stimme hallte in ihr wider wie in einer riesigen Halle.

»Heute wird ein schöner Tag. Willst du wieder hinaus nach Herrenhausen?«

»Ja. Fräulein Pleschke holt mich ab.«

»Willst du einen Zug rauchen?«

»Nein -«

»Willst du noch einen Kuß?«

Sie schwieg. Du Tier, dachte sie. Du Schuft! Wie kann ein Mensch bloß so gemein sein -

Da sie keine Antwort gab, stand er auf und ging pfeifend ins Bad.

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