Kapitel 14

An diesem Vormittag baute Ernst Dahlmann seine Konstruktion ein. Er hatte seinen Rechtsanwalt, Dr. Fritz Kutscher, angerufen und ihn gefragt, ob er einen guten Psychiater kenne.

»Wieso?« hatte Dr. Kutscher geantwortet. »Wollen Sie von ihm suchen lassen, wo Ihr Gewissen sitzt? Ich kann's Ihnen sagen: Links im Gehirn ... aber Sie finden's nicht.«

Wütend hatte Dahlmann aufgelegt.

Seine Konstruktion bestand aus einem Wassertropfgerät. In einen blechernen Behälter, der den Tropfenfall verstärkte zu einem lauten Klick-klick-klick, tropfte durch eine Kanüle aus einem gläsernen großen Kolben in regelmäßigem, nervtötendem Rhythmus ein dicker Wassertropfen. Dieses einfache, aber wirksame Gerät stellte er oben auf den großen Bücherschrank, wo die suchenden Arme Luises nie hingreifen konnten. Er löste den Wattepfropfen von der Kanüle, tippte an den Kolben und atmete auf, als der erste, dicke Tropfen in die Blechbüchse fiel. Klick, machte es. Laut und unüberhörbar. Klick. Und dann, sich in den Rhythmus fügend, klick-klick-klick.

Ernst Dahlmann steckte den Pfropfen wieder auf. Die Probe hatte geklappt. Nun mußte es sich zeigen, wie Luise darauf reagierte. Monika kam aus der Küche und starrte auf das simple Nerven-todgerät.

»Du bist so gemein, Ernst -«, sagte sie und setzte sich. Die Beine wurden ihr weich. »Luise ist immer noch meine Schwester -«

»Daran haben wir in den vergangenen Wochen nicht gedacht, und es wäre falsch, auch jetzt daran zu denken oder fernerhin!« Dahlmanns Stimme war klar und von einer erdrückenden Nüchternheit. »Sie steht uns im Wege . das ist eine Tatsache. Wer sie ist, interessiert uns nicht mehr. Es geht um unsere Liebe, unser Leben, unsere Welt, die wir uns aufbauen wollen.«

»Durch Gemeinheit, durch Betrug!«

»Gibt es eine andere Möglichkeit?«

»Ja! Wir sagen Luise alles und gehen fort.«

»Und wovon leben wir? Von deinen Plakaten?«

»Du hast einen Beruf.«

»Weißt du, was ein angestellter Apotheker heute verdient? Nein ... ich habe diese Apotheke hier von einem muffigen Laden zur besten der Stadt gemacht! Und was habe ich dafür bekommen? Ein Taschengeld! Über jede Mark, die ich aus der Kasse nahm, mußte ich Rechenschaft ablegen wie ein Stift! Wenn Lieferanten kamen ... ich lief zu Luise und ließ die Schecks unterschreiben, weil ich keine Unterschriftsbefugnis hatte. Ich habe mich jahrelang erniedrigt, ich habe meine männliche Würde in den Dreck gelegt, ich habe mich demütigen lassen durch dieses Testament deines Vaters, das eine einzige Rache an mir war! Damit ist es nun Schluß! Endgültig! Ich habe ein Recht auf diesen Besitz ... wie ich ein Recht habe, dich zu lieben ... dich, die Jugend, die Schönheit, die Zukunft.«

Er trocknete sich die etwas feuchten Hände ab, denn der Wattepfropf hatte sich voll Wasser gesogen, schob das Gerät noch ein wenig zur Wand und ordnete seine Krawatte.

»Du weißt, was du zu sagen hast, Moni?«

»Ich werde gar nichts sagen!«

»Beschwöre keine Katastrophe herauf!Sie reißt auch dich mit in den Strudel!« Er faßte sie an die schmalen Schultern und riß sie aus dem Sessel an sich empor. »Ich denke, du liebst mich?«

»Du hast noch keinen Anlaß gehabt, daran zu zweifeln.«

»Wirkliche Liebe, so wie unsere, ist rücksichtslos. Was sich ihr in den Weg stellt, wird überrannt . ganz gleich, wer es ist! Nur die skrupellos Liebenden sind die großen Liebenden -«

»Du bist mir unheimlich«, sagte Monika ehrlich. »Ich habe Angst vor dir. Wie soll das alles werden?«

»Darüber mache dir keine Gedanken.« Er sah zu seinem Tropfgerät auf dem Bücherschrank. »Du mußt nur tun, was wir besprochen haben.«

»Und Luise.?« »Wer fragt, ist unsicher. Du sollst nur an unsere Liebe denken . an nichts weiter.«

Kurz vor dem Mittagessen kam Luise Dahlmann zurück. Sie war mit Fräulein Pleschke einkaufen gewesen. Einige neue Tonbänder, ein paar Schallplatten . die zusammengeschrumpfte Welt, die einen Blinden erfreut.

Ernst Dahlmann zog den Pfropfen von der Kanüle, als er Luises Stimme in der Diele hörte. Der erste Tropfen fiel in das Blechbecken.

Klick-klick-klick

Wie immer verabschiedete sich Fräulein Pleschke an der Tür, nachdem sie Luise abgeliefert hatte. Um drei Uhr nachmittags wollte sie sie wieder abholen für die Fahrt in den Park des Schlosses Herrenhausen.

Luise saß in ihrem Sessel am Tisch. Monika trug das Mittagessen auf. Ernst Dahlmann war einsilbig. »Ärger mit dem neuen Lehrling«, sagte er kurz. »Die Bengel von heute dünken sich schon als große Herren! Dabei sind es Rotznasen, weiter nichts!« In Wahrheit wollte er alles vermeiden, das das Klicken der Wassertropfen übertönte.

Luise hob den Kopf. In die Stille des Raumes, die für das Ohr eines Blinden nie völlig still war, sondern umrahmt von hundert winzigen Geräuschen, fiel wie ein Hammerschlag der Fall des Wassertropfens. Klick-klick-klick - Immer wieder . in Abständen von zwei Sekunden . klick.

»Was ist das?« fragte sie. Ernst Dahlmann sah seine schwägerliche Geliebte bedeutungsvoll an.

»Was, Luiserl?« fragte er zurück.

»Dieses Klicken.«

»Ich höre kein Klicken.«

»Da ist es wieder . und jetzt . jetzt. Ganz deutlich! Hörst du es nicht?«

»Nein, Luiserl ... ich höre nichts. Sei mal still.«

»Da -«

»Nein.« Dahlmann lächelte breit. »Ich weiß nicht, was du hörst .

es ist alles still.«

Luise drehte den Kopf nach hinten. Auch als Blinde wußte sie, woher der Ton kommen mußte . nun sah sie auf dem Bücherschrank die einfache und doch wirksame Konstruktion. So also ist das, dachte sie erschrocken. Er will mich irr machen. Er will mich so zermürben, daß man mich eines Tages abholt. Der arme Herr Dahlmann, wird es dann heißen. So ein Pech im Leben. Erst die Explosion, dann die blinde Frau, und nun ist sie auch noch irr geworden. Und die Welt würde den Mörder bedauern -

»Da tickt es wieder -«, sagte Luise. Es fiel ihr schwer, die Rolle durchzustehen. »Monika -«, sie wandte den Kopf zu ihrer Schwester und sah sie an. Sie bemerkte das Entsetzen Monis, den flehenden Blick, den sie zu Dahlmann schickte, das Zittern, das über ihr Gesicht lief. Bleich wie ein Leinentuch, mit dunklen Rändern um den Augen, saß sie hinter ihrem Teller und umklammerte das Besteck.

Sie will es nicht, aber sie tut es, dachte Luise fast mitleidig. Sie ist in seinem Bann, sie ist ihm hörig geworden . sie mag sich dagegen stemmen - spätestens in dem Augenblick, in dem sie in seinen Armen liegt, ist aller Vorsatz zerstört, und sie ist bloß noch eine liebende Kreatur.

»Monika . hörst du das Tropfen nicht.?«

Monikas Mund öffnete sich, aber sie brachte keinen Laut heraus. Dahlmann sah sie streng an, fordernd, energisch nickend. Monika atmete tief auf.

»Nein, Luise . ich höre nichts.«, sagte sie rauh.

»Da fällt doch immerzu ein Tropfen -«

»Nein.«

»Die Reise hat dich sicherlich ein wenig überanstrengt.« Dahlmann strich Luise sanft über die Schulter und tätschelte ihre Wange. »Komm, iß, Luiserl . hör nicht auf dieses imaginäre Geräusch.«

Sie aßen. Hinter Luise, auf dem Bücherschrank, tropfte es weiter. Alle zwei Sekunden . klick . klick. Luise legte die Gabel hin und warf den Kopf zurück.

»Es ist nicht zum Aushalten, Ernst! Dieses ewige Tropfen.«

»Aber Luiserl.« Seine Stimme klang besorgt, während sie sah, welcher Triumph in seinen harten Augen aufflammte. »Es ist doch wirklich nichts. Gar nichts tropft. Moni . hörst du etwas?«

»Nein -«

»Dann . dann muß ich verrückt sein.«, sagte Luise und starrte ins Leere. Ich gebe ihm das Stichwort, dachte sie. Jetzt wird er zufrieden sein.

»Welche Gedanken, Luiserl.« Dahlmann sprang auf. Er spielte seine Rolle, als stände er nicht vor einer Blinden, sondern müsse eine Sehende überzeugen. »So etwas darfst du nie in dir aufkommen lassen. Natürlich sind es nur die Nerven . aber wer könnte das nicht verstehen?! Jetzt kommt die Reaktion der ganzen Aufregung der letzten Monate . vielleicht ist es sogar ein Zeichen, daß die Erholung in Montreux anschlägt -«

Wie fürsorglich das alles klingt, dachte Luise, und welche Sata-nerie steckt dahinter. Natürlich sind es die Nerven . dieser Satz war die Gefahr, war die Drohung, war sein Programm.

»Du hörst also wirklich nichts?« fragte sie mit der Hartnäckigkeit der Blinden noch einmal. »Und du, Moni, hörst auch nichts?«

»Nein!«

»Da . klick . klick . klick. Tropfen aufTropfen. Das ist doch Irrsinn! Wie kann es hier im Wohnzimmer tropfen?!«

»Beruhige dich, Luiserl«, sagte Dahlmann voll Sorge, aber sein Gesicht war überglänzt von Freude. »Mein Gott, so etwas kommt vor. Man hört auf nicht vorhandene Geräusche. Auch ich bin schon mal an die Tür gelaufen, beim Nachtdienst, weil ich ganz deutlich ein Klingeln hörte . und nachher war niemand an der Tür. Es gibt solche Mystifikationen -«

Der Glaskolben leerte sich während des Mittagessens. Ab und zu sah Luise zum Schrank hinauf und wartete. Sie sprach nicht mehr über das Tropfen . erst, als der letzte Tropfen klickte und dann nichts mehr folgte, warf sie dramatisch den Kopf hoch.

»Jetzt ist es vorbei!« rief sie hell. Dahlmann, beim liebevollen Löffeln seines Puddings schrak zusammen.

»Was?« Automatisch jagte sein Blick zu seiner Konstruktion. Der Kolben mit dem Wasser war leer.

»Das Tropfen. Plötzlich ist es weg ... ganz weg. Seid mal alle ganz still. So - Wirklich, es ist vorbei.«

»Siehst du, Luiserl.« Dahlmann schlürfte die Vanillesoße des Puddings. »Es ist alles halb so schlimm. Es verliert sich. Sind halt doch die Nerven -« Es klang leichthin, aber es war wieder ein Hammerschlag. »Was sollte auch schon bei uns tropfen, nicht wahr?«

»Ja, Ernst.«

Am Abend, als sie zurückkam aus Herrenhausen, ohne Robert Sanden, den sie angerufen hatte, getroffen zu haben, hatte Ernst Dahlmann einen größeren Kolben in die Halterung gehängt. Zwei Liter Wasser, dosiert in Tropfen von je zwei Sekunden . das hält einen Abend durch.

»Da ist es wieder«, sagte Luise wieder pflichtschuldig, wie es ihre Rolle ihr vorschrieb.

»Was?« Dahlmann strich zufrieden über die Lippen.

»Dieses Klick . dieses Tropfenfallen.«

»Aber Luiserl.«

»Es ist wieder da. Ich werde verrückt, ich werde noch verrückt.«

Ernst Dahlmann sah Monika bedeutungsvoll an. Wie glatt das alles lief, sollte dieser Blick heißen. Moni, wir brauchen uns keinerlei Sorgen zu machen.

»Wenn es dich beruhigt, rufe ich einen Arzt, Luiserl«, sagte er mild. Sie nickte.

Von der Diele, wo das Telefon stand, hörte sie ihn sprechen.

Er rief einen Dr. Vierweg an.

Luise kannte ihn von der Apotheke her. Er war ein Nervenarzt.

Sie wandte den Kopf zu ihrer Schwester. Monika saß am Tisch, hatte das Taschentuch an den Mund gepreßt und weinte unhörbar.

Auch du bist sein Opfer, dachte Luise und blickte weg. Du weißt es nur noch nicht -

Der Nervenarzt Dr. Vierweg fand nichts. Er untersuchte Luise, stellte seine Fragen, ließ sie erzählen.

Natürlich tickte es nicht mehr im Zimmer. Dahlmann hatte seine Apparatur entfernt.

Aber am nächsten Morgen, beim Frühstück, tropfte es wieder. Ein höllisches Spiel, das zum Erfolg geführt hätte, wenn Luise Dahlmann noch eine Blinde gewesen wäre.

Am folgenden Tag blieb sie auch über Mittag in Herrenhausen. Schon am Morgen ließ sie es Ernst Dahlmann wissen, offiziell, weil das Wetter so schön wäre und es schade sei, den Ausflug nur wegen des Essens abzubrechen. Dahlmann war sofort einverstanden. Er hatte zwei wichtige Gänge an diesem Tag vor und hatte schon darüber gegrübelt, wie er sich die Stunden dafür frei nehmen konnte. Der eine Besuch galt nämlich dem Nervenarzt Dr. Vierweg, dem zu berichten war, daß Luise wieder das Tropfen hörte und was man da unternehmen könne; der zweite Weg führte zu Rechtsanwalt Dr. Kutscher, dem man klarmachen mußte, daß bald eine Einweisung in eine Nervenheilanstalt möglich gemacht werden mußte.

Luise wiederum hatte eine Schäferstunde Dahlmanns mit Monika dazu ausgenutzt, noch einmal Robert Sanden im Stadttheater anzurufen und auch Dr. Ronnefeld nach Herrenhausen zu bitten. Seitdem Dahlmann den alten Hausarzt wie einen verschlissenen Hut entfernt hatte, war das Telefon die einzige, heimliche Verbindung zwischen Luise und ihm. Damals, als Blinde, versuchte sie, ihren Mann und seinen Zorn zu verstehen. Er hatte Dr. Ronnefeld dafür verantwortlich gemacht, in Luise falsche Hoffnungen zu erwecken, die keine Operation erfüllen konnte. Heute erkannte sie, daß der wache Blick Dr. Ronnefelds störte, daß er mehr sah, als Dahlmann lieb war, daß er Ronnefeld entfernen mußte, um mit Monika so vor einer Blinden zu leben, wie er es bisher getan hatte.

Fräulein Pleschke war glücklich, als Luise sie wegschickte. »Las-sen Sie mich allein hier, Erna«, sagte sie. »Mich klaut niemand. Ich nehme an, Sie haben Besseres vor, als auf mich aufzupassen.«

Fräulein Pleschke wurde rot, obwohl es ja ihre Pflegebefohlene nicht sehen konnte.

»Wo . woher wissen Sie das?« fragte sie nach der Verlegenheitspause.

»Ich war auch einmal jung, Erna. Mit vierundzwanzig scheint die Sonne doppelt golden, stimmt's?«

Erna Pleschke nickte. »Ja, Frau Dahlmann.« Sie zögerte, und dann sagte sie tapfer: »Er ist Student auf der Pädagogischen Akademie. Er will Lehrer werden -«

»Ein schöner Beruf, Erna. Halten Sie den Knaben fest. Und Pension bekommt er später auch . da kann eigentlich gar nichts passieren. Ein Beamter ist für eine Frau immer ein solides, immer molliger werdendes Ruhekissen, denn mit dem Dienstalter steigt die Pension. Erna - traben Sie los. Lehrer - auch zukünftige - sind meistens genau und Pedanten. Sie warten nicht gerne -«

Fräulein Pleschke entfernte sich schnell mit trippelnden Schritten. Sie hatte sich in Montreux extrem hochhackige Lackschuhe gekauft. Der zukünftige Lehrer liebte langbeinige Mädchen, er hatte es einmal im Gespräch durchblicken lassen.

Eine halbe Stunde später sah Luise Robert Sanden den Weg von der Orangerie herabkommen. Sie kannte ihn nur von der Bühne her, geschminkt und im Kostüm, sie wußte nicht, wie er privat aussah, aber für Luise war es selbstverständlich, daß der braunhaarige, elegante Mann mit den weitausgreifenden Schritten Robert San-den sein mußte.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Er blieb vor ihrer Bank stehen und sah sie lange stumm an. Luise sah gleichgültig geradeaus, sie war ja blind, sie sah keinen Mann vor sich stehen. Robert Sanden atmete tief auf.

»Frau Dahlmann -«

Luise hob lauschend den Kopf, dann lächelte sie.

»Herr Sanden? Endlich -«

»Ich bitte um Entschuldigung. Gestern mußte ich auf der Probe für einen erkrankten Kollegen einspringen und seine Rolle mimen. Ich konnte einfach nicht weg -«

Er setzte sich neben sie und sah sie wieder an. Die Stille zwischen ihnen war schwer und ausgefüllt vom Suchen nach Worten.

»Ich ... ich weiß alles«, sagte Robert Sanden stockend. »Dr. Saviano sagte es mir am Telefon. Es ist furchtbar.« Er ergriff ihre Hand, zögerte und führte sie dann an die Lippen. Eine ehrliche Ergriffenheit war in dieser Geste, das Gefühl, trösten und helfen zu müssen. »Nicht den Kopf hängen lassen.«, sagte er und hielt Luises Hand fest. »Wenn die Operation auch mißlungen ist. Ihre Augen strahlen jetzt, als könnten sie sehen. Sie haben einen Glanz wie lebende Augen -«

»Ist es so?« fragte Luise leise.

»Ja. Professor Siri ist ein Künstler! Wenn sie auch in die Nacht blicken . das Leben spricht wieder aus ihnen.«

»Das haben Sie schön gesagt, Herr Sanden. Es ist schade, daß ich nicht mit einem anderen Kompliment Ihrer Person antworten kann.«

Robert Sanden lachte. »Das wäre auch schwer. Ich bin häßlich, habe eine große, gebogene Nase, ein spitzes Kinn, einen Buckelansatz, eine schiefe Schulter . ich bin, ungeschminkt, prädestiniert, den Glöckner von Notre-Dame zu spielen.«

»Das glaube ich Ihnen nicht.« Luise sah ihn an. Er ist ein schöner Mann, dachte sie. Aber dann erschrak sie. Schon einmal war sie einem schönen Mann verfallen gewesen. Einem Mann, der sie jetzt systematisch vernichten wollte, um zu bekommen, was sein Lebensziel war: Monika, die Apotheke, das Vermögen. »Ich kenne Sie von der Bühne her. Sie sind groß, schlank, gerade gewachsen.«

»Alles Kostüm. Man kann auf der Bühne einen Menschen nicht nur häßlich wie Richard III. machen, sondern auch hübsch wie Romeo. Aus Zwergen werden Riesen, wenn es sein muß, aus Riesen Zwerge, wenn man sie braucht, aus Jünglingen der alte Vater Moor . es ist alles möglich.«

Damit war das Gespräch erschöpft. Robert Sanden malte mit den Schuhspitzen Kreise in den Sand vor der Bank und nagte an der

Unterlippe. Was er sagen wollte, konnte er nicht sagen, was er wußte, war nicht wiederzugeben, worüber die Leute munkelten, wollte er nicht weitertragen.

»Sie haben sich gut erholt«, sagte er, nur um etwas zu sprechen.

»Ja. Mein Mann und meine Schwester finden das auch.«

Robert Sanden nahm den Faden auf, den ihm Luise hinwarf. »Sie haben sich sicherlich sehr gefreut, als Sie zurückkamen.«, sagte er.

»Ernst und Monika? Und wie -«

»Und Ihr Mann hat nichts von der Operation gemerkt?«

»Nein.«

»Ihre glänzenden Augen -«

»Natürlich. Er glaubt, das hätte die Genfer Seeluft gemacht.«

Vom Parkeingang her sah sie Dr. Ronnefeld kommen. Er suchte mit den Blicken die Bänke ab und legte die Hand schützend vor der Sonne über die Augen. Er trug einen Panamahut und hellgelbe Schuhe, eine etwas auffällige Kleidung für einen so würdigen Herrn seines Alters. Aber Dr. Ronnefeld hatte nie viel auf Aussehen gegeben . oft zog er an, was ihm beim Griff in den Kleiderschrank in die Hand fiel, ohne hinzusehen, was es war. So saß er einmal in einem Smoking in der Sprechstunde, und alle Patienten bemühten sich, schnell wieder herauszukommen, weil der Herr Doktor sicherlich etwas Großes vorhabe. Dr. Ronnefeld aber wunderte sich, daß an diesem Tag die Praxis schon um halb zwölf Uhr geräumt war, obwohl er mehr Eintragungen in der Kartei als am Vortage hatte.

»Ich möchte Ihnen noch danken, Herr Sanden, für Ihre vielen Bemühungen, auch wenn sie erfolglos waren«, sagte Luise. »Wie gerne hätte ich Ihnen gesagt: Gucken Sie mich an . ich sehe Sie! Sie haben einen runden Kopf und blonde Haare.« Sie sagte es bewußt so, denn Sandens Kopf war schmal, und seine Haare glänzten in einem dunklen Braun. »Leider hat es nicht sollen sein. Sie haben sich solche Mühe um mich gemacht. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Und nun - leben Sie wohl -«

»Soll . soll das ein Abschied sein?« Sanden sah sie groß an. In seinen Augen schrie Angst, wie bei einem kleinen Jungen, der mit seinem Ball eine Scheibe eingeworfen hat.

»Ja.«

»Aber warum, Frau Dahlmann?«

»Was wollen Sie mit einer blinden Frau, Herr Sanden? Ihnen liegen die jungen Mädchen zu Füßen -«

»Ich . ich mag diese jungen Dinger nicht. Ich bitte um die Erlaubnis, mich um Sie kümmern zu dürfen.«

»Aber warum? Ich habe Fräulein Pleschke, ich habe meinen Mann, meine Schwester -«

Sie sah ihn groß an. Jetzt muß er etwas sagen, dachte sie. Jetzt muß er das sagen, was er im Brief an Dr. Saviano und Professor Siri andeutete. Robert Sanden aber schwieg. Er nagte nur an der Unterlippe und scharrte weiter im Sand.

»Trotzdem. Erlauben Sie mir, gegenwärtig zu sein, wo immer Sie sind. Ich habe meine Gründe.«

»Gründe?«

»Ja. Bitte, fragen Sie nicht weiter. Seien Sie nicht grausam, sagen Sie ja.«

»Ich war nie grausam. Ob ich überhaupt grausam sein kann?« Luise legte den Kopf zur Seite. Ja, ich kann es, dachte sie. Ich könnte Ernst wie im Mittelalter foltern, ich könnte zusehen, wie man ihm die Knochen bricht, wie man ihn streckt, aufs Rad schnallt, in den spanischen Stiefel preßt, die Zunge herausreißt, und ich würde ruhig dabeistehen und eine tiefe Freude haben. So hasse ich ihn . so sehr . so schrecklich.

»Sie sind wieder im Park, morgen?« fragte Sanden.

Sie nickte stumm, noch ergriffen von ihrer Grausamkeit.

»Morgen ist Konzert im linken Schloßflügel. Darf ich zwei Karten besorgen?«

»Ja, bitte.«

Robert Sanden ergriff wieder ihre Hand und küßte sie. Dann ging er ohne ein weiteres Wort weg . es war ihm unmöglich, zu sagen, was ihm auf der Zunge lag.

Von der anderen Seite trat Dr. Ronnefeld an die Bank.

»Das ist ja ein Ding!« sagte er gutmütig. »Sitzt auf der Bank und flirtet mit jungen Männern!«

»Dr. Ronnefeld.« Luise starrte an Ronnefeld vorbei und streckte ihm die Hand entgegen, einen halben Meter zu weit zur Seite. Der Arzt ergriff sie und küßte sie gleichfalls.

»Was die jungen Fante probieren, gehörte bei uns zur Erziehung von klein auf. Sie sehen gut aus, Luise. Sie sind wie aufgeblüht.« Er hielt ihre Hand fest und drückte sie. »Der alte Ronnefeld ist ein Quer-kopp, das weiß man. Aber um es gleich zu sagen: Ich habe noch nicht aufgegeben, daß Sie wieder sehen werden. Ein Jahr ist nun rum nach der Operation in Münster ... und ich weiß: Professor Bohne will es noch einmal versuchen! Und es gelingt!«

»Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, Doktor.« Luise lehnte sich weit zurück. »Ich brauche Ihren Rat ... und Ihren Schutz. Vor allem Ihren Schutz -«

»Stimmt etwas zu Hause nicht?« fragte Dr. Ronnefeld ahnungsvoll.

Luise schüttelte den Kopf. Und plötzlich weinte sie, lehnte sich an seine Schulter und verbarg das Gesicht an seiner Hemdbrust.

Am Abend dieses Tages spielte das Schicksal va banque. Es schuf eine jener Situationen, bei deren Betrachtung eine Gänsehaut über den Rücken läuft.

Ernst Dahlmann hatte seine Gänge zur Zufriedenheit erledigt. Der Nervenarzt Dr. Vierweg hielt sich bereit, bei einem neuerlichen Anfall Frau Dahlmanns sofort zu kommen und eine Beruhigungsinjektion zu geben. »Dieses Ticken- und Tropfenhören ist typisch für eine Psychose«, sagte er. »Sie kann durch den Explosionsschock ausgelöst worden sein. Man weiß ja in der Psychiatrie selten, woher die Erkrankungen kommen, wenn keine organischen oder durch In-fektionen herbeigeführten Veränderungen vorliegen. So ein Irresein ist plötzlich da.«

Ernst Dahlmann war mit dieser Auskunft sehr zufrieden. Sie zeigte, daß Dr. Vierweg keinerlei Verdacht schöpfte, sondern Luise als erkrankt im psychiatrischen Sinne ansah.

Mit dieser Meldung erstaunte er Dr. Kutscher, den Rechtsanwalt. »Das haben Sie ja wundervoll hingefingert«, sagte er mit seinem Sarkasmus. »Wie kann man das so schnell machen? Verraten Sie mir mal den Trick.«

»Trick? Meine Frau wird wirklich gemütskrank.«

»Ach nee! Und das wissen Sie ein paar Wochen im voraus.«

»Die ersten Anzeichen -«

»Mein Lieber, ich bin ja kein Säugling, und selbst der schmeckt den Unterschied zwischen Muttermilch und Trockenmilch. Ich will's auch gar nicht wissen ... nur, ob ich diesen sehr dubiosen Fall übernehme, das weiß ich noch nicht.«

»Sie können Ihr Honorar verdreifachen.«

»In diesem Falle stinkt auch Geld!«

»Ein bekannter Nervenarzt wird die Krankheit attestieren.«

»Das ist es ja, was mich umhaut!« Dr. Kutscher brannte sich eine Zigarette an. »Was Sie da ausgeknobelt haben, muß schon genial sein, um die Medizin derart täuschen zu können -«

Alles in allem: Ernst Dahlmann war mit dem Tag zufrieden und genehmigte sich einen Kognak. Luise war noch im Schlafzimmer, sie zog sich nach dem Ausflug nach Herrenhausen um. Das konnte sie schon allein, ohne Hilfe. Ihr Tastsinn war ungemein ausgeprägt.

In diesen Minuten hielt das Schicksal den Atem an.

Monika trat in das Schlafzimmer, um Luise zum Abendessen abzuholen und zu sehen, wie weit sie mit dem Anziehen war.

Luise war nicht im Schlafzimmer. Die Tür zum Badezimmer war angelehnt, aus dem Türspalt glitzerte Licht in das dunkle Schlafzimmer.

Monika ging weiter, öffnete den Spalt etwas und sah ins Bade-zimmer.

Vor dem großen Spiegel über den beiden Waschbecken stand Luise und kämmte sich die Haare. Sicher, schnell, mit genauen Strichen. Ihre Augen verfolgten dabei die Arbeit des Kammes, die Finger ordneten da eine Strähne, schoben dort eine Locke weg.

Monikas Herz setzte einen Schlag lang aus. Dann löste sie sich von der Tür und rannte aus dem Zimmer. Mit einem Schrei stürzte sie in den Wohnraum und scheuchte Ernst Dahlmann auf, der gerade die Regionalnachrichten des Fernsehens ansah.

»Sie kann sehen.«, stammelte sie nach dem Schrei und schlug beide Hände vors Gesicht. Dahlmann fing sie auf, sonst wäre sie, gelähmt vor Entsetzen, zu Boden gestürzt. »Sie kann sehen . sie steht vor einem Spiegel und kämmt sich.«

Auch bei Ernst Dahlmann setzte einen Augenblick der Herzschlag aus. Dann schüttelte er den Kopf, ließ Monika auf das Sofa gleiten und strich die Haare aus der Stirn.

»Dummheit -«, sagte er, aber es klang nicht so sicher, wie es sein sollte. »Du siehst Gespenster, Moni! Bitte, werde jetzt nicht hysterisch. Allein der Gedanke, Luise könnte sehen . absurd direkt! Wodurch denn? Durch ein Wunder? Mein Süßes, Wunder gibt's nicht mehr . und selbst Wunder können verätzte Hornhäute nicht durch gesunde auswechseln. Überleg dir doch, was du da sagst -«

»Sie steht vor dem Spiegel und kämmt sich.«, keuchte Monika. »So kann sich nur einer kämmen, der sieht -«

»Luise hat einen phantastischen Tastsinn entwickelt. Du weißt, wie sicher sie durch das Haus geht. Nirgendwo stößt sie mehr an . sie muß den Radarsinn einer Fledermaus haben -«

Dahlmann fand diesen Vergleich schön. Er ertappte sich überhaupt in der letzten Zeit dabei, geistreich zu sein. Luise hatte früher immer eine Art maliziöses Lächeln um die Mundwinkel, wenn er in Gesellschaft Konversation machte und mit Bonmots brillierte. Das irritierte ihn, bis er seine Art weitgehend eindämmte, mit Charme zu wirken. Ein Gefühl von Unsicherheit war von da an in ihm, ein Teil Minderwertigkeitskomplex, der an der Seite Luises immer dann stark wurde, wenn alle Welt sie umschwärmte, ihr Komplimente machte, ihren Fleiß lobte und ihn, den Ehemann, als Inventar der Apotheke in Kauf nahm. Das war nun anders geworden. Der Mittelpunkt war er! Seit über einem Jahr entwickelte sich die Mohren-Apothe-ke zu einem Großbetrieb. Man sah den Fleiß und das Können des Ernst Dahlmann und man lachte jetzt auch über die geistreichen Blödeleien, mit denen er seine Reden würzte.

»Ich habe Angst -«, sagte Monika leise. »Mir wird es unheimlich in ihrer Nähe.«

»Wenn es dich beruhigt . ich werde einmal nachsehen.« Dahlmann sah auf den Bildschirm. Ein Politiker weihte eine neue Straße ein. Fahnen wehten, eine Schere wurde angereicht, Großaufnahme: ein dicker, lächelnder Ministerkopf. Hurra! »Überleg doch mal, Moni«, sagte Dahlmann noch einmal. »Wodurch soll sie sehen können? Durch die Luft in Montreux? Denk doch mal logisch -«

Er trat hinaus auf die Zentraldiele. Luise kam in diesem Augenblick aus dem Schlafzimmer. Wie alle Blinden ging sie sehr gerade, auf die Geräusche ihrer Umgebung lauschend, mit den Füßen unmerklich tastend. Sie sah Dahlmann an, aber sie sah durch ihn hindurch, als sei er Glas. Für sie bestand die Welt aus Dunkelheit und Geräusch.

Dahlmann starrte sie stumm an. Unmöglich, dachte er. Sehen können, solch ein Blödsinn! Einer Eingebung folgend, bückte er sich und stellte eine in einer Ecke stehende Bodenvase aus Ton mitten in die Diele, genau in die Laufrichtung, die Luise immer nahm, um das Wohnzimmer zu erreichen. Dann wartete er, an die Wand gedrückt.

Luise ging unbeirrt ihren Weg. Sie schien innerlich die Schritte zu zählen. Die Bodenvase tat ihr leid . sie war ein Andenken an die Mutter. Zu ihrer Konfirmation hatte sie die Vase bekommen, und große, blühende Kirschzweige staken in ihr. Sie hatte immer schon für Bodenvasen geschwärmt, und nun, mit vierzehn Jahren, bekam sie für ihr Zimmer eine eigene.

Ernst Dahlmann beobachtete sie scharf. Jedes kleine Zögern, jedes Stutzen würde sie verraten. Noch zwei Schritte ... noch ein Schritt ... jetzt -

Luise prallte gegen die Vase und trat sie um. Sie kollerte über den Teppich, schlug gegen die Wand und brach am oberen gewölbten Rand ab.

Luise blieb ruckartig stehen und hob lauschend den Kopf. Sie hockte sich und tastete mit den Händen ihre Umgebung ab, fand nichts, richtete sich wieder auf und lauschte, witternd wie ein Reh. Dahlmann hielt den Atem an. Sie ist blind, dachte er, und dieser Gedanke löste eine innere Verkrampfung. Wie kann es einen Zweifel geben.

»Ernst!« rief Luise laut. »Moni! Ernst!«

Dahlmann ließ die Tür zum Wohnzimmer klappen und kam näher. »Luiserl!« rief er und ergriff ihre suchenden Hände. Ja, er küßte sie sogar, und es war ein ehrlicher Kuß der Freude, denn er war sicher, daß sie nicht sehen konnte. »Warum schellst du nicht? Moni hätte dich abgeholt -«

»Ich bin doch immer allein gekommen. Aber irgend etwas stand im Weg . ich bin dagegengerannt . was war das?«

»Eine Vase!« Dahlmann faßte Luise unter. »Weißt du, die alte Tonvase. Die Putzfrau muß sie falsch hingestellt haben.«

»Ist sie kaputt?«

»Nein. Nur ein Eckchen 'raus. Das kann man kleben. Merke: Fällt dir mal ein Zinken 'raus - lach nur, hast Dahlkleber du im Haus!«

Luise lächelte. Ich möchte weinen, dachte sie. Ich möchte einmal aufschreien und alle Qual, allen Betrug dieses vergangenen Jahres in diesen Schrei legen. Und alle, alle müßten ihn hören. Ein Schrei, der ihn und Moni zerreißen müßte.

Dann saß sie im Zimmer, das Fernsehgerät lief, es war eine musikalische Sendung, sie trank ein Glas Wein dazu und aß Konfekt ... und neben ihr saßen Hand in Hand ihr Mann und ihre Schwester und küßten sich mit der Hingabe letzter Vertrautheit.

Einmal, als sie den Kopf zu ihnen hinwandte und sie ansah, stieß Monika erschrocken Ernst Dahlmann zurück und fuhr sich mit bei-den Händen entsetzt durch ihre zerwühlten, blonden Haare. Sie sah Luise mit flatternden Augen an, umfaßte Dahlmanns Arm und nickte zu ihr hin. Dahlmann schüttelte ärgerlich den Kopf. Er sah sich um, suchte etwas, erblickte einen Leuchter und zog ihn zu sich. Es war ein schwerer bronzener Leuchter mit zwei Armen. Stumm, unter der Tanzmusik des Fernsehens, hob er den Leuchter hoch und schwang ihn über dem Kopf Luises. Monika hielt sich mit beiden Händen den Mund zu.

Luise blieb sitzen und sah ungerührt geradeaus ins Leere. Ja, sie neigte den Kopf sogar nach vorn, als böte sie ihren Nacken dem Schlag dar.

»Wer singt denn da?« fragte sie unbefangen. »Diese Stimme kenne ich noch nicht -«

Ernst Dahlmann stellte den Leuchter auf den Tisch zurück und lächelte. Kraftlos fielen die Hände Monikas auf die Polster zurück. Sie ist blind, sie muß blind sein ... so kann sich kein Mensch beherrschen. Kein Augenzucken, keine Abwehr, keinerlei Regung ... nur das Lauschen auf die Stimme, während über ihrem Kopf..

»Das Mädchen heißt Daniela Duvar«, sagte Dahlmann. »Ein neuer Name. Gefällt sie dir?«

»Ja, sehr.«

»Wir hätten sie aufs Band aufnehmen sollen.«

»Ja.«

Die fröhliche Musik tönte weiter, aber es kam im Zimmer keine Gemütlichkeit mehr auf. Monika war von Dahlmann abgerückt, der mißmutig neben Luise hockte und wortlos auf den Bildschirm stierte. Sie alle spürten, daß in diesen Minuten ein Bruch zwischen ihnen entstanden war, daß sie alle drei isoliert im Raum saßen, jeder allein mit sich, und daß zwischen jedem von ihnen ein Graben aufgerissen war, über den im Augenblick kein Schritt mehr führte, sondern nur noch der Klang ihrer Stimmen.

»Du bist so still, Ernsti.«, sagte Luise mit bohrender Zärtlichkeit. »Und auch Moni sagt nichts. Ist das Programm so schön anzusehen?« »Ja.« Dahlmann atmete tief durch. Seine Stimme hatte rauh geklungen. »Eine verschwenderische Ausstattung.«

»Wie schön. Ich kann es mir vorstellen.« Sie legte den Kopf zurück an die hohe Sessellehne. Dabei zeigte das Fernsehbild eine dunkle, kahle Bühne mit drei Scheinwerferklecksen. In diesen Klecksen hüpften drei Balletteusen. Plötzlich krallte sie die Finger in Dahlmanns Arm. Er zuckte zusammen und versuchte, sich zu befreien.

»Was ... was ist denn, Luiserl?«

»Ich höre ja nichts mehr.«

»Was?« Er sprang auf und beugte sich über sie. »Du hörst nichts mehr? Du hörst mich jetzt nicht.? Luiserl.« Er sah schnell zu Monika hinüber, auch sie war aufgesprungen. »Luiserl . Luiserl . hörst du mich.«

Sie nickte und lächelte. »Wie groß deine Sorge ist, Ernsti.« Sie tastete nach seinem Gesicht, fuhr über die Stirn, die Augen, die Nase, den Mund, das Kinn hinab zum Hals. Dort ließ sie die Finger liegen, genau auf der Kehle. Jetzt zudrücken, dachte sie. Könnte mir das jemand übelnehmen? Gäbe es einen Richter, der mich verurteilen könnte ohne den Gedanken: Ich hätte es auch getan?! »Dein Hals zittert.«, sagte sie leise.

»Der Schreck, Luiserl.«

»Ich wollte sagen: Ich höre das Ticken nicht mehr.«

»Welches Ticken?«

»Dieses ewige Tick-tick-tick . als wenn immer etwas tropft.«

»Es war doch nie da, Luiserl. Wir haben es dir doch gesagt.«

»Ihr seid so gut zu mir.« Sie sah dabei Monika an. Groß und klar. Monika Horten senkte den Kopf. Du bist die schwache Säule in dem gemeinen Betrugsgebäude, dachte Luise. Mein liebes Schwesterchen, an dir wird Ernst Dahlmann zerbrechen, nicht an mir. Ihr hattet einen schönen Plan, einfach, genial und von einmaliger Gemeinheit. Eine Blinde zu betrügen, genügte nicht . sie stört, sie ist im Weg, ihre Gegenwart ist ständige Mahnung. Wie einfach ist es, sie wahnsinnig zu machen. Nun wird es anders sein, Monika. Von Zweifeln und Angst zerfressen, wirst du herumirren, und ich werde um dich sein, immer um dich sein, wie ein Schatten, den du nicht abschütteln kannst... und du wirst nicht wissen: Kann sie sehen, oder ist sie noch blind?! Ich werde dir Gelegenheiten geben, zu glauben, daß ich sehen kann ... und dann werde ich dir eine Blinde vorspielen, hilfloser als ein Säugling. So lange, bis du zusammenbrichst, bis du zerrieben wirst in den Mahlsteinen von verbotener Liebe und Angst, von der Sünde, die zuviel für dich ist, und dem Gewissen, dem du nicht entfliehen kannst, weil du kein schlechter, sondern nur ein haltloser Mensch bist. Ein höriger Mensch, hörig einem Mann, den ich einmal so liebte, wie du jetzt ihn liebst ... und den ich jetzt hasse mit einem Haß, wie ihn nur eine Frau gebären kann. Glaube mir, Monika ... es gibt auf der Welt kein stärkeres Element als den Haß einer verratenen Frau.

»Ich bin müde«, sagte Monika mit mühsam fester Stimme. »Ich habe heute viel gezeichnet. Entschuldigt mich.«

Sie sah noch einmal Luise starr an. Luise nickte ihr zu, freundlich, lächelnd, so wie man eine liebe Schwester zur Nachtruhe verabschiedet . so wie man Abschied nimmt von einem, den man sieht -

Wie flüchtend, verließ Monika das Zimmer. Ernst Dahlmann trank mit bösem Gesicht seinen Wein aus. Er hatte heute Nachtdienst und nahm sich vor, die ganze Nacht unten in den Apothekenräumen zu verbringen. Ein hysterisches Luder, diese Moni, dachte er wütend. Er räumte die Gläser weg und drehte das Fernsehen aus. Luise sah staunend in den stillen Raum.

»Was ist, Ernsti? Ich bin noch nicht müde. Warum machst du aus?«

»Ich habe Nachtdienst, Luiserl. Ich muß in die Apotheke.«

»Dann warte ich hier auf dich.«

»Es kann spät werden. Vielleicht die ganze Nacht. Geh zu Bett.«

»Noch eine Stunde. Ich stell' mir noch das Tonband an.«

»Gute Nacht.« Ernst Dahlmann ging hinaus. Zum erstenmal vergaß er die Floskel Luiserl, und er war so wütend, daß er die Tür sogar härter zuzog, als er wollte.

Luise stand auf und ging zum Sofa. Auf dem Kissen, neben dem

Monika gesessen hatte, lag ihre kleine Krokotasche. Monika hatte sie bei ihrer Flucht aus dem Zimmer vergessen.

Mit einem harten Lächeln hob Luise die Tasche auf, wog sie in der flachen Hand und krallte dann die Finger um sie. Ein Ruck flog durch ihren Körper, sie warf den Kopf in den Nacken, etwas wie der Stolz eines Siegers strahlte von ihr aus . dann ging sie mit schnellen, festen Schritten aus dem Zimmer und stieg die Treppe empor zum Atelier Monikas.

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