Luise war es völlig klar, wohin ihr Mann verreiste. Seinem Vortrag, er müsse zu einer Apothekertagung nach Köln, wo man neue Arzneimittel besprach und Erfahrungen über bekannte Präparate austauschte, glaubte sie kein Wort. Aber sie verhinderte auch die Fahrt nicht oder heftete sich nicht an seine Fersen ... sie wartete, bis Dahlmann mit seinem Wagen abgefahren war, bestellte eine Taxe und fuhr mit Fräulein Pleschke zum Flughafen.
Drei Tage, das hatte er gesagt, würde er wegbleiben. Es war Zeit genug, um sich die Gewißheit zu holen, daß die Operation an ihren Augen einen endgültigen Erfolg gehabt hatte.
Das Glück, das sie durch ihren plötzlichen Entschluß herausforderte, verließ sie nicht. Sie bekamen noch zwei Plätze nach Frankfurt und erfuhren telefonisch, daß in einer Mittagsmaschine noch Plätze für den Flug nach Mailand vorhanden waren.
Am Nachmittag waren sie in Bologna und fuhren sofort hinaus zu der Clfnica St. Anna, dem weißen Schloß hinter den düsteren Mauern.
Professor Siri machte gerade eine seiner gefürchteten Visiten. Dr. Saviano, den sie ins Besuchszimmer rufen ließen, war erfreut und kam mit ausgestreckten Händen auf sie zu.
»Signora!« rief er mit südländischem Temperament. »Daß wir uns so bald wiedersehen! Wie geht es denn?!«
Luise drehte den Kopf zu Fräulein Pleschke. »Wer ist denn da gekommen?«
»Ein Arzt, glaube ich.« Fräulein Pleschke nickte Dr. Saviano zu. »Sie sind doch Arzt, nicht wahr? Ich glaube, ich kenne Sie -«
Dr. Saviano starrte Luise an. Sie blinzelte ihm zu, der Arzt hob die Augenbrauen. Er beugte sich zu Luise und zog sie am Arm hoch.
»Bitte kommen Sie mit ins Untersuchungszimmer. Ich führe Sie -«
Fräulein Pleschke blieb zurück und blätterte in den bunten italienischen Illustrierten.
»Spielen Sie noch immer die Blinde, signora?!« sagte Dr. Saviano, als sie allein waren. »Das ist doch wohl übertrieben! Ich weiß, ich weiß, es ist Ihre Privatsache, aber der Herr Professor ist wütend, daß Sie ihm untersagt haben, die Operation an Ihnen zu veröffentlichen.«
»Es wird nicht mehr lange dauern.«
»Und warum sind Sie jetzt gekommen?«
»Ich muß wissen, ob ich weitersehen kann oder ob sich die eingepflanzten Hornhäute wieder trüben könnten.«
»Das kann man erst in einigen Monaten sagen, signora.«
»Ich könnte also wieder blind werden?«
»Möglich ist alles. Des Menschen Freund und Feind ist sein eigener Körper.« Dr. Saviano lauschte. Viele Schritte knirschten über den Flur. »Der Chef kommt -«
Professor Siri erkannte Luise Dahlmann sofort wieder und senkte den Kopf wie ein angreifender Stier. Seine weißen Haare standen an den Schläfen ab. Er hatte sich geärgert. Auf Station IV hatte der Gutsverwalter Pietro Stragazzi bei einem Ausgang in einer Taverne sein Glasauge gegen zwei Liter Wein verwettet und verloren. Nun saß er mit leerer Augenhöhle herum und verlangte ein neues Auge. Am schlimmsten war, daß er nicht wußte, wer der Augengewinner war. Professor Siri hatte geschrien und sich die Haare gerauft. »Lieber drei Bettnässer als nächtliche Wärmflasche als euch eine Stunde in Behandlung!« hatte er gebrüllt. »Du bekommst kein neues Auge. Geh nach Bologna und sieh zu, daß du wieder eins gewinnst!«
Nun stand er vor Luise Dahlmann und steckte die Hände in die Taschen des wie immer viel zu kurzen Kittels. Dr. Saviano drängte die Assistenzärzte und Schwestern aus dem Zimmer und schloß die Tür.
»Aha!« sagte Professor Siri und schnaufte durch die Nase. »Unser Doppelauge! Ich schenke Ihnen die Sonne wieder, und was tun Sie? Sie treten einem alten Mann ins Gesäß! Und dabei wäre gerade Ihr Fall ein Kleinod zur Veröffentlichung. Bei Ihnen habe ich zum erstenmal die Tantalnähung vorgenommen -«
»Sie werden es in wenigen Wochen publizieren können.«
»Wirklich?« Professor Siri winkte auf einen Stuhl zu. »Setzen.«
Gehorsam setzte sich Luise. Siri beugte sich über sie und spreizte mit den Fingern ihre Augenlider.
»Bewegen Sie die Augen hin und her, zur Seite, nach oben ... danke.« Er trat zurück und strich sich die weißen Haare glatt. »Alles in Ordnung, signora. Die Sonne bleibt bei Ihnen.«
»Ganz sicher?«
»Nach menschlichem Ermessen, ganz sicher.«
»Ich danke Ihnen, Herr Professor.« Luise hielt ihm die Hand hin. Professor Siri hob die Augenbrauen. Sie kannte das und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich will keine Hymne singen, Herr Professor. Ich will Ihnen nur sagen, daß Sie mir mehr gerettet haben als das Augenlicht.«
»Mehr?«
»Ja. Die Lebenserkenntnis. Ich war blind, als ich noch sehen konnte . und ich lernte sehen, als ich blind war. Das klingt absurd, nicht wahr?«
Professor Siri schüttelte den Kopf. »Das höre ich so oft, nicht wahr, Saviano? Ein paarmal sind sie zurückgekommen und haben mich angeschrien: Warum haben Sie mich sehend gemacht, professore? Vorher war das Leben so einfach und so klar . jetzt ist es schrecklich, kompliziert und schwer! Jetzt sehe ich Dinge, die man mir verheimlicht hat. Und einmal, signora, hat einer Selbstmord begangen . ich glaube, das habe ich Ihnen damals schon erzählt.«
»Ja. Aber das werden Sie bei mir nie erleben. Ich sehe mein Leben nur anders, klarer, nüchterner. Ob es schöner ist? Ich glaube nicht. Mit dem Wegzug der ewigen Nacht ist auch die Illusion weggewischt worden. Das Leben hat einen gewissen Zauber verloren, auch wenn er nur ein Selbstbetrug war . er war ein Zauber. Und trotzdem danke ich Ihnen. Sie haben nicht zwei Augen sehend gemacht, sondern aus mir einen anderen, einen neuen Menschen.«
Die Nacht über blieben sie in Bologna in einem kleinen Hotel. Am Morgen fuhren sie nach Mailand und flogen von dort zurück nach Frankfurt und weiter nach Hannover. Der Provisor berichtete, daß Herr Dahlmann gestern dreimal angerufen habe.
»Woher?« fragte Luise. Sie war völlig ruhig.
»Aus Köln.«
»Und was haben Sie gesagt?«
»Was sollte ich sagen? Ich habe gesagt, daß Sie mit Fräulein Plesch-ke fortgefahren seien, wohin, das wüßte keiner.«
Ein wenig verwirrt ging der Provisor hinaus. Eine halbe Stunde später rief Dahlmann wieder an.
»Luiserl!« rief er. »Endlich! Wo warst du? Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Ich habe um zwölf Uhr nachts zuletzt angerufen! Wo warst du denn?«
»Im Theater. Ich habe mir La Traviata angehört. Und anschließend waren wir noch ein Glas Wein trinken. Deinen mitternächtlichen Anruf habe ich sicherlich verschlafen. Wo bist du denn jetzt?«
»In Köln. Eine hochinteressante Tagung.«
»Das glaube ich.« In Luises Stimme war keinerlei Spott. »Wo wohnst du? Kann ich dich zurückrufen?«
»Leider nicht. Ich wohne privat. Hotels alle belegt. Hier ist auch noch Messe. Ich habe mit Not und Mühe über den Zimmernachweis ein Bett bekommen -«
Sie sprachen noch einige belanglose Sätze, dann war das Gespräch beendet. Luise sah sinnend das Telefon an, als Dahlmann längst aufgelegt hatte.
Wo mag er jetzt sein, dachte sie. Wo ist Monika? Stand sie neben ihm, als er anrief? Warum rief er überhaupt an? Hatte er Angst, ich könnte ihm nachgefahren sein?
Wenn es einen Anhaltspunkt gibt, wo Monika sich verborgen halten könnte, mußte er im Atelier zu finden sein.
»Gehen Sie nach Hause, Erna«, sagte sie zu Fräulein Pleschke. »Der Nachmittag gehört Ihnen ... morgen mittag fahren wir wieder hinaus nach Herrenhausen ... die gleiche Zeit wie immer ... damit Ihr
Herr Student Bescheid weiß.«
Fräulein Pleschke wurde wieder rot, bedankte sich und ging.
Luise wartete ein paar Minuten, dann ging sie hinauf in das Atelier Monikas. Es roch nach Farbe und Leim, Parfüm und verbrauchter Luft. Wäsche und Kleidungsstücke lagen auf dem Boden verstreut. Monika hatte in größter Eile einen Koffer mit dem Nötigsten gepackt und war davongelaufen. An der hinterlassenen Unordnung erkannte man den Grad ihrer Panik.
Systematisch durchsuchte Luise das Zimmer. Sie fing bei der Wäschekommode an. Frauen haben die Eigenart, Geheimnisse zwischen ihrer Wäsche zu verbergen.
Der erste, den Ernst Dahlmann im >Grünen Krug< sah, war Julius Salzer. Er kam aus der Küche, eine Schürze umgebunden, und schleppte einen Kübel Spülwasser durch den Flur. Der Ausguß, der zur Jauchegrube führte, war verstopft. Man hatte es heute morgen gemerkt und wartete nun auf den Installateur.
»Aha!« sagte Julius Salzer und stellte den Kübel ab. »Da sind Sie ja schon! So schnell im Wirtschaftswunderland? Sie sehen nicht aus, als wenn Sie's nötig hätten, sich um Arbeit zu schlagen. Gehen Sie mal durch in die Küche und dann linke Tür 'raus. Dann kommen Sie gleich zur Dünnjauche.«
»Wie bitte?« fragte Dahlmann konsterniert zurück. »Wer sind denn Sie?«
»Jules Salaire, Dichter der >Himmelblauen Elegien<. Aber nun an die Arbeit, Meister. Am Abend muß das Rohr frei sein, denn sonst muß ich vier Kübel 'rausschleppen.«
»Sie verwechseln mich sicherlich, Herr - wie war der Name?«
»Salaire! Schlagen Sie jedes Literaturlexikon auf. Wenn Sie dann unter S meinen Namen finden, bekommen Sie einen Kuß von mir.«
Ernst Dahlmann trat einen Schritt zurück. Man muß zwischen Irren und Normalen immer einen gewissen Abstand halten, mindestens in Armlänge. Er sah sich um und dann wieder auf Julius Salzer.
»Das hier ist doch das Gasthaus >Grüner Krug
»Aber ja! Und das Abflußrohr fließt rückwärts. Nun machen Sie bitte, Meister. Sie sehen, ich bin ein Leptosom, nicht geeignet, große Wasserkübel zu schleppen.«
»Wohnt hier ein Fräulein Horten?« fragte Dahlmann.
»Ja.« Salzer wurde aufmerksam. »Wieso? Was hat das mit der verstopften Leitung zu tun?«
»Sie verwechseln mich wirklich.« Dahlmann musterte Salzer fast aufdringlich. Ein unfertiger Mensch, dachte er geringschätzig. Verbirgt Dummheit hinter Burschikosität. In die Länge gewalzter Halbstarker, weiter nichts. »Ich bin kein Leitungsreiniger, ich bin ein neuer Gast des Gasthofes. Wo ist die Wirtin und wo ist Fräulein Horten?«
»Die Wirtin melkt gerade . zwei Ecken rechts genommen, um den Misthaufen herum und durch eine der Türen hinein, aus denen es Muh macht.«
»Sie kommen sich wohl reichlich witzig vor, was?« sagte Dahlmann grob. »Lassen Sie diese Blödeleien!«
»Fräulein Horten dagegen finden Sie bei mir.«
»Bei Ihnen?« Dahlmann spürte ein Flimmern in den Gliedern.
»Ja, unterm Dach. Kämmerlein klein . aber Glück ist mein! Stammt auch von mir! Bei nötiger Protektion kann man davon hunderttausend gemalte Holztafeln verkaufen. Das Stück zu 2,50.« Julius Salzer wurde plötzlich ernst. »Was wollen Sie von Monika?«
»Wieso nennen Sie Monika einfach Monika?« schrie Dahlmann. Es war ihm, als spränge seine Hirnschale auseinander, so stark war der Blutdruck in seinem Gehirn.
»Weil Monika einfach meine Monika ist!« schrie Salzer zurück. »Ich wußte nicht, daß Sie schwerhörig sind, mein Herr. Aber ich habe eine gute Lunge -«
Ernst Dahlmann lehnte sich an die Wand. Schweiß brach ihm aus, das Herz schlug bis zur Kehle, und er hatte das Gefühl, er müsse dauernd schlucken, weil es ihm sonst auf die Zunge sprang.
»Ihre Monika -«, wiederholte er tonlos.
»Ja, wenn's erlaubt ist«, brüllte Salzer. »Was wollen Sie von ihr? Sind Sie Werbemanager? Bringen Sie einen Auftrag? Dann hinauf. Bis dahin, wo die Treppe aufhört. Da ist eine Tür, die Hühner erschrecken kann ... aber keine Angst... dahinter wohnen die Musen! Ist es nicht ein wenig umständlich, einen fast Tauben zum Werbeleiter zu machen?«
Dahlmann antwortete nicht. Wütend stieg er die Treppe hinauf. Salzer sah ihm nach und schüttelte den Kopf. Eine harmlose Welt ist das, dachte er. Dabei ist es so einfach, Freude zu haben. So kinderleicht, glücklich zu sein. Man brauchte dazu nur ein Mädel wie Monika ... dann blühten in der Wüste Orchideen und am Nordpol weiße Kamelien.
Ohne anzuklopfen, trat Dahlmann in das winzige Zimmer. Monika saß auf einer Art Bett und zeichnete. Sie drehte sich nicht um, sondern winkte über die Schulter, näher zu kommen.
»Sieh mal, was ich da entworfen habe, Jules«, sagte sie. Ihre Stimme klang kindlich glücklich. Dahlmann kannte diesen Ton ... jetzt schnitt er ihm ins Herz. »Eine Titelseite zu deinem Buch ... ein Schutzumschlag. Freust du dich?«
»Nein -«, sagte Dahlmann heiser.
Mit einem Schrei fuhr Monika herum. Der Zeichenblock fiel auf den rohen Dielenboden.
»Du -«
»Ja, ich!«
»Was willst du hier?«
»Ich frage zurück: Was tust du hier?«
»Das geht dich nichts an.«
»Ich glaube doch!« Dahlmann trat näher. Monika streckte die Arme aus, ihre Finger spreizten sich.
»Komm nicht näher.«, sagte sie leise. »Keinen Schritt mehr. Ich schreie ... ich sage dir ... ich schreie.«
»Etwa nach diesem jungen Affen da unten. Nach Jules? Kämmerlein klein - aber Glück ist mein. Das ist doch idiotisch! Du weißt, wohin du gehörst . und über das blonde Schaf da unten unterhalten wir uns noch.«
Er tat noch einen Schritt und ergriff ihre abwehrgespreizten Hände.
Da schrie sie, laut, gellend, um sich schlagend, eine kleine, blonde, wilde Furie.
»Jules! Jules! Hilfe! Hilfe!«
Julius Salzer kippte vor der Tür seinen Kübel mit Spülwasser einfach in den Hof und warf sich herum. Mit riesigen Sätzen schnellte er die Treppe empor und riß die Tür zu seiner Kammer auf.
Er kam dazu, als Dahlmann mit der einen Hand Monika festhielt und sie mit der anderen ins Gesicht schlug, immer und immer wieder.
Mit beiden Händen griff er zu.
Ehe Dahlmann wußte, warum der verzweifelte Widerstand Monikas plötzlich nachließ und was sich hinter seinem Rücken tat, flog er durch die Luft und landete ziemlich schmerzhaft in der Ecke der kleinen Kammer. Ein morscher Stuhl, der dort als Ablage diente, krachte unter ihm zusammen.
Einen Augenblick lag Dahlmann benommen auf dem Dielenboden; er wischte sich über das Gesicht und versuchte dann, sich aufzurichten. Eine starke Hand drückte ihn in die Stuhltrümmer zurück.
»Liegenbleiben!« sagte Julius Salzer. Seine Stimme hatte den sanftspöttischen Klang verloren. »Wenn Sie Saukerl aufstehen, segeln Sie durchs Fenster, verstanden?« Dahlmann lehnte sich an die Wand. Er kam sich elend und wie ausgezogen vor. Monika stand am Fenster und weinte still, ihre Haare waren zerzaust, ihr Gesicht von den Schlägen gerötet.
»Sie . Sie verstehen die Situation nicht -«, sagte Dahlmann heiser.
»Ich sehe nur, daß Sie Monika ohrfeigen.« Salzer drehte sich zu ihr um. »Wie oft hat er dich geschlagen? Ehrlich! Ich bin dafür, immer das Zehnfache zurückzugeben. In solchen Dingen bin ich freigebig. Zweimal habe ich's gesehen ... das machen schon zwanzig, mein verehrter Partner.«
»Bitte nicht -«, sagte Monika leise. »Er ist mein Schwager -«
»Wer ist das?«
Dahlmann erhob sich nun doch. Salzer hinderte ihn nicht mehr, er war zu verblüfft.
»Fräulein Horten ist die Schwester meiner Frau. Ich hatte etwas mit ihr zu besprechen.«
Jules Salzer fuhr sich mit beiden Händen durch die struppigen Haare. »Mir scheint das eine merkwürdige Art verwandtschaftlicher Konversation zu sein -«
»Bitte, laß uns allein.«, sagte Monika und wandte sich ab.
»Nein -«
»Ich werde dir später alles erklären.«
»Meinem Gefühl nach wäre es nützlicher, es jetzt gleich zu tun! Ich komme in mein Zimmer, weil meine Braut um Hilfe schreit, und sehe, wie ein mir fremder Mann sie ohrfeigt. Das sollte Grund genug sein, nachdenklich zu werden. Welches Recht hat dieser Herr -«
»Dahlmann -«
»- Dahlmann, dich so zu behandeln?«
»Es ist eine reine Familienangelegenheit«, sagte Dahlmann laut. Salzer senkte kampfeslustig den Kopf.
»Eine fröhliche Familie! Sind Sie direkter Nachkomme des Watschenhansel? Halt! Bevor Sie eine unflätige Antwort geben, rate ich Ihnen, die enge Hühnerstiege wieder hinabzukraxeln und aus dem >Grünen Krug< zu verschwinden. Ihre Familie interessiert mich nicht . mich geht nur Monika etwas an. Also . gehen wir.?«
»Nein.«
»Dann werden Sie der erste Mensch sein, der ohne technische Hilfsmittel fliegen kann -«
»Jul.« Monika hob beide Hände. »Ich bitte dich . laß uns allein. Wenn du mich liebst, dann geh jetzt.«
Julius Salzer zögerte. Er sah von Dahlmann zu Monika und wieder zurück. Er wollte etwas sagen, aber die Augen Monikas bettelten in stummer Verzweiflung. Da zog er den Kopf ein und riß hinter sich die Tür auf.
»Gut! Ich gehe. Aber nur bis unten an die Treppe. Dort warte ich! Und bei dem kleinsten Ton über dreißig Phon bin ich wieder da! Ich werde heute zwar nicht die Küche sauberkriegen und mein Mittagessen auf Kredit nehmen, aber was soll's?! Ich bin in der Nähe, mein Herr -«
Dahlmann wartete, bis Salzer die Stiege hinabgepoltert war. Er schloß die Tür und lehnte sich dagegen. Monika stand am Fenster, die Sonne leuchtete in ihrem goldenen Haar.
»Warum hast du ihm nicht gesagt, wie alles in Wirklichkeit ist?« fragte Dahlmann leise.
Monika schwieg und drehte sich weg.
»Ich weiß es.« Dahlmanns Stimme klang trotz der Dämpfung gefährlich und fordernd. »Er darf nicht wissen, daß du meine Geliebte bist. Er soll in seinem Wahn weiterleben, in dir die große, reine Liebe gefunden zu haben. Du hast Angst, daß du ihn verlierst, wenn er die Wahrheit erfährt.« Dahlmann lächelte leicht. Es war ein siegessicheres, fast satanisches Lächeln. »Weißt du, daß ich damit ein gutes Druckmittel in der Hand habe?«
»Du wärst so gemein, es auszunützen -«
»Aber ja!«
»Wenn du das tust, nehme ich mir bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit das Leben -«
»Das ist eine leere Drohung!«
»Ich war dazu bereits entschlossen . da lernte ich Julius kennen.«
»Und die Liebe rettete sie . Monika, bitte, verfall nicht in den Jargon billiger Romane! Du weißt, warum ich hier bin.«
»Ja.«
»Und?«
»Nein!« »Du kommst nicht zu mir zurück?«
»Nein.«
»Ich will vergessen, daß du dich wie eine Hure benommen hast -«
»Ich war eine Hure, als ich mit dir ins Bett ging!« Monikas Kopf fuhr herum. »Ich habe meine Schwester betrogen - das ist etwas, was ich nie wiedergutmachen kann. Ich schäme mich, wenn ich mich im Spiegel sehe, ich könnte mich selbst anspucken! Ich will nicht von deiner Schuld reden ... auch ich bin daran schuldig, ich habe nachgegeben, ich habe mitgespielt, ich habe dich zu mir gelassen, und ich war sogar glücklich dabei. Wenigstens glaubte ich, es sei das große Glück! Heute weiß ich, daß es keine Gemeinheit gibt, die größer wäre als die, die wir Luise angetan haben. Ich habe mich von dir befreit, äußerlich und auch innerlich ... das weiß ich jetzt, wo du wieder vor mir stehst. Ich empfinde nichts mehr, gar nichts ... doch ja, Abscheu ist es! Ich habe vergessen gelernt.«
»In den Armen dieses Tölpels Julius.«
»Vielleicht. Beschimpf ihn nur . das bindet ihn noch näher an mich. Menschen, die du haßt, werde ich umarmen!«
Dahlmann nagte an der Unterlippe. Er sah völlig klar. Monika war ihm entglitten, und es gab keine Möglichkeit, sie wieder zurückzuholen in das Haus der Mohren-Apotheke. Der Gedanke war schmerzhaft . seine Leidenschaft war nicht geknickt durch das Wissen, daß Monika einen anderen Mann genommen hatte. Sie wollte durch ihn vergessen, weiter nichts, dachte er. Es war eine Flucht. Er sah sie mit hungrigen Augen an. Dieses Blond der Haare, dachte er. Dieser junge, zarte Körper. Das alles sollte nun Erinnerung sein, weiter nichts? Das sollte nicht zurückzuerobern sein? Nicht mit guten Worten? Nicht mit Geld? Nicht mit Gewalt? Nicht mit List?
»Komm zurück, Moni -«, sagte er leise.
»Nein! Ich hasse dich!«
»Wie willst du denn leben?«
»Und wenn ich Reisig sammle . ich bleibe hier!«
»Du wirst nie von dem, was du weißt, sprechen.«, sagte er vor-sichtig, fast lauernd.
Monika schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Du weißt, wie die Folgen sind. Julius weg, Mittäterschaft.«
»Bitte, hör auf!« Monika legte die Hände an die Ohren. »Tu mir einen letzten Gefallen, Ernst . geh, geh schnell. Ich flehe dich an! Ich kann dich nicht mehr sehen.«
Dahlmann zögerte noch einmal. Das Ende seiner großen Liebe -für ihn war Monika das Sinnbild von Jugend, Schönheit, erfüllter Sehnsucht und herrlicher Freiheit des Lebens gewesen - war so plötzlich, daß er Mühe hatte, es voll zu begreifen. Ein Ende, das in dem Augenblick einsetzte, in dem er fast am Ziele aller Pläne war. Pläne, die geboren worden waren, um das Glück mit Monika zu festigen.
»Luise ist bereit, mir alles zu überschreiben.«, sagte er stockend. Monika fuhr herum.
»Das ist nicht wahr.«
»Doch. Sie hat bereits einen Anwalt mit der Ausarbeitung des Vertrages beauftragt.«
»Das ist eine deiner infamen Lügen! Warum sollte Luise solch einen Irrsinn begehen?«
»Sie hat sich damit abgefunden, für immer blind zu sein.«
»Sie kann doch sehen!« schrie Monika.
»Dummheit! Sie ist blind wie eh und je.«
»Sie spielt dir nur die Blinde vor!«
»Nein. Ich habe sie daraufhin geprüft. So kann sich ein Mensch nicht beherrschen, wenn er sehen kann. Das ist völlig unmöglich. Und wenn sie wirklich sehen könnte -« Dahlmann wischte sich über das Gesicht. Welch ein absurder Gedanke, dachte er dabei. Und welch ein grausamer Gedanke. Ich wüßte wirklich nicht, was ich tun würde. »Moni, überleg doch mal . warum sollte sie dann diese Überschreibung veranlassen?«
»Ich weiß nicht.«, sagte Monika unsicher.
»Na also.«
Unten an der Treppe sah Julius Salzer ungeduldig auf die Uhr.
»Monika!« rief er hinauf. »Monika! Was ist?!«
»Du mußt jetzt gehen.« Monika drehte sich wieder zum Fenster. »Bitte, keine Abschiedsfloskeln ... geh einfach.«
»Und wir sehen uns nie wieder?«
»Hoffentlich nicht.«
»Du willst wirklich bei diesem Salzer, diesem romantischen Spinner bleiben?«
»Ja.«
»Und was soll ich Luise sagen?«
»Ich werde ihr schreiben.«
»Die Wahrheit?«
Monika zögerte. Dann sagte sie hart: »Vielleicht -«
»Sie wird diesen Brief nie bekommen, das weißt du.« Dahlmann legte die Hand auf die alte, eiserne Klinke. »Einigen wir uns auf ein Abkommen, Moni. Du schreibst Luise einen vernünftigen Brief mit irgendeiner Erklärung deiner Abwesenheit . und ich werde darüber schweigen, Julius gegenüber, daß du ein Jahr lang einen alternden Mann glücklich gemacht hast.«
»Du Satan.!«
»Wir sollten zum Abschied bessere Worte finden, Moni.«
»Geh bitte -«
Dahlmann verließ die kleine Kammer unter dem Dach. Unten an der Stiege erwartete ihn Julius Salzer.
»Endlich -«, sagte er rauh.
Dahlmann musterte ihn mit dem Blick des Verlierers. Er ist jung, dachte er neidvoll. Er hat die Unbekümmertheit des Sorglosen und den Schwung seiner Generation. Aber er ist nichts, und er hat nichts.
»Monika liebt einen gewissen Luxus«, sagte er gehässig, als er an Salzer vorbeiging. »Vergessen Sie das nicht.«
»Aber nein.« Salzer umklammerte das Stiegengeländer. »Ich werde ihr zum Geburtstag eigenmündig das Luftkissen neu aufblasen.«
»Das wird sie sicherlich erfreuen.« Dahlmann drehte sich an der Haustür noch einmal um. »Sie werden damit ausgefüllt sein, Monika zu halten. Ich beneide Sie nicht darum -«
Ein klein wenig zufrieden, wenigstens diesen Stachel ins Herz Salzers geschossen zu haben, ging er zu seinem Wagen. Im Rückspiegel sah er, wie Julius Salzer unter dem Eingang stand, finster blickend, nachdenklich, unschlüssig. Es hat gesessen, dachte Dahlmann. Er stieß das Gaspedal durch und ließ den Motor aufheulen. Wie ein Triumphgeheul war es, die Rache des kleinen Verlierers, der sich mit dem Selbstbetrug zufriedengibt.
Nach dieser Aussprache - wenn man es so nennen will - war vieles klarer geworden. Dahlmann rechnete, während er zurück nach Hannover fuhr. Es war die Rechnung eines einsamen Lumpen.
Monika, der innere Antrieb seiner Gemeinheiten, war verloren. Es galt jetzt also, einen Salto rückwärts zu drehen und zu Luise wieder besonders nett zu sein. Es war notwendig, den liebenden, den neu entflammten Ehemann zu spielen, glaubhaft sogar und tatkräftig, um durch das Gefühl der Liebe, das er damit Luise geben würde, sie um so mehr anzuregen, ihm das ganze Hortensche Vermögen zu überschreiben. Nach der Übereignung konnte man weitersehen ... entweder man nahm es als >lebendes Inventar< des Reichtums auf sich, Luise weiter zu ertragen, oder man führte den ursprünglichen Plan mit zäher Konsequenz aus: die Einweisung in eine Nervenanstalt. Beides war zu überlegen, und eine Möglichkeit würde sich zwangsläufig aus den Situationen ergeben, die sich nach dem Antritt des >Erbes< darstellten. Das Wichtigste aber schien Dahlmann zunächst ein Punkt zu sein, bei dem es bei ihm völlige Klarheit gab: Luise durfte nie ein Kind bekommen. Die Kindesklausel der Übereignung machte ihn wieder abhängig, und allein der Gedanke, wieder nur ein geduldeter Nutznießer zu sein, beflügelte ihn zu Gemeinheiten schon gegenüber dem noch nicht gezeugten neuen Leben.
Kurz vor Hannover änderte Dahlmann seinen Plan, sofort nach
Hause zurückzukehren. Er fuhr statt dessen zu Dr. Kutscher und hielt sich nicht lange in dem Vorzimmer auf. Er ging einfach ins Privatbüro, bevor die Sekretärin ihn daran hindern konnte.
Dr. Kutscher war weder verblüfft noch böse. Er nickte nur und zeigte auf die Ledercouch.
»Setzen Sie sich. Höflichkeit bin ich von Ihnen nicht gewöhnt. Erwarten Sie also auch keine von mir. Reden wir Tacheles.«
»Was sollen wir reden?« fragte Dahlmann und setzte sich.
»Ach so! Ein Ausdruck aus dem Jiddischen. Also - Sie wollen fragen, wie weit ich mit der Ausarbeitung des Vertrages bin -«
»Sie sollten als Hanussen III auftreten und Gedanken lesen.«
»Meine Antwort, klipp und klar: Ich habe nicht eine Zeile entworfen!«
»Und warum?«
»Ich lehne es ab, diese Sauerei mitzumachen.«
»Sie haben doch wohl nicht die Absicht, Ihre Schweigepflicht.«
»Mein lieber Lumpenhund . halten Sie mich für blöd?! Ich weigere mich bloß! Ich gehe in die Opposition. Ich leiste passiven Widerstand.« Dr. Kutscher faltete die Hände und sah Dahlmann fast gemütlich und genüßlich an. »Im Gegenteil . ich habe da eine wundervolle Sache, die ich als Weigerungsgrund angeben kann. Der saudumme Ehemann der Luise Dahlmann hat ihn mir selbst geliefert -«
»Wieso?« Dahlmann sprang auf. Er war bleich geworden. Wenn Dr. Kutscher lächelte, war er gefährlich. Er war ein Mensch, der sich so über seine Unbesiegbarkeit freute, daß er es allen zeigte. Es war eine Zurschaustellung von schon ekelhafter Sicherheit.
»Ganz einfach: Ihre werte Gattin ist gar nicht geschäftsfähig.«
»Was?!«
»Bitte, reißen Sie die Augen nicht so auf, Sie sind kein Pantomime, der Entsetzen darstellen muß. Überlegen Sie lieber: Eine solche Schenkung, an der - ich habe es ausgerechnet - mit Grundvermögen, Grundstücken, Häusern, Apotheke, Umlaufvermögen und was es da alles gibt, immerhin zweieinhalb Millionen Mark hängen, kann nur ein Mensch machen, der hundertprozentig im Besitz sei-ner geistigen Kräfte ist.«
»Aber das ist doch Luise!«
»Mein Bester -« Dr. Kutscher schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie doch nicht, was sogar der Nervenfacharzt Dr. Vierweg weiß: Ihre Gattin hört immer - tick-tick-tick - einen fallenden Wassertropfen und - tack-tack-tack - einen klopfenden Specht. Dabei fällt kein Tröpfchen, und kein Vögelchen hackt in die Baumrinde. Sie haben es ja selbst bezeugt.«
Ernst Dahlmann verschlug es den Atem. Er spürte, wie seine Knie weich wurden, wie ein Beben durch seinen Körper lief, wie eine Schwäche sich über seine Augen legte und das Zimmer langsam rotieren ließ.
»Das ist doch nicht möglich.«, stammelte er.
»Ich muß es als korrekter Anwalt ablehnen, solcherart Verträge ernst zu nehmen von Klienten, die >Stimmen hören< und offensichtlich nervenkrank sind.«
»Das . das sagen Sie.«
»Ja.«
»Wo Sie die Wahrheit wissen!«
»Eben! Nur Sie und ich wissen sie . und keiner wird sie sagen können. Sie nicht - das sehe ich ein, ich nicht - das bedauere ich zutiefst. Die >Wahrheit< kennt nur der Fachmann, der Nervenarzt Dr. Vierweg. Er wird von Psychosen und Schizophrenien sprechen. Sie haben sich ja so darum bemüht, daß diese Diagnose sonnenklar wird.«
Dahlmann saß wieder auf dem Ledersofa und stützte den Kopf in beide Hände. Es hatte keinen Sinn, zu toben und zu schreien, Dr. Kutscher das zu sagen, was ihm auf der Zunge lag. Es änderte alles nichts daran, daß er sich selbst in seiner Schlinge gefangen hatte. Die bis ins letzte ausgeklügelte Gemeinheit ummauerte ihn jetzt, und es gab keine Möglichkeiten, diese Wände einzureißen, ohne die Teuflischkeiten zu gestehen. Dr. Kutscher brannte sich eine Zigarre an und blies herrliche Kreise gegen die Decke. Schon als Studiosus hatte er mit dieser Lippenkunst manche Runde Freibier er-blasen. Dahlmann starrte den Ringen nach und zog die Lippen zwischen die Zähne.
»Schachmatt -«, sagte Dr. Kutscher freundlich. »Ein guter Verbrecher sollte auch ein guter Schachspieler sein. Man lernt am Brett das, was man im Leben am nötigsten braucht: Logik!«
»Und wenn ich beweise, daß Luise gesund ist?«
»Dann sind Sie ein Zauberer, Dahlmann. Sie kennen die Psychiater. Wenn die einen Fall haben, und dann noch so einen schönen, undurchsichtigen Fall wie Ihre Frau, dann atmen sie wissenschaftliche Wonne und geben ihn nicht so schnell aus den Fingern. Ganz davon abgesehen, daß Sie kaum Möglichkeiten haben werden, das Tick-tick und das Tack-tack zu leugnen.«
»Reden Sie mit mir nicht wie mit einem Säugling!« schrie Dahlmann. Er sprang auf und riß seinen Hut an sich. »Ich werde mit Dr. Vierweg sprechen.«
»Nicht nötig. Das habe ich bereits getan.« Dr. Kutscher lächelte wieder maliziös.
»Sie haben -« Dahlmann hielt den Atem an.
»Als gewissenhafter Anwalt, ich bitte Sie. Das war meine Pflicht. Ich habe hier ein Gutachten von Dr. Vierweg liegen, daß Ihre Gattin unter Psychosen leidet. Er hat sie gestern, als Sie in Köln den Vorträgen einer nicht stattgefundenen Apothekertagung lauschten, gründlich untersucht. Die Diagnose ist eindeutig, zumal Ihre Gattin alle Vermutungen bestätigte und ihre Wahrnehmungen eindringlich und präzise schilderte. Sie wissen: tick-tick und tack-tack.«
Dahlmann zögerte. Er wollte hinauslaufen, aber andererseits hielt ihn das Gefühl fest, daß Dr. Kutscher noch mehr wußte. Der Anwalt schüttelte langsam den Kopf.
»Dahlmann, geben Sie es auf, das Teufelchen zu spielen. Ziehen Sie sich an einen Ort zurück, wo man Sie nicht kennt, nicht sieht, nicht findet. Beginnen Sie von vorn, und wenn Sie Tüten abwiegen. Die Möglichkeit, in einer Zelle Tüten zu kleben, ist Ihnen ja immer in der Tasche. Verschwinden Sie, nachdem Sie Ihrer Gattin gestanden haben, wie groß der Irrtum war, dem sie jahrelang erle-gen ist. Das wäre ein anständiger Abgang.«
»Danke.« Dahlmann setzte seinen Hut auf wie einen Stahlhelm. Es war wie ein Zeichen, daß der gnadenlose Kampf begonnen hatte. »Ich habe andere Mittel als Sie, Doktor.«
»Nicht mehr. Sie haben die Schlinge um den eigenen Hals.«
»In Ihren Augen.« Dahlmann lächelte mokant. Die alte Sicherheit kam zurück, und Dr. Kutscher hatte das unangenehme Gefühl, daß er etwas übersehen haben mußte. Diese Sicherheit Dahlmanns war kein Bluff mehr. Er mußte noch einen Trumpf in der Hand haben.
»Ich gebe zurück: Schach sollte man spielen lernen, ehe man Anwalt wird! Das fördert die Logik! Lieber Doktor, was ist ein Rechtsanwalt ohne Logik?! Sie tun mir leid. Sie sind sonst ein so intelligenter Bursche.«
Mit geraden, federnden Schritten verließ Dahlmann das Büro.
Dr. Kutscher blieb sehr nachdenklich zurück und sah seinen Rauchkreisen nach. Was kann es sein, das ihn so sicher macht, dachte er wütend. Was habe ich übersehen? Wo ist hier ein logischer Fehler?!
Man kann es Dr. Kutscher nicht übelnehmen, daß er den Fehler nicht fand . er war ein Junggeselle und deshalb unbewandert in den Gedanken einer verheirateten Frau.
Gedanken, mit denen Ernst Dahlmann spielen wollte.
Es begann damit, daß er sie beim Eintritt ins Wohnzimmer umarmte, an sich zog und küßte.
Luise war so erstarrt über diese Begrüßung, daß sie weder an Gegenwehr dachte noch an ein Ausweichen. Dahlmann betrachtete ihre Hilflosigkeit als Überraschung und Entgegenkommen. Er küßte sie nochmals und warf seinen Hut auf das Sofa. Tiefe Freude, wieder daheim zu sein, schien ihn zu durchfluten.
»Wie geht es dir, Luiserl?« fragte er und nahm ihre schlaffen Hände. Er streichelte sie, küßte die Handflächen und die Fingerspitzen wie ein verliebter Geck. »Du siehst etwas abgespannt aus. Hast du Beschwerden? Ist etwas nicht richtig gewesen?«
»Nein, nein. Alles war gut.« Luise schüttelte den Kopf. Durch das dunkle Glas ihrer Sonnenbrille musterte sie Dahlmann. Er ging zum
Barschrank, goß zwei Gläser Aperitif ein, tat Eiswürfel dazu und verrührte in Luises Glas eine Pille. Die Schachtel, die er aus der Rocktasche genommen hatte, legte er in das Schubfach, in dem das Barbesteck aufgehoben wurde.
Luise wartete. »Was machst du, Ernsti?« fragte sie sogar.
»Ich mixe uns einen Begrüßungstrunk!« Es klang ganz natürlich. Er ließ, um es zu demonstrieren, das Eis in den Gläsern klappern. »Du ahnst gar nicht, wie froh ich bin, wieder hier zu sein!«
»War es sehr anstrengend in Köln?«
»Hm. Ich muß dir etwas sagen, Luiserl.« Er kam mit den Gläsern zu ihr, setzte sich ihr gegenüber und stellte die Gläser auf den Tisch. »Ich muß dir etwas gestehen.«
»Du -mir?«
»Ja. Ich war gar nicht in Köln.«
Luises Erstaunen war echt. Weniger verblüffte sie, daß er nicht in Köln war, das wußte sie ja, als vielmehr die plötzliche Ehrlichkeit. Mißtrauisch schielte sie zu dem hohen Glas mit dem Aperitif und der darin aufgelösten Pille. Soll es eine Vergiftung sein? dachte sie. Erst ein Geständnis und dann das Gift.? Sie umklammerte die Sessellehne und legte den Kopf weit zurück, damit er trotz der dunklen Brillengläser nicht ihre Augen sehen konnte.
Jetzt werde ich es ihm sagen, dachte sie. Wenn ich dieses Glas trinken muß . wenn er mich vergiften will. Die Brille werde ich mir herunterreißen und ihn anschreien: Ich sehe dich! Ich sehe deine entsetzten Augen, deine zitternden Hände. Und dann? Was würde dann geschehen? Man mußte dann um Hilfe schreien, an das Fenster rennen, die Scheibe einstoßen, sich hinauslehnen auf die Straße und schreien . schreien . dann war es ihm unmöglich, sie zu erwürgen oder zu erschlagen.
Ernst Dahlmann legte seine Hände auf ihre Knie.
»Ich habe dich belogen, Luiserl. Bitte, verzeih. Ich habe es getan, weil ich ahnte, daß dich die Wahrheit kränken würde. Ich war bei Monika -«
Luises Kopf zuckte herab.
»Wo?« fragte sie heiser. Er sagt die Wahrheit, dachte sie und erstarrte innerlich vor Angst. Und wenn er alles gesagt hat, wird er mich töten.
Sie blickte zum Fenster hin. Fünf Schritte waren es, fünf lange Schritte . ob sie noch die Zeit hatte, diese Schritte zu tun?
»Bei Monika. Sie lebt bei Soltau, in der Heide. In einem alten, vergessenen Gasthaus. Sie lebt dort mit einem Mann zusammen -«
Luise atmete auf. Er lügt schon wieder, dachte sie, jetzt fast erfreut über diese Lüge. Solange er lügt, werde ich weiterleben . jetzt, in dieser Stunde.
Was aber hat er ins Glas gerührt?
»Monika? Mit einem Mann?« Sie lächelte ungläubig. »Das ist doch ausgeschlossen.«
»Das habe ich auch gedacht. Als ich Monikas Brief fand, konnte ich es nicht glauben. Darum habe ich dir nichts gesagt und den kleinen Betrug mit dem Apothekertag in Köln erfunden. Ich bin zu ihr gefahren . und ich fand sie mit diesem Mann zusammen. Mit einem Julius Salzer, einem Nichtskönner von Schriftsteller, der sich Jules Salaire nennt und Gedichte fabriziert. Aber es scheint die große Liebe zu sein. Alles Zureden half nichts. Sie bleibt bei ihm.«
»Wirklich?«
»Ja.« Dahlmann wischte sich über die Lippen, sie waren in der Erinnerung an die dramatischen Stunden spröde geworden. Wie ausgedörrt kam er sich vor. »Ich bin jetzt der Ansicht, daß wir sie gewähren lassen sollen. Sie ist alt genug. Sie will dir noch alles schreiben, das hat sie mir versprochen.«
Luise sah ihren Mann jetzt mit wirklichem Unglauben an.
»Das . das ist alles wahr, Ernst?«
»Ich weiß, wie schwer es ist, das von Monika zu glauben. Liebes, sei stark, reg dich nicht auf . es ist so. Künstler haben eben ihre eigene Moral -«
Das mußt du sagen, dachte Luise bitter. Gerade du, du Lump. Aber wenn es wahr ist, dann hat es dich sehr getroffen. Dann mußt du dir vorkommen wie ein Ausgesetzter, wie ein Hungernder, der an einer Mauer steht, über die die Düfte köstlicher Gerichte wehen.
»Du hast recht«, sagte sie leise. »Da können wir gar nichts tun. Nun sind wir bloß wieder allein. Nun falle ich dir voll zur Last -«
»Last! Wie du reden kannst, Luiserl. Du weißt, wie sehr ich dich liebe.« Er küßte wieder ihre Hände und die Unterarmbeugen. »Ich bin froh, daß wir allein sind, wirklich, Luiserl. Immer ein fremder Mensch um uns, auch wenn es Monika war ... man konnte nie voll und ganz ein Mensch sein.«
Was er darunter verstand, spürte Luise sofort. Er beugte sich vor und wollte ihr Kleid über der Brust aufknöpfen. Ein eisiger Schrecken durchfuhr sie. Sie hielt seine suchenden Finger fest. Wie Klammern waren ihre Hände.
»Nicht jetzt, Ernst.«, sagte sie heiser. »Bitte.«
Es war wie eine Erlösung, als das Telefon schellte. Ärgerlich ging Dahlmann zum Büfett und hob ab. Aus der Apotheke rief jemand an. Man hatte den Schlüssel zum Giftschrank verlegt und bat um den Ersatzschlüssel.
»So eine Schweinerei!« schrie Dahlmann ins Telefon. »Wie kann der Giftschrankschlüssel weg sein?! Suchen Sie sofort alles ab! Wenn er sich nicht wiederfindet, muß ein neues Schloß eingebaut werden! So eine Schlamperei! Muß man denn immer dabei sein?!«
Luise drehte sich um. Dahlmann drehte ihr den Rücken zu und klopfte mit den Knöcheln gegen die Schrankwand. Mit schnellem Griff vertauschte sie die Aperitifgläser, schob ihr Glas mit der aufgelösten Pille auf seinen Platz und rückte Dahlmanns Glas zu sich. Dann lehnte sie sich zurück und tat, als lausche sie auf das Gespräch.
»Ja, rufen Sie mich sofort, wenn Sie den Schlüssel gefunden haben! Sie wissen, daß Sie in meiner Abwesenheit allein die Verantwortung für den Mißbrauch tragen.«
Er legte auf und kam zurück. »So etwas -«, sagte er und wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Der Giftschrankschlüssel ist verschlampt worden! Das Heiligste einer Apotheke! Wenn man nicht alles selber macht.« Er tätschelte Luise die Wangen und setzte sich wieder. »Trinken wir jetzt endlich unseren Willkommenstrunk.«
Er hob sein Glas hoch und prostete Luise zu, als könne sie sehen. Sie hob ihr Glas gleichfalls, aber sie prostete an ihm vorbei, eine Blinde, der die genaue Orientierung fehlt.
»Ich liebe dich!« sagte Dahlmann pathetisch und trank sein Glas in einem langen Zug leer. Luise nippte nur am Glas, setzte es dann ab und wartete. Sie beugte sich vor und starrte Dahlmann an.
Wann verfärbt er sich, dachte sie. Wann röchelt er? Wann merkt er, daß er das Gift getrunken hat?
Ernst Dahlmann sprach weiter. Er erzählte von seiner Fahrt in die Heide, von dem merkwürdigen Gasthaus >Grüner Krug<, von dem noch merkwürdigeren Julius Salzer, der sich seinen Lebensunterhalt als Küchenjunge verdiente und romantische Bücher schrieb.
Luise schwieg und wartete.
Dahlmann stand auf und goß sich ein neues Glas ein. Er ging aufrecht und sicher wie immer, er sprach dabei weiter, aber Luise hörte nicht auf die Worte, sie hörte nur Töne und sah, wie Dahlmann das neue Glas austrank, wie er lustig war und zum Radio ging, Tanzmusik anstellte.
Sie wartete.
»Wollen wir tanzen?« fragte er.
»Tanzen? Wir?«
»Warum nicht?«
»Wir haben über ein Jahr nicht mehr miteinander getanzt.«
»Ist das ein Grund, es nicht wieder zu tun? Ich freue mich so, daß wir allein sind.«
»Wenn du willst.«
Er zog sie aus dem Sessel, legte den Arm um ihre Schulter und ihre Hüfte und führte sie vorsichtig in einen Slow-fox hinein. Er tanzte elegant wie immer, er führte sie mit der Behutsamkeit einer Krankenschwester, die mit ihrer Patientin die ersten Schritte nach langem Krankenlager übt, und er küßte sie sogar hinter die Ohren, wie er es damals getan hatte . damals, als sie in seinen Armen willenlos wurde.
Sie tanzte und wartete.
Aber nichts geschah. Von der Apotheke wurde lediglich angerufen, man habe den Schlüssel noch nicht gefunden.
»So eine Sauerei!« sagte Dahlmann und stellte das Radio leiser. »Ich springe nur schnell hinunter und sehe nach, Luiserl. In zehn Minuten bin ich wieder da. Willst du noch einen Aperitif?«
»Nein, danke, Ernsti.«
Sie wartete, bis die Dielentür klappte. Dann sprang sie auf und rannte zu der Barschublade.
Zwischen Barzangen und einem kleinen, verchromten Eispickel lag die Medikamentenschachtel.
Anovlar stand darauf.
Eine Anti-Baby-Pille. Ernst Dahlmann hatte eine Anti-BabyPille geschluckt.
Da lachte sie . sie bog sich zurück und lachte. Es brach aus ihr heraus, eine Befreiung wie eine Explosion. Nach dem Lachen fiel sie zusammen, sank in den Sessel zurück und weinte hysterisch.
Sie weinte noch immer, als Dahlmann wieder zurückkam.